VIER

Das Wetter in Nordfriesland ist oft launisch wie eine Diva. Nur auf eines ist Verlass: Zum Wochenende regnet es. An beiden Tagen war es grau gewesen, und ein feiner Nieselregen hatte den Aufenthalt im Freien verleidet.

Von Mommsens Jacke tropfte es auf den Fußboden herab, und der zum Trocknen aufgeklappte Schirm war mit Wasserperlen übersät.

Auf der Fensterbank blubberte die Kaffeemaschine. Das sich im Raum verbreitende Aroma überdeckte den zarten Duft des Darjeelings, der auf einem Stövchen stand.

Die Tür wurde mit Schwung aufgerissen, und Große Jäger polterte herein. »Ah, der Kaffee wartet schon.«

»Kannst du nicht grüßen, wenn du am Montagmorgen ins Zimmer kommst?«, fragte Mommsen.

Der Oberkommissar sah ihn mit großen Augen an. »Wieso? Wir haben uns doch schon oft gesehen.«

Mommsen winkte ab. Umgangsformen würde man Große Jäger nicht mehr vermitteln können.

Der Oberkommissar sah in seinen Kaffeebecher, der ungespült seit Freitag auf dem Schreibtisch stand, schüttelte kurz den Kopf und schenkte sich neu ein. Dann setzte er sich an seinen Arbeitsplatz, parkte die Füße auf der herausgezogenen Schublade, zündete sich eine Zigarette an und fragte: »Was gibt es Neues?«

»Der ›Schubser‹ hat wieder zugeschlagen.«

»Ich weiß. Stand heute in den Husumer Nachrichten. Wir von der Polizei kommen dabei nicht gut weg und sind mal wieder die Deppen.«

»Was sollen wir machen? Die Schutzpolizei fährt vermehrt Streife. Aber es gibt kein Muster, nach dem der ›Schubser‹ vorgeht, mit Ausnahme der Tatsache, dass er wehrlose Opfer von hinten anfällt. Seine Taten begeht er im ganzen Stadtgebiet. Und auch die Abstände zwischen den einzelnen Überfällen ergeben kein Schema. Macht er das, weil er Geld benötigt? Oder hat er Spaß daran, ältere Bürger in Angst und Schrecken zu versetzen? Nur bei seiner letzten Tat, am vergangenen Sonnabend, hat er einen größeren Betrag erbeutet.«

»Wie geht es der Frau?«

»Bis auf ein paar Hautabschürfungen und eine Platzwunde im Mund ist sie glimpflich davongekommen. Viel schwerer wiegt der Schrecken. Und die Angst, die sie künftig begleitet, wenn sie bei Dunkelheit oder auf abseits gelegenen Wegen unterwegs sein wird. Das sind die schweren Folgen einer solchen Tat.«

Erneut öffnete sich die Tür, und Christoph kam ins Zimmer. Er murmelte etwas vor sich hin und eilte an seinen Schreibtisch.

»›Moin‹ heißt das, wenn man ins Büro kommt«, beschimpfte ihn Große Jäger. »Das ist Brauch in der Zivilisation. Nicht wahr, Harm?«

Mommsen zog es vor zu schweigen.

Christoph richtete sich kurz auf. »Moin. ‘tschuldigung. Aber ich habe auf der Fahrt von Kiel nach Husum eine Idee gehabt.«

Ohne seine Jacke auszuziehen, setzte er sich an den Schreibtisch und holte die Unterlagen hervor, mit denen er sich am Freitag beschäftigt hatte. Er blickte angestrengt auf die Papiere und sagte schließlich: »Das könnte es sein.«

Seine beiden Kollegen waren neugierig geworden und hatten sich zu ihm an den Schreibtisch gestellt.

»Wenn Professor Michaelis Recht hat und wir die letzten Ziffern weglassen, haben wir unterschiedlich lange Zahlen. Weiterhin gehe ich davon aus, dass der Code hinter dieser Aufstellung simpel sein muss. Er muss ohne Hilfsmittel umgewandelt werden können.«

»Da stimme ich dir zu«, sagte Mommsen.

»Wenn ich die letzten Ziffern, wie Michaelis vorgeschlagen hat, abschneide und den Rest rückwärts lese, könnte das eine Telefonliste ergeben.«

Große Jäger fuhr mit dem Zeigefinger die Zahlenreihen ab. »Hast du die Nummern schon testweise angerufen?«

»Nein. Sie ergeben keinen Sinn, mit Ausnahme der letzten Nummer, die eine Null vorweg hat.«

Mommsen griff unaufgefordert zum Telefon und wählte. Er hatte noch nicht alle Ziffern eingetippt, da erscholl aus dem Lautsprecher schon die Frauenstimme: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.«

»Von der Länge her könnten es Rufnummern in einer größeren Stadt sein. Hamburg zum Beispiel.«

»Und die Vorwahl?«

»Die hat man bei der Codierung fortgelassen«, überlegte Mommsen.

»Es gibt noch eine andere Variante. In der gesamten Region beginnen alle Ortsnummern mit 04. Wenn wir die davor setzen?«

Sie probierten es. Fast gleichzeitig zeigten Große Jäger und Christoph auf die vierte Zeile.

»04841 – das ist Husum.«

»Und die letzte Zeile ist Hamburg«, ergänzte Mommsen.

Christoph tippte die Ziffernfolge ein. Er hatte kaum die letzte Zahl eingegeben, als sich eine freundliche Frauenstimme meldete. »Lufthansa Citycenter Hamburg. Mein Name ist Marion Steinfeld. Was kann ich für Sie tun?«

Mit einer Ausrede entschuldigte Christoph sich.

»Das klingt wie die Organisation der Heimreise. Der unbekannte Tote hat mit dieser Verbindung seine Flucht – wenn wir es so nennen wollen – vorbereiten wollen. Aus Gewohnheit hat er die eigentlich harmlose Nummer der Lufthansa mit in sein Zahlenrätsel aufgenommen. Weiterhin verrät uns diese Telefonverbindung, dass er nach der Tat – welcher auch immer – fortwollte. Es bekräftigt unsere Vermutung, dass es sich um jemanden handelt, der nach der Tat ins Ausland flüchtet. Und er spricht Deutsch oder Englisch. Mit unserem Verdacht, es könnte ein Ausländer sein, liegen wir wahrscheinlich nicht verkehrt.«

»Ja, Sherlock«, grinste Große Jäger. »Und was ist mit der Husumer Nummer?«

Christoph wählte. Doch es meldete sich nur eine Computerstimme. »Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar.«

Mommsen starrte immer noch auf das Blatt mit dem Zahlenrätsel.

»Und welche Bedeutung hat der Haken in der zweiten Zeile? Könnte es bedeuten, dass eine Ziffer doppelt gewählt wird?«

Auch Christoph sah auf die Abweichung vom Schema. »Wenn du Recht hast, Harm, würde die Vorwahl 0045-74 … lauten. Das heißt …«

»… Dänemark!«, fiel ihm Mommsen ins Wort und nahm das Blatt an sich. »Ich versuche, Namen und Anschrift hinter den Telefonnummern herauszubekommen.« Dann zog er sich an seinen Arbeitsplatz zurück.

Christoph dreht sich zu Große Jäger um, der seine Füße wieder in der Schreibtischschublade geparkt hatte. »Was macht ›Blödmann‹?«

Der Oberkommissar winkte ab. »Arbeit« war sein ganzer Kommentar. »Und wie war dein Wochenende?«

Christoph imitierte die abwehrende Geste Große Jägers. »Wie, Wochenende?«

»Hmmh!«, brummte der Oberkommissar und schlug die Zeitung auf. »Mal sehn, wie der Husumer SV es wieder vergeigt hat.«

Christoph füllte einen Löffel Vanille-Sahne-Zucker in seine Tasse und goss Tee hinterher. Mit einem leisen Knacken verbanden sich Kandis und Flüssigkeit. Während er umrührte, beugte er seinen Kopf über die Tasse und genoss das zartblumige Aroma des Darjeelings aus der ersten Frühjahrspflückung. Vorsichtig nahm er einen Schluck des heißen Getränks. Mommsen ließ den Tee nur drei Minuten ziehen. Das bewahrte die Frische, obwohl sich die Geister an dieser Stelle schieden. Andere Teetrinker versicherten, der wahre Charakter des Blattgetränks würde sich erst nach fünf Minuten Brühzeit entfalten. Und dann müsse es auch ein Assam sein. Oder gar ein afrikanischer Tee. Tiefschwarz und bitter.

»Den kannst du auch zum Imprägnieren deines Gartenzauns verwenden«, hatte Christoph diese Geschmacksrichtung umschrieben und war froh, dass Mommsen ähnliche Vorlieben wie er selbst pflegte. Und als würde er unterstreichen wollen, dass es auch noch andere Ansichten gibt, war das laute Schlürfen von Große Jäger an seinem Kaffee hörbar.

»Jetzt habe ich alle Daten«, meldete sich Mommsen nach einer Weile. »Neben der Lufthansa gehören die Telefonnummern einem Ivo Dugovic aus Heide, Fabian Auhagen aus Husum, Georghe Smitkov aus Quickborn und Manfred Schöppe. Der wohnt in Schleswig. Die dänische Nummer gehört Anneliese Schmidt, die in Aabenraa beheimatet ist. Und nun kommt die größte Überraschung: Gleich die erste Nummer auf dem Zettel gehört Frank Reiche.«

»Fabian Auhagen. Das ist der mit dem gesperrten Anschluss. Wo wohnt der in Husum?«

»In der Adolf-Brütt-Straße. Das könnte eines der beiden Hochhäuser gleich hinter der Kreisverwaltung sein. Der junge Mann, er ist fünfundzwanzig, steht in unserer Kundendatei. Er ist zweimal wegen Diebstahl vorbestraft. Das erste Mal war eine Geldstrafe, beim zweiten Mal ist die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Das ist jetzt zwei Jahre her.«

»Und die anderen?«

»Augenblick.« Mommsen tippte etwas auf seiner Tastatur ein. »Hier haben wir es. Manfred Schöppe. Vorbestraft wegen Betrug. Derzeit läuft gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen Insolvenzverschleppung und Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung.«

»Das klingt nicht so, als hätten wir es mit einer Bande gewalttätiger Krimineller zu tun. Sehen wir uns den Husumer einmal an«, sagte Christoph zu Große Jäger gewandt.

