13

AUF DIE IDEE, auch uns für den Rückweg in die St. Cuthbert Lane ein Taxi zu rufen, kam Gabriel erst, nachdem er Joannas Fahrer bezahlt und ihr ausgiebig zum Abschied gewinkt hatte. Doch das verzieh ich ihm. Er hatte schließlich an Wichtigeres zu denken. Dazu gehörte unter anderem der Zustand, in dem seine Wohnung war. Das schien ihn ziemlich zu belasten.

»Meine Wohnung ist nicht so wie die von Miss Beacham«, warnte er mich.

»Nicht viele Wohnungen sind wie die von Miss Beacham«, entgegnete ich.

»Bestimmt nicht.« Er sah mir eindringlich ins Gesicht. »Aber was ich dir zu sagen versuche: Sie ist nicht ansatzweise wie die von Miss Beacham.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe Zwillinge im Haus, die mein Wohnzimmer jeden zweiten Tag mit Dinosauriern vollstopfen. Wie schlimm kann es da bei dir schon aussehen?«

Er schnitt eine Grimasse und sagte nichts mehr, bis wir vor seiner Wohnungstür standen und er mir erneut zu erklären anfing, dass er nicht oft Besuch bekam und dass er, wenn er heute welchen erwartet hätte, ganz bestimmt …

»Wofür hältst du mich?«, unterbrach ich ihn entnervt. »Für die Wohnungspolizei? Sperr einfach die Tür auf und bring’s hinter dich. Ich verspreche dir, dass ich nicht vor Entsetzen umfalle, egal was ich sehe.«

Er straffte die Schultern und steckte endlich den Schlüssel ins Schloss. »Sag aber nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.«

Wie sich herausstellte, herrschte in seiner Wohnung überhaupt kein Durcheinander. Vielmehr bot sie ein Bild des Jammers. Das Wohnzimmer glich von Größe und Schnitt her dem von Miss Beacham, doch die wenigen Möbel, die darin standen, waren billig, modern und ärmlich – ein mit rissigem grünem Kunstleder bezogener Sessel, ein Bücherregal, dessen Holzfaserbretter sich unter dem Gewicht aller möglichen Nachschlagewerke über Kunst durchbogen, eine wacklige Stehlampe und gegenüber dem riesigen Fenster ein Arbeitstisch, dem auf einer Seite ein Stapel Telefonbücher als Bein diente.

»So schlimm ist es hier doch gar nicht!«, rief ich mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Kein Saurier weit und breit!«

»Vielleicht sollte ich mir ein paar zulegen«, meinte Gabriel düster. »Sie würden für etwas Leben sorgen.«

Oder ein Streichholz und ein Eimer Kerosin, dachte ich für mich und legte mir den laut schnurrenden Stanley auf die Schulter.

»Meine Frau – meine Ex-Frau – hat die meisten Möbel mitgenommen, als sie mich verlassen hat«, erklärte Gabriel.

»Aber sie hat dich verlassen!«, protestierte ich.

»Da hätte ich eher nach der Axt gegriffen und alles zu Kleinholz geschlagen, bevor ich sie auch nur mit einem Aschenbecher hätte ziehen lassen.«

»Ich wollte nichts mehr davon sehen«, sagte Gabriel ruhig. »Wir hatten alles zusammen gekauft, weißt du. Es hätte nur … absurde Hoffnungen geweckt.« Er kraulte Stanley am Kinn. »Und wie Stanley gern bestätigen wird, verbringe ich hier nicht viel Zeit. Ich lebe mehr im Atelier.«

Armer alter Stanley, dachte ich und strich dem schwarzen Kater über den schlanken Rumpf. Trockenfutter, kein Garten hinter dem Haus, keine Spielgefährten. Das war doch kein Leben für eine Katze!

»Ich sollte ihn jetzt füttern«, brummte Gabriel und nahm mir Stanley ab. »Bleib einfach sitzen; ich bin gleich wieder da.«

Zu meiner Erleichterung lud er mich nicht in die Küche ein. Der Anblick einer einsamen Müslischüssel, die verloren in der Spüle stand, hätte mein weiches Herz wie Brei zerfließen lassen. Den Kunstledersessel fand ich aber auch nicht gerade berauschend, sodass ich zum Arbeitstisch hinüberschlenderte. Darauf herrschte peinliche Ordnung.

Pinsel, Lineale, Pastellkreiden, Kohlestifte und Skizzenblöcke – alles lag an seinem speziellen Platz, und die an der Tischkante festgeklemmte Gelenkleuchte funktionierte einwandfrei.

