ZWEI
Es war ein herrlicher Oktobertag. Ein strahlend blauer Himmel hatte den ganzen Tag das helle Licht des Nordens gezeigt, das immer wieder die Maler faszinierte und in die Region lockte. Die Temperaturen waren auch jetzt, zwei Stunden nach Mitternacht, noch angenehm, sodass die zwei Nachtschwärmer die klare Luft hätten genießen können, wären sie nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.
Mit unsicheren Schritten wankten sie die »Neustadt«, eine Straße mit gemütlichen kleinen Geschäften, die ins Zentrum der Stadt führte, in Richtung »Hohle Gasse« entlang und nahmen dabei den überwiegenden Teil der Fußgängerzone für sich in Anspruch.
»He, wart mal, Malte«, gab der Größere, Thorben Neuhof, von sich, blieb stehen und fingerte mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette aus einer Packung.
»Gib mir auch eine«, bat Malte Abt und revanchierte sich, indem er Feuer gab. Dann wankten die beiden weiter und setzten ihre Unterhaltung fort.
Kurz bevor sie an der Großstraße in Richtung Marktplatz einbiegen wollten, machte Thorben kurz »Huups«, blieb stehen und kramte in den Taschen seiner gefleckten Armeehose.
»Was is?«, wollte Malte wissen.
»Mein Handy. Ich glaub, meine Alte. Was will die denn um diese Zeit von mir?«
»Lass doch. Komm schon. Is noch ‘n weiter Weg – die ganze Flensburger längs.«
»Dauert nich lang«, ließ sich Thorben nicht irritieren und steuerte den Schatten des Eingangsbereichs vom Palmengarten, einem Einkaufsparadies, an, um ungestört telefonieren zu können.
»Ich geh mal ‘ne Runde pinkeln«, gab sein Kumpan von sich und verschwand in die Dunkelheit der Langenharmstraße, einer Seitenstraße, die zum Altstadtparkhaus und zu den benachbarten Parkplätzen führte. Doch er kam nicht weit. Kurz nachdem er in der kleinen Straße verschwunden war, hörte er hastige Schritte und die aufgeregte Stimme seines Begleiters, von dem jede alkoholbedingte Trägheit abgefallen schien. Überrascht drehte er sich um.
»Was’n los?«
»Da liegt einer. Mit ganz viel Blut um sich rum«, jappte Thorben. »Ich glaub, wir müssen die Bullen anrufen.«
»Hast wohl einen zu viel eingefüllt«, raunzte Malte, gab aber doch sein Vorhaben auf und folgte seinem Kameraden. Schon von weitem sahen sie die Gestalt, die zusammengesunken am Pfeiler des Eingangs zwischen Buchhandlung und dem Geschäft für Haushaltsaccessoires kauerte. Der Kopf des Mannes war auf die Brust gefallen, die Arme hingen seitlich auf den Boden herab. Der Oberkörper war zur Seite gerutscht und wurde nur durch die Glastür in einer halbwegs sitzenden Position gehalten. Das helle Licht des Einkaufparadieses beleuchtete die Szene.
An den grauen Quadersteinen der Hausfront war eine Blutspur zu erkennen, die etwa in Kopfhöhe begann und dann abwärts führte.
»Der ist hin«, sagte Thorben, »komm, wir verkrümeln uns.«
»Quatsch. Wir müssen Hilfe rufen. Gib mal dein Handy.«
Thorben gab Malte bereitwillig das Mobiltelefon. Mit zittrigen Fingern wählte der junge Mann die Notrufnummer. Als sich am anderen Ende eine Stimme mit »Polizei Husum« meldete, stammelte er: »Kommen Sie schnell. Da liegt einer im Eingang zum Palmengarten, vorn, bei der Buchhandlung. Ich glaube, der ist hin.«
*
Als Christoph am Tatort eintraf, wurde die Straßenkreuzung im Zentrum von zuckenden Blaulichtern erhellt. Wie Finger wischten die Strahlen der rotierenden Lampen über die Fassaden der nächtlichen Stadt. Neben zwei Einsatzfahrzeugen der Polizei stand ein Notarztwagen mitten auf der zum Marktplatz führenden Großstraße.
Noch bevor Christoph ausgestiegen war, kamen ihm Harm Mommsen und ein Schutzpolizist entgegen. Der uniformierte Kommissar mit der Lederjacke tippte kurz an seine Mütze und ließ im Chor mit Mommsen ein lang gezogenes »Moin« hören. Christoph hatte sich während seiner Zeit in Husum an diesen Gruß gewöhnt. Zu jeder Tages- und Nachzeit begrüßte man sich mit einem »Moin«, das allerdings lang ausgesprochen wurde und eher wie ein »Moo-ien« klang. Er erwiderte den Gruß. Mit einem Blick registrierte er die Situation. Bevor er fragen konnte, begann Mommsen zu erläutern. »Zwei junge Männer haben den Toten gefunden.«
Als Mommsen auf die Gestalt im Eingangsbereich zeigte, fragte Christoph: »Den Toten?«
»Der Notarzt hat den Tod festgestellt. Auf weitere Erklärungen wollte er sich nicht einlassen. Aber der Doc ist schon verständigt.«
Damit meinte Mommsen Dr. Hinrichsen, der in Husums Schlossgang eine Praxis betrieb und in der Region als Polizeiarzt tätig war. Dank seiner Erfahrung hatte er der Polizei in der Vergangenheit schon viele wertvolle Dienste geleistet.
»Gibt es Zeugen? Andere Hinweise?«
»Nein.« Mommsen sah zu den Schaulustigen hinüber, die sich trotz der nächtlichen Stunde eingefunden hatten. »Niemand. Thomas hat sie schon befragt.«
Jetzt mischte sich Thomas Friedrichsen, der Steifenbeamte, ein. »Keiner hat etwas gesehen oder gehört. Die beiden Kollegen aus dem zweiten Wagen suchen die nächste Umgebung ab, aber viel Hoffnungen haben wir nicht.«
Sie blickten auf, als sie das gequälte Aufheulen eines Motors hörten, dann sahen sie zwei eng beieinander stehende Scheinwerfer vom Binnenhafen die Hohle Gasse hochkommen. Mit quietschenden Reifen hielt der Smart vor der Fensterfront des benachbarten Shops eines Versandhauses. Aus dem Kleinwagen schälte sich Große Jäger heraus, ließ die Tür seines Autos offen und störte sich nicht an der aus den Lautsprechern in die stille Nacht hinausdröhnenden Hip-Hop-Musik.