Der nahm noch einen Schluck Kaffee und stand ohne ein weiteres Wort auf.

Die Adolf-Brütt-Straße lag am nördlichen Stadtrand. Sie fuhren mit Christophs Volvo die Umgehungsstraße über die Klappbrücke, die den Binnen- vom Außenhafen trennte. An diesem Vormittag waren kaum Fahrzeuge unterwegs, sodass sie für die kurze Entfernung nur wenige Minuten benötigten.

»In einer Kritik zu einem Husumbuch hat sich ein Rezensent darüber ausgelassen, dass der Verfasser des Artikels Husum als Stadt der kurzen Wege beschrieben hat, dass hier alles fußläufig wäre. Das erschien dem Kritiker unglaubwürdig. Zu einer solchen Meinung kann auch nur jemand kommen, der selbst noch nie hier gewesen ist«, erzählte Christoph.

Große Jäger wollte nachfragen, um welches Werk es sich handelte, aber da hatten sie bereits ihr Ziel erreicht.

Der Nieselregen hatte eine kurze Pause eingelegt. Trotzdem wirkte alles wie in trübes Grau getaucht. Sie gingen den Fußweg zum etwas von der Straße zurückliegenden Hauseingang und mussten einem Mann ausweichen, der den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen hatte und den Kopf abwandte.

»Irgendwie kam mir der Typ bekannt vor«, sagte Große Jäger. »Wenn ich nur wüsste, woher.«

Sie fanden den Klingelknopf mit der Aufschrift »Auhagen«. Auch nach weiteren Versuchen blieben Sprechanlage und Türsummer stumm. Dafür öffnete eine kleine rundliche Frau mit einem Kind auf dem Arm die Haustür.

»Kennen Sie Herrn Auhagen?«, fragte Christoph.

Die Frau sah ihn mit großen Augen an. »Auhagen? Soll der hier wohnen?«

Sie versuchten ihr Glück im Haus und klingelten an zwei anderen Wohnungstüren. Aber keiner konnte ihnen weiterhelfen.

»Ja, der Auhagen wohnt hier. Aber mehr weiß ich auch nicht«, fertigte sie ein älterer Mann ab, dem noch die Brotkrumen vom Frühstück im Bart hingen.

»Dann probieren wir es später noch einmal«, entschied Christoph. »Fahren wir nach Heide und sehen uns Ivo Dugovic an.«

»Ich komm nicht drauf, woher ich den Mann kenne, der uns vorhin begegnet ist«, ärgerte sich Große Jäger auf dem Beifahrersitz. Christoph war der Adolf-Brütt-Straße gefolgt und hatte auf diese Weise einen Bogen um die Innenstadt geschlagen. Dann fuhr er an den Mausebergen vorbei und fädelte sich kurz darauf auf die Umgehungsstraße Richtung Süden ein. Sie durchquerten die Köge, die das Landschaftsbild südlich Husums bestimmten. An der Abzweigung nach Friedrichstadt verlangsamte Christoph das Tempo und ordnete sich in die linke Abbiegespur ein.

»Über Tönning geht’s schneller«, meinte Große Jäger.

»Mag sein, aber dieser Weg ist romantischer.«

»Hat dich der zweite Frühling erwischt?« Der Oberkommissar fingerte eine zerknitterte Zigarettenpackung aus seiner Hosentasche.

»Du wirst doch in meinem Wagen nicht rauchen wollen?«

Große Jäger steckte die Zigaretten wieder ein, unterließ es aber, zu antworten.

Das alte Holländerstädtchen Friedrichstadt mit seinem prachtvollen Marktplatz und den Grachten ließen sie links liegen. Dann überquerten sie auf der schmalen mit Nieten beschlagenen mattgrünen Eisenbrücke die Eider. Selbst bei dieser trüben Witterung konnte man unendlich weit über die Marsch gucken, die – wie manche kritisch befinden – durch die zahlreichen Windparks optisch an Reiz verloren hat.

»Ist dir bewusst, dass diese Region zu den am dünnsten besiedelten Deutschlands gehört?«, fragte Christoph.

»Das ist auch gut so. Stell dir vor, wenn es hier nur so von Menschen wimmeln würde. Dazu die ganzen Spitzbuben. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir auch nur einen Mitarbeiter mehr für unsere Dienststelle bekämen, wenn hier doppelt so viele Leute leben würden. In ganz Nordfriesland gibt es nur circa zweihundertsechzig Polizisten. Eine Stadt wie Münster, nicht gerade als Hochburg des Verbrechens verschrien, hat das Fünffache an Polizisten bei gut anderthalbmal so vielen Einwohnern. Und dann jammert der Scheiß-Starke immer, wie wären nicht gut genug.«

Christoph musste die Geschwindigkeit reduzieren, weil sie durch Lunden fuhren. Der kleine Ort mit der Kirche im Zentrum war für ihn ein trauriges Beispiel dafür, dass die nicht im Mittelpunkt stehenden Gemeinden langsam starben. Nur noch wenige Geschäfte säumten die mitten durch den Ort führende Hauptstraße. An vielen Geschäftslokalen prangten Schilder »zu vermieten« oder »zu verkaufen«. Das setzte sich auch an der Landesstraße fort, die sie bis nach Heide führte. Ein Straßendorf nach dem anderen reihte sich hier aneinander. Es schien, als würde man durch ein nie enden wollendes Dorf fahren, dabei waren es lauter kleine Streusiedlungen, die jeweils nur aus der einen Häuserreihe entlang der Straße bestanden.

»Ich glaube, wir werden verfolgt«, sagte Christoph und warf einen Blick in den Rückspiegel. »Seitdem wir vor Friedrichstadt abgebogen sind, fährt ein dunkler BMW hinter uns her und hält einen konstanten Abstand.«

»Du siehst zu viele amerikanische Krimis. Üblicherweise verfolgt die Polizei jemanden und nicht umgekehrt«, meinte Große Jäger, klappte aber doch den Kosmetikspiegel herunter, um das rückwärtige Geschehen mit zu beobachten. »Wer auf dieser Straße unterwegs ist, fährt auch bis Heide durch. Was willst du unterwegs anfangen?«

Der BMW hielt den gleichen Abstand. Wenn Christoph beschleunigte, fiel er kurzfristig zurück, um kurze Zeit darauf wieder auf die gleiche Distanz zu gehen.

»Wollen wir uns den schnappen?«, fragte der Oberkommissar.

»Und dann? Was willst du einer Mutti, die auf dem Weg nach Heide zum Einkaufen ist, denn erzählen? Die erschrickt so, dass du für ihre Waisen aufkommen musst.«

»Kann man in Heide überhaupt einkaufen?«

»Es gibt eine kuschelige Fußgängerzone mit einer Reihe schöner Geschäfte. Schließlich ist die Stadt das Zentrum Dithmarschens.«

»Ich hätte immer geglaubt, das wäre Meldorf«, antwortete Große Jäger und zeigte mit dem Finger zur linken Seite. Dort lag das immer noch attraktive Gebäude der Polizeiinspektion Heide, direkt am Marktplatz, dem größten Deutschlands. Christoph bog links ab und fuhr parallel zur großen Fläche. Im Rückspiegel vergewisserte er sich, dass der dunkle BMW die grüne Ampelphase nicht geschafft hatte.

Rechts sahen sie die den Markt säumenden Giebelhäuser, die von einem dunklen Klotz überragt wurden. Es war das Gebäude der ehemaligen Westholsteinischen Bank, die von einem der großen Kreditinstitute einverleibt worden war. Es bedeutete keine Genugtuung, dass dieses selbst jetzt in italienische Hände gelangt war. Daneben stand das bei Einheimischen und Besuchern beliebte Kaufhaus mit der sich harmonisch der Umgebung anpassenden Fassade.

Christoph bog an der nächsten Möglichkeit nach links ab und ließ sich vom GPS-System zur Feldstedter Straße leiten. Die ruhige Nebenstraße war mit überwiegend älteren Siedlungshäuschen bebaut, an deren roter Klinkerverkleidung die raue Witterung ihre Spuren hinterlassen hatte. Akkurat gepflegte Vorgärten gaben Zeugnis davon, dass die Bewohner sich hier wohl fühlten und auf ihren Besitz achteten.

Das gesuchte Haus lag hinter einem Neunzig-Grad-Knick auf der rechten Seite. Das Satteldach wies mit dem Giebel zur Straße hin. Neben dem Gebäude führten zwei Reihen Betonplatten zum hinteren Grundstücksteil. Doch war die Sicht dorthin von einem geparkten Imbisswagen versperrt.

»Chicken? Nein! Hier essen!«, stand in roten Buchstaben auf der Rückseite. Darunter, etwas kleiner: »I. Dugovic, Heide, Partyservice«. Es folgte die ihnen bekannte Telefonnummer, die sie auf diese Spur gebracht hatte.