In der Mitte der Arbeitsplatte befand sich ein Stapel loser Bögen, auf denen jeweils mit Kohlestift Männerhände skizziert worden waren, immer wieder dieselben. Während ich die Skizzen durchblätterte, wurde mir klar, dass Gabriel nicht bloß gut war, sondern eine besondere Gabe hatte. Jede Zeichnung offenbarte an den Händen etwas ganz Eigenes. Eine hob ihr Alter hervor, eine andere ihre Kraft und eine dritte kombinierte mit unglaublichem Gefühl fürs Zarte Alter und Kraft zusammen.

»Du schnüffelst?« In meinem Rücken war Gabriel herangetreten.

»Klar.« Ich hielt die Skizzen hoch. »Wessen Hände sind das?«

»Sie gehören einem berühmten Botaniker«, antwortete Gabriel. »Du wirst ihn nicht kennen.«

»Dass du dich da mal nicht täuschst«, entgegnete ich und betrachtete erneut die Zeichnungen eine nach der anderen. »Ich sehe ihn förmlich in der Erde graben, Samen einsetzen und hartnäckiges Unkraut ausreißen – das alles spricht daraus, aus diesen Händen.« Ich sah zu Gabriel auf. »Du bist wirklich gut.«

»Ich bin ein wirklich guter Lügner.« Gabriel nahm mir die Zeichnungen ab und schob sie in eine Mappe. »Der Mann ist ein trockener Theoretiker. In Wahrheit sind seine Hände weich wie Wachs, bloß die hier sind so, wie er sie haben wollte, und darum hat er sie eben so gekriegt.«

»Sollte denn nicht auch die Fantasie in der Kunst ihren Raum haben?«, fragte ich.

»Porträts sollten die Wahrheit ausdrücken.« In Gabriels Stimme hatte sich unüberhörbar eine Spur Selbstverachtung geschlichen. »Vielleicht nicht die ganze Wahrheit, aber wenigstens einen wahren Kern. Meine sind die reinste Schmeichelei. Ich bin ein schlauer Auftragsmaler, Lori. Das ist das Geheimnis meines Erfolgs.« Er lehnte die Mappe an die Wand und deutete mit dem Kinn auf den Stapel Telefonbücher, der ein Ende des Arbeitstischs stützte. »Wollen wir mit der Suche anfangen? Ich habe das aktuelle Telefonbuch aus der Küche geholt. Dasjenige, das wir brauchen werden, müsste das zweite von unten sein.«

Er hielt die Tischplatte, während ich das alte gegen das neue Telefonbuch austauschte. Dann legte ich das alte Verzeichnis auf den Tisch und blätterte es bis zu der Seite durch, auf der Kenneth Beacham hätte stehen müssen.

»Er ist nicht eingetragen«, stöhnte ich zutiefst enttäuscht. »Kenneth scheint großen Wert auf Anonymität gelegt zu haben.«

»Es ist nicht ungewöhnlich, dass jemand mit einem großen Vermögen die Tilgung aus den Fernsprechverzeichnissen verlangt«, kommentierte Gabriel. »Wegen seiner teuren Anzüge unterstellen wir einfach mal, dass er wohlhabend war.«

Seufzend klappte ich das Telefonbuch zu. »Wir sind gegen eine Mauer gelaufen. Keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll.«

»Vielleicht liefert uns ja noch die Internetrecherche deiner Freundin einen Hinweis«, meinte Gabriel.

»Wenn sie denn je dazu kommt. Im Moment hat sie schrecklich viel zu tun.«

»Wie sieht’s mit deinen Computerkenntnissen aus?«

»Fehlanzeige. Ich könnte eine Website selbst dann nicht finden, wenn mein Leben davon abhinge. Ich weiß nicht mal genau, was eine Website überhaupt ist. Deswegen bin ich ja auf Emma angewiesen.«

»Mit Computern kann ich auch nichts anfangen«, gab Gabriel zu. »Aber wir könnten zur Bibliothek gehen und im Archiv in alten Zeitungen und Zeitschriften wühlen. Wenn Kenneth ein bekannter Geschäftsmann war, wird man ihn bestimmt irgendwo erwähnt haben.«

»Gute Idee«, lobte ich ihn. »Aber das wird bis Montag warten müssen.«

Gabriel starrte mich bestürzt an. »Bis Montag?«

Ich nickte. »Es ist höchste Zeit, dass ich heimfahre, und morgen habe ich einen Termin. Und am Sonntag bin ich nach der Morgenmesse mit dem Aufräumdienst im Kirchhof dran. Ich kann also erst wieder am Montag.«

Gabriel wirkte enttäuscht. »Ich dachte, die Suche nach Kenneth wäre dir sehr wichtig.«