Statt einer Begrüßung warf er einen Blick auf den Toten und brummte dann in seinen Dreitagebart: »So ‘ne Scheiße. Mitten in der Nacht. Und wieder bei uns in Husum.« Dann fingerte er sich eine Zigarette aus einer zerknitterten Packung, die er aus einer der Taschen seiner fleckigen Lederweste hervorkramte, und zog sich ein Stück in die Großstraße zurück. Er war Profi genug, um im näheren Umkreis des Tatorts nicht zu rauchen.
»Mordkomm…?«, wollte Christoph fragen, aber Friedrichsen winkte ab.
»Das K1 ist schon verständigt. Ebenso der Erkennungsdienst. Es dauert eine Weile, bis die Kollegen aus Flensburg hier sind.«
Inzwischen war ein weiteres Fahrzeug eingetroffen. Dem Mercedes-Kombi entstieg Dr. Hinrichsen, ein Mittvierziger mit vollem Haar und grauen Schläfen. Er wurde von Mommsen kurz eingewiesen und wandte sich dann dem Arzt vom Rettungsdienst zu.
»Exitus«, hörte Christoph den Mann mit der signalroten Jacke und der reflektierenden Aufschrift »Notarzt« sagen.
»Haben Sie schon etwas feststellen können, Herr Kollege?«, fragte Dr. Hinrichsen.
Der Notarzt schüttelte den Kopf. »Nichts Aufschlussreiches. Vermutlich Schädelbruch. Es sieht aus, als wäre der Kopf des Toten mit großer Wucht gegen die Wand geschlagen worden. Dabei ist der Hinterkopf regelrecht aufgeplatzt. Näheres bleibt der Obduktion vorbehalten.«
Dr. Hinrichsen hatte sich Handschuhe übergestreift und besah sich den Toten aus der Distanz. Um keine Spuren zu verwischen, wollte er das Eintreffen der Spurensicherung abwarten, bevor er das Opfer näher untersuchte.
Große Jäger hatte in der Zwischenzeit mit den beiden jungen Männern gesprochen, die mit einem Schlag wieder halbwegs nüchtern schienen.
»Das ist der Obergefreite Neuhof. Ich bin Hauptgefreiter Abt«, stellte sich der Kleinere der beiden vor. Wir sind von der San-Staffel der Flugabwehrraketen-Gruppe. Wir waren in der ›Blockhütte‹. Nun wollten wir zurück zum Fliegerhorst, oben in der Flensburger.«
»Und da habt ihr ordentlich was getankt?«, fragte Große Jäger.
Jetzt griente Thorben Neuhof. »Da kannst du einen drauf lassen«, gab er mit unsicherer Stimme von sich, um ein leichtes Rülpsen folgen zu lassen. Schuldbewusst hielt er die Hand vor den Mund. »’tschuldige.«
Große Jäger nickte ihm zu. »Ist okay. Ich kenn das.«
Dann hatten die beiden von der Entdeckung des Toten berichtet.
»Habt ihr sonst irgendetwas bemerkt?«
»Nee«, antwortete jetzt Malte, der ein wenig nüchterner als sein Kamerad wirkte. »Nichts. Absolut null. Weit und breit kein Schwein zu sehen. Außer ihm da …« Er zeigte mit dem Finger in Richtung des Toten. »Sorry, wenn ich Schwein gesagt habe. Aber is doch ‘n armes Schwein. Oder?«
Sie mussten etwa eine Viertelstunde warten, bis sie schon von weitem das rotierende Blaulicht aus Richtung Marktplatz wahrnahmen.
»Die Kollegen aus Flensburg«, merkte Mommsen an.
Kurz darauf hielt die kleine Wagenkolonne. Aus dem ersten Fahrzeug sprang ein kleiner, fast kahlköpfiger Mann und kam auf sie zu. Er hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben und den Kopf tief zwischen den Schultern eingezogen. Es sah aus, als würde er jämmerlich frieren. Erst räusperte er sich vernehmlich, dann hustete er.
»Moin, Klaus«, begrüßte Christoph den Leiter der Kriminaltechnik, Hauptkommissar Jürgensen. Der quetschte irgendetwas Unverständliches zwischen den Lippen hervor, schüttelte sich einmal wie ein nasser Hund und warf einen Blick auf den Toten.
»Was ist das wieder für eine Ferkelei«, gab er dann von sich. »Wie unästhetisch. Wenn ihr uns schon mitten in der Nacht in diese unwirtliche Region lockt, kann man zumindest einen Giftmord erwarten. Oder einen sauberen Schuss. Von mir aus könnt ihr eure Leichen auch im Säurebad auflösen. Aber immer wenn ich zu euch komme, fließt Blut. Nicht einmal die Mörder sind bei euch an der Westküste kultiviert.«
»Wenn bei uns gemordet wird, was selten genug passiert, dann immer nur von importierten Tätern. Der Nordfriese neigt nicht zur Gewalttat«, erwiderte Christoph.
Doch Klaus Jürgensen schüttelte nur den Kopf. »Ich habe schon überlegt, ob ich mir nicht eine Monatskarte von Flensburg nach Husum kaufe. So oft, wie ich in letzter Zeit zu euch Schlickrutschern musste.«
Aus den anderen Fahrzeugen waren weitere Beamte ausgestiegen. Als Christoph einen Blick über die Schulter warf, gewahrte er eine Frau, die halb versetzt hinter ihm stand.
»Hallo«, begrüßte er die Leiterin der Mordkommission. Frauke Dobermann war er vor einem halben Jahr das erste Mal begegnet. Es war keine Sympathie, die beide miteinander verband. Die mittelgroße Brillenträgerin mit dem nackenlangen rötlichen Haar, der etwas zu spitzen Nase und dem forschen Auftreten, so hatte Christoph erfahren müssen, war nicht nur eine gute Polizistin, sondern machte auch ihrem Namen alle Ehre. Ihre Bissigkeit war in der gesamten Polizeidirektion gefürchtet.
»Guten Morgen«, grüßte sie zurück.
Christoph berichtete das wenige, was sie bisher in Erfahrung bringen konnten, und wurde dabei von Große Jäger unterbrochen, der sich ihnen näherte.
»Ach, die Doberfrau«, kommentierte der Oberkommissar schon aus der Entfernung. »Da freuen sich aber alle, dass Sie wieder einmal bei uns sind.«
Die Erste Hauptkommissarin warf Große Jäger einen Blick über den Brillenrand zu, ließ aber seinen Anwurf unerwidert.
»Sieht aus, als wäre das Opfer mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen worden«, sagte sie.