Als die beiden Beamten ausstiegen, wies Große Jäger auf eine sich bewegende Gardine im gegenüberliegenden Haus. »Wir werden beobachtet.«

Sie überquerten die Straße und näherten sich dem rollenden Verkaufsstand. Obwohl sie noch einige Meter Abstand hatten, nahmen beide den üblen Geruch wahr, der aus dem Fahrzeug herüberwehte. Unter dem Wagen hatte sich eine feuchte Lache gebildet, die um diese Jahreszeit, da sie auch noch im Schatten lag, nicht verdunsten konnte.

»Das stinkt ja bestialisch«, meinte Große Jäger. »Das riecht so, als wären in der Kiste ein halbes Dutzend Leichen verwest.«

Er erntete dafür von Christoph einen missbilligenden Blick und winkte ab. »Ist schon gut. Aber es ist wirklich eine Beleidigung für meine Nase.«

Sie umrundeten das Gefährt, probierten vorsichtig an den Türen, die aber alle vorschriftsmäßig verschlossen waren. Auch ein Blick ins Führerhaus brachte keine Erkenntnisse.

Große Jäger hatte an der Haustür geklingelt. Nichts rührte sich.

»Wollen Sie zu Dukoritsch?«, meldete sich ein Mann, dessen Füße in Filzpantoffeln steckten. Über den wohlgenährten Bauch spannte sich eine grobe Cordhose. Offen blieb die Frage, ob die Hosenträger, die er zum breiten Gürtel trug, eine weitere Absicherung darstellten. Die Strickjacke, der Hals mit dem Doppelkinn und das runde Gesicht mit buschigen Augenbrauen verrieten im Einklang mit den Falten im Gesicht, dass der Mann Rentner war.

»Dugovic«, korrigierte Christoph. »Wir wollen zu Herrn Dugovic.«

»Is nich so einfach mit die fremden Namen. Aber wenn Sie zu den woll’n, ha’m Sie Pech. Der is nich da.«

Dann hielt der Mann seine Nase in die Luft und schnupperte wie ein Walross, das Witterung aufgenommen hatte. »Stinkt ja gewaltig, ne? Was woll’n Sie denn von ihm?«

Christoph ließ die Frage unbeantwortet. »Wissen Sie, wo Ihr Nachbar sein könnte?«

»Nee, keine Ahnung. Der is letzt’n Mittwoch von seine Tour zurück. Früher als sonst. Hat seine Imbissbude abgestellt un sich gleich in sein Pkw geschmissen, ohne ins Haus rein. Nich mal umgezogen hat er sich. Is wie der geölte Blitz weg. Ab durch die Mitte.«

»Das haben Sie beobachtet?«

»Na ja, als Rentner kriegt man so was mit.«

»Ihnen entgeht wohl nichts?«, warf Große Jäger ein.

Der Mann musterte den Oberkommissar unter seinen buschigen Augenbrauen. »Was soll das denn heißen?«

»Mein Kollege meint nur, Sie wären ein guter Beobachter«, besänftigte Christoph Dugovics Nachbarn.

In diesem Moment näherte sich ein Streifenwagen dem Haus und hielt vor der Einfahrt an. Dem Wagen entstiegen eine hoch gewachsene Polizistin und ein kräftig aussehender Streifenbeamter. Auf der Schulter der gut aussehenden Frau mit den langen dunkelbraunen Haaren glitzerte ein silberner Stern. Eine Polizeikommissarin, während ihr älterer Kollege mit vier grünen Sternen herumlief. Ein Hauptwachtmeister.

Der auskunftsfreudige Nachbar eilte der Streifenwagenbesatzung entgegen, orientierte sich kurz und entschloss sich, dem männlichen Beamten seine Aufmerksamkeit zu schenken.

»Herr Wachtmeister«, dabei gestikulierte er furchterregend mit seinen Händen, »meine Frau hat sie angerufen, während ich die beiden in Schnack aufgehalt’n hab. Die sind hier so komisch um Wagen rumgeschlichen. Dabei hab ich …«

»Danke, ist schon gut«, wehrte der Polizist ab und kam auf Christoph und Große Jäger zu. Jetzt bemerkte er auch den üblen Geruch, der vom Imbisswagen ausging, rümpfte die Nase, unterließ aber einen Kommentar.

»Tach«, grüßte er und tippte sich dabei kurz an die Mütze. »Sind Sie hier zu Besuch? Oder gibt es einen anderen Grund für Ihr Interesse?« In seiner Stimme lag Bestimmtheit, obwohl er nicht unfreundlich klang.

»Wir sind Kollegen, aus Husum«, erklärte Christoph und wollte nach seinem Ausweis greifen. Automatisch ging ein Ruck durch den Polizisten. Es schien, als würde er noch ein paar Zentimeter größer werden. Doch er sagte nichts, sondern beobachtete Christoph, der mit spitzen Fingern den Dienstausweis aus dem Futter seiner Jacke angelte.

Der Polizist warf einen Blick darauf, verglich das Foto mit dem Antlitz seines Gegenübers. Dann entspannte sich seine Haltung wieder. Er nickte der im Hintergrund stehen gebliebenen Kommissarin zu und sagte: »Ist in Ordnung. Das sind Kollegen. Von der Kripo aus Husum. Von Wöhrden«, stellte er sich vor und deutete mit dem Kopf in Richtung der Beamtin. »Die Streifenführerin, Frau Neubert. Was riecht hier so?«

Dugovics Nachbar hatte den Dialog mit offenem Mund verfolgt. »Das kommt von Wagen«, erklärte er.

»Herr … äh«, wandte sich der Polizist an den Mann. »Wie ist Ihr Name?«

»Harry Fischkönig. Ich wohne dort drüben.«

»Sie sind wohl Mitglied im Angelverein?«

»Was haben Sie gesagt?« Fischkönig war der Einzige in der Runde, der Große Jägers Anmerkung nicht verstanden hatte.

Mit einem breiten Grienen um die Mundwinkel sagte der Streifenpolizist: »Vielen Dank, Herr Fischkönig. Wir brauchen Sie nicht mehr. Sie können heimgehen. Oder?« Die letzte Frage war an Christoph gerichtet.

Der schüttelte den Kopf. »Nein. Danke.«

Als die vier Beamten unter sich waren, erklärte Christoph kurz den Grund ihres Besuches.

»Uns ist nichts über den Mann bekannt. Natürlich kennen wir seinen Imbisswagen. Er steht sonnabends auf dem Wochenmarkt. Das ist vom Revier nur ein Katzensprung, sodass die Kollegen gelegentlich Kunden bei ihm waren. Ich auch. Aber sonst … haben Sie schon mit der Kripo gesprochen?«

Christoph verneinte.

Die Beamtin war dem Gespräch bisher stumm gefolgt. Jetzt ging sie ein paar Schritte zur Seite und sprach etwas in ihr Handfunkgerät. Einen Moment später quäkte es blechern aus dem Gerät zurück. Sie trat zu Christoph und den beiden anderen hinzu.

»Über Ivo Dugovic ist nichts bekannt. Es liegt auch nichts gegen ihn vor.«

»Danke, Frau Kollegin. Kümmern Sie sich um den Imbisswagen? Es muss ja eine Ursache haben, dass es so fürchterlich daraus riecht.«

»Wird gemacht«, antworte die Polizistin. »Ist Thomas noch bei euch in Husum? Thomas Friedrichsen?«

Große Jäger übernahm jetzt die Antwort. »Ja, der ist bei uns. Wieso?«

»Grüßen Sie ihn von mir, von Tanja aus Heide. Wir waren zusammen auf dem Kommissarlehrgang.«

Dann verabschiedeten sie sich von beiden Polizisten aus Heide.

Auf der Rückfahrt klappte Große Jäger den Kosmetikspiegel auf und sah nach hinten.

»Suchst du den dunklen BMW?«, fragte Christoph. »Der ist nicht wieder aufgetaucht.«

»Sagte ich doch. Das war eine Mutti, die zum Einkaufen gefahren ist. Die denkt gar nicht daran, wieder zurückzufahren, sondern sitzt jetzt mit einer Freundin im ersten Stock in der Friedrichstraße. Da gibt es ein urgemütliches, richtig plüschiges Café.«

»Ich denke, du kennst Heide nicht?«, warf Christoph ein.

»Natürlich kenne ich Heide. Und deshalb bin ich auch Oberkommissar.« Große Jäger klappte den Kosmetikspiegel zurück, kroch förmlich in den Sitz hinein, wandte das Gesicht Christoph zu und streckte ihm mit einem lauten »Bähh« die Zunge heraus. Wenn er vielleicht auch nicht so genial war, so hatte sein Anblick doch Ähnlichkeit mit dem Foto von Albert Einstein.

Es hatte aufgehört zu nieseln. Die vereinzelten Bäume am Straßenrand standen im bunten Herbstlaub. Die Wolken wiesen eine ganze Palette von Farbnuancen auf. Von schmutzigem Grau bis zu hellem Weiß war alles vertreten. Zwischendurch zeigten sich sogar Lücken, die wie Gucklöcher den Blick auf einen tiefblauen Himmel freigaben.

Es war später Vormittag, und Große Jäger hatte vorgeschlagen, irgendwo eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen.

»Vielleicht treffen wir ja unterwegs einen Imbisswagen, der genauso riecht wie jener, den wir vorhin gesehen haben«, meinte Christoph, der damit auf Große Jägers Vorliebe für Fast Food jeglicher Art anspielte.

»Ich glaube, ich werde lieber auf einen Sprung in meine Wohnung gehen und mir eine Scheibe schmieren. Dann kann ich auch nach ›Blödmann‹ sehen.«

Dieses Vorhaben setzte der Oberkommissar auch um, als Christoph hinter dem Gebäude der Polizeiinspektion in Husums Poggenburgstraße parkte.