»Das ist sie auch. Aber meine Freundin Emma bedeutet mir eben auch sehr viel. Sie eröffnet morgen ihren Reitstall, und wenn ich nicht komme, verzeiht sie mir das nie. Abgesehen davon wird Joanna denken, ich hätte sie im Stich gelassen, und meine Söhne reden vermutlich nie wieder mit mir.«

Gabriel schluckte den Köder sofort. »Joanna?«

»Hab ich dir das gar nicht gesagt?« Mit meiner besten Unschuldsmiene sah ich zu ihm auf. »Ich habe Joanna und Chloe Quinn zur Party eingeladen. Darum muss ich pünktlich hin, um alle miteinander bekannt zu machen.«

»Wenn du sie eingeladen hast, solltest du natürlich auch dort sein«, brummte Gabriel und begann ein paar Stifte zu sortieren, die in peinlicher Ordnung dalagen.

Ich bedachte ihn mit einem beiläufigen Blick.

»Du wirst ja wohl keine große Lust haben zu kommen, oder?«

»Eigentlich schon«, erwiderte er hastig und beugte sich wieder über die Stifte. »Ich wollte schon länger mal im Hintergrund eines meiner Porträts Pferde unterbringen. Eine Gelegenheit wie diese …«

»… wartet nur darauf, ergriffen zu werden«, fiel ich ihm ins Wort, angestrengt darum bemüht, mir meine Zufriedenheit nicht anmerken zu lassen.

»Für meine Söhne wird es eine aufregende Sache, einen Künstlerkollegen kennenzulernen. Schließlich sind Pferdeporträts ihr Spezialgebiet. Vielleicht sind sie sogar bereit, dir ein paar Techniken zu zeigen.«

»Ich lerne immer gern dazu«, grinste Gabriel.

Nachdem ich ihm den Weg beschrieben hatte, verabschiedete ich mich und lief hocherfreut über die Fortschritte bei meinen beiden Projekten zum Parkplatz. Ich steckte gerade den Zündschlüssel ins Schloss, als mein Handy piepste.

Es war Julian Bright.

»Lori? Sind Sie noch in Oxford?«

»Ich sitze in meinem Auto hinter Miss Beachams Haus.«

»Können Sie kurz in der St. Benedict’s vorbeischauen? Ich denke, es wird sich für Sie lohnen. Es geht um den Bruder Ihrer verstorbenen Freundin.«

»Bin schon unterwegs!«, rief ich und jagte im Rückwärtsgang mit einem Tempo aus der Parklücke, das Bill als halsbrecherisch bezeichnet hätte.

Julian wartete in seinem mit Papier übersäten Büro auf mich. Als ich eintrat, wischte er einen Stoß Akten von einem Stuhl und forderte mich mit einer Geste auf, Platz zu nehmen. Dann verließ er mit dem Versprechen, gleich wieder zurück zu sein, den Raum. Wenig später kam er mit Big Al im Schlepptau wieder.

Für einen Stammkunden des Obdachlosenasyls war Big Al ungewöhnlich, denn er hob sich schon aufgrund seines Aussehens von den anderen ab. Er rasierte sich fast jeden Tag, bürstete sich das dichte schwarze Haar, badete regelmäßig und achtete darauf, dass seine gebrauchten Kleider stets ordentlich und ziemlich sauber waren. Er sprach ein gepflegtes Englisch und war durchaus in der Lage, Billiglohnjobs zu übernehmen, doch seine chronischen Alkoholprobleme hinderten ihn daran, ein geordnetes Leben zu führen. Der dicke Verband um seinen Kopf erinnerte mich an seinen Sturz vor wenigen Tagen, als er, wie Schwester Willoughby das ausgedrückt hatte, »sternhagelvoll« gewesen war.

»Was macht Ihr Kopf?«, erkundigte ich mich, während er sich auf den Stuhl vor Julians Schreibtisch setzte.

»Dem geht es schon wieder ganz gut, Ms Lori.

Die Fäden werden am Dienstag gezogen. Danke der Nachfrage.«

»Freut mich, dass es Ihnen besser geht«, lächelte ich und wandte mich an Julian, der sich auf seinem Drehstuhl hinter dem Schreibtisch niedergelassen hatte. »Sie haben mich hergebeten. Worum geht’s denn?«

Julian blickte Big Al an. »Al, möchten Sie Lori selbst erzählen, was Sie mir vorhin berichtet haben?«

»Sicher, Father.« Al räusperte sich. »Blinker hat mir von seinem Gespräch mit Ihnen erzählt, und da ist mir eingefallen, dass ich den Typen, den Sie suchen, schon mal gesehen habe.«

Aufgeregt beugte ich mich vor. »Kenneth Beacham?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es war«, sagte Big Al. »Ich hab damals im Woolery’s Café gearbeitet, fegen und so, und damals ist ein Typ mit dem Namen Kenny regelmäßig mit seiner Schwester zum Mittagessen gekommen. So nannte sie ihn: Kenny. Und er nannte sie Lizzy. Todschick angezogen war er, mit einer edlen Lederaktentasche unterm Arm.«

Ich nickte eifrig. »Das ist er.«

»Die Sache ist die, dass ich ihn nicht bloß im Woolery’s gesehen habe«, fuhr Big Al fort. »Ich war auch bei ihm zu Hause.«

Ich schnappte nach Luft.»Sie waren in Kenneth Beachams Haus?«

»Ja. Seine Frau hat eine Wohltätigkeitsparty in ihrem Garten veranstaltet. Der Mann, der für Essen und Trinken sorgte, war ein Freund von Mr Woolery. Er hatte mich gefragt, ob ich mir danach mit Aufräumen ein paar Pfund dazuverdienen will, also bin ich hingegangen.«

»Wann waren Sie dort?«, setzte ich nach. »Wie lange ist das her?«

»Vielleicht fünf, sechs Jahre. Der Grund, warum ich mich daran erinnere, ist, dass ich noch nie in so einem Haus war. Riesengroß, alle modernen Schikanen und ein irrsinnig toller Garten. Hat mich mächtig beeindruckt.«

»Erinnern Sie sich noch an die Adresse?«

»Die Hausnummer weiß ich nicht mehr, aber es war in der Crestmore Crescent, eine von diesen protzigen neuen Villensiedlungen im Norden draußen. Aber wenn ich es sehe, erkenne ich es bestimmt wieder. Zwei Steinlöwen standen davor und bewachten die Auffahrt.«

»Big Al«, sagte ich feierlich, »ich könnte Sie küssen.«

Er grinste. »Nicht nötig, Ms Lori. Aber wenn Sie uns vielleicht ein paar Pfund leihen könnten

…«

Mit erhobener Hand erstickte ich Father Julians Protest bereits im Ansatz und drückte Big Al einen Fünfpfundschein in die ausgestreckte Hand. Er steckte das Geld ein und verschwand, sorgfältig darauf bedacht, Julians vorwurfsvollem Blick auszuweichen.

»Ich weiß schon, Julian«, sagte ich beschwichtigend, »die Tugend sollte keiner Belohnung bedürfen, aber nichts kann Dank beredter ausdrücken als ein bisschen Geld auf die Hand. Außerdem: Wie betrunken kann man von ein paar Pfund schon werden?«

»Besinnungslos besoffen«, knurrte Julian. »Aber weil er seine monatliche Sauftour gerade erst hinter sich hat, wird er Ihre wohltätige Gabe wohl für etwas anderes als Schnaps verwenden. Ich darf also annehmen, dass seine Information von Nutzen ist?«

»Das ist noch milde ausgedrückt. Ihr Netzwerk von Spionen hat sich als mein größter Trumpf erwiesen. Ohne Big Al wäre ich dazu verdammt gewesen, unzählige Stunden im Zeitungsarchiv der Bibliothek zu brüten. So aber kann ich am Montag der Crestmore Crescent einen Besuch abstatten und mit Kenneth Beachams früheren Nachbarn plaudern.«

»Es freut mich, wenn wir Miss Beacham helfen konnten«, lächelte Julian.

»Sie haben wertvolle Hilfe geleistet«, versicherte ich ihm und fuhr beschwingt nach Hause.

Kurz vor ihrem Untergang schaffte es die Sonne, sich von den Wolken loszureißen, und um neun Uhr prangten die Sterne in voller Pracht am Nachthimmel.

Die Jungs schliefen bereits, Annelise hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, und Bill las im Wohnzimmer. Ich war auf den Rasen hinter dem Haus hinausgeschlendert, um frische Luft zu schnappen und die Sterne zu bewundern. Ihr kristallenes Leuchten, das beruhigende Plätschern des Bachs am Rand der Wiese und das entfernte Blöken der Schafe auf den Weiden der Nachbarn stellten drei weitere Argumente für mich dar, nie wieder in eine Stadt zu ziehen.

Gleich nach der Ankunft im Cottage hatte ich Gabriel angerufen, um ihm die gute Nachricht über Kenneths frühere Adresse mitzuteilen. Wir hatten vereinbart, uns am Montagvormittag zu treffen und zusammen in die Crestmore Crescent zu fahren.

Ohne Big Al Laytons und Blinkers Hinweise wären wir an diesem Tag leer ausgegangen. Bill hatte seine Recherchen hinsichtlich Miss Beachams Kanzlei nicht fortsetzen können, weil er wegen eines Schriftsatzes für einen besonders pingeligen Mandanten kurzfristig nach Paris hatte fliegen müssen. Umso überraschter war er, von mir zu erfahren, dass Miss Beacham für