SECHS
Nach dem herrlichen Spätsommertag am Vortag war der Himmel heute grau verhangen, und ein leichter Nieselregen hing über der Stadt. Er war von jener unangenehmen Art, bei der man unschlüssig ist, ob man den Schirm aufspannen oder ungehütet durch die Nässe laufen soll. Offenbar saß Petrus auf irgendeiner Wolke und spielte mit einem feinen Zerstäuber »Nordfriesland benetzen«. Der Junge war doch mal Fischer gewesen, überlegte Christoph. Warum geht er nicht besser zum Angeln, wenn er sich zu dieser frühen Stunde langweilt. Glücklicherweise hatte der Regen die Laune von Anna Bergmann zumindest nicht getrübt. So hatte es Christoph in der vergangenen Nacht empfunden. Sollte es ruhig regnen, wenn Anna nur die Stimmung beibehalten würde, mit der sie ihn gestern empfangen hatte.
Christoph hatte zu Hause müde vor seinem Teebecher gesessen und das Frühstück auf später im Büro verschoben, als ihn der Anruf von Polizeirat Christiansen erreichte. Um acht Uhr war eine Lagebesprechung der Führungsgruppe der Polizeiinspektion bei Grothe angesetzt. Als Christoph das Büro des Polizeidirektors betrat, waren die meisten anderen Mitglieder des Stabes schon anwesend.
In gewohnter Weise verzichtete der Chef auf eine Begrüßung. Er zog noch einmal an seiner Zigarre, bevor er auf den erneuten Übergriff des »Schubsers« zu sprechen kam.
»Unsere Ermittlungen haben bisher keine Erfolge erzielen können. Die Bevölkerung ist verunsichert. Das können wir nicht länger dulden. Wie ist der Stand der Dinge?« Dabei sah er Christoph fragend an.
»Wir haben bisher keine einzige verwertbare Spur. Es gibt nur die einander widersprechenden Zeugenaussagen der Opfer. Mit einer Ausnahme hat es auch nie einen Dritten gegeben, der die Überfälle beobachtet hat. Und die Fingerabdrücke, die wir auf den Einkaufstaschen von Frau Rieke Christensen feststellen konnten, das ist die Frau, die auf dem Friedhof niedergeschlagen wurde, haben zu keinem Ergebnis geführt. Der Täter steht nicht in unserer Datei.«
Grothe zeigte mit seiner Zigarre auf Polizeirat Christiansen, den Leiter des Husumer Reviers.
»Wir haben sofort nach der Alarmierung die Gegend um die Tatorte mit allen zur Verfügung stehenden Beamten abgesucht, aber in keinem Fall etwas Verdächtiges entdecken können. Alle Kolleginnen und Kollegen sind angewiesen, auf besondere Vorkommnisse zu achten und ihr Augenmerk auf Personen zu richten, in denen wir den ›Schubser‹ vermuten könnten. Verschärfte Personenkontrollen haben in Einzelfällen zu Unmutsäußerungen geführt, wenn wir aber erklärt haben, weshalb wir restriktiver vorgehen, sind wir überwiegend auf Verständnis gestoßen.«
»Wir sind mit unseren Kapazitäten ebenfalls eingebunden«, mischte sich Polizeirat Behr ein. Er war der Leiter des Polizeibezirksreviers, das für die Verkehrsüberwachung, den Umweltschutz, insbesondere aber für zivile Streifenkommandos und die allgemeine Unterstützung der anderen Polizeidienststellen zuständig war.
»Ich möchte, dass die Streifen verstärkt werden. Wir müssen alles Erdenkliche unternehmen, um die Sicherheit in diesem Punkt wieder herzustellen.«
Die beiden Polizeiräte mit ihrem goldenen Stern auf den Schulterklappen sahen sich an. Es hatte den Anschein, als wollte Christiansen etwas erwidern. Dann schwieg er aber doch. Jeder wusste, dass man sich den Worten Grothes nicht widersetzt.
»Ich möchte in diesem besonderen Punkt jeden Morgen einen aktuellen Sachstandsbericht«, schloss der Polizeidirektor das Treffen ab. Dann griff er zu einem Aktendeckel, der auf der Arbeitsfläche seines Schreibtisches lag, und blätterte darin. Allen Anwesenden war klar, dass die Besprechung damit abgeschlossen war.
Im Büro traf Christoph Mommsen an. Große Jäger war noch nicht erschienen.
»Ich fahre jetzt nach Apenrade und treffe mich mit unserem dänischen Kollegen. Wir wollen Anneliese Schmidt besuchen.«
Die Bundesstraße 200 ließ sich gut befahren. Der Berufsverkehr stellte kein Problem dar, und auch der gewerbliche Verkehr hielt sich in Grenzen, sodass er zügig vorankam. In Flensburg bog er auf die Autobahn und überquerte nach kurzer Zeit die ehemalige Grenzanlage Ellund, die einen verlassenen, fast heruntergekommenen Eindruck machte. Schon vorher hatte er vorschriftsmäßig seine Scheinwerfer eingeschaltet. Er verließ sich auf sein Glück und schwamm im Schwarm anderer Verkehrsteilnehmer mit, die auf der nur mäßig frequentierten Autobahn die im Königreich geltende Geschwindigkeitsbegrenzung nur als Empfehlung Ihrer Majestät betrachteten. Nach dem Verlassen der Rennstrecke folgte er der Ausschilderung nach Aabenraa. Schon von weitem sah er das Kraftwerk, das direkt am Aabenraa-Fjord lag. Die Straße führte weiter am Ufer entlang. Ob Manfred Schöppe mit seiner Yacht den hiesigen Sportboothafen auch schon angelaufen hatte?
Einige Ampeln mit der für Deutsche ungewöhnlich hohen Zahl von roten Lampen stoppten den Verkehrsfluss. Die Dänen, für Farbenfrohheit bekannt, statteten ihre Kreuzungen mit einer Unmenge von Signallampen aus.
Er war an dem oberhalb der Bucht liegenden Stadtzentrum vorbeigefahren, als rechts das Hinweisschild zum von Bjarne beschriebenen Parkplatz auftauchte, der sich hinter einem mehrstöckigen Neubau versteckte. Mühelos fand er eine Abstellmöglichkeit für seinen Wagen. Er hatte seinen Motor noch nicht abgestellt, als aus einem weiß lackierten Saab mit dem schwarzen Schriftzug »Politi« ein Mann ausstieg. Er war eher klein, neigte zu einer gemütlichen Rundlichkeit. Die rotblonden kurzen Haare bedeckten einen ebenfalls rundlichen Kopf. Im Mundwinkel qualmte eine Pfeife.
Der Mann kam mit einem freundlichen Lächeln auf ihn zu und streckte ihm eine Hand entgegen.
»Hej«, strahlte er. »Du bist Christoph. Ich bin Bjarne.« Mit einem überraschend kräftigen Händedruck schüttelte er Christophs Hand, als wolle er sie nicht wieder loslassen. »Schön, dass wir uns auch in Natur sehen können. Was kann ich für dich tun?«
Christoph erklärte dem dänischen Polizeiinspektor, wie sie auf Anneliese Schmidt gestoßen waren.
»Kein Problem«, verkündete Bjarne Thorbensen und zupfte Christoph am Arm. »Dann wollen wir sehn, was sich tun lässt. Komm, ich glaube, ich habe ein Idee, wo die Frau wohnt.«
Er ging voran. »Die Straße heißt Reperbanen. Das hat aber nix mit die Reeperbahn von Hamburg zu tun. Hier gibt’s kein Sexlokale. Es wohnen nur anständige Leute. Weißt du, woher der Name Reperbanen stammen tut?«
Christoph nickte. »Reeps sind Seile. Die wurden früher auf langen Bahnen zu Schiffstauen geflochten. Das ist der Ursprung des Namens.«
»Kommst du auch von eine Hafenstadt?«
»Aus Kiel.«
Bjarne lachte. »Na, denn. So einen großen Hafen haben wir in Dänemark fast nicht. Nur in Kopenhagen. Aber das ist ja nicht richtig Dänemark.«
Er spielte damit auf den Widerspruch an, der zwischen den »Inseldänen« und den Jüten, den Bewohnern des Festlands, bestand und vergleichbar dem Verhältnis von Preußen und Bayern war. Dann blieb er vor einem Haus aus roten Ziegelsteinen stehen.
»Hier ist es. Ich hab vor deine Ankunft schon ein wenig gesehen, wo wir hinmüssen«, erklärte Bjarne.
Zu Christophs Verwunderung war die Haustür nicht verschlossen. Thorbensen bemerkte Christophs Erstaunen.
»Es ist noch gar nicht lange her, da wurden in Dörfer und kleine Städte die Türen nicht abgeschlossen. Wer das getan hat, hatte was zu verstecken, haben die Nachbarn geglaubt. Leider ist das heute nicht mehr so bei uns.«
Im ersten Obergeschoss fanden sie das Namensschild neben der Türglocke. Ein Summer ertönte, nachdem Bjarne seinen kurzen dicken Finger auf den Knopf gelegt hatte. Kurz darauf wurde die durch eine Sperrkette gesicherte Tür einen Spalt geöffnet. Eine Frau sah die beiden Besucher an.
»Dag«, sagte Thorbensen, was eher wie ein »Dau« klang und als Begrüßung nur bei Dänen untereinander üblich ist. »Mit navn er Bjarne Thorbensen. Jeg er inspektør fra Ribe Politi. Können wir Deuts sprechen?«
In den Augen der Frau war das Erschrecken zu erkennen, das Christoph schon oft gesehen hatte, wenn die Polizei an der Haustür klingelte.
»Politi? Ich habe geahnt, dass ihr kommt werdet«, wechselte sie ebenfalls ins Deutsche. »Und wer ist das?«
»Ein Kollege von Deutsland. Er möchte dir ein paar Fragen stellen. Hier«, Bjarne schob ihr seinen Polizeiausweis durch den schmalen Spalt, »damit du mir auch glauben kannst.«
Sorgfältig studierte sie das Dokument, dann schloss sie die Tür. Sie hörten, wie die Sperrkette entriegelt wurde. Die Tür öffnete sich ganz.
»Kommen Sie herein«, sagte sie und sah Christoph an. Unvermittelt war sie zum »Sie« gewechselt.