»Das hat Dr. Hinrichsen auch vermutet. Näheres müssen wir der Obduktion und der Spurensicherung überlassen.«
»Das sehe ich auch so. Wir übernehmen jetzt die weitere Bearbeitung. Ich lasse Ihnen einen kurzen Bericht zukommen. Vielen Dank für Ihre Unterstützung.«
Christoph war ein wenig irritiert. So verbindlich hatte sie früher nie mit ihm kommuniziert. Er sah sich noch einmal um. Die eingespielte Truppe der Mordkommission hatte die Arbeit aufgenommen. Jeder Handgriff saß. Da konnten Christoph und seine Kollegen nicht behilflich sein. So wechselte er noch ein paar Worte mit Thomas Friedrichsen von der Streife und erfuhr, dass sich auch dort keine weiteren Neuigkeiten ergeben hatten.
Dann machten sich die drei Beamten auf den Weg zurück in ihre Wohnungen.
*
Gegen Morgen war es diesig geworden. Vom blauen Himmel der letzten Tage war nichts mehr zu sehen. Zwischen den Kronen der Bäume im Schlosspark hing ein dünner Nebel, der auch in Schwaden auf die Grünflächen herabgefallen war.
Christoph ging, wenn es sich einrichten ließ, gern zu Fuß zur Dienststelle. Von seiner Wohnung am Rande der Stadt kam er an der Kreisverwaltung vorbei und bog kurz darauf am Wasserturm in den Schlosspark ein. Dort genoss er die Ruhe, denn der Lärm des morgendlichen Berufsverkehrs drang kaum bis in die Grünanlage vor. Direkt an den Park schloss sich eine Fußgängerzone an, der Schlossgang, der im Herzen der Stadt am Markt endete. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Polizeigebäude, ein kurzes Stück verkehrsarme Straße und dann wieder der Fußweg bis zum Bahnhof, der gegenüber vom Büro lag.
Sind sich die Husumer eigentlich bewusst, wie schön sie es hier haben?, überlegte Christoph. Welche vergleichbare Stadt bietet so ideale Möglichkeiten, fast alles bei kurzen Wegen zu Fuß erledigen zu können?
Mommsen war schon im Büro, als Christoph in der Dienststelle eintraf. Nachdem sie ein paar belanglose Worte gewechselt hatten, kamen sie auf die Ereignisse der letzten Nacht zu sprechen.
»Ein Mord – mitten in Husum – das wird für Aufregung sorgen«, sagte Mommsen.
»Wenn wir unterstellen, dass ein Verbrechen vorliegt. Es ist kaum anzunehmen, dass jemand zum Zwecke der Selbstverstümmelung so heftig, wie es hier den Anschein hat, mit dem Hinterkopf gegen die Hauswand schlägt.«
»Noch sprechen wir von Vermutungen. Aber gottlob liegt dieser Fall von Beginn an in der Verantwortung der Mordkommission. Uns bleiben genug andere Probleme.«
»Gibt es schon einen Bericht in der Zeitung?«, fragte Christoph.
»Ja. Ich war auch überrascht, dass die es noch in die heutige Ausgabe hineinbekommen haben. Aber das sind eben die Vorzüge der Ortsnähe einer guten regionalen Zeitung. Hier.« Mommsen reichte Christoph die »Husumer Nachrichten«. »Außerdem habe ich heute im Radio eine kurze Meldung dazu gehört.«
»Ich glaube, ich muss mir auch angewöhnen, morgens Welle Nord oder RSH zu hören«, meinte Christoph. Dann überflog er den kurzen Text im Lokalteil und sah auf die Abbildung, die den zusammengekrümmten Toten zeigte. Es war ein sachlicher Artikel, ohne Spekulationen, der im Wesentlichen nur kurz die bisher bekannten Tatsachen berichtete. »Ist schon etwas über die Identität des Mannes bekannt?«
Mommsen schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Informationen. Allerdings habe ich mich auch nicht weiter darum gekümmert.«
In diesem Moment klingelte das Telefon auf Christophs Schreibtisch.
»Hansen, Bredstedt«, meldete sich der Anrufer. »Haben Sie schon in die Zeitung gesehen?«
»Nur oberflächlich. Was meinen Sie?«
»Der Tote, den man heute Nacht in Husum gefunden hat.«
»Was ist mit dem?«
»Das ist er. Der Mann, der mich gestern aufgesucht hat und behauptete, er hätte einen Menschen umgebracht. Nun ist er selbst tot.«
»Sind Sie sich absolut sicher?« Christoph hörte, wie Pastor Hansen am anderen Ende der Leitung aufstöhnte.
»Soweit die Qualität des Pressefotos es zulässt – ja. Wenn Sie möchten, wäre ich auch zu einer Identifikation des Toten bereit. Kennen Sie inzwischen seinen Namen?«
»Nein«, gab Christoph zu, »uns in Husum ist er nicht bekannt. Aber der Vorgang wird von unseren Flensburger Kollegen bearbeitet.«
»Heißt das, ich soll mich mit denen in Verbindung setzen?«, fragte Hansen.
»Das übernehmen wir. Haben Sie erst einmal vielen Dank. Sie haben uns mit Ihrer schnellen Reaktion geholfen.«
Christoph hatte gerade den Telefonhörer aufgelegt, als Große Jäger ins Büro stolperte. Er wäre fast über eine Leine gefallen, an der er einen Hund führte.
»Was ist das denn?«, fragten Christoph und Mommsen wie im Chor.
Der Oberkommissar ließ ein breites Grinsen sehen.
»Das ist ein Hund«, erklärte er. »So weit zur Erleuchtung all derer, die das nicht selbst erkennen können.«
»Und was sucht der Hund bei uns im Büro?«, wollte Christoph wissen.
Große Jäger hatte sich auf seinen Bürosessel fallen lassen und die Leine vom Halsband des Tieres gelöst. Dann versuchte er dem Hund klar zu machen, dass er Platz nehmen sollte. Doch das Tier schien nicht im Geringsten hören zu wollen. Es stand da, ließ den Kopf kreisen und sah die Anwesenden an.
»Das ist mein Hund«, sagte der Oberkommissar. »Soll ich ihn den ganzen Tag allein in der Wohnung lassen? Ich denke, er stört hier keinen.«
»Wo hast du den her?« Auch Mommsen zeigte Interesse für das Tier.