Mommsen saß an seinem Schreibtisch und sah nur kurz auf, als Christoph ins Büro kam.

»Nichts Neues«, murmelte er und widmete sich weiter seiner Arbeit.

Eine gute halbe Stunde später war auch Große Jäger zurück.

Die drei Beamten arbeiteten still vor sich hin, als es an der Bürotür klopfte.

»Herein«, rief Große Jäger.

Vorsichtig öffnete sich die Tür einen Spalt, und ein Kopf schob sich hindurch.

»Bin i hier richtig?«, fragte ein Mann mit unverkennbar bayerischem Akzent.

»Kommt drauf an, was Sie möchten.«

»I such wen.« Der Fremde öffnete die Tür ganz und trat ein. Er war mindestens zwei Meter groß. Der Dreitagebart machte im Unterschied zu Große Jägers Gesichtszierde einen gepflegten Eindruck. Hinter der Brille sahen sich zwei dunkle Augen suchend um. »Grüaß Gott.«

Christoph zeigte auf Große Jäger. »Moin. Der Kollege ist zuständig.« Etwas leiser fuhr er fort: »Für ›Grüß Gott‹. Schließlich ist er der Einzige in Husum, der katholisch ist.«

Der Besucher trat auf den Oberkommissar zu und deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Walter Otto.«

»Nu seet di ersmol up din Mors«, sagte der Oberkommissar und zeigte auf den Besucherstuhl.

»Bitte?«

»Nehmen Sie Platz, Herr Otto.«

»Noi. Nich Otto. I hoeiß Walter Otto. Walter is mei Zunam.«

»Herrjemine. Mit dieser bayerischen Unart komm ich nie klar. Mein Name ist Große Jäger. Was können wir für Sie tun?«

Otto Walter bemühte sich fortan, Hochdeutsch zu sprechen. Doch mehr als ein ehrlicher Versuch kam dabei nicht zustande.

»Ich wohne in Penzberg. Das ist fünfzig Kilometer südlich von München. Wir haben zwei Töchter, die von Andrea, einem Au-pair-Mädchen, betreut werden. Sie stammt aus Ungarn. Vor etwa zwei Wochen hat sie einen jungen Mann kennen gelernt, der aus Husum kommt. Seit drei Tagen ist Andrea verschwunden. Meine Frau und ich vermuten, dass sie mit dem jungen Mann durchgebrannt ist. Und da wir doch die Verantwortung für das Mädchen haben … Also habe ich mich auf den Weg gemacht.«

»Kennen Sie den Namen des jungen Mannes?«

»Ja, warten Sie.« Otto Walter kramte in seiner Jackentasche und zog einen Zettel hervor. »Jasper Fogh Kragh. Aus Husum.«

»Der Name klingt aber dänisch.«

»Wir haben uns auch gewundert. Der Junge sprach so komisch. Das klang nicht richtig wie Deutsch.«

Große Jäger sah ihn an. »Sie meinen, sein Dialekt wich vom Hochdeutschen ab. Wie Ihrer.«

Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Wieso? Ich spreche doch richtig Deutsch. Im Unterschied zu Andreas Bekanntem. Das klang in meinen Ohren eigenartig. Eben wie hier.«

»Ich starte eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt. Mal sehn, ob wir etwas in Erfahrung bringen können.«

Große Jäger griff zum Telefon, führte ein paar Telefonate und wandte sich dann wieder dem geduldig auf dem Besucherstuhl wartenden Mann zu. »Weder in Husum noch in den umliegenden Amtsverwaltungen ist ein Jasper Fogh Kragh gemeldet.«

Christoph räusperte sich. »Der Name klingt in der Tat sehr dänisch. Es gibt einen Ort Husum in der Nähe von Kopenhagen. Vielleicht kommt der junge Mann von da.«

Otto Walter hatte sich umgedreht und sah Christoph an.

»Das ist mein Kollege Johannes Christoph«, erklärte Große Jäger und war erstaunt, als der Bayer ohne zu zögern »Grüaß Gott, Herr Johannes« sagte.

Große Jäger begann wortlos die Papierstapel auf seinem Schreibtisch durcheinander zu wirbeln. Dabei fluchte er still vor sich hin, bis sich Mommsen aus dem Hintergrund meldete.

»Ich habe die Telefonnummer von Bjarne Thorbensen.«

Thorbensen war Polizeiinspektor in Ribe, der ältesten Stadt Dänemarks, und hatte schon öfter auf dem kurzen Dienstweg mit den Husumern zusammengearbeitet.

Große Jäger wählte die ellenlange Nummer, wartete eine Weile und hatte den Kollegen vom nördlichen Nachbarn schließlich am Apparat.

Nachdem er aufgelegt hatte, strahlte er Otto Walter an.

»Der junge Mann ist wirklich Däne und wohnt in Husum bei Kopenhagen. Vielleicht versuchen Sie es dort einmal. Viel Glück.«

»Jo, mei. Wi soll’s dös wiss’n. Di Unterschied zwisch’n di Preiß’n un die Dän. Für mi san di Fischköpp do all gleich. Selbst sprech’n tun’s ähnli.« Der große Mann stand auf und schüttelte dem Oberkommissar kräftig die Hand. »Dank auch, Herr Jäger.«

»Große Jäger.«

Otto Walter schaute von oben auf den Oberkommissar herab.

»Für mi siehst eh wie ä little Hunter aus.« Er drehte sich zur Tür um und verließ mit einem »Fürti« den Raum.

»Woher weißt du, dass es auf Sjælland einen Ort namens Husum gibt?«, fragte Große Jäger.

Christoph zuckte nur mit den Schultern. »Weil ich so etwas weiß, bin ich Hauptkommissar.«

Kurz darauf rief die Polizeikommissarin aus Heide an. Große Jäger war am Telefon.

»Wir haben einen Schlüsseldienst bestellt und den Wagen öffnen lassen.«

»Lass mich raten: Darin lagen ein Dutzend Leichen.«

Sie lachte. »Richtig.«

Jetzt war Große Jäger verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet. »Na, so was.«

Erneut lachte sie. »Aber Hühnerleichen. Der Wagen war noch halb voll mit Grillgut und anderen Lebensmitteln, die zur Ausstattung eines mobilen Imbisswagens gehören. Zwischen Mittwoch und heute – wir haben immerhin Montag – muss die Kühlung ausgefallen sein, und die Ware ist vergammelt. Daher rührte der bestialische Gestank.«

»Also kein Fall für die Mordkommission.«

»Nein, wohl eher für die Gewerbeaufsicht, das Veterinäramt oder die Lebensmittelkontrolle. Ivo Dugovic hat eine Freundin. Sie leben aber nicht zusammen. Wir sind bei der Frau vorbeigefahren. Sie weiß auch nicht, wo Dugovic geblieben ist. Er hat sich bei ihr seit Mittwoch nicht mehr gemeldet.«

»Und nun?«

»Für uns ist der Fall damit erledigt.«

Große Jäger holte tief Luft. »Sag mal, hast du nach Dienstschluss mal Zeit für mich?«

»Bist du der mit der Brille oder der Dicke?«, fragte sie zurück.

Der Oberkommissar holte tief Luft. »Der Größere«, antwortete er schließlich.

»Nein, tut mir Leid.«

»Hättest du denn Zeit für mich gehabt, wenn ich der andere gewesen wäre?«

Erneut war ihr sympathisches Lachen zu hören. »Nein, Kollege, auch dann nicht. Ich habe einen lieben Freund. Und der reicht mir völlig.«

»Dann alles Gute. Tschüss.«

»Euch auch. Tschüss.«

Große Jäger berichtete den beiden anderen vom Inhalt des Gesprächs.

»Das ist merkwürdig. Warum ist der Mann geflüchtet? Zumindest sieht sein überhasteter Aufbruch nach einer Flucht aus. Das war am Mittwoch. Harm«, wandte sich Christoph an Mommsen, »kannst du bitte feststellen, ob in der ersten Hälfte der letzten Woche ein Überfall oder ein anderes außergewöhnliches Verbrechen in Schleswig-Holstein stattgefunden hat? Vielleicht gibt es eine Verbindung zu den beiden unbekannten Bankräubern.«

Mommsen kümmerte sich darum und konnte kurz darauf feststellen: »Nichts. Kein Banküberfall, kein spektakulärer Raub. Überall nur das übliche Tagesgeschäft. Das einzig Herausragende in der letzten Woche – hier im Norden – waren wir mit unseren beiden Toten.«

»Die Sache wird immer verworrener. Wo ist Dugovic geblieben? Und welche Verbindung gibt es zu unseren anderen Fällen? Wir hatten Überlegungen angestellt, dass die Bankräuber, von denen wir wissen, dass einer in Reiches Wohnung ermordet wurde und der andere vermutlich Reiches Mörder ist, aus Osteuropa stammen könnten. Sollten wir nicht Dugovics Fingerabdrücke mit denen vom Palmengarten vergleichen?«

»Dann hätten wir unseren Mörder.«

»Ebenso müssten wir Dugovics Abdrücke mit denen aus Leck abgleichen. Vielleicht ist er ja das Opfer, die verschwundene Leiche.«

Christoph nahm Kontakt zur Kriminalpolizeistelle in Heide auf. Der zuständige Beamte versprach, sich umgehend darum zu kümmern. Währenddessen stand Große Jäger an der Tür.

»Komm«, sagte er zu Christoph. »Wir versuchen es noch einmal bei diesem Auhagen.«

Als sich auch nach mehrmaligem Klingeln an der Eingangstür zum Haus niemand meldete, versuchten sie es bei einem Nachbarn. Eine weibliche Stimme meldete sich über die Gegensprechanlage, erklärte knapp »Zweiter Stock« und betätigte den Türsummer, sodass sie ins Treppenhaus gelangten.

Am Treppenabsatz der Etage wurden sie bereits empfangen.

»Der Auhagen müsste da sein«, erklärte eine resolut aussehende ältere Frau und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ich habe ihn heute Morgen noch gesehen. Dort drüben wohnt er.« Sie zeigte mit der ausgestreckten Hand auf eine gegenüberliegende Wohnungstür.

Christoph drückte auf den Knopf, doch es ertönte kein Signal.

»Der hat die Klingel abgestellt«, mutmaßte Große Jäger und klopfte kräftig gegen das Holz.

Es dauerte nicht lange, bis die Tür einen Spalt geöffnet wurde. Es erschien der Kopf eines jungen Mannes, dessen gegelte Haare wie bei einem Igel in die Höhe standen. Auffällig war das unnatürlich gelbe Blond.

»Ja?«, fragte er mit müder Stimme.

»Herr Auhagen? Fabian Auhagen?«

Er bestätigte es durch Kopfnicken.

Christoph sah sich um, ob die Nachbarin noch in ihrer Wohnungstür stand. Aber die resolute Frau hatte diese bereits wieder geschlossen.

»Wir sind von der Polizei. Haben Sie einen Moment Zeit für uns?«

Ein Aufflackern in seinen tief liegenden Augen zeigte an, dass er überrascht war. »Polizei? Was wollen Sie von mir? Was soll ich getan haben?«

»Können wir erst einmal hineinkommen? Es geht nur um eine Information, die wir von Ihnen haben möchten«, beruhigte Christoph den jungen Mann.

Auhagen öffnete die Tür ganz und ließ die beiden Beamten hinein. Er führte sie durch einen kurzen Flur, von dem zwei geschlossene Türen abgingen. An einem Wandhaken hing ein zerschlissener Blouson, dessen Aufdruck zwischen den Falten nicht erkennbar war. Christoph stolperte über ein paar Joggingschuhe, wie sie von jungen Leuten gern getragen werden. Sie waren achtlos mitten im Flur abgestellt worden. Auhagen bemerkte es, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Sie kamen an der offen stehenden Küchentür vorbei. Ein kurzer Blick in den kleinen Raum zeigte nichts Besonderes. Eine Küchenzeile mit Kunststoffmöbeln, Herd und Spüle. In der Ecke stand ein älterer Kühlschrank. Auf der Arbeitsfläche sah Christoph benutztes Geschirr.

Der junge Mann führte sie ins Wohnzimmer. Mitten im Raum standen ein Esstisch aus hellem Birkenholz, davor ein passender Holzstuhl und zwei weiße Klappstühle aus Kunststoff. Ein vom Design nicht zum Alter des Bewohners passender Schrank sowie ein Regal aus Metall vervollständigten die Einrichtung. Von der Mitte der Zimmerdecke führte eine Kabelschlaufe in die Zimmerecke zur Lampe, einem runden Papierballon. Einzig der große Fernsehapparat, der DVD-Player und fünf über den Raum verteilte Lautsprecherboxen erinnerten an die Einrichtung junger Leute.

Auf dem Esstisch standen eine Untertasse mit einer halb niedergebrannten Kerze, ein Aschenbecher und ein angeschlagener Keramikbecher, über dessen Rand die Pappe eines Teebeutels lugte.

Auhagen nahm auf dem Holzstuhl Platz. Die beiden Beamten setzten sich auf die beiden Plastikstühle, ohne dass der junge Mann sie aufgefordert hatte.

»Warum haben Sie die Klingel abgestellt?«, fragte Große Jäger.

»Ich? Das waren die Stadtwerke. Ich hab die Stromrechnung nicht bezahlt.«

Deshalb die Kerze, dachte sich Christoph.

»Und nun?«, hakte der Oberkommissar nach.

»Was weiß ich. Alles Scheiße.« Der junge Mann griff nach einem Päckchen Zigarettentabak zum Selbstdrehen. Christoph fiel auf, dass er sich dabei weiter als notwendig vorbeugte. Er hätte die Packung ohne Probleme mit ausgestrecktem Arm erreichen können. Auch Große Jäger hatte es bemerkt. Der Oberkommissar fingerte nach der zerknitterten Packung in seiner Jeans und bot Auhagen eine Zigarette an.

»Hier. Probier die mal.« Er hatte den Übergang zum unkonventionellen »Du« gewählt.

Auhagen griff zu und ließ sich auch Feuer geben. Dann inhalierte er tief den Rauch. Auch diesmal hielt er seinen Arm merkwürdig steif.

»Ist was mit deinem Arm?«, wollte Große Jäger wissen.

»Unfall. Sozius auf ‘nem Motorrad. Schon ‘n paar Jahre her. Seitdem krieg ich den Arm nicht mehr gerade.«

»Also schuldlos?«

»Die ganze Clique hatte vorher Party gemacht. Ich auch. Daher hab ich nix von der Versicherung gekriegt.«

»Und was ist sonst Scheiße?«

»Alles.«

»Nun rück mal raus mit der Sprache. Wo drückt der Schuh?«

»Keine Mäuse. Habt ihr schon mal was von Hartz IV gehört?«

Die beiden Beamten sahen sich an. »Ja«, fuhr Große Jäger fort. »Das beziehst du?«

»Ja. Aber davon kannst du nicht leben und nicht sterben.«

»Das müssen Millionen andere auch. Ganze Familien.«

»Familien … Pahh! Meine Freundin ist mit dem Kleinen weg.«

»Du hast ein Kind?«

»Nee, ich nich. Meine Freundin. Hat sie mitgebracht. Aber dann, als mir alle an den Hacken waren, ist sie zu so ‘n annern Typen gezogen. Nach Neumünster. ›Du hast keine Zukunft mehr‹, hat sie mir gesagt. Weg war sie. Na ja, vielleicht hatte sie so büschen Recht.«

»Was willst du damit sagen?«

»So ‘n großer Held bin ich nie nich gewesen. Inne Schule nich. Zweimal backen geblieben. Ausse Achte ha’m sie mich entlassen. Damit kriegste keine Lehrstelle.«

»Das sollte aber noch kein Beinbruch sein.«

»Hab dann ‘n büschen gejobbt. Mal hier was, mal da was. Bis die Sache mit ‘n Arm passiert ist. Seitdem ist daddeldu.«

»Und warum hat man dir den Strom abgestellt?«

Fabian Auhagen schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich Rindvieh. Wollte auch so sein wie die annern. Handy, Auto. Schicke Wohnung. Hab alles auf Pump bezahlt. Is natürlich inne Büx gegangen. Nun sin alle hinter mir her und woll’n mir inne Hacken beißen.«

Er sah aus den tief liegenden dunklen Augen zuerst Große Jäger, dann Christoph an. »Alle woll’n sie dir nur ans Portemonnaie. Zweimal ha’m sie dies Jahr die Gaspreise erhöht. Wie solls’ das noch bezahl’n?« Er spitzte mehrfach die Lippen, sodass der kleine schwarze Oberlippenbart fast an die Nasenspitze reichte. Dann griff er zum Teebecher, sah hinein und stellte fest, dass er leer war. Mit einem Achselzucken stellte er das Trinkgefäß wieder zurück. In Gedanken griff er zu seiner Tabakpackung.

Große Jäger schob die angebrochene Zigarettenpackung über den Tisch. »Nimm man von diesen.«

Auhagen zündete sich die Zigarette an. »Und was wollt ihr von mir?«

Der Oberkommissar zeigte ihm ein Bild von Frank Reiche. »Kennst du den?«

Der junge Mann musterte aufmerksam das Bild, bevor er es auf den Tisch zurücklegte. »Nee! Nie geseh’n. Was is mit dem?«

»Der ist tot. Ermordet. Stand in der Zeitung.«

Ein Erschrecken durchfuhr Auhagen. »Tot? Ich les keine Zeitung. Kann ich mir nich leisten. Wieso isser tot? Und was hab ich damit zu tun?«

Geduldig erklärte ihm Große Jäger, dass Reiche vor dem Palmengarten ermordet wurde und dass die Polizei in der Wohnung des Opfers einen Zettel gefunden hat, auf dem Auhagens Telefonnummer stand.

Der junge Mann machte eine resignierte Handbewegung. »Telefon … Ha’m sie mir auch abgeklemmt. Was war nun mit dem Typ? Ach ja, ob ich den kenn? Nee! Nie begegnet. Hab auch keine Ahnung, wie meine Telefonnummer auf dies’n Zettel gekomm’ is. Kann ich euch echt nich weiterhelfen.«

Christoph mischte sich das erste Mal in das Gespräch ein. »Herr Auhagen! Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, so rufen Sie uns bitte an.« Christoph legte eine Visitenkarte auf den Tisch.

Der junge Mann lachte bitter auf und schob die Karte in Christophs Richtung zurück. »Witzig. Wie soll ich denn telefonieren? Telefon abgeklemmt, Handy weg.«

Große Jäger erhob sich ein wenig von seinem Stuhl und zog eine zerfledderte Geldbörse aus der Gesäßtasche. Er kramte im Scheinfach herum und legte wortlos einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch.

»Was soll’n das?«

»Kauf dir was zum Beißen. Und ‘ne Schachtel Zigaretten. Ich weiß, wie das ist, wenn du einen Schmachter hast.«

Auhagen ließ den Geldschein liegen, protestierte aber auch nicht. Er begleitete die beiden Beamten noch bis zur Wohnungstür und tauchte dann wieder in sein trostloses Dasein ab.

Auf dem kurzen Weg zur Dienststelle schwiegen die beiden Polizisten. Jeder hing seinen Gedanken nach, bis Große Jäger plötzlich sagte: »Nicht jeder kann ein Gewinner sein.«

»Wenn die Geschichte stimmt, die er uns erzählt hat, ist er ein armer Wicht. Ich fürchte, von diesen Schicksalen gibt es mehr in unserem Land, als wir beide es uns vorstellen können. Aber was verbindet Auhagen mit Reiche? Und mit Dugovic, der so plötzlich verschwunden ist?«

»Wenn wir das wüssten.«

Sie erreichten die Polizeiinspektion und gingen auf direktem Weg in ihr gemeinsames Büro. Mommsen erwartete sie schon.

»Ich habe die Zeit genutzt und ein paar Erkundigungen über einen weiteren Kandidaten von der Liste eingeholt. Manfred Schöppe aus Schleswig.«

»Von dem wissen wir, dass er wegen Betrugs vorbestraft ist.«

»Und im Augenblick wird gegen ihn wegen Insolvenzverschleppung und Abgabe einer falschen eidesstattlichen Erklärung ermittelt.«

Christoph fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. »Also kein Leichtgewicht wie unsere anderen Kandidaten. Wie sehen seine wirtschaftlichen Verhältnisse aus?«

»Nicht gut. Der hat durch die Pleite alles verloren.«

»Merkwürdig ist, dass alle Leute, die uns im Zusammenhang mit diesem Fall begegnet sind, finanziell am Ende sind. Ist das der gemeinsame Nenner? Dabei fällt mir ein: Haben wir zu diesem Punkt Informationen über Ivo Dugovic vorliegen?«

»Nein«, antwortete Mommsen. »Ich kümmere mich darum.«

Große Jäger nahm laut und vernehmlich einen Schluck aus seinem Kaffeebecher. »Was macht der Dingsbums …«

»Schöppe?«

»Von mir aus Schöppe. Was war der von Beruf?«

»Der war Geschäftsführer einer Finanzberatung in Hamburg. Die ist Pleite gegangen.«

Große Jäger lachte auf. Es klang wie das Meckern einer Ziege. »Das klingt wie Hohn. Da hat er sich anscheinend selbst schlecht beraten.«

»Es könnte aber auch System dahinter stecken«, warf Christoph ein. »Da wird Menschen mit falschen Versprechungen das Geld abgeluchst. Dann verschwindet das Kapital in dunkle Kanäle. Und die Anleger gehen leer aus.«

»Das sind doch nur Rechtsanwälte und Ärzte, die ihr unversteuertes Geld dort verstecken wollen«, antwortete Große Jäger.

Christoph schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Zum einen ist es nicht illegitim, wenn Angehörige der freien Berufe lukrative Anlagemöglichkeiten für ihr hart erarbeitetes Geld suchen. Häufig werden aber auch kleine Sparer, die sich mühsam etwas für das Alter zurückgelegt haben, übervorteilt.«

»Ich wäre nie so dumm, mein Vermögen irgendwelchen Irrwischen anzuvertrauen. Dafür gibt es genug seriöse Anlagemöglichkeiten bei unseren Banken und Sparkassen. Abgesehen davon stehe ich vor keinem solchen Problem. Mein Konto ist notorisch überzogen.«

»Vielleicht hast du Recht, Wilderich. Aber selbst wenn Schöppe Geld auf unsaubere Weise beiseite geschafft haben sollte, sehe ich noch nicht den Zusammenhang mit den anderen. Reiche und Auhagen waren bestimmt keine Kunden bei einer Anlagegesellschaft.«

Der Oberkommissar nahm erneut einen Schluck Kaffee und sah anschließend eine Weile in seinen Becher, als würde er auf dem Grund das Geheimnis erkennen können. »Das ist das Spannende an unserem Beruf: Wenn du eine Idee in der linken Hirnhälfte hast, antwortet die rechte: Das war nix. Das ist unlogisch.«

»Es ging überraschend schnell und unkompliziert, etwas in Erfahrung zu bringen«, mischte sich Mommsen in das Gespräch ein. »Auch der Imbissbesitzer, Ivo Dugovic, hatte wirtschaftliche Probleme. Er konnte Kredite nicht mehr bedienen, und Lieferanten stellten die Ware nur gegen bar zur Verfügung. Sein Konto wird nur noch auf Guthabenbasis geführt. Und da er im Minus ist, lebt er nur von dem, was er in der Tasche hat.«

»Ich habe immer geglaubt, so ein Imbiss ist der Einstieg ins Millionärsdasein«, meinte Große Jäger.

»Das dürfte in der heutigen Zeit vorbei sein.«

»Vielleicht liegt es an den Papptellern, die heute benutzt werden. Hätte der Wurstmaxe noch richtiges Geschirr, das er hätte spülen müssen, wäre das doch die ideale Voraussetzung gewesen.«

»Du meinst vom Teller waschenden Imbissbudenbesitzer zum Millionär?«

Große Jäger ließ die Frage unbeantwortet.

»Ein weiterer Name auf unserer Liste der vom sozialen Abstieg Bedrohten«, stellte Christoph fest. »Aber was verbindet die Menschen? So langsam glaube ich nicht mehr an die Theorie vom gemeinsamen Banküberfall.«

»Da sind wir unterschiedlicher Auffassung«, widersprach der Oberkommissar. »Noch ist nicht bewiesen, dass es nicht doch über diese Schiene Gemeinsamkeiten gibt. Zumindest mit Reiche.«

»Wenn du Recht hast, ist die Mordkommission auf der richtigen Fährte. Die verfolgt schwerpunktmäßig diese Spur.«

»Auch wenn ich sie nicht leiden mag, aber die Dobermann und ihre Flensburger Truppe sind eine tüchtige Mannschaft. Nicht zuletzt dank solcher Experten werden in Deutschland siebenundneunzig Prozent aller Tötungsdelikte aufgeklärt.«

»Dann sei ein wenig stolz, mein lieber Wilderich, dass du dazugehören darfst.«

»Pahhh!«

»Ihr beiden Sabbeltaschen lasst einen nicht zu Wort kommen«, meldete sich erneut Mommsen aus dem Hintergrund.

Große Jäger wandte sich dem jungen Kollegen zu. »Hat unser Küken etwa noch eine Information?«

»Natürlich. Die Dithmarscher aus Heide sind tüchtig. Ivo Dugovic hat noch einen Spezi. Der ist Grieche, heißt Georgios Mitrolitis und betrieb einen Imbiss vor einem Verbrauchermarkt links von der Hamburger Straße.«

»Betrieb? Gibt es den nicht mehr?«

»Ja. Seit etwas über einer Woche ist der Imbiss geschlossen.«

»Was ist das für eine Seuche? Da scheint ein ganzer Berufsstand in Dithmarschen auszusterben. Das sollten wir uns ansehen, oder?« Große Jägers Frage war an Christoph gerichtet. Der stimmte zu.

Sie hatten für diesen Weg ihren Dienstwagen gewählt. Nach längerem Werkstattaufenthalt lief der Motor wieder einwandfrei.

Das ist aber nur eine Frage der Zeit, überlegte Christoph auf dem Beifahrersitz, bis der Wagen wieder zur Reparatur muss, wenn man ihn Große Jäger überließ. Der saß hinter dem Lenkrad, fluchte auf andere Verkehrsteilnehmer und verhielt sich so, als hätte er sein ganzes Vermögen investiert und die Straße für sich allein gekauft. Der Oberkommissar ließ kein Vorurteil aus. Den Einheimischen warf er vor, über keine Fahrpraxis zu verfügen. Die Touristen und Durchreisenden waren in seinen Augen Kleinkriminelle am Steuer, die Berechtigung zum Führen eines Lkw setzte seiner Auffassung nach voraus, dass man vorbestraft war, und als Christoph Große Jäger ablenken wollte und die großen Windmühlen erwähnte, die beidseits der Straße das Landschaftsbild bestimmten, schimpfte der Oberkommissar ansatzlos über die Strommafia. Christoph zog es fortan vor zu schweigen. Das hinderte seinen Kollegen nicht daran, sich weiter über irgendetwas aufzuregen. Von der Bundesliga über die Fleischpreise bis zu … Christoph hörte nicht mehr zu und vernahm zwischendurch auch gelegentlich ein »Scheiß-Starke«. Sicher, der Kriminaloberrat trug für alles die Verantwortung. Zumindest in diesem Augenblick.

Sie hatten inzwischen das Zentrum von Heide passiert und waren über die Brücke, die nördlich des Bahnhofs die Gleise überspannt, Richtung Rendsburg gefahren, als Christoph nach links zeigte. »Dort muss es sein.«

Direkt neben dem Eingangsbereich des Verbrauchermarktes stand der Imbisswagen, ein Anhänger, der zur Fortbewegung einen Zugwagen benötigte. Die Klappe war geschlossen. Daran war ein Schild befestigt: Wegen Krankheit vorübergehend geschlossen.

»Zumindest ist Mitrolitis nicht ohne Vorankündigung geflüchtet wie sein Freund Dugovic«, stellte Große Jäger fest und umkreiste wie ein schnuppernder Hund den Wagen. Ein Ehepaar, das mit einem voll beladenen Einkaufswagen den Markt verlassen hatte, blieb neugierig stehen und sah dem Oberkommissar zu. »Mir stinkt alles. Euch auch?«, fragte Große Jäger, worauf die Beiden wortlos abzogen. »Der Typ scheint seine Ware mitgenommen zu haben. Zumindest riecht es nicht so wie bei Dugovic.«

»Machen wir einen Krankenbesuch bei Georgios Mitrolitis«, schlug Christoph vor und wollte sich ans Steuer des Dienstwagens mogeln, aber Große Jäger winkte ab.

»Heute fahre ich!«

Sie nahmen Kontakt zu Mommsen in Husum auf, der ihnen kurz darauf die Wohnanschrift des Griechen durchgab. Mitrolitis wohnte in Nordhastedt. Der kleine Ort lag wenige Kilometer südlich an der alten Bundesstraße Richtung Hamburg.

Die Wohnung lag in einem Anbau mit Flachdach, der sich an ein älteres Siedlungshäuschen anschloss. Ein schmaler Plattenweg führte durch einen Garten, der eher zweckdienlich als der Zierde dienend angelegt war. Ein kleines Mädchen, vielleicht gerade schulpflichtig, saß auf einer Schaukel, an der sich schon ihre Eltern erfreut hatten, und betrachtete neugierig die beiden Beamten.

»Wollt ihr zu Dschorschios?«, fragte sie. »Der ist krank.«

»Ist er zu Hause?«

»Ja, weil er krank ist«, gab sie mit kindlicher Logik zurück.

Sie klingelten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis eine Sperrkette vorgelegt und die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde.

»Herr Mitrolitis?«

Vom Wohnungsinhaber war nur eine Gesichtshälfte zu sehen. Er antwortete nicht.

»Wir sind von der Polizei und möchten mit Ihnen sprechen.«

»Ich aber nicht mit Ihnen.«

»Dann könnten wir Sie auch auffordern, Ihre Zeugenaussage auf dem Revier zu tätigen.«

»Zeugenaussage?« Es schien, als würde der Mann erschrecken. »Ich habe nichts auszusagen. Gehen Sie wieder.«

»Dann müssen wir …« Bevor Christoph zu Ende sprechen konnte, hatte ihn Große Jäger vorsichtig am Arm genommen und beiseite geschoben.

»Der hat Angst«, raunte er Christoph zu und richtete sich dann an den Mann hinter dem Türspalt. »Hör mal, Kumpel. Es geht um deinen Imbiss. Der steht dort ein bisschen im Wege.«

Ein Aufatmen ging durch Mitrolitis. »Ach so. Ist in Ordnung. Sobald ich kann, werde ich mich darum kümmern.«

»Das sollte spätestens morgen geschehen.«

Die Tür wurde einen Spalt geschlossen, dann hörten sie, wie die Sperrkette entfernt wurde. Anschließend öffnete der Grieche die Tür ganz und hielt den beiden Beamten einen Gipsarm hin.

»Das geht im Augenblick nicht. Ich bin verhindert. Außerdem habe ich derzeit keinen Wagen zum Ziehen.«

Der Mann vor ihnen mochte etwa Mitte dreißig sein, hatte dunkles, etwas längeres Haar, das mit einer Welle über die Ohren gelegt war und sich zu einem dichten schwarzen Bündel am Hinterkopf vereinigte. Die Wangenknochen waren hochgezogen, die Nase hatte ein fast klassisches hellenisches Profil. Dazu passten auch die dunklen Augen. Weniger dekorativ waren allerdings die zahlreichen blauen Flecken, die im ganzen Gesicht verteilt waren, und der große Bluterguss, der sich unter dem rechten Auge befand.

»Wie heißt denn diese Erkrankung?«, fragte Große Jäger.

Mitrolitis kniff die Lippen zu einem schmalen Spalt zusammen. Schließlich antwortete er doch. »Das war ein Unfall.«

»Verkehrsunfall?« Große Jäger sah sich um. Der unbefestigte Platz vor dem Anbau war leer. Ein Ölfleck verriet, dass dort üblicherweise ein Fahrzeug abgestellt wurde.

»Kein Verkehrsunfall.«

»Und wo ist Ihr Auto?«

»Verkauft.«

»Was war das für ein Unfall?«

»Meine Sache.«

»Sieht aus, als wäre es eine Schlägerei gewesen. Das ist ein Delikt, für das wir uns interessieren.«

Beide Polizisten sahen das Aufblitzen in Mitrolitis’ Augen. »Keine Schlägerei. Ich war ganz allein, als das passiert ist.«

»Nun sagen Sie mir nicht, Sie wären die Kellertreppe heruntergefallen.«

»Kann schon sein.«

Die Beamten hatten festgestellt, dass der Anbau, in dem der Grieche wohnte, nicht unterkellert war.

»Das war aber nicht bei Ihnen.«

»Na und?«

»War es vielleicht der Keller im Hause Ihres Freundes Ivo Dugovic?«

Der Mann sah an den beiden Kripoleuten vorbei, als würde er die Gegend absuchen. Dann blickte er wieder Große Jäger an. »Ich habe genug gesagt. Und wo Ivo ist, weiß ich nicht.«

»Sie wissen also, dass Herr Dugovic Hals über Kopf abgehauen ist?«

»Keine Ahnung. Das reicht jetzt.«

Ohne weitere Erklärung hatte Mitrolitis die Tür geschlossen. Sie hörten, wie von der Innenseite die Sperrkette vorgelegt wurde.

Auf der Heimfahrt meinte der Oberkommissar: »Der sah übel aus. Den hat jemand kräftig in der Mangel gehabt.«

»Ein Linkshänder.«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil sein rechtes Auge geschwollen war. Wenn sich zwei Kontrahenten gegenüber stehen und jemand mit der rechten Faust zuschlägt, trifft er das linke Auge seines Gegenübers. Ist aber das rechte Auge lädiert, liegt die Vermutung nahe, dass der Schläger Linkshänder ist.«

»Klingt gut.«

»Der Täter war besonders gründlich. Er hat seinem Opfer auch noch den Arm gebrochen.«

Große Jäger schien kurzfristig mit den Gedanken abwesend zu sein, doch dann antwortete er. »Wir haben es offenkundig mit Leuten zu tun, die ausgesprochen brutal vorgehen. Das hat uns auch der Mord an Reiche gezeigt.«

»Das war ein Rechtshänder, erklärte Christoph.

»Woher willst du das wissen?«

»Ganz einfach. Stell dir noch einmal den Eingangsbereich zum Palmengarten vor. Das ist die breite Eingangstür aus Glas. Links und rechts davon sind die Betonpfeiler. Am rechten wurde Reiche erschlagen. Wir wissen, dass der Täter ihn mehrfach mit der Hand gegen die Mauer gestoßen hat. Dabei ist er einmal abgerutscht und musste sich mit der linken Hand an der Glasscheibe der Tür abstützen. Es ist logisch, dass er das mit links tat, weil er rechts mit Reiches Kopf beschäftigt war.«

»Und woher willst du wissen, dass er mit der linken Hand die Glasscheibe berührte und die verwischten Abdrücke hinterließ?«

»Wenn du vor der Tür stehst, lagen vier Fingerabdrücke auf fast gleicher Höhe, während sich der fünfte etwas tiefer fand. Sieh dir deine Hand an. Der Daumen sitzt ein Stück unterhalb der anderen Finger. Wenn der tiefere Abdruck nun auf der rechten Seite liegt, muss es die linke Hand gewesen sein.«

Große Jäger schüttelte den Kopf. »Das ist wie beim alten Kinderreim. Links ist dort, wo der Daumen rechts ist.«

»Wie gut, dass du etwas aus Kindheitstagen mitgenommen hast.«

Der Oberkommissar warf Christoph einen Seitenblick zu. »Deine Überlegungen klingen plausibel. Wenn du so weitermachst, könnte aus dir irgendwann noch einmal ein Kriminalist werden.« Dann betätigte er zornig die Hupe. »Wenn diese verdammten Idioten da draußen genauso über links und rechts Bescheid wüssten wie du, wäre das Autofahren fast ein Vergnügen.«

Christoph unterließ es zu antworten und war froh, dass Große Jäger auf der Rückfahrt seine Monologe nur noch eingeschränkt fortsetzte.

*

Während der Rückfahrt standen nur noch vereinzelt ein paar Zirruswolken am Himmel. Die lange Dämmerung hatte inzwischen eingesetzt, und als sie das Büro betraten, hatte Mommsen bereits die Beleuchtung eingeschaltet.

Ihren Bericht aus Nordhastedt konnte Mommsen ergänzen.

»Es wird euch bestimmt nicht überraschen, wenn ich erzähle, dass auch Mitrolitis kein Großverdiener ist. Auch ihm geht es schlecht. Allerdings hat er in der letzten Woche sein Auto verkauft. Ein Landrover Freelander mit Zughaken, damit er seinen Imbiss durch die Lande ziehen konnte. Er hat nämlich nicht nur vor dem Verbrauchermarkt in Heide gestanden, sondern ist auch an den Wochenenden von Schützenfest zu Schützenfest gezogen.«

»Und weshalb verkauft der plötzlich sein Auto?«, fragte Christoph. »Wenn er wirtschaftlich nicht auf Rosen gebettet war, so wäre es doch logisch, wenn er den Wagen behalten würde. Ohne Zugfahrzeug hat er noch weniger Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Und das scheint er nötig zu haben. Darauf sollten wir noch einen Gedanken verschwenden. Doch zuvor muss ich telefonieren.«

Er griff zum Hörer und wählte die Nummer der Praxis von Dr. Hinrichsen. Dann vernahm er die vertraute Stimme Anna Bergmanns.

»Hallo«, meldete er sich, ohne seinen Namen zu nennen.

»Hallo«, gab sie zurück. Es klang unterkühlt, beinahe abweisend.

»Ist irgendetwas?«

Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie antwortete. »Wie war es in Kiel? Hattest du ein schönes Wochenende?«

»Was soll das? Bist du eifersüchtig?«

Erneut entstand eine Pause. »Quatsch! Warum sollte ich?«

»Wollen wir uns heute Abend treffen? Bei dir?«

»Nein«, wehrte sie ab. »Wir haben viel zu tun. Es wird später bei mir. Danach möchte ich gern meine Ruhe haben.«

»Wir hatten gerade Wochenende.«

»Und du bist ausgeruht? Trotz Kiel?«

Er sah ein, dass es nichts bringen würde, weiterzureden. »Ich glaube, wir sollten morgen noch einmal miteinander telefonieren.«

Sie sagte nur »Tschüss« und legte auf.

Große Jäger hielt einen Kugelschreiber in die Höhe. »Wem is er zu?«

Christoph sah auf, zuckte die Schultern und fragte: »Äh?«

Jetzt grinste Mommsen im Hintergrund. »Er spricht Westfälisch mit uns. Wir würden fragen: Wem sein is das?«

Auch Christoph lachte, wies mit der Hand auf sich und sagte zu Große Jäger: »Aha. Mein sein.«

Der warf den Kugelschreiber quer durch den Raum. »Tust du dafür ein aus?«

»Was heißt das nun wieder?«

»Schmeißt du ‘ne Runde?«

»Willst du am Kiosk in der Bahnhofshalle ploppen?«

»Eigentlich hatte ich gedacht, du lädst Mommsen und mich zu Judith ein.«

Christoph nickte. »Von mir aus.«

Dann begann er mit Mommsen die Schreibtische einzuräumen. Große Jäger schaute ihnen gelassen zu. Er hatte das Chaos an seinem Arbeitsplatz seit Jahren nicht mehr sortiert und sah auch keine Veranlassung, zum Dienstschluss etwas wegzuräumen.

Sie verließen das Dienstgebäude und gingen das kurze Stück zum »Zingel« zu Fuß. Dort lag »Dragseth’s«, der älteste Gasthof der Stadt.

Die vier Bäume vor dem romantischen Gebäude warfen lange Schatten. Sie betraten das Haus durch die niedrige Tür und standen im kleinen Flur mit dem bäuerlichen Ambiente. Gleich rechts, hinter dem als Zierde liegenden Strohballen, ging die zweite Tür in die Gaststube mit dem begehbaren wuchtigen Kachelofen ab, der den Raum dominierte.

»Hallo«, begrüßte sie Judith, die Wirtin. »Wie immer?«

Bevor Christoph oder Mommsen antworten konnte, hatte sich Große Jäger bereits vorgedrängelt. »Wir brauchen keine Karte. Wie immer.«

»Also gut«, sagte Judith lachend. »Vier Bier, für den Boss Krabben mit Rührei, für Harm Finkenwerder Scholle und für dich, Wilderich, gebratenen Aal, Speck und viel zerlassene Butter. Dazu Bratkartoffeln für alle.«

Sie wunderte sich inzwischen auch nicht mehr über die bestellten vier Bier, obwohl sie nur zu dritt waren. Große Jäger hatte es sich angewöhnt, das erste Bier im Sturztrunk hinunterzukippen. Ihm dauerte das Bestellen und An-den-Tisch-Liefern des zweiten Getränks einfach zu lange.

Sie sprachen über Belangloses, bis die Getränke serviert wurden. Große Jäger setzte sein Glas an und trank gut die Hälfte des Glases ohne abzusetzen leer. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen.

»Worin liegt das Motiv für die Taten?«, fragte er in die Runde. »Hängt es wirklich mit der möglichen Komplizenschaft bei den Banküberfällen zusammen?«

»In dieses Bild passen die anderen Beteiligten nicht«, antwortete Christoph. »Mich wundert die Gewalt in diesem Fall. Der Mitrolitis ist einem üblen Schläger in die Hände gefallen. Der Mann hat Angst. Das war unübersehbar. In dieses Bild würde auch passen, dass sein Bekannter, Ivo Dugovic, panikartig die Flucht ergriffen hat.«

»Es sieht so aus, als hätte er sich aus dem Staub gemacht, als er vom Überfall auf seinen Freund gehört hat«, warf Mommsen ein.

»Schutzgelderpressung?«, überlegte Große Jäger.

Christoph sah aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand die beleuchtete Werbesäule der Stadtwerke. Die wechselnde digitale Anzeige verkündete die Uhrzeit, das Tagesdatum und die aktuelle Temperatur. Es waren selbst um diese Abendstunde immer noch zwölf Grad.

»Und wenn dem Ganzen ein politisches Motiv zugrunde liegt?«

Die beiden anderen sahen Christoph an.

Große Jäger stimmte als Erster zu. »Das könnte auch zutreffen. Wer ist zum Beispiel der Unbekannte, der vor Reiches Haus gestanden hat? Und wer hat uns auf der Fahrt nach Heide verfolgt?«

»Wir sollten diesem Punkt in den nächsten Tagen etwas mehr Aufmerksamkeit schenken.«

»Tja«, ereiferte sich der Oberkommissar. »Wo gibt es so was, dass die Polizei bespitzelt und verfolgt wird.« Dann griff er zum Glas. »Skol!« Ohne abzusetzen leerte er das Trinkgefäß, hob es in die Höhe und signalisierte damit der Wirtin, dass er ein weiteres Bier wünschte. Dann lächelte er quer durch die Gaststube einer weißhaarigen Frau zu, die zwei Tische weiter saß und an einem Weinglas nippte. Sie mochte wohl an die sechzig sein und trug einen hellblauen Rollkragenpullover, der ihre wohlproportionierten weiblichen Rundungen deutlich zur Schau stellte. Große Jägers Lächeln wurde von ihr erwidert. Christoph registrierte, dass der Blickkontakt zwischen der Frau und seinem Kollegen nicht mehr abriss. Als Judith die neue Runde brachte, nahm der Oberkommissar sein Glas in die Hand, erhob sich mit einem gemurmelten »Ihr entschuldigt mich mal kurz« und setzte sich zu der Unbekannten. Dort blieb er, verstrickt in eine angeregte Unterhaltung, sitzen, bis sich das neu gefundene Paar nach einer ganzen Zeit mit einem Kopfnicken verabschiedete.

In der Tür stießen sie mit einem kleinen Mann zusammen, der durch seine bunte Kleidung auffiel. Der geöffnete pinkfarbene Blouson gab den Blick auf ein knallgelbes Sweatshirt frei. Ein roter Gürtel hielt die grüne Hose. Während das Haupthaar fast kahl geschoren war, schwebte am Hinterkopf ein kleiner Zopf. Das Nasenpiercing war nur noch eine weitere Dreingabe der Absonderlichkeiten.

Der Neuankömmling steuerte zielsicher den Tisch der beiden Polizisten an, beugte sich zu Christoph nieder und begrüßte ihn mit einem beidseitigen Wangenkuss, wie es – so hatte Große Jäger einmal spöttisch bemerkt – in Golfclubs üblich ist, wandte sich dann Mommsen zu und gab diesem einen Kuss auf die Nasenspitze.

»Hallo, mein Schatz«, sagte er zu dem jungen Kommissar und tätschelte ihm den Oberarm.

Karlchen war Mommsens Lebenspartner. Sein extravagant wirkendes Äußeres war nicht nur Ausdruck einer Lebenseinstellung, sondern auch durch seinen Beruf bedingt. Der kleine Mann arbeitete als Animateur auf privaten und öffentlichen Veranstaltungen sowie Betriebsfesten. Am meisten Vergnügen aber, so bekundete er stets, bereitete ihm die Arbeit mit Kindern.

Sie blieben noch auf ein Bier, während Karlchen von seinem letzten Auftritt berichtete. Nachdem sie gezahlt hatten, machten sie sich zu Fuß auf den Heimweg. Sie umrundeten den um diese Tageszeit einsam im Licht der Straßenlaternen liegenden Binnenhafen. An der Schiffbrücke zeigte die auf die Straße dringende heitere Stimmung, dass in den dort ansässigen Lokalen noch reger Betrieb herrschte.

Dann gingen die drei durch die Hohle Gasse, bis sie zur linken Hand den Eingang zum Palmengarten sahen. Nichts erinnerte mehr an die Bluttat, die sich hier vor kurzem ereignet hatte. Die Schaufenster in der Neustadt lockten mit ihren Auslagen. Und bald darauf tauchte die Mauer auf, die den Schlosspark begrenzte. Dunkel, fast ein wenig bedrohlich, stand der alte Wasserturm im Parkgelände. An der Straßenecke verabschiedeten sich Mommsen und Karlchen. Sie hatten nur noch wenige Schritte bis zu ihrer Wohnung in dem etwas verwunschen wirkenden Haus direkt am Park.

Christoph folgte der Hauptstraße. Er betrachtete die beiden Hochhäuser hinter der Kreisverwaltung. Im vorderen wohnte Fabian Auhagen, der ihnen heute von seiner misslichen Situation berichtet hatte. So ein armer Kerl wie der junge Mann hätte ein Motiv, sich als »Schubser« an Schwächeren zu vergreifen, selbst wenn er durch seinen verletzten Arm in seiner Beweglichkeit eingeschränkt war. Auch eine geringe Beute wäre für den Verzweifelten schon eine Hilfe. Und außerdem war Auhagen wegen Diebstahls vorbestraft.

Jetzt war es nicht mehr weit bis zur Berliner Straße. Dort wartete auf ihn das Bett in dem kleinen Appartement unterm Dach. Seine betagte Vermieterin würde um diese Zeit sicher schon schlafen.

Mommsen ist mit seinem Partner daheim, Große Jäger wird den Abend auch nicht einsam verbringen, aber ich schlüpfe jetzt allein unter die Bettdecke, dachte sich Christoph und musste an Anna Bergmann denken.