Die Räume waren klein, aber hell. Dazu trugen nicht nur die weißen Wände, sondern auch die fast weißen Dielenbretter bei. Sie wurden in ein schmales Wohnzimmer geführt, das in einem typisch skandinavischen Stil eingerichtet war. Die Möbel waren aus hellem Holz, dazu passend eine kleine Zweiercouch mit buntem Bezug. Ein kleiner Esstisch mit ovaler, kunststoffbeschichteter Platte und Stahlrohrgestell sowie die dazugehörigen Stühle standen im Raum. Es fehlte auch nicht der Finlux-Fernseher mit der obligatorischen Steuerbox für die Satellitenschüssel. Selbst der Stuhl aus Peddigrohr am Fenster war vorhanden. Und wie um das Klischee zu perfektionieren, hingen an den Wänden Drucke von Rosina Wachtmeister.
Anneliese Schmidt war schlank, fast hager. Die Haare waren mittellang und von unbestimmter Farbe. Vermutlich war die Frau nie der Versuchung erlegen, sie zu tönen. Eine schmale Nase und die zusammengekniffenen Lippen im blassen Gesicht rundeten das Bild einer Frau ab, die es gewohnt schien, unauffällig durchs Leben zu gehen.
»Du kommst wegen Frank?«, fragte sie den dänischen Polizeiinspektor.
Der zeigte auf Christoph. »Ist es möglich, dass du mit meine Kollegen aus Deutsland sprechen tust? Er möchte dir ein paar Fragen stellen.«
Sie sah Christoph an. »Sie sind von der deutschen Polizei?«
»Ja. Ich komme von der Kripo Husum. Sie müssen nicht erschrecken. Ich möchte nur ein paar Auskünfte von Ihnen.«
Sie sah Christoph aus dunklen Augen an, die sich langsam mit Tränen füllten.
»Erschrocken habe ich mich schon vor ein paar Tagen, als ich in der ›Nordschleswiger‹ von Franks Tod gelesen habe.«
Die beiden Polizisten wechselten einen raschen Blick.
»Sie kannten Frank Reiche?«
»Ja. Wir waren miteinander befreundet.«
Es ist das erste Mal in diesem Fall, dass sich zwei Menschen, deren Telefonnummern auf dem geheimnisvollen Zettel notiert waren, kannten, dachte Christoph.
»Woher kannten Sie Frank Reiche?«
»Ich habe ihn über eine Bekanntschaftsanzeige in der Zeitung kennen gelernt.« Sie legte die gefalteten Hände auf die Oberschenkel ihrer Jeans. »Ich habe die Annonce aufgegeben, weil ich glaubte, über diesen Weg vielleicht doch noch einmal die Bekanntschaft eines Mannes zu machen.« Es klang fast wie eine Entschuldigung.
»Und da hat sich Frank Reiche gemeldet?«
»Nicht nur er. Auch einige andere. Die meisten aber waren nur an dem einen interessiert. Sie wissen schon«, wich sie aus. »Bei Frank hatte ich vom ersten Augenblick den Eindruck, dass er es ernst meinte. Er war auch allein. Nach seiner Scheidung.«
»Aus dieser Begegnung ist eine Freundschaft geworden?«
Sie überlegte einen Moment. Etwas zögerlich kam die Antwort. »Ja, so könnte man sagen. In unserem Alter ist es nicht einfach, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen. Obwohl ich fast zehn Jahre jünger bin als Frank.«
Dann musste sie Ende dreißig sein, überlegte Christoph. Sie war schwer einzuschätzen. Irgendwie schien sie alterslos zu sein.
»Wann haben Sie Frank Reiche das letzte Mal gesehen?«
Sie überlegte nicht lange. »Heute ist Mittwoch. Dann war das vor zweieinhalb Wochen. Da hatte ich am Sonnabend frei. Ich arbeite bei Føtex.«
»Das ist ein Warenhaus«, schob Bjarne zwischendurch erklärend ein.
Anneliese Schmidt nickte zustimmend. »Richtig. Ich habe jedes zweite Wochenende Dienst. Und immer wenn ich frei hatte, haben wir uns getroffen.«
»Wo haben Sie sich getroffen? In Leck oder hier?«
»Frank ist immer zu mir gekommen.«
»Wissen Sie von Problemen, die Frank Reiche hatte?«
Sie senkte den Blick und knetete dabei ihre Finger, dass die Gelenke knackten. Nach einer ganzen Weile sah sie wieder auf, schaute dabei aber nicht die beiden Polizisten an, sondern fixierte einen Punkt hinter den beiden Beamten an der Wand.
»Ja, ich weiß, dass es ihm nicht gut ging. Die Geschäfte liefen schlecht, und sein Handelsvertretervertrag war ihm gekündigt worden.«
»Hat er mit Ihnen über diese Probleme ausführlich gesprochen?«
Hastig, viel zu schnell, kam die Antwort. »Nein! Über Geld haben wir nie gesprochen. Ich glaube, er hat sich geschämt, dass er wirtschaftlich ins Trudeln gekommen war.«
»Kennen Sie seinen Bekanntenkreis?«
»Er hatte so gut wie keine Freunde. Es waren nur lose Kontakte, die aber in der letzten Zeit auch eingeschlafen waren.«
»Dann waren Sie seine einzige Bezugsperson?«
Jetzt sah sie Christoph mit großen traurigen Augen an.
»Ja!« Sie holte tief Luft. »Ja, das könnte man sagen.«
»Eine letzte Frage: Sie tragen einen deutschen Namen. Anneliese Schmidt.«
Das erste Mal, dass sich ein Hauch Entspannung auf ihrem Gesicht zeigte. »Ich bin Dänin, gehöre aber der deutschen Minderheit an, die hier stark vertreten ist. Den Namen Schmidt finden sie hier häufig, obwohl ich eigentlich aus Tinglev stamme. Wussten Sie, dass Ernst Reuter, populärer Bürgermeister in der Nachkriegszeit und von allen für einen Berliner gehalten, auch in Apenrade geboren wurde?«
Bjarne Thorbensen wechselte noch einige Worte auf Dänisch mit der Frau, bevor sie sich verabschiedeten. Unterwegs erklärte er, dass er sich bei ihr für ihren Besuch entschuldigt und ihr noch alles Gute gewünscht habe. Sie hatte ihm erzählt, dass sie nach der Nachricht von Reiches Tod Urlaub genommen hätte.
»In die Gågade gibt es ein gemütliches Café. Vielleicht wir können dort noch ein wenig plaudern.« Der Däne zupfte Christoph am Ärmel und ließ keinen Widerspruch aufkommen. Sie überquerten die Hauptstraße und gingen bergan die Fußgängerzone hinauf, bis sie in der Ramsherred die Konditorei Bonnich fanden, ein gemütliches altes Café. Das Schaufenster der angeschlossenen Bäckerei war über und über mit Gebäck und Leckereien gefüllt, die schon beim Anblick das verhießen, was die Einheimischen über alles liebten: Der Kuchen war für deutsche Zungen ungemein süß.
Christoph musste sich von Bjarne noch eine Reihe von Geschichten über Land und Leute im Allgemeinen, die Polizei insbesondere und über die Familie des Polizeiinspektors ganz speziell anhören. Auch wenn er selbst gern zügig nach Husum zurückgekehrt wäre, buchte er den Zeitaufwand auf das Konto Kontaktpflege, wobei ihm dieses bei der liebenswürdigen Art des Kollegen nicht schwer fiel.
*
Der Regen trommelte gegen die Fensterscheibe des Büros. Es hatte aufgefrischt, und ein kräftiger Wind blies vom Westen her. Obwohl es erst später Nachmittag war, brannte bereits die Deckenbeleuchtung.
»Wusstest du eigentlich, dass die Wendejacke in Husum erfunden wurde?«, fragte Große Jäger in den Raum hinein. Christoph und Mommsen sahen auf, reagierten aber beide nicht, da sich keiner angesprochen fühlte. »Eine Seite ist für gutes Wetter gedacht, die Innenseite für schlechtes«, fabulierte der Oberkommissar weiter. »Ideal für diesen Küstenstreifen.«
»Das widerspricht aber deiner These von der Kurtaxe«, antwortete Christoph.
Große Jäger überlegte einen Moment, zog noch einmal an seiner Zigarette und blies den blauen Dunst geräuschvoll in den Raum. Dann klopfte er sich Asche von seinem Oberschenkel, die vom Glimmstängel herabgefallen war. »Mist«, fluchte er, als er bemerkte, dass er lieber hätte pusten sollen und auf diese Weise den grauen Film in den Stoff seiner Jeans hineingerieben hatte.
»Kurtaxe? Ach so, du meinst meine These, dass alle Bewohner Nordfrieslands eigentlich Kurtaxe zahlen müssten, weil sie das Glück haben, in einer bevorzugten Region leben zu dürfen. Wir haben hier ja das ganze Jahr über Urlaub. Insbesondere wir, die Beamten, und da ganz speziell die Polizei. Nun«, schränkte er ein, »sagen wir: Kurtaxe für elf Monate reicht. Den November klammern wir aus.«
»Und einen Nachmittag wie heute«, warf Christoph ein.
»Gut! Dafür musst du für gestern doppelt zahlen.«
»Wieso?«
»Na ja, ich nehme an, du warst wieder mit der netten Arzthelferin unterwegs, während der ›Schubser‹ zugeschlagen hat. Jedenfalls haben wir dich nicht erreichen können. Es ist schon merkwürdig, dass es immer dann zu Übergriffen kommt, wenn du vorgibst, auf Tour d’Amour zu sein.«
»Du kannst mich ja prophylaktisch einsperren. Dann sitze ich in einer geheizten Zelle, werde verpflegt, und du musst die Berichte zu Ende schreiben, mit denen ich mich hier herumplage.« Dabei kreiste Christophs Hand über einen Stapel Papier auf seinem Schreibtisch.
»Bevor ich darangehe, lass ich lieber einen Strauchdieb wie dich laufen«, lachte Große Jäger. »Der Papierkrieg ist Strafe genug. Wie war’s eigentlich bei deinem Betriebsausflug in Dänemark?«
Christoph berichtete von seiner Stippvisite ins Nachbarland.
»Könnte die Frau mehr wissen, als sie euch erzählt hat?«, fragte Große Jäger.
Christoph zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Auf den ersten Blick wirkte sie nicht wie jemand, der straffällig geworden ist. Sie hat sofort ihre Beziehung zu Frank Reiche offen gelegt, auf die wir noch nicht gekommen waren. Und wenn die beiden sich immer nur in Apenrade getroffen haben, wäre es uns ohne ihr Bekenntnis auch schwer gefallen, diese Verbindung aufzudecken.«
Durch die geschlossenen Fenster hörten sie die auf- und abschwellenden Töne mehrerer Martinshörner.
»Mensch, da ist aber wieder der Teufel los«, stellte Große Jäger fest.
In diesem Moment meldete sich Mommsens Handy. Der junge Kommissar hörte eine Weile schweigend zu und schloss das Gespräch mit den Worten: »Wir kommen sofort.«
Die beiden anderen sahen ihn interessiert an.
»Das war Thomas Friedrichsen. Sie haben einen Einsatz in der Adolf-Brütt-Straße. Da steht jemand auf dem Dach und droht hinunterzuspringen.«
»Großer Gott«, entfuhr es dem Oberkommissar, während Christoph ahnte, um wen es sich handeln könnte.
»Fabian Auhagen.«
»Richtig«, bestätigte Mommsen.
Während dieses kurzen Dialoges waren die drei aufgesprungen, hatten sich ihre Jacken gegriffen und waren zur Tür geeilt. Nach einer kurzen Kollision, weil Große Jäger in seiner ungestümen Art versuchte, Mommsen im Türrahmen zu überholen, eilten sie auf den Hof hinter dem Polizeigebäude. Für den Oberkommissar war es keine Frage, dass in solcher Situation nur er der richtige Fahrer des Einsatzwagens sein konnte. Der Ford-Kombi rollte schon, als Christoph die Tür noch gar nicht richtig geschlossen hatte. Bei Große Jägers Fahrweise war es schwierig, das Blaulicht auf dem Wagendach zu platzieren.
Sie umfuhren den Binnenhafen über die Gaswerkstraße, überquerten die Klappbrücke, folgten der Deichstraße, drängten mit ihrem Blaulicht den Verkehr in der Nordbahnhofstraße an den Rand und sorgten in der Neustadt für neugierige Blicke, die dem zivilen Fahrzeug mit dem Blaulicht folgten.
Die Kreuzung Marktstraße und Schobüller Straße war mit Einsatzfahrzeugen voll gestellt. Freiwillige Feuerwehr, Rettungswagen und zwei Streifenwagen blockierten die für den innerstädtischen Verkehr so wichtige Adolf-Brütt-Straße. Ein Streifenpolizist kam ihnen entgegen und wies mit ausgestrecktem Arm auf das Dach des vorderen Hochhauses. Vor dem bleiernen Grau der landeinwärts jagenden Wolken war schemenhaft eine Gestalt zu sehen. Durch den niederprasselnden Regen war sie aber nicht eindeutig zu identifizieren.
»Thomas und Pepe sind auf dem Dach«, rief ihnen der uniformierte Kollege zu.
Im Hausflur stießen sie auf einen Feuerwehrmann, der ihnen in den Weg trat. »Da können Sie jetzt nicht rein.«
»Wir sind von der Kripo«, antwortete Große Jäger und schob den Mann sanft beiseite.
»Ach so«, hörten sie im Vorbeilaufen, »ich wollte nur Neugierige abhalten.«
Es dauerte ewig, bis der enge Fahrstuhl in die oberste Etage gerumpelt war. Auf dem Treppenabsatz stand der nächste Feuerwehrmann neben einem älteren Mann in Arbeitskleidung. »Dorthin«, zeigte der Blaurock auf eine weiter nach oben führende Treppe. Noch bevor sie den Dachausstieg erreichten, blies ihnen der hier oben noch heftigere Wind entgegen. Er verfing sich an den Ecken der Dachaufbauten und gab ein Konzert von wechselnden, schrill klingenden Pfeiftönen. Vor der auf das Dach führenden Feuerschutztür standen drei Feuerwehrmänner und zwei Polizisten. Einer von ihnen war Thomas Friedrichsen. Als er die drei Kripobeamten erkannte, löste er sich von der kleinen Gruppe und kam auf Christoph zu.
»Hallo, Thomas«, grüßte Mommsen, während Christoph nur kurz die Hand gehoben hatte.
»Ein Hausbewohner bemerkte, dass die Tür zum Dach offen stand. Das kommt anscheinend öfter vor. Jugendliche machen sich daraus einen gefährlichen Spaß. Der Mieter wollte die Tür schließen und sah jemanden, der ziemlich nahe am Rand stand. Er alarmierte erst den Hausmeister …«
»Ist das der ältere Mann in Arbeitskleidung?«, fragte Christoph gegen den Wind.
Friedrichsen nickte. »Ja. Der hat sofort uns angerufen. Von der Zentrale ist der Notruf an Feuerwehr und Rettungsdienst weitergeleitet worden. Der Hausmeister hat den Mann identifiziert. Er wohnt hier. Sein Name ist …«
»Fabian Auhagen«, warf Große Jäger ein.
»Ihr kennt ihn?«, wollte Friedrichsen wissen.
Christoph nickte. »Es gibt möglicherweise Verbindungen zum Mord am Palmengarten. Habt ihr schon mit ihm gesprochen?«
Das Gespräch auf dem Dach gestaltete sich schwierig. Der Wind riss ihnen die Wortfetzen förmlich vom Mund.
»Wir trauen uns nicht näher heran. Ich habe es vorhin mit dem Zugführer der Feuerwehr probiert. Da stand der junge Mann noch etwas weiter zurück. Doch mit jedem Schritt, mit dem wir uns näherten, wich er weiter zum Rand hin. Soweit wir uns bei diesem Wind verständigen konnten, lehnt er jede Hilfe ab. Auch über seine Beweggründe haben wir nichts in Erfahrung bringen können.«
Große Jäger schob sich in den Vordergrund. »Lasst mich mit dem Jungen sprechen.«
Der oftmals ungehobelt wirkende Mann hatte in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass er in kritischen Situationen die richtige Tonlage finden kann. Christoph wollte schon einen Schritt zur Seite treten, bevor er sich doch besann und selbst das Gespräch mit Auhagen suchen wollte. In den großen Metropolen stand für solche Fälle ein psychologisch geschulter Beratungsstab zur Verfügung, aber in dieser dünn besiedelten Region waren sie auf sich allein gestellt.
Vorsichtig machte Christoph einen halben Schritt auf den jungen Mann zu, der sich halb umdrehte und seinerseits weiter dem Rand näherte. Er rief Christoph etwas zu. Die Worte gingen aber im Wind unter. Der Abstand zu Auhagen betrug etwa acht Meter, während dieser nicht mehr als einen halben Meter vom Gebäuderand entfernt stand.
Christoph formte seine Hände zu einem Trichter. »Auhagen! Das hat doch keinen Sinn.« Doch der junge Mann zeigte keine Reaktion.
Christoph zog seine Jacke aus. Er hatte vor, sich bedächtig zu nähern. Dabei war das auftragende Kleidungsstück nur hinderlich. Nur im Pullover bekleidet, merkte er, wie kalt der Wind hier oben wehte. Eine zusätzliche Gefährdung entstand dadurch, dass er nicht gleichmäßig blies, sondern in Böen. Stemmte man sich gegen den Wind und ließ dieser urplötzlich nach, war es schwierig, das Gleichgewicht zu halten. Das Austarieren der Balance war für einen ausgewachsenen Mann sicher kein unlösbares Problem, am Rande eines Hochhauses gestaltete sich die Situation aber schwieriger.
Vorsichtig machte Christoph einen kleinen Schritt auf den jungen Mann zu. Der hob wie zur Abwehr den Arm, als wolle er Christoph Einhalt gebieten. Der hob ebenfalls beide Arme als Zeichen der friedlichen Absicht. Er hätte diese Geste nicht begründen können. Es war mehr ein intuitives Verhalten. Christoph verharrte eine Weile in der Position. Dann setzte er im Zeitlupentempo den nächsten Fuß vor. Diesmal erfolgte keine Reaktion von Auhagen. Der junge Mann starrte in die Tiefe, auf die Straße und die Kreuzung hinab, auf die Schaulustigen, die von den zuckenden Blaulichtern der Einsatzfahrzeuge beleuchtet wurden. Auf halber Höhe zum Dach verharrten zwei Feuerwehrmänner im Rettungskorb der ausgefahrenen Drehleiter von »Florian Nordfriesland«, wie die Fahrzeuge der Feuerwehr genannt wurden.
»Mensch, Junge, komm zurück. Nichts auf der Welt kann eine solche Bedeutung haben, dass du dafür deine Gesundheit riskierst.« Christoph war zum »Du« übergegangen. Er glaubte, damit eine bessere Verbindung zu dem Verzweifelten herstellen zu können. Er war sich nicht sicher, ob Auhagen ihn wahrgenommen hatte. Der stierte immer noch in den Abgrund.
Christoph schob sich erneut ein wenig vor. Er hatte auf diese Weise etwa die Hälfte der Distanz zu Auhagen zurückgelegt. Bei seiner nächsten Bewegung drehte sich Auhagen halb um, und weil eine neue Windböe über das Dach raste, strauchelte er ein wenig, fing sich aber sofort.
»Bleib da!«, rief der junge Mann Christoph zu.
»Ist in Ordnung.« Christoph hing in die Hocke. Er wollte damit signalisieren, dass er auf die Wünsche des anderen einging, ihn nicht bedrängen wollte. Dort blieb er eine Weile reglos sitzen, bis er sich erneut unmerklich in Richtung Dachrand vorwärts bewegte. Es war schwierig, die Fußspitzen auf dem Dach nach vorne zu schieben, sich mit den Fingerspitzen im Gleichgewicht zu halten und dennoch den Anschein zu erwecken, er würde seine Position nicht verändern. Christoph hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er schien schon eine Ewigkeit im Wind auf diesem Dach auszuharren. Dafür hatte er sich aber unmerklich bis auf fast zwei Meter dem jungen Mann genähert. Bei dieser Entfernung war das Sprechen möglich.
»Warum machst du das?«, fragte Christoph.
»Warum? Fragst du das in echt? Das lohnt doch alles nicht mehr.«
»Was?«
»Na, alles. Die haben mich doch kaputtgemacht.«
»Wer?«
»Alle.« Auhagen legte eine Pause ein. Er kramte in der Tasche seines dünnen Blousons und fischte eine zerknautsche Zigarette hervor. Er bemühte sich vergeblich, die Zigarette in Brand zu setzen. Nachdem es ihm nicht gelungen war, schleuderte er das billige Einmalfeuerzeug mit einer ausladenden Armbewegung in die Tiefe. »Scheiße«, fluchte er.
»Komm mit runter vom Dach. Dann kannst du in Ruhe eine Zigarette rauchen«, lockte Christoph.
»Wovon denn? Morgen kommt der Gerichtsvollzieher. Zwangsräumung. Soll ich wirklich den Rest meines Lebens als Penner auf ‘ner Parkbank hocken?«
»Bei uns in Deutschland fällt niemand durch die Maschen.«
»Lächerlich. Solche Sprüche hab ich oft gehört. Doch wenn’s drauf ankommt – nicht die Bohne. Es tut uns Leid, wird dir gesagt. Alles Kacke.« Der junge Mann spuckte aus und sah dem Auswurf in die Tiefe nach.
»Jeder kann mal in die Sackgasse geraten. Doch da kommt man immer wieder raus.«
»Hohle Sprüche. Seit meiner Schulzeit bin ich auf der Suche. Wir bedauern, Auhagen. Vielleicht später, Auhagen. Sie müssen Geduld haben, Auhagen. Ich hab den ganzen Mist hinter mir.«
»Wollen wir nicht in Ruhe darüber reden?«
Der junge Mann sah auf den immer noch hockenden Christoph herab. »Ich hab die Schnauze voll. Von einem Trouble zum nächsten. Das lohnt nicht mehr. Ich hab Angst. Richtige Angst. Weißt du überhaupt, was das heißt? Nein! Da mach ich lieber Schluss, als so weiterleben zu müssen.«
»Wovor hast du Angst?«
»Vor denen.«
»Wer sind ›die‹? Was wollen die von dir?«
Auhagen schwieg einen Moment und sah zu den Wolken hinauf, die landeinwärts jagten.
»Lieber spring ich, als denen in die Hände zu fallen. Das hier geht schnell. Ratzfatz. Alle. Wenn die dich erwischen, dann gnade dir Gott.«
Langsam stemmte sich Christoph in die Höhe. Was war das für eine Angst, die der junge Mann hatte? Vor wem fürchtete er sich so sehr, dass er lieber Selbstmord begehen wollte?
Christoph hatte sich aufgerichtet. In Zeitlupe streckte er seine Hand vor.
»Komm, niemand wird dir was antun. Das verspreche ich dir. Wir reden in aller Ruhe darüber.« Er sah die Unsicherheit in Auhagens Augen. Jetzt fehlte nicht mehr viel, dann hatte er es geschafft und den Mann von seinem Vorhaben abgebracht. Vorsichtig setzte Christoph den rechten Fuß vor und zog den anderen nach. Als dieser neben dem rechten zum Stehen kam, huschte erneut eine Sturmböe über das Dach. Christoph kam ins Straucheln, versuchte das Ungleichgewicht abzufangen und machte einen Ausgleichsschritt nach vorn. Er vermochte nicht zu sagen, ob Auhagen ebenfalls von der Böe erfasst wurde oder nur erschrocken zurückweichen wollte. Mit rudernden Armen stolperte der Junge über den Rand des Hochhauses und verschwand in der Tiefe.
»Neiiin!«, hörte Christoph sich rufen und fiel vornüber. Er robbte die wenigen Zentimeter bis zum Rand und beugte seinen Oberkörper vor. Bevor er etwas erkennen konnte, spürte er kräftige Hände an Beinen und Armen, dann wurde er zurückgezogen. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm der Zugführer der Feuerwehr und Große Jäger auf die Beine halfen.
»Das darf nicht wahr sein«, stammelte er, »das ist alles so sinnlos.«
Der Oberkommissar legte fast fürsorglich seinen Arm um Christophs Schulter und führte ihn zum Dachausstieg.
»Komm erst mal mit«, sagte er mit besänftigender Stimme. »Für das eben Geschehene kann niemand etwas. Das sind die Abgründe des Schicksals.«
»Nein«, protestierte Christoph. »daran glaube ich nicht. Der Tod dieses Menschen war überflüssig.«
*
Das leise Klappern der Tastatur unter Mommsens gleichmäßigen Anschlägen wirkte fast wie die begleitende Rhythmusgruppe zu einem Stück in Moll, das auf den Einsatz der Soloinstrumente wartete. Und wie um dies unter Beweis zu stellen, meldete die Kaffeemaschine auf der Fensterbank mit einem Zischen, dass der letzte Wassertropfen im Behälter seinen Aggregatzustand verändert hatte und jetzt auf dem Weg durch den Filter in die Glaskanne unterwegs war. Die Komposition hätte von Stockhausen, Kagel oder einem anderen der neueren und ihm nicht zugänglichen Komponisten sein können.
Christoph saß an seinem Schreibtisch, hatte den Kopf aufgestützt und bemühte sich um treffende Formulierungen für das Protokoll über die Vorgänge vom gestrigen Abend. Das Angebot seiner beiden Kollegen, sich noch zusammenzusetzen, hatte er abgelehnt. Das war falsch gewesen. Immer wieder waren seine Gedanken zum Dach zurückgekehrt, immer wieder tauchte Fabian Auhagen auf. Hätten andere Umstände dieses Unglück verhindern können?
Schon dem angehenden Polizisten wird auf der Schule in einer der ersten Lektionen vermittelt, dass er sich von den Ereignissen und beteiligten Personen distanzieren soll, keine persönlichen Beziehungen aufkommen oder Emotionen zulassen darf. Das klingt aus dem Munde eines Dozenten logisch. Und machbar. Doch auch Polizeibeamte sind Menschen, die eine Seele und ein Gefühlsleben haben.
Christoph erinnerte sich an den Vortrag des Leiters einer Sonderkommission, die mit der Aufklärung des Doppelmordes an einem Geschwisterpaar bei Aachen betraut war. Bruder und Schwester waren aus niederen sexuellen Beweggründen brutal getötet worden. Der erfahrene Beamte hatte wörtlich gesagt, dass seine Mitarbeiter »völlig platt« vom Einsatz zurückgekommen seien. Schließlich waren selbst die abgebrühtesten Ermittler auch Mütter und Väter.
Und ich hatte kurzfristig die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass Auhagen der »Schubser« sein könnte, überlegte Christoph. Er schob das Blatt, auf dem er sich Stichworte fürs Protokoll notieren wollte, zur Seite.
»Was hat er damit gemeint?«, fragte er laut.
Große Jäger sah zu ihm herüber, und auch Mommsen unterbrach seine Arbeit am Computer. Es verging eine Weile, bis der Oberkommissar leise fragte: »Wer hat was gemeint?«
Christoph sah seinen Kollegen an.
»Auhagen. Oben auf dem Dach. Er hat gesagt, lieber würde er vom Dach springen, als denen in die Hände zu fallen. Ein Selbstmord wäre besser. Wenn die ihn erwischt hätten, dann … Er sagte so etwas wie: gnade dir Gott.«
»Hmmh. Das klingt, als hätte er vor irgendjemandem fürchterliche Angst gehabt.«
»Ähnliches haben wir doch auch bei den anderen Beteiligten erlebt. Ivo Dugovic aus Heide ist in panischem Entsetzen geflüchtet, berichtete uns der Nachbar. Sein griechischer Kollege Mitrolitis hatte weniger Glück. Er sah reichlich lädiert aus, als wir ihn aufsuchten. Der muss denen in die Hände gefallen sein«, sagte Christoph.
»Außerdem scheint es, als hätte er Teile seines Besitzes übereilt zu Geld gemacht, wenn ich an den hastigen Verkauf seines Autos denke, das er doch als Zugmaschine für seinen Imbisswagen benötigte«, mischte sich Mommsen ein und sah dabei Hilke Hauck an, die, mit einem Kaffeebecher in der Hand, still dem Gespräch der drei Beamten folgte.
Große Jäger legte die Stirn in Falten. »Könnte es sein, dass die Leute erpresst wurden?«
»Das ist eine Möglichkeit, die man in die Überlegungen mit einbeziehen sollte. Stellt sich die Frage, warum so verschiedene Menschen wie Reiche, Auhagen oder die beiden aus Heide erpresst werden. Gemeinsam ist allen, dass sie nicht über Reichtümer verfügten. Warum also sollten sie unter Druck gesetzt werden? Und was kann der Täter von ihnen gewollt haben? Geld wird es kaum gewesen sein«, stellte Christoph fest.
»Vielleicht doch politische Motive?«, mutmaßte Große Jäger.
Hilke Hauck zog die Stirn kraus. »Glaubst du wirklich an ein Agentenspektakel in unseren Breitengraden?«
Große Jäger kniff die Augen zu einem Spalt zusammen und musterte die neue Kollegin. Dann presste er halblaut zwischen den fast geschlossenen Zähnen hervor: »Weißt du, Christoph, dass ich jetzt verstehe, warum Männern, die ihre Frau umbringen, häufig mildernde Umstände zugesprochen werden? Was hat Gott sich nur gedacht, als er die Frau erschuf? Sonst ist ihm doch alles gelungen. Nur die Rippe, die er Adam entnahm, die hat er total verhunzt.«
Doch Hilke ließ sich nicht erschüttern. »Deinen Worten, lieber Wilderich, ist deutlich zu entnehmen, dass dir ein X-Chromosom fehlt. Du bist der lebendige Beweis dafür, dass auf diesem wichtige Gaben gespeichert sind, die dir zwangsläufig fehlen.«
Christoph ging auf das kleine Scharmützel nicht ein.
»Kann ich mir kaum vorstellen, dass hinter den beiden Morden und den anderen Gewalttaten politische Motive stecken. Wir haben uns zwar nur oberflächlich mit der Vita der Leute beschäftigt, aber weder Reiche noch Auhagen machten auf mich den Eindruck, als wären sie politisch engagiert. Gut, von den beiden Ausländern wissen wir zu wenig. Aber trotzdem … Vielleicht stecken auch ganz banale kriminelle Motive dahinter. Wir wissen von den beiden Unbekannten, dass die skrupellos und ohne ihre Spuren zu verbergen ihre Verbrechen quer über den Kontinent begehen. Und einer von ihnen scheint ein jähes Ende gefunden zu haben, weil Reiche ihn erschlug. Dafür musste der sterben. Rache. So könnte es gewesen sein, da die Spuren am Palmengarten auf den zweiten des ›Pärchens‹ hinweisen.«
»Wenn die beiden Gewalttäter aus eigenem Antrieb oder im Auftrag eine kriminelle Organisation errichten wollen, dann wäre es doch denkbar, dass sie versuchen, neue Handlanger zu rekrutieren. Und wenn Reiche, Auhagen und die anderen dazu auserkoren sind, die schmutzigen Arbeiten zu erledigen?«
Christoph sah Große Jäger eine Weile an. So abwegig waren die Gedanken des Oberkommissars nicht. Alle Beteiligten waren, jeder auf eine andere Weise, gescheiterte Existenzen. Und plötzlich passte auch Manfred Schöppe aus Schleswig ins Bild. Auch er war gescheitert. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen ihn wegen Betrugs.
»Die Strukturen der organisierten Kriminalität sehen vor, dass spezialisierte Gruppen einzelne Aufgaben verrichten. Die eigentliche Tat wird letztlich von den so genannten Soldaten verrichtet. Das sind Leute, die erst kurz vor dem Raub, Überfall oder was auch immer geplant ist, eingeflogen werden, die logistisch gut vorbereiteten Pläne der Hintermänner in die Tat umsetzen und dann, mit einem ›Taschengeld‹ abgespeist, wieder in ihre Heimat zurückkehren. Bisher agierten diese Banden immer mit osteuropäischen Akteuren. Aber …«
»… im Zuge der Globalisierung«, wurde Christoph von Große Jäger unterbrochen, »wandelt sich das Bild. Früher war die Ideenschmiede bei uns, und der Osten diente als Werkbank. Jetzt wandelt sich das Bild. Das Management kommt aus dem Osten und bedient sich der Hiesigen als Handlanger. Und wer nicht freiwillig arbeiten will, auf den wird Druck ausgeübt. Das hat die Russenmafia von Hartz IV übernommen.«
»Und welche Erklärung habt ihr für den Schatten, der uns folgt? Der seit einiger Zeit der Polizei auf den Fersen ist?«, fragte Mommsen.
»Osteuropäische Banden überlassen nichts dem Zufall. Vielleicht wollen die wissen, wie weit wir sind. Sie möchten auf dem Laufenden bleiben. Manchmal gelingt es, sich interne Informationen durch gekaufte Insider zu beschaffen, durch käufliche Polizisten. Entweder hält uns die Gegenseite für zu unbedeutend, dass man es noch nicht in Nordfriesland versucht hat, oder vorsichtige Anbahnungen sind fehlgeschlagen.«
»Schade«, pflichtete Große Jäger bei, »wenn die Summe hoch genug ist, würde ich den Gangstern bereitwillig alles über das Liebesleben meiner beiden Kollegen offenbaren. Da wäre ich käuflich.«
In Mommsens Gelächter stimmte auch Christoph ein. Das Gespräch mit seinen Kollegen hatte ihm gut getan.
»Und wodurch unterscheidet sich der Typ in Schleswig von den anderen? Er hat den Offerten der Bande zugestimmt, deshalb geht es ihm auch relativ gut«, nahm Große Jäger den Faden wieder auf. »Und hinter diesem Rechtsanwalt in Liechtenstein, der als Treuhänder die Nordic Financial Consulting verwaltet, steckt unsere russische Mafia. Und wie hängt die Freundin von diesem Schöppe in der Sache drin? Diese Sabine Doppeldingsbums, die angeblich irgendwo unter der Sonne segelt.«
»Ich vermute, dass der Dame nominell die Vermögenswerte überschrieben wurden. Die ist wahrscheinlich nur eine Strohpuppe, die nach außen in Erscheinung tritt.«
»Glaubst du?«, wandte Große Jäger kritisch in Christophs Richtung ein. »Wann ist die Dame das letzte Mal gesehen worden? Und wenn sie nun auf dem Grund irgendeines Sees der immer noch nicht identifizierten Leiche aus Reiches Wohnung Gesellschaft leistet?«
»Du und deine Phantasie. Wenn das alles stimmen würde, wäre Schleswig-Holstein schon längst ausgestorben – dahingemeuchelt.«
»Na ja, lieber Christoph, du solltest die Leute hier an der Küste mit ihrer kriminellen Veranlagung nicht unterschätzen. Was glaubst du, warum dieser Landstrich so dünn besiedelt ist«, scherzte Große Jäger und reckte sich unter Ausstoß wilder Laute auf seinem Stuhl. »Bei aller Gottesfürchtigkeit haben sie schließlich jahrhundertelang als Strandräuber gelebt und fleißig gebetet: Lieber Gott, schenke uns einen Strand mit vielen Untiefen und dumme Kapitäne.« Dann streckte der Oberkommissar noch einmal seine Arme in die Höhe und holte tief Luft, um sich erneut zu strecken, wurde aber mitten in seinem Tun vom Klingeln seines Telefons unterbrochen.
Er hörte eine Weile zu, sagte dann »Moment, ich frage mal in die Runde« und sah abwechselnd seine Kollegen an. »Da ist ein Häschler am Apparat, der will einen Heiligen sprechen.«
»Der heilige Johannes. Das bin ich«, antwortete Christoph, »außerdem heißt der Mann Hessler und ist von der Kripo Friedberg bei Frankfurt.«
»Hessler? Er hat sich aber mit Häschler gemeldet«, meinte Große Jäger und stellte das Gespräch auf Christophs Anschluss durch.
Der hessische Kommissar nuschelte in der gleichen Weise, die Christoph von ihrem ersten Kontakt gewohnt war.
»Wir haben eine Nachricht von unserem LKA aus Wiesbaden erhalten. Sie betrifft einen Fall, der euch auch interessiert. Und zwar hat sich Interpol mit unseren Kollegen in Verbindung gesetzt, weil die in Brüssel wiederum eine entsprechende Nachricht aus Antwerpen erhalten haben«, erklärte der Mann aus der Wetterau umständlich.
»Es geht um den Banküberfall in Bad Vilbel, bei dem Spuren gefunden wurden, die mit einem Mord bei uns in Verbindung stehen könnten. Jetzt habt ihr einen Hinweis aus Antwerpen erhalten, der eventuell zu diesen Spuren passen könnte«, versuchte Christoph das Gehörte zusammenzufassen.
»Sagsch doch die gonz Zeid«, beschwerte sich der Hesse, um dann aber weiter zu berichten: »Beim Löschen eines Containerfrachters, der MS Solothurn Express, der einer Schweizer Reederei gehört und mit dem Heimathafen Monrovia unter der Flagge Liberias fährt, hat man eine übel zugerichtete Leiche gefunden. Das Schiff kam aus Tallinn.« Es war einen Moment ruhig in der Leitung. Christoph hörte nur Papier rascheln. Dann meldete sich wieder der Hesse. »Wieso finden die Seeleute eigentlich den Weg bei diesem Durcheinander? Wieso gibt es in der Schweiz eine Reederei? Der Kapitän ist ein Bulgare, der erste Offizier stammt aus Estland, der Steuermann aus Moldawien und die Besatzung überwiegend von den Philippinen und aus Malaysia. Steht hier im Protokoll. Wie machen die das?«
Ohne Christophs Erklärung abzuwarten, fuhr er fort: »Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb die belgische Polizei beim Verhör der Besatzung nicht eine einzige vernünftige Antwort bekam. Einzig die Tatsache, dass in Antwerpen eine Leiche zwischen den Containern lag, ist unumstritten. Und, deshalb die Nachricht an uns, dass die routinemäßig abgenommenen Fingerabdrücke identisch sind mit denen vom Banküberfall in Bad Vilbel.«
Hessler ergänzte seinen Bericht um technische Angaben und Aktenzeichen und versprach, alle ihm vorliegenden Informationen umgehend auf elektronischem Weg nach Husum weiterzuleiten.
»Danke, Kollege. Das ist großartig. Das kann uns ein ganzes Stück weiterbringen«, sagte Christoph.
Es folgte das übliche Versprechen, sich einmal persönlich miteinander bekannt zu machen, wenn man zufällig in der Nähe des anderen war.
Dann berichtete Christoph von der neuen Spur.
»Das bedeutet«, fasste Große Jäger zusammen, »dass wir wahrscheinlich die Leiche von Reiches Mordopfer gefunden haben. Das ist einer der Gangster, die marodierend durch Europa gezogen sind, Banken überfallen, in Lille den Kunsthändler erschossen und bei uns Leute erpresst haben.«
»Nun mal langsam«, mahnte Christoph. »Wir sollten abwarten, was der Spurenvergleich ergibt. Wenn die Belgier gründlich gearbeitet haben, erhalten wir vielleicht auch einen Hinweis darauf, ob der unbekannte Tote aus Antwerpen Linkshänder ist, wie wir es von dem Schläger vermuten, der Georgios Mitrolitis zugerichtet hat. Das würde uns in unserer These stützen, dass es sich um den geplanten Aufbau einer hochgradig kriminellen Struktur handelt.«
»Wenn der Typ aus Antwerpen von Reiche ermordet wurde, wieso taucht die Leiche in Belgien auf? Da können wir hier lange suchen.«
»Das ist doch …«, antworteten Christoph und Mommsen gleichzeitig, brachen dann aber beide ihre Ausführungen ab.
Christoph zeigte auf den jungen Kommissar. »Das kann Harm dir erklären.«
»Das ist doch klar«, setzte Mommsen noch einmal an. »Wo würdest du deine Leiche verschwinden lassen?«
»Da gibt es viele Möglichkeiten«, überlegte Große Jäger. »Eingraben. Zerstückeln. In einem Säurebad auflösen. Einfrieren.«
»Oder in die Welt exportieren«, ergänzte Mommsen.
»Mensch. Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin. Ich lad die Leiche auf einem Schiff ab und hoffe, dass sie irgendwo verschwindet.«
»Wobei der Täter, in diesem Fall Reiche, aber nicht wusste, dass wir den Toten relativ schnell würden zuordnen können. Woher soll ein Laie das auch ahnen«, erklärte Christoph.
»Und er musste den Toten nicht einmal an Bord tragen.« Der Oberkommissar war jetzt wieder auf Linie. »Du packst dir das Bündel einfach in den Kofferraum, fährst zu einer der Brücken, die den Nord-Ostsee-Kanal überqueren, und wirfst die Leiche auf ein zufällig vorbeifahrendes Schiff. Das alles in der Hoffnung, dass die dumme Polizei hinterher nicht darauf kommt, wo und wie die ungebetene Fracht an Bord gelangt ist.«
»Es gibt sechs Brücken über den Kanal. Die beiden Autobahnbrücken in Hohenhörn und Rade dürften ausscheiden, da es viel zu auffällig wäre, auf einer Autobahn zu halten und etwas ins Wasser zu werfen. Das würde die Aufmerksamkeit anderer Verkehrsteilnehmer erregen und somit unliebsame Zeugen schaffen. Die Brücke bei Brunsbüttel hat eine zu lange gerade Rampe, die Kieler Brücken sind zu stark frequentiert. Bleibt idealerweise die Grünentaler. Das dürfte die Brücke mit dem geringsten Verkehrsaufkommen sein. Außerdem liegt sie günstig, da sich gleich oben an der Brücke ein Parkplatz befindet, der im Oktober bei Dunkelheit einsam genug liegt, um dort unentdeckt zu bleiben. Harm, versuch doch einmal herauszufinden, wann das Schiff den Nord-Ost-See-Kanal passiert hat.«
Mommsen nickte und machte sich sogleich an die Arbeit. Er führte ein paar Telefonate, recherchierte im Internet und meldete sich nach einer knappen Stunde mit dem Ergebnis.
»Die ›Solothurn Express‹ hat sich am Mittwoch, dem 19. Oktober, um sechzehn Uhr in Kiel-Holtenau angemeldet. Die Schleusungszeit beträgt etwa dreißig Minuten. Gemäß der Klassifizierung des Schiffes ist im Kanal eine Höchstgeschwindigkeit von sechseinhalb Knoten zulässig, das sind etwa zwölfeinhalb Stundenkilometer. Die Grünentaler Brücke liegt bei Kanalkilometer 31, gerechnet von Brunsbüttel. Das bedeutet eine Entfernung bis Holtenau von rund siebenundsechzig Kilometern. Ein Schiff benötigt somit etwa fünfeinhalb Stunden Fahrtzeit. Rechnen wir die Schleusung hinzu, muss die ›Solothurn Express‹ gegen zweiundzwanzig Uhr an der Grünentaler Brücke gewesen sein.«
»Wenn wir – rein hypothetisch – zurückrechnen«, sagte Christoph, »könnte das heißen, dass Reiche bei einer angenommenen Fahrtzeit von eineinhalb bis zwei Stunden von Leck bis zum Kanal sein Opfer am frühen Abend, so gegen neunzehn Uhr, ermordet haben könnte. Um diese Jahreszeit ist es auch schon dunkel, sodass er unbemerkt von seinen Nachbarn die Leiche in seinen Pkw schaffen konnte.«
»Warum hat er nicht bis Mitternacht gewartet?«, warf der Oberkommissar ein.
»Die Frage kann uns Reiche nicht mehr beantworten. Ich kann mir aber vorstellen, dass er in Panik geraten ist. Nach alldem, was wir von ihm gehört haben, scheint er kein erfahrener Gewalttäter gewesen zu sein. In solchen Extremsituationen handeln Menschen oft außerhalb jeglicher Rationalität.«
»Wenn dem so ist, bleibt mir rätselhaft, weshalb er dann wohlüberlegt und zielgerichtet zum Kanal fährt, um sich dort der Leiche zu entledigen. Und dabei sogar noch den klugen Gedanken im Hinterkopf hat, dass mit etwas Glück der Tote auf Nimmerwiedersehen irgendwo in Europa verschwindet.«
»Eventuell ist er im ersten Schrecken ziellos durch die Gegend gefahren, nur getrieben von dem Gedanken, möglichst weit weg von seiner Wohnung zu kommen. Vielleicht hatte Reiche gar keinen Plan, und die Idee mit dem Kanal ist ihm zufällig unterwegs gekommen. Möglicherweise hatte er sogar nur vor, den Toten ins Wasser zu werfen, und das Schiff tauchte zufällig unter ihm auf.«
»Was wollen wir nun unternehmen?«, fragte Große Jäger.
Bevor Christoph antworten konnte, mischte sich Mommsen ein. »Wir haben zuerst noch eine unangenehme Aufgabe zu erfüllen. Uns liegt ein Haftbefehl vor.«
»Erzähl«, knurrte Große Jäger in der Vorahnung, dass er an der Vollstreckung mitwirken musste.
»Jörn Treinat, achtundzwanzig Jahre, wohnhaft in der Süderstraße.«
»Was liegt gegen den Mann vor?«
»Sozialbetrug. Er hat gleichzeitig Arbeitslosenhilfe und Erwerbsminderungsrente bezogen. Zwei Monate lang. Nach eigener Einlassung lag eine Überschneidung vor. Er hat sich – angeblich – sofort beim Arbeitsamt gemeldet, als die Rentenzahlung begann, und wollte das Geld zurücküberweisen. Doch man hat ihm gesagt, er soll erst den Rückforderungsbescheid abwarten, sonst kann man in einer solch großen Behörde den Zahlungseingang nicht buchen. In der Zwischenzeit hat ihm der Gerichtsvollzieher das zwischengeparkte Geld wegen ausstehender Unterhaltszahlungen gepfändet, sodass Treinat nicht zahlen konnte. Das interessiert aber das Arbeitsamt nicht. Die werfen ihm stur Sozialbetrug vor. Und weil sich der Delinquent weigert, eine eidesstattliche Versicherung abzugeben, liegt jetzt ein Haftbefehl gegen ihn vor.«
»Sag mir, dass das nicht wahr ist«, ereiferte sich Große Jäger. »Das ist doch wieder ein Ausbund an Bürokratie, da ist der Einzelne machtlos.«
Mommsen zuckte die Schultern. »Unser gesunder Menschenverstand ist hier nicht gefragt. Also müssen wir unsere Pflicht tun, auch wenn es uns ungerecht erscheint.«
Der Oberkommissar lehnte sich in seinen Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust, machte einen Schmollmund und sah Christoph an.
»Da kannst du machen, was du willst. Für so etwas gebe ich mich nicht her.«
»Unsere persönlichen Empfindsamkeiten und Gefühle spielen in unserem Beruf keine Rolle«, antwortete Christoph. »Wir sind nur Erfüllungsgehilfen der dritten Macht im Staat.«
»Ach nee!«, gab Große Jäger mit gedehnter Stimme zurück. »Gestern Abend und heute Morgen hast du aber nicht so ausgesehen, als würdest du völlig emotionslos deinen Job verrichten. Wie war das noch gleich mit Auhagen? Hinter dieser Verhaftung steckt doch vielleicht genau so ein armes Schwein. Und wir sollen uns zum Handlanger einer fragwürdigen Bürokratie machen? Hier liegt doch kein objektives Verfahren vor. Wir machen uns zum Büttel. Und im gleichen Atemzug wirft man uns Knüppel zwischen die Beine, wenn wir die wirklich Kriminellen jagen. Dann dürfen wir dies nicht, jenes nicht. So eine arme Sau wie den Treinat köpft man, aber wer der Hintermann bei dieser ominösen Finanzberatung in Schleswig ist, dürfen wir aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit nicht eruieren. Ach, ihr könnt mich alle mal …«
Wütend knallte Große Jäger mit dem Fuß die Schreibtischschublade zu, die er wie gewöhnlich zum Parken seiner Füße herausgezogen hatte.
Bevor Christoph ihm antworten konnte, stand der wuchtige Oberkommissar auf.
»Gut«, schnaubte er, »okay! Ich bin ein braver Polizist. Ich marschier jetzt mit Harm los und fang den Sozialbetrüger ein.« Große Jäger hatte sich in Rage geredet. »Ich geh noch mal in Ruhe zur Entwässerung. Dann kann’s losgehen.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, griff er sich mit der rechten Hand in den Schritt und führte dort jene Geste aus, die von Frauen oft als typisch maskulin und geschmacklos beschrieben wird. Dann verließ er das Büro.
»Ich kann Wilderich verstehen, aber deshalb kann es noch lange nicht in unserem Ermessen liegen, wann und wen wir verhaften und der Justiz überstellen.«
»Ja«, pflichtete Mommsen bei, »wie jeder hat auch unser Beruf seine Schattenseiten.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Große Jäger zurückkehrte. Er wirkte wie ausgewechselt. Sein unbändiger Zorn schien verflogen.
»Was ist nun? Wollen wir endlich?«, forderte er Mommsen auf.
Christoph sah den beiden nach. Dann beschloss er, sich die Grünentaler Brücke und deren Umgebung aus der Nähe anzusehen, obwohl er davon ausging, dort keine Spuren mehr zu finden.
Da die beiden Kollegen mit dem Dienst-Kombi unterwegs waren, fuhr Christoph mit seinem eigenen Fahrzeug. Er schalt sich selbst einen Narren, als er unterwegs immer wieder in den Rückspiegel blickte, um sich zu vergewissern, ob er eventuell verfolgt würde. Er konnte nichts Auffälliges feststellen. Christoph wählte den Weg über die Eiderbrücke bei Tönning und die schnurgerade durch die Marsch gezogene Bundesstraße, die westlich von Heide direkt in die Autobahn überging. Hier oben im Norden hatte man, zumal um diese Jahreszeit, die Autobahn streckenweise für sich allein. Unvorstellbar für geplagte Autofahrer in den Ballungszentren, die oftmals in den Verkehrsnachrichten die wenig tröstliche Information zu hören bekamen, dass der Stau vor ihnen sechs oder mehr Kilometer betrage, aber eine Umleitung nicht zu empfehlen sei.
Christoph fuhr den großen Bogen, der die Autobahn um Heide herumführte. Rechts lag das markant aus der Landschaft herausragende Areal der einzigen Erdölraffinerie Schleswig-Holsteins. Obwohl die freie Autobahn der Traum eines jeden geschwindigkeitsbesessenen Fahrers hätte sein können, reduzierte Christoph das Tempo, als er registrierte, dass der Westwind, der über die freie Fläche blies, ihn Richtung Leitplanke trieb. Er bewunderte den Mut, nein, eigentlich war es Leichtsinn, den der Fahrer eines leichteren Autos bewies, der ihn überholte und es nicht als störend empfand, dass sein Auto zwischen beiden Fahrspuren hin und her pendelte.
Christoph verließ in Albersdorf die Autobahn, um bald darauf an die Grünentaler Hochbrücke zu gelangen.
Die alte, kombinierte Brücke, die Eisenbahn und Autos einträchtig auf der gleichen Spur nutzten, hatte man durch eine Kastenbrücke mit grauen V-Stahlstreben ersetzt, über die eingleisig neben den beiden Fahrbahnen die fröhlich-bunten Züge der Schleswig-Holstein-Bahn rollten. Deshalb gab es nur einen Fußweg auf der westlichen Seite.
Vor der Brücke lag ein kleiner Parkplatz, der aber weiter von der Mitte der Kanalüberquerung entfernt war als der, den Christoph hinter der Brücke fand. Direkt am Ende des Übergangs zweigte der Rastplatz ab.
Christoph hielt an und stieg aus. Die ganze Anlage war unbeleuchtet. Er folgte dem Fußweg bis zur Brückenmitte und sah in die Tiefe, auf das blaugraue Band des Nord-Ostsee-Kanals, der international Kielkanal genannt wurde.
Unten, in der Tiefe, führte am bewachsenen Ufer ein Sandwanderweg entlang. Etwas oberhalb lag ein Ehrenmal. Selbst wenn dort abends gegen zweiundzwanzig Uhr Spaziergänger unterwegs gewesen wären, hätten sie in der Dunkelheit nichts von Reiches Aktion mitbekommen.
Über die Brücke rollten nur noch wenige Autos. Der überregionale Verkehr nahm die Autobahn, und zwischen Hanerau-Hademarschen im Süden und Albersdorf im Norden, die immerhin zehn Kilometer auseinander lagen, gab es nur sehr vereinzelt einsame Wohnhäuser, geschweige denn Ortschaften. Somit war nicht davon auszugehen, dass Reiche beobachtet worden war. Selbst wenn diese Stelle nicht planmäßig, sondern intuitiv aufgesucht wurde, hätte der Mörder keine bessere für die Entsorgung der Leiche finden können. Wie Christoph es nicht anders erwartet hatte, waren heute keine verwertbaren Spuren mehr zu erkennen, zumindest nicht mit bloßem Auge. Er würde Jürgensen anrufen und es dem Kriminaltechniker überlassen, ob der es für ratsam hielt, die Brücke noch einmal von seinen Experten absuchen zu lassen.
Christoph setzte sich ins Auto und fuhr langsam zurück.
In welcher Stimmung war Reiche gewesen, nachdem er sich seines Opfers entledigt hatte? War er verschmutzt? Mit Blut beschmiert? Hatte er Angst? Panik?
Am Fuß der Brückenauffahrt befand sich ein Gasthof. Christoph hielt an und befragte den Wirt, ob er am vergangenen Mittwoch etwas Auffälliges wahrgenommen hätte. Er zeigte auch Reiches Bild. Aber der Mann zuckte nur desinteressiert mit den Schultern und sagte, er habe weder etwas gesehen, noch würde er den Mann auf dem Foto wiedererkennen.
Ähnliche Auskünfte erhielt er in den Gaststätten und Imbissstuben in Albersdorf, das er bei seiner Rückfahrt durchquerte. Niemand hatte Reiche oder den dunkelgrünen, älteren Audi A4 gesehen. Es wäre auch ein zu glücklicher Umstand gewesen. Christoph erschien es sinnlos, weiter zu suchen, zumal nicht einmal sicher war, ob Reiche für die Rückfahrt den Weg über Albersdorf gewählt hatte.
Christoph hatte den Ort schon fast verlassen, als er auf der rechten Seite im Hintergrund die Schleswig-Holstein-Flagge sah, die sich heftig im Wind bewegte. Ein großes Schild am Straßenrand verkündete, dass das Soldatenheim auch für Besucher offen stand. Diesen letzten Versuch wollte Christoph noch wagen.
Am verschlossenen Eingang fand sich ein Hinweis, dass die Einrichtung erst nach Dienstschluss geöffnet hatte. An der Seite des Gebäudes hörte Christoph jedoch, wie jemand mit leeren Bierfässern und Getränkekisten hantierte. Er umrundete den Bau und traf auf einen stämmigen Bartträger. Der Mann blickte auf, als Christoph sich näherte.
»Moin. Ich habe eine Frage.« Christoph hielt dem Mann Reiches Bild hin. »Kennen Sie den?«
Der Bärtige kniff ein wenig die Augen zusammen, sodass die Falten noch ausgeprägter zu sehen waren.
»Nein«, antwortete er, zögerte dann aber einen Moment. »Darf ich?« Er griff zum Foto, drehte es ein paarmal hin und her, kniff erneut die Augen zusammen und meinte dann: »So ganz sicher bin ich mir nicht. Es könnte sein, dass er vor kurzem hier war.«
»Wann war das?«
Der Mann holte tief Luft. »Das weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Oder doch? Ja. Gestern vor einer Woche. Letzten Mittwoch. Das muss der … warten Sie.«
»Mittwoch, der 19. Oktober«, half Christoph.
»Genau. Stimmt. Wir hatten eine geschlossene Veranstaltung. Ein paar Beförderungen. Dann schließen wir für den allgemeinen Publikumsverkehr. Es war schon später. Abends. So gegen halb elf. Unsere Jungs hatten schon mächtig einen im Timpen. Ich sah die Lichter auf dem Parkplatz. Der Mann trommelte an die Eingangstür und wollte sich nicht abweisen lassen, als ich aufschloss. Weil die anderen Gäste ohnehin schon ziemlich alle waren, habe ich ihm einen Kaffee und zwei Gammel Dansk ausgeschenkt. Er schien mir sehr nervös zu sein. Ich habe ihn allerdings nicht weiter gefragt. Vielleicht hatte er etwas mit dem Magen. Dafür könnte sprechen, dass er sich eine ganze Weile auf dem Klo aufgehalten hat. Nach etwa zwanzig Minuten hat er bezahlt und ist wieder gegangen.«
Christoph bedankte sich bei dem auskunftsfreudigen Mann und notierte sich dessen Namen und Anschrift. Dieser Zeuge bestätigte, dass sich der Abend so entwickelt haben konnte, wie sie sich das vorgestellt hatten.
Aus einem nicht bekannten Grund war Reiche dann weiter nach Husum gefahren und dort am nächsten Tag seinem eigenen Mörder begegnet.
Christoph fuhr nach Husum zurück. Unwillkürlich behielt er den Rückspiegel im Auge, konnte aber niemanden entdecken, der ihm folgte.
*
Von einem Papierstapel zu sprechen wäre unzutreffend gewesen. Ein wüstes Durcheinander von losen Zetteln, Formularen, Aktendeckeln, dazwischen willkürlich auseinander gerissene Teile der Husumer Nachrichten. Mittendrin ein angelaufener Kaffeebecher … das war Große Jägers Schreibtisch. Dem Zustand des Arbeitsplatzes war nicht zu entnehmen, ob der Oberkommissar nur mal eben den Platz verlassen hatte oder außer Haus war. Eine glimmende Zigarette im Aschenbecher deutete an, dass Große Jäger in einer der Nachbarbüros unterwegs oder – wie er zu sagen pflegte – zum Entsaften war. Aber ein Verlass war auf den Glimmstängel auch nicht. Oft genug hatte er die Zigarette beim Davoneilen einfach vergessen.
»Hallo, Harm«, grüßte Christoph, als er zurückkam und deutete mit einer Hand auf den Arbeitsplatz des Oberkommissars.
Mommsen verstand die Geste richtig. »Er hat gemurmelt, er muss sich um ›Blödmann‹ kümmern, und ist von dannen gezogen.«
»Das entspricht sonst nicht seiner Art.«
Mommsen lachte. »Erklär mir bitte, was an unserem Kollegen verlässlich ist, mit Ausnahme der Tatsache, dass du dich auf ihn verlassen kannst.«
»Ward ihr erfolgreich bei der Vollstreckung des Haftbefehls? Oder gab es Probleme?«
»Völlig unproblematisch. Jörg Treinat war nicht da. Wir haben in der Wohnung eine junge Frau angetroffen. Die berichtete, dass Treinat kurz zuvor den Telefonanruf eines Unbekannten erhalten und dann Hals über Kopf die Wohnung verlassen hatte. Er fand nicht einmal Zeit, ihr eine Erklärung abzugeben.«
Christoph nickte nur. »Tja« war sein ganzer Kommentar dazu. Er konnte sich denken, wer der geheimnisvolle Anrufer war.
»Klaus Jürgensen hat sich zwischendurch gemeldet. Du möchtest ihn bitte zurückrufen.«
Christoph betätigte die Kurzwahltaste auf seinem Apparat.
»Jürgensen.«
»Hallo, Klaus. Harm sagte, ich …«
»Wenigstens einer, der bei euch arbeitet«, wurde Christoph vom Leiter des Erkennungsdienstes unterbrochen, »während ihr anderen die letzten Sonnenstrahlen des Herbstes genießt.« Dann hustete er.
»Vielleicht solltest du dich auch einmal in die Sonne setzen, damit deine Erkältung verschwindet.«
»Würde ich gern, aber ihr lasst mir ja keine Gelegenheit. Stets muss ich mich mit eurem Kleinkram herumplagen.«
»Das wäre eine gute Idee. Wir machen hier eine eigene Kriminaltechnik auf. Dazu holen wir uns den besten Mann, den die Landespolizei zu bieten hat.«
»Das geht nicht«, antwortete Jürgensen mit nasaler Stimme, »du glaubst doch nicht im Ernst, dass mich irgendwer zu den wilden Strandräubern an die Westküste locken kann. Selbst die Nordsee verschwindet zweimal am Tag, um danach vorsichtig zu gucken, ob ihr noch da seid. Ihr nennt diesen Vorgang schamhaft Ebbe und Flut. Wir haben Neuigkeiten vom Toten aus Antwerpen«, wechselte er übergangslos das Thema. »Die Fingerabdrücke sind eindeutig identisch mit den bisher nicht zuordenbaren Prints aus Reiches Wohnung. Sie passen auch zu den Straftaten in Bad Vilbel, Dänemark und Lille. Der Tote soll außerdem, so die Expertise der Belgier, Linkshänder gewesen sein.«
»Vermutlich war er es dann auch, der den griechischen Imbissbesitzer aus Heide verprügelt hat. Dessen Verletzungen deuteten auf einen Linkshänder hin.«
»Kann schon sein. Gratuliere. Ihr habt Klarheit in eine Reihe von Straftaten gebracht. Und sogar indirekt das Wunder vollbracht, die Leiche zu finden. Damit dürfte der Mord in Leck geklärt sein. Täter und Opfer sind identifiziert.«
»Nicht ganz, Klaus. Uns fehlen noch Motiv und der Name des Opfers.«
Jürgensen nieste. »Da teilen wir uns die Arbeit«, machte er dann einen Vorschlag. Christoph konnte sich vorstellen, mit welch schelmischem Gesichtsausdruck der kleine Hauptkommissar jetzt in Flensburg saß. »Du kümmerst dich um das Motiv. Ich sage dir, wie der Tote heißt.«
»Das wisst ihr?«
»Klar. Wir sind ja eine gut organisierte Polizei in Flensburg. Würde Dr. Starke jetzt behaupten.«
»Ich erspare mir den Kommentar, den Wilderich dazu abgeben würde.«
»Das ist auch besser so. Wir wollen bei unserer Arbeit jugendfrei bleiben. Der Tote ist achtunddreißig, heißt Pjotr Schewtschenko und kommt aus Witebsk.«
»Das klingt russisch.«
»Fast. Das liegt im Nordosten Weißrusslands, nahe der Grenze zu Russland.«
»Wisst ihr noch mehr über den Mann? Vorstrafen? Vorgeschichte?«
»Das LKA hat Informationen aus Minsk angefordert. Das Verhältnis zu Weißrussland ist bezüglich der polizeilichen Zusammenarbeit eher schwierig. Sobald ich etwas erfahre, melde ich mich bei dir. Ich habe aber noch eine Nachricht für dich. Reiche hatte ein Handy in seinem Auto liegen. Kurz vor seiner Ermordung wurde er zweimal angerufen. Das erste Mal gegen Viertel nach zehn, das zweite Mal kurz vor Mitternacht.«
»Sicher kannst du mir auch sagen, wer die Anrufer waren?«
Jürgensen hüstelte. Diesmal klang es aber künstlich. »Ja, aber es bringt euch nicht weiter. Es war ein Prepaid-Handy, erworben von einer Petra Diedrichs aus Büttjebüll. Für ihren elfjährigen Sohn Pepe. Der Kleine hat es entweder verloren, oder es ist ihm in der Schule gestohlen worden. Und da das Gerät ein abgelegtes der Mutter war und das Kartenguthaben unter fünf Euro betrug, hat die Frau es abgeschrieben, ohne es dem Provider oder sonst wem zu melden.«
»Solche Geräte tauchen dann auf dem Flohmarkt oder sonst wo auf. Die Spur ist tot.«
»Stimmt. Und noch etwas. Von der Mordkommission weiß ich, dass ein Nachbar Reiches in Leck glaubt, ein Fremder hätte sich am fraglichen Abend in der Nähe der Wohnung herumgetrieben. So gegen zehn, meint der Mann.«
Nachdem Jürgensen sich verabschiedet hatte, diskutierte Christoph die neuen Erkenntnisse mit Mommsen.
»Mangels Fakten bleibt uns nur die Phantasie. Vom toten Weißrussen ist uns bekannt, dass er häufig mit einem Kumpel aufgetreten ist. Wenn sich der nun in Leck umgesehen hat, weil Schewtschenko nicht wieder auftauchte und vielleicht sogar in Reiches Wohnung eingedrungen ist, könnte er erkannt haben, was dort geschehen ist. Daraufhin hat der Unbekannte Reiche angerufen. Das war Viertel nach zehn. Reiche muss zu diesem Zeitpunkt herumgeirrt sein. In seine Wohnung traute er sich wohl nicht zurück. Der Anruf hat seine Panik noch verstärkt. Das Resultat kennen wir. Mit dem zweiten Anruf hat der Unbekannte Reiche noch nach Husum gelockt. Dort kam es dann zur Auseinandersetzung vor dem Palmengarten, in deren Verlauf Reiche selbst ermordet wurde.«
Mommsen stimmte Christophs Gedanken zu, nicht ohne aber anzumerken: »Das klingt logisch, aber es bleiben Vermutungen.«
Der Rest des Nachmittags verlief ereignislos und bot den beiden Beamten Gelegenheit, liegen gebliebene administrative Tätigkeiten nachzuholen, vor denen sich Große Jäger – wieder einmal – erfolgreich gedrückt hatte.
*
Der Penner hatte seit dem späten Nachmittag verschiedene Kneipen im Stadtgebiet aufgesucht, dabei jeweils am Tresen gestanden und sich wortkarg gegeben.
»Bist wohl was Besseres«, hatte ihn ein Kneipengänger gefragt, aber der Mann in der abgerissenen Kleidung hatte nur gebrummt: »Lass mich. Hab ‘nen guten Grund. Hab endlich meine Nachzahlung von der Stütze gekriegt.« Dann hatte er sich wieder dem stillen Trinken zugewandt. Jetzt saß er auf den Stufen am Tinebrunnen mitten auf dem Marktplatz, sah dem um diese Zeit nur noch spärlichen Treiben zu und öffnete mit dem Daumen ein neues Bier. Mit einem satten »Plopp« flog der Bügel mit dem Keramikverschluss vom Flaschenhals. In aller Ruhe trank er schluckweise, rauchte dabei zwei Zigaretten und stellte die leere Flasche vor den linken Fuß der mit grüner Patina überzogenen Fischerfrau.
Mit einem leichten Stöhnen erhob sich der Mann in seiner schmuddeligen Kleidung, fasste sich dabei ins Kreuz, gab noch einen ächzenden Laut von sich und ging mit unsicheren Schritten quer über den Marktplatz in Richtung des altehrwürdigen Rathauses. Ohne auf den Verkehr zu achten, überquerte er die schmale Norderstraße, die am Marktplatz vorbeiführte. Ein Autofahrer, der den unachtsamen Fußgänger schon von weitem gesehen hatte, drosselte sein Tempo, strafte den Penner aber mit einem wütenden Hupen. Der revanchierte sich mit dem Zeigen des ausgestreckten Mittelfingers und wankte weiter in Richtung des schmalen Durchlasses im Rathaus, der zu der dahinter liegenden Fußgängerzone, dem Schlossgang, führte. Kurz nach dem Torbogen öffnete sich die Gasse, und von links drang der unangenehme Geruch der öffentlichen Toilette herüber. Der Mann in der schmutzigen Kleidung blieb stehen und zündete sich mit unsicherer Hand eine weitere Zigarette an. Dann ging er mit gesenktem Haupt weiter Richtung Schloss. In den Fenstern der schmucken Häuser entlang der Fußgängerzone brannte Licht. Auch im Café Jacqueline, gleich neben der Schlossbuchhandlung am alten Brauereiplatz, war noch Betrieb. Ein wenig weiter beleuchteten die hellen Fenster des repräsentativen Hauses, in dem Dr. Hinrichsen seine Praxis hatte, das Pflaster der urigen Straße. Laut klapperten die Absätze einer Frau, die von der Schlossseite in den Fußweg eingebogen war. Als sie den Penner auf dem sonst menschenleeren Weg entgegenkommen sah, stockte sie kurz, gab sich dann aber einen Ruck, wich zur Seite aus, die hier von dichtem Buschwerk gesäumt wurde, und schien froh zu sein, dass sie die unheimliche Gestalt passiert hatte.
Der Penner schenkte ihr keine Aufmerksamkeit, rülpste laut und vernehmlich und überquerte die Straße am Ende der Fußgängerzone, um auf der gegenüberliegenden Straßenseite ins Dunkel der Grünanlagen abzutauchen. Er fluchte leise vor sich hin, als er sich mühsam auf den Stufen zum unbefestigten Weg an der Schlossgräfte hinabtastete. Kurz darauf überquerte er die menschenleere Zufahrtsstraße zum »Schloss vor Husum«, wandte sich nach rechts und strebte dem Eingang mit dem schmiedeeisernen Tor zu.
Nur schwach drang der Lichtschimmer der Stadt in den dunklen Schlosspark. Schemenhaft, mehr zu ahnen als zu erkennen, lag voraus das Storm-Denkmal. Der Penner schlug den Weg nach links ein, ließ den dunklen Spielplatz unbeachtet und wankte mit unsicheren Schritten auf dem Sandweg an den Rückfronten und gemauerten Grundstücksabgrenzungen der »Neustadt« entlang. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er jetzt etwas mehr erkennen konnte. Die mächtigen Bäume mit ihren immer noch belaubten Kronen bildeten fast ein Dach über das Parkgelände, über die Wiesen kroch die erste Feuchtigkeit, die im Laufe der frühen Morgenstunden sicher wieder zu Bodennebel führen würde. Der Mann sah schon die Umrisse des alten Wasserturms. Dort würde er den Park wieder verlassen und seinen Weg auf der hell erleuchteten »Neustadt« fortsetzen.
Vor der dunklen Mauer zur linken Hand stand eine große Tanne mit einer Bank davor. Er hatte gerade diese Stelle passiert, als er hinter sich ein Geräusch vernahm. Ehe er sich umsehen oder reagieren konnte, erhielt er einen furchtbaren Stoß in den Rücken, stolperte nach vorn und versuchte, den Sturz durch einen Ausfallschritt zu vermeiden.