Große Jäger lehnte sich zurück, zündete sich die obligatorische Zigarette an, parkte seine Füße auf der ausgezogenen Schreibtischschublade und erklärte kategorisch: »Gekauft. Ein Mann braucht einen Hund. Wer freut sich darüber, wenn ihr abends heimkommt? Niemand. Da ist keiner, der mit dem Schwanz wackelt.« Dabei sah er Mommsen an.
Der Hund begann sich unterdessen für das Büro zu interessieren. Bedächtig schlich er von einem Einrichtungsgegenstand zum nächsten und beschnupperte ihn.
»Das geht aber nicht, dass du einen Hund mit zum Dienst bringst«, wies Christoph ihn an. Doch Große Jäger rührte sich nicht.
»Der Hund eines Jägers ist ein Jagdhund, der des Schiffers ein Schiffshund. Und was ist der Hund eines Polizisten?« Er wartete einen kurzen Moment ab und sah seine beiden Kollegen an, bevor er fortsetzte: »Siehste. Und damit ist er auch ein Diensthund.«
Inzwischen hatte es sich der Hund unter Mommsens Schreibtisch bequem gemacht.
»Was ist das überhaupt für eine Rasse? Sieht aus wie ein Dackel, dem man hohe Beine angezüchtet hat, damit sein Bauch nicht übers Pflaster schleift«, kommentierte Mommsen.
Große Jäger sah seinen Kollegen mit einem Hauch Verachtung an. »Das ist eine Dachsbracke, die kleinste der Schweißhunderassen. Agil, kräftige Erscheinung mit starken Knochen und guter Muskulatur. Das hirschdunkelrote Fell zeugt von seiner Rasse.« Mitten in seiner Erklärung stockte er und rümpfte die Nase. Die beiden anderen taten es ihm gleich. Unter Mommsens Schreibtisch drang eine Wolke üblen Geruchs hervor.
»Scheint so, als müsstest du dich noch einmal genauer über die Ernährungsgewohnheiten deines Hundes informieren, um seine Verdauungsprobleme in den Griff zu bekommen«, sagte Christoph und öffnete weit das Fenster. »Wie heißt der Köter überhaupt?«
Große Jäger zuckte die Schultern. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Jedenfalls ist er ein ganz schöner Blödmann.«
Jetzt strahlte der Oberkommissar. »Genau, das ist es. Ich werde ihn ›Blödmann‹ nennen.«
»Damit genug. Bei der nächsten Gelegenheit bringst du ihn heim. Punktum.« Christophs Befehl wollte Große Jäger wohl nicht widersprechen. »Und nun zurück zur Arbeit. Hatte Pastor Hansens Besucher eine Vorahnung? Hat er seinen eigenen Tod gemeint? Kaum. Und da er jetzt selbst Opfer ist, müssen wir davon ausgehen, dass er die Wahrheit erzählt hat, als er Hansen aufsuchte. Die traurige Wahrheit. Aber verdammt noch mal, wo ist die zweite Leiche? Ich werde jetzt die Mordkommission informieren.«
Christoph versuchte, Frauke Dobermann zu erreichen. Die Leiterin der Mordkommission war allerdings nicht in ihrem Büro. So rief er Dr. Starke an. Der Kriminaloberrat war der direkte Vorgesetzte der Husumer Kripo. Während Christoph auf die Verbindung wartete, sah er den Mittdreißiger vor seinem geistigen Auge. Braun gebrannt, nach der neuesten Mode gekleidet, durchgestylt. Niemand hätte hinter dieser Fassade den ehrgeizigen Polizisten vermutet, der vielen als Überflieger galt und nach eigener Aussage die Position in Flensburg nur als Zwischenstufe auf der Kieler Karriereleiter sah. Auf menschlicher Ebene hatten die drei Husumer nie Zugang zu ihrem Vorgesetzten gefunden.
Christoph informierte den Kriminaloberrat über die Ereignisse der vergangenen Nacht sowie den Anruf von Frode Hansen, ebenso ließ er den gestrigen Besuch des Toten beim Bredstedter Pastor nicht unerwähnt.
»Wie sind Sie derzeit ausgelastet?«, wollte Dr. Starke wissen.
»Mehr als genug. Wir haben hier jede Menge der üblichen Routinefälle zu erledigen. Darüber hinaus bereitet uns ein Täter Sorgen, der als ›Schubser‹ in den Medien Einzug gehalten hat. Wie Ihnen bekannt ist, sind wir immer noch unterbesetzt.«
»Sie sollten nicht immer das Hohe Lied der Klage anstimmen, sondern konstruktive Überlegungen anstellen, wie das Arbeitspensum mit dem gegebenen Rahmen an Personal und Sachmitteln zu bewältigen ist«, belehrte ihn der Kriminaloberrat, der seit dem ersten Tag, an dem Christoph den Dienst an der Westküste aufgenommen hatte, an den Fähigkeiten der Husumer Dienststelle herummäkelte. »Wir kennen immer noch nicht die Identität des Toten. Er hatte keine Papiere bei sich. In unseren zentralen Dateien wird er auch nicht geführt. Ich beauftrage Sie deshalb, dem K1 Unterstützung zu leisten und Namen sowie Herkunft des Mannes aufzuklären. So schwer kann das ja nicht sein. Schließlich scheint das Opfer aus der Gegend zu stammen. Und die ist dünn besiedelt. Der Landkreis hat nicht mehr Einwohner als ein Stadtbezirk einer Großstadt.«
»Unser Kreis ist nur unwesentlich kleiner als das Saarland, hat dafür aber eins Komma drei Millionen Gäste pro Jahr«, hielt Christoph entgegen.
Dr. Starke lachte auf. »Wie so oft bringen Sie unsachliche Argumente ein. Wir können doch ausschließen, dass ein Tourist als Täter infrage kommt. Oder wollen Sie – gerade Sie in Husum – sich womöglich noch zu der Vermutung hinreißen lassen, bei Ihnen würde ein bezahlter Auftragskiller aus Osteuropa sein Unwesen treiben?«
Es war müßig, mit Dr. Starke zu diskutieren. Deshalb verzichtete Christoph auf eine Erwiderung. Stattdessen fragte er: »Und wer kümmert sich um die Behauptung des Opfers, es sei selbst ein Mörder?«
»Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Wir haben nirgendwo unbekannte Mordopfer. Ich halte diese Behauptung für falsch. Vielleicht hat der Tote sich selbst gemeint?«
Gern hätte Christoph dem Kriminaloberrat geantwortet, dass er Zynismus in diesem Fall für wenig angebracht hielt.
»Aber wenn es Sie beruhigt«, ergänzte Dr. Starke, »dann übertrage ich Ihnen auch die Nachforschungen zu dieser Frage. Es würde mich wundern, wenn Sie einen weiteren Toten finden würden. Im Übrigen werden Sie Verstärkung bekommen. Ich habe dafür gesorgt, dass eine Kollegin aus Schleswig zu Ihnen versetzt wird. Frau Hauck wird sich in den nächsten Tagen bei Ihnen melden.«
Nachdem er aufgelegt hatte, informierte Christoph seine beiden Kollegen über den Inhalt seines Telefonats mit dem Vorgesetzten. »Und du, Wilderich, kannst dir deinen üblichen Kommentar ersparen, wenn wir über unseren Chef sprechen«, meinte er an Große Jäger gewandt.
Doch der Oberkommissar lachte nur kurz auf. »Trotzdem«, meinte er, zeigte zwei Reihen gelber Zähne und zischte: »Scheiß-Starke.«
Christoph warf Große Jäger einen missbilligenden Blick zu, ließ die Äußerung aber unkommentiert.
Mommsen durchforstete alle Dateien, die ihnen Aufschluss über die Identität des Unbekannten hätten geben können. Es lag weder eine Vermisstenmeldung vor, die auf den Mann gepasst hätte, noch gab es irgendeinen Hinweis auf ein weiteres Tötungsdelikt, dessen sich der Tote gegenüber Pastor Hansen bezichtigt hatte.
Christoph rief Hauptkommissar Jürgensen von der Kriminaltechnik an.
»Die Leiche ist noch in der Nacht zur Obduktion nach Kiel gebracht worden. Ein Ergebnis liegt uns noch nicht vor. Nach allem, was wir bisher wissen, ist der Kopf des Mannes mit großer Wucht gegen die Mauer geschlagen worden. Dafür sprechen auch die Druckstellen im Gesicht, unterhalb der Ohren. Ferner haben wir Abdrücke an der Stirn festgestellt. Meine Vermutung geht dahin, dass der Tote im Eingang zu diesem Dingsbums …«
»Palmengarten«, warf Christoph ein.
»… also zu diesem Garten mit dem Rücken zur Mauer stand. Dann hat ihn der Täter bedrängt, mit der flachen Hand heftig gegen die Stirn geschlagen. Das Opfer muss durch den Stoß gegen die Mauer benommen gewesen sein. Das hat der Mörder ausgenutzt, den Kopf des Mannes zwischen seine Hände genommen und mehrfach – vielleicht fünf bis sechs Mal – gegen die Wand geschlagen. Weitere Spuren haben wir nicht entdeckt.«
»Habt ihr beim Opfer etwas gefunden, was Rückschlüsse auf seine Identität zulassen würde?«
Der kleine Kriminaltechniker hustete ins Telefon, bevor er antwortete. »Nein. Er war Raucher. Zumindest haben wir eine angebrochene Zigarettenpackung und ein billiges Einwegfeuerzeug bei ihm gefunden, benutzte Papiertaschentücher sowie eine angefangene Packung, den Einkaufszettel eines Supermarktes aus Leck über ein paar Lebensmittel und ein Schlüsselbund. Für euch könnte es interessant sein, dass sich daran ein Autoschlüssel der Marke Audi befand. Wir haben auch seine Fingerabdrücke geprüft. Bei uns ist er nicht erfasst.«
»Das ist ein Anhaltspunkt. Wenn der Mann nicht aus Husum stammt, muss er irgendwie hergekommen sein. Wir werden unser Augenmerk auf Audis richten, die hier in der Stadt abgestellt sind. Und der Einkaufszettel könnte auch ein Hinweis sein. Üblicherweise kauft man Lebensmittel in der Nähe seines Wohnortes ein.«
»Da wäre noch etwas. Gleich neben der Mauer, an der wir den Toten gefunden haben, ist die Glasfront der Eingangstür zur Buchhandlung. Dort haben wir mehrere verwischte Fingerabdrücke gefunden, die nicht vom Opfer stammen. Es sieht so aus, als hätte sich dort jemand abgestützt und wäre dann abgerutscht.«
»Konntet ihr die schon identifizieren?«
»Nein, aber wir arbeiten daran.«
»Danke, Klaus.«
Die Verabschiedung des Flensburger Kollegen ging in einem heftigen Niesen unter.
Christoph kannte Leck, die kleine betriebsame Stadt nördlich Husums, fast an der dänischen Grenze. Es war einen Versuch wert, zu recherchieren, welche Audis in Leck zugelassen waren.
Kurz darauf fand Christoph in seiner Mail eine Abbildung des Einkaufsbons. Darauf war die Adresse des Supermarkts vermerkt.
Mommsen wollte sich mit einer Fotografie des Toten auf den Weg nach Leck machen, um im Geschäft und dessen Umfeld Erkundigungen nach dem Unbekannten einzuholen. Große Jäger sollte ihn begleiten, das Meldeamt der Stadt aufsuchen, um dort nach dem Toten zu forschen.
»Kannst du inzwischen auf ›Blödmann‹ aufpassen?«, fragte der Oberkommissar Christoph.
Der tippte sich nur gegen die Stirn. »Du bist wohl nicht mehr bei Sinnen. Bring deinen Hund nach Hause.«
Christoph suchte Polizeidirektor Grothe auf und bat um die Unterstützung der Streife bei der Suche nach Audis, die möglicherweise irgendwo in Husum geparkt waren und nicht bewegt wurden.
Dann rief er die Praxis von Dr. Hinrichsen an, um zu fragen, ob sich bei der ersten Untersuchung am Tatort noch verwertbare Spuren ergeben haben. Es dauerte eine Weile, bis am anderen Ende abgenommen wurde.
»Praxis Dr. Hinrichsen, Bergmann«, meldete sich eine wohl akzentuierte Frauenstimme.
»Hallo, Anna, hier ist Christoph.«
»Wie ich höre, treibst du dich wieder einmal nächtens in Husums Straßen herum.«
»Notgedrungen. Ist dein Chef zu sprechen?«
»Das ist im Augenblick ungünstig. Er ist mitten in einer Ultraschalluntersuchung. Dabei mag er nicht gestört werden. Außerdem ist hier der Teufel los. Ganz Husum scheint sich heute in unserer Praxis versammelt zu haben. Wenn es dir recht ist, werde ich ihn fragen. Was hältst du davon, wenn wir uns in der Mittagpause treffen. Im ›Jacqueline‹?«
Christoph stimmte zu. Trotz aller Diskretion war es weder Dr. Hinrichsen noch Christophs Kollegen verborgen geblieben, dass er mehrfach mit der gut einen Kopf größeren Arzthelferin ausgegangen war. Selbst die Tatsache, dass er nicht jede Nacht in seinem spärlichen möblierten Appartement zubrachte, war kein Geheimnis mehr. Der Flurfunk auf der Dienststelle und die offenen Augen, die in einer Kleinstadt hinter jeder Gardine lauerten, machten es schwer, das Privatleben geheim zu halten.
Christoph hatte sich fast zwei Stunden mit der Bearbeitung eines anderen Falls auseinander gesetzt, als Thomas Friedrichsen, der Streifenpolizist, sein Büro betrat.
»Wir haben drei Fahrzeuge entdeckt, auf die die Beschreibung passen könnte«, erklärte er und nahm ungefragt auf dem Besucherstuhl Platz. »Es ist ein neuer Audi A8 mit einem Kölner Kennzeichen, der unseren Kollegen bereits gestern aufgefallen ist, weil er den Verkehr an der Kreuzung Volquart-Pauls-Straße/Jebensweg unter Umständen behindern könnte, falls dort ein größerer Lkw mit Hänger einbiegen sollte. Der zweite Audi steht in der Flensburger Chaussee, kurz vor der Kaserne. Es ist ein blauer A3, allerdings auch mit auswärtigem Kennzeichen. Er ist in Münster zugelassen und gehört einem Wehrpflichtigen vom Fliegerhorst. Das dritte Fahrzeug haben wir an der Schiffbrücke, direkt am Binnenhafen, gefunden. Es ist ein älterer A4 mit einheimischem Kennzeichen. Weil der Wagen bereits heute Morgen dort stand und kein Parkschein hinterlegt ist, steckt eine gebührenpflichtige Verwarnung hinter dem Scheibenwischer.«
»Das könnte der Wagen sein, den wir suchen. Haben Sie das Kennzeichen?«
Friedrichsen nickte. »Natürlich. NF. Der Wagen ist hier im Landkreis zugelassen. Ich habe bereits eine Halterfeststellung durchgeführt. Der Audi ist auf einen Frank Reiche aus Leck zugelassen.«
»Mensch, Friedrichsen, scheint so, als hätten Sie ins Schwarze getroffen. Die Sache sehen wir uns genauer an.«
Sie fuhren mit dem Streifenwagen das kurze Stück zum zentralen Platz am Binnenhafen. Dort stand ein dunkelgrüner, ungewaschener Audi A4 älterer Bauart. Äußerlich wies das Fahrzeug keine Besonderheiten auf. Christoph warf vorsichtig einen Blick durch die Scheibe, ohne etwas zu berühren. Im Wageninneren waren ein paar Musikkassetten in der Mittelkonsole zu erkennen, auf dem Beifahrersitz lag ein aufgeklappter Straßenatlas. Bis auf einen überquellenden Aschenbecher war nichts weiter zu sehen. Jürgensen hatte gesagt, der Tote sei Raucher gewesen. Der Parkplatz, auf dem das Auto stand, war nur wenige Schritte vom Tatort entfernt.
»Wir brauchen jetzt den Erkennungsdienst«, sagte Christoph zu dem jungen Polizeikommissar, der sich daraufhin über Funk mit der Zentrale verständigte, während sein Kollege aus dem Streifenwagen damit beschäftigt war, neugierige Passanten zum Weitergehen aufzufordern.
Christoph griff zum Handy und wollte Große Jäger anrufen, musste sich aber zuvor eines älteren Mannes erwehren, der ihm hartnäckig auf den Fersen blieb und mit offenem Mund versuchte, möglichst viel von dem nicht alltäglichen Geschehen zu erheischen.
Schließlich meldete sich der Oberkommissar. Bevor Christoph etwas erzählen konnte, begann Große Jäger: »Wir wissen, wer der Tote ist.«
»Frank Reiche aus Leck«, antwortete Christoph.
Einen Augenblick war es ruhig in der Leitung, bis Große Jäger fragte: »Woher weißt du das?«
»Ich bin bei der Kripo. Da ermittelt man manchmal etwas.«
»Und dann jagst du Mommsen und mich durch den ganzen Landkreis«, gab Große Jäger mit gespielter Entrüstung zurück. »Ich war auf dem Einwohnermeldeamt. Die Mädchen haben zwar gewaltig geschimpft, als wir das Melderegister abgeglichen haben. Aber schließlich sind wir fündig geworden. Hilfreich war dabei, dass sich eine der Angestellten vage an den Mann erinnern konnte.«
»Dann können wir Mommsen informieren.«
»Mit dem habe ich gerade telefoniert. Der hat den Namen des Toten auch herausgefunden. Im Supermarkt war der Mann nur vom Ansehen bekannt. Mit den üblichen Einschränkungen: könnte sein … glaube, schon einmal gesehen zu haben … bin mir nicht ganz sicher … Aber eine Kundin an der Kasse, eine ältere Frau, hatte sich eingemischt und ihn als einen Mitbewohner des Nachbarhauses identifiziert. Harm war auch schon dort und hat bei der Adresse geklingelt, aber niemand öffnete. Im Augenblick befragt er die Nachbarn.«
»Gut. Wir sind uns fast sicher, dass Frank Reiche unser Mann ist. Wartet bitte vor Ort. Ich informiere jetzt Klaus Jürgensen und schicke euch die Spurensicherung. Und die Mordkommission benachrichtige ich auch.«
Dann rief Christoph in Flensburg an und erzählte dem Leiter der Kriminaltechnik von der Wohnung und dem Fahrzeug.
»Wie sollen wir denn zwei Fundorte gleichzeitig abdecken?«, maulte Jürgensen. »Glaubst du, das K6 wäre die Dienstelle mit der üppigsten Besetzung in der Landespolizei? Wenn du wieder einmal in Kiel oder auf Nordstrand bist, solltest mit Peter Harry sprechen und ihm erklären, welche Auswirkung die ewigen Stellenstreichungen haben.«
»Ich habe mir deine ewige Meckerei über schlechtes Wetter an der Westküste, über blutverschmierte Leichen und Tote in kalten Wassergräben zu Gemüte geführt, lieber Klaus, und wollte dir jetzt zwei saubere Orte, die es zu untersuchen gilt, präsentieren. Und das ist dir auch nicht recht.«
»Ach, du verdammter Schlickrutscher.« Jürgensen ließ ein kurzes Lachen hören, das aber sofort in ein Räuspern überging, mit dem er seine Stimmbänder von einem Frosch befreien wollte. »Wir kümmern uns darum«, schloss er das Gespräch ab.
Um alles Weitere würde sich die Kriminaltechnik kümmern. Christoph sah auf die Uhr. Mit Schrecken stellte er fest, dass es bereits eine Viertelstunde zu spät für seine Verabredung mit Anna Bergmann war.
*
Ein grauer Wolkenhimmel hing über Nordfriesland. Es war auch abgekühlt. Große Jäger und Mommsen hockten vor der Wohnung Frank Reiches in ihrem Dienstwagen, einem arg mitgenommenen Ford-Kombi. In der Vergangenheit waren die Husumer Beamten schon öfter gezwungen gewesen, dienstliche Fahrten mit ihren privaten Fahrzeugen zu erledigen. Das hatte jedes Mal zu heftigen Auseinandersetzungen mit Dr. Starke geführt, der sich hartnäckig weigerte, die Kilometerabrechnungen zu genehmigen.
Der Mercedes Vito der Spurensicherung hielt direkt hinter ihnen. Neben Hauptkommissar Jürgensen entstiegen ihm zwei weitere, den beiden vom Ansehen her bekannte Kollegen.
»Wieso sitzt ihr hier herum?«, wollte der Leiter der Kriminaltechnik wissen. »Ihr hättet doch schon in der Wohnung aufräumen und staubsaugen können.«
»Dabei hätten wir auch die Fenster zum Lüften öffnen müssen«, entgegnete Große Jäger. »Dann wäre die Wohnung womöglich ausgekühlt, und du hättest dir eine Erkältung zugezogen.«
Wie zur Bestätigung nieste Jürgensen und zog sich fröstelnd in seinem Pullover zusammen.
Sie mussten nicht klingeln. Ein neugieriger Mitbewohner hatte bereitwillig die Haustür geöffnet und ihnen Einlass verschafft. Er folgte der kleinen Truppe bis zum Treppenabsatz vor Reiches Wohnungstür. Erst als Große Jäger sich umdrehte und mit beiden Händen eine abwinkende Handbewegung machte und dabei »Husch, nun aber ab durch die Mitte« von sich gab, verschwand der Mann hinter einer der Türen.
Im Handumdrehen hatte einer von Jürgensens Männern die Wohnungstür geöffnet. Vor ihnen lag ein kleiner Flur. Der Kriminaltechniker streckte seine Nase in die Luft und nahm Witterung wie ein Jagdhund auf. »Das riecht hier aber komisch.«
Auch Große Jäger sog die abgestandene Luft ein. »Ich merke nichts.«
»Wundert mich nicht«, gab Jürgensen zurück. »Bei dir stinkt alles nach deinem Tabakqualm. Da wird jedes Parfüm erschlagen.« Dann sah er einen seiner Mitarbeiter an. »Geronnenes Blut?«
Der hoch gewachsene junge Beamte mit der Halbglatze nickte. »Könnte sein«, meinte er.
Das Wohnzimmer ging links vom kleinen Flur ab. Dort stand an der Wand ein Sofa mit einem düster wirkenden dunkelgrünen Stoffbezug. Gegenüber war eine Schrankwand aus Teakholz aufgebaut. Sie wies Gebrauchsspuren auf und war sicher schon vor vielen Jahren erworben worden. Der einzeln stehende Sessel war verrutscht. Er stand halb mit der Lehne zum Tisch hin gewandt und berührte mit seiner Sitzkante die Gardine. In dieser Position hätte sich niemand auf den Stuhl setzen können.
In der Mitte des Raumes stand ein mit beigefarbenen Keramikfliesen dekorierter Tisch, der im Holz nicht zur Schrankwand passte. Er war ebenfalls verschoben und stand direkt vor der Couch, sodass auch dort niemand mehr hätte sitzen können.
Der mit Laminat ausgelegte Fußboden war in der Mitte des Raumes mit einem Wollteppich bedeckt. Und den zierte ein großer dunkelbrauner Fleck. Ferner lagen auf dem Teppich die zerbrochenen Überreste einer größeren Keramikfigur, die vermutlich einmal eine stilisierte nackte Frau dargestellt hatte.
»Du wirst nicht behaupten wollen, wir würden euch für nichts und wieder nichts aus Flensburg weglocken«, sagte Große Jäger zu Jürgensen. Der zog nur die Nase kraus.
»Wenn ich es jemals erlebe, von euch Krabbenpulern an einen gepflegten, septisch reinen Tatort gerufen zu werden, dann …« Der kleine Kriminaltechniker ließ offen, was dann wäre. »Sieht aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden, bei dem jemand viel Blut verloren hat.«
»Dann bringt die Spuren zum Reden«, antwortete Große Jäger.
»Darauf kannst du dich verlassen. Jeder einzelne Bluttropfen wird uns eine ganze Story erzählen.«
Die anderen Räume wiesen keine Besonderheiten auf. Im Schlafzimmer stand ein Schrank, der aus einem Katalog hätte stammen können. Anstelle eines Doppelbetts war der Raum nur mit einem an der Wand stehenden Einzelbett ausgestattet, das flüchtig gemacht war. Auch der Inhalt der Schränke wies keine Besonderheiten auf. Es befanden sich die Kleidungsstücke darin, die man bei einem fast Fünfzigjährigen erwarten konnte.
Der dritte Raum schien als Büro genutzt worden zu sein. In den Wandregalen aus dem Programm eines schwedischen Möbelhauses standen reihenweise Ordner mit Rückenbeschriftungen, die darauf schließen ließen, dass Reiche als Vertreter arbeitete. Der Schreibtisch war ebenfalls mit geschäftlicher Post bedeckt, die auf den ersten Blick keine Besonderheit aufwies. Die Festplatte des Computers, der unter dem Schreibtisch stand, würden die Techniker später im Labor analysieren.
Nachdem die Spurensicherung das Umfeld gründlich untersucht hatte, drückte Große Jäger auf die Wahlwiederholungstaste des Telefons und schaltete den Lautsprecher ein, damit Mommsen mithören konnte. Es meldete sich eine Frauenstimme, die Dänisch sprach. Schnell übernahm Mommsen den Hörer. Große Jäger konnte dem Dialog nur bruchstückhaft folgen. Die paar Brocken Dänisch, die er in den Jahren gelernt hatte, reichten für das Verstehen des ganzen Gesprächs nicht aus.
Mommsen beendete das Telefonat mit einem »Farvel« und wandte sich dann Große Jäger zu.
»Das war ein Unternehmen aus dem dänischen Brande, das Heimtextilien fertigt und sie auch nach Deutschland verkauft. Reiche war bis vor kurzem als Handelsvertreter für die Dänen tätig. Ihm wurde aber wegen Erfolglosigkeit gekündigt.«
»Das klingt interessant, dürfte aber nur indirekt mit unserem Fall zu tun haben.«
»Glaubst du wirklich, dass wir im Telefonspeicher eine Nummer finden, unter der sich beim Rückruf jemand meldet und gesteht: ›Ja. Ich habe Frank Reiche ermordet‹?«
»Hat es alles schon gegeben«, brummte Große Jäger und sah aus dem Fenster. »Ich glaube, wir können hier nicht mehr behilflich sein. Dafür sollten wir dem Mann auf der anderen Straßenseite ein paar Fragen stellen. Er beobachtet gezielt die Fenster dieser Wohnung.«
Als sie auf die Straße traten, war niemand mehr zu sehen.
Dann befragten sie die Nachbarn. Einer glaubte, ein Rumpeln aus der Wohnung Reiches gehört zu haben, konnte sich aber nicht mehr an den Zeitpunkt erinnern. Sonst war nichts aufgefallen. Auch hatte niemand Besucher in der Wohnung gesehen.
»Was hältst du davon, wenn wir etwas zu Mittag essen?«
»Nicht schon wieder Pommes und Currywurst«, maulte Mommsen, schloss sich aber dem Oberkommissar an.
*
Christoph war von der Schiffbrücke durch die Krämerstraße, eine kleine Fußgängerzone, die den Binnenhafen mit dem Marktplatz verband, gegangen. Er überquerte den zentralen Platz vor der Kirche und bog durch das Tor am Rathaus ab. Von hier waren es nur noch wenige Schritte durch den Schlossgang. Dort, am »Alten Brauereiplatz«, lag etwas nach hinten versetzt das Café Jacqueline.
Es war, wie immer, gut besucht. Die kleinen runden Tische, die um einen begehbaren, reich verzierten Kachelofen standen, waren alle besetzt. Die burgunderrot glänzenden Wände trugen zur gemütlichen Atmosphäre bei.
Gleich neben dem Tresen saß Anna Bergmann.
Christoph ging auf sie zu und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Du bist spät dran. Ich habe nur eine kurze Mittagpause. Du glaubst nicht, was heute in der Praxis los ist.«
Christoph hängte seine Jacke über die Stuhllehne und nahm Platz. »Da trifft es sich gut, dass wenigstens ich nicht unter Überbeschäftigung leide.«
Sie legte vorsichtig ihre Hand auf seine. »Bist du muksch?«
»Warum glaubt alle Welt, dass wir bei der Polizei nichts zu tun haben?« Er berichtete kurz, dass er noch am Binnenhafen aufgehalten wurde.
»Ist ja gut«, beruhigte sie ihn. »Fällt dir etwas auf?«
Er sah sie an, schüttelte dann den Kopf. »Nein, nichts.«
»Wirklich nicht?«
»Nein. Was soll sein?«
Sie lachte. »Typisch Mann. Ich war gestern beim Friseur.«
Jetzt bemerkte er, dass ihr rötliches Haar brünett gefärbt war.
»Steht dir gut.«
»Das klingt nicht begeistert.«
Er winkte ab und sah auf ihren Teller. Dort lag ein großes Stück Torte, die Anna von der Spitze her bearbeitet hatte.
»Was hast du dir bestellt?«
»Eierlikörtorte. Hier gibt es die Beste der ganzen Westküste.«
»Wer sagt das?«
»Ingo.«
Misstrauisch sah er auf. »Wer ist Ingo?«
Jetzt lachte sie. Dabei zeigten ihre Wangen zwei kleine Grübchen.
»Bist du eifersüchtig? Ingo ist mein Friseur.«
Die Bedienung war an den Tisch herangetreten und nahm Christophs Bestellung auf. Er hatte sich für eine Gulaschsuppe und ein Mineralwasser entschieden. Dann wandte er sich wieder Anna zu.
»So ‘n Quatsch. Warum sollte ich eifersüchtig sein? Schließlich bin ich verheiratet. Und das nicht mit dir.«
Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte ihr Kinn auf die zusammengefalteten Hände und sah ihn nachdenklich an. Dabei zeigte die Spitze ihrer Kuchengabel auf Christoph.
»Das vergisst du aber regelmäßig, wenn du bei mir übernachtest.«
Christoph lehnte sich zurück und sah zum Nachbartisch, ob man dort ihrer Unterhaltung folgte. »Wir müssen uns in Zukunft nicht mehr treffen.«
Anna legte die Kuchengabel neben ihren Teller und ergriff erneut Christophs Hand. Widerstrebend ließ er es zu. Sie beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte fast: »Lass den Blödsinn. Mir ist klar, dass du in Kiel eine Familie hast. Und was zwei erwachsene Menschen hier in Husum miteinander haben, geht außer uns niemanden etwas an. Ich finde, es sollte so bleiben, wie es ist. Wie war das Wochenende in Kiel?«
Christoph trank einen Schluck Mineralwasser, bevor er antwortete. »Merkwürdig. Als ich am Freitagabend zu Hause eintraf, war meine Frau gerade damit beschäftigt, ihr kleines Reisegepäck ins Auto zu laden. Sie hat sich dann sehr unterkühlt von mir verabschiedet und gemeint, sie müsse übers Wochenende zu einem Seminar. Das schien mir sehr überraschend gekommen zu sein.«
Anna schüttelte den Kopf. »Dummer Kerl. Bist du wirklich so naiv und glaubst, dass deine Ehefrau nicht merkt, was hier in Husum vor sich geht? Nun aber: Themenwechsel. Ich habe kurz mit meinem Chef gesprochen. Der Doc meint, der Tote hat einen Schädelbasisbruch erlitten. Der muss nicht tödlich sein. Durch die Schläge gegen die Wand sind aber wahrscheinlich Gefäße im Gehirn geplatzt. Das führte dann zum Exitus.« Anna sah auf die Uhr. »Oh, schon so spät. Ich muss wieder zurück in die Praxis.« Sie stand auf und suchte nach ihrem Portemonnaie.
»Ich bezahle«, sagte Christoph.
Sie beugte sich zu ihm herab, gab ihm einen Kuss auf den Mund und sagte: »Danke. Sehen wir uns heute Abend?«
»Lass uns später miteinander telefonieren. Ich kann nicht absehen, was mich heute noch erwartet.«
Sie winkte ihm noch einmal über die Schulter zu und verließ Jacquelines Café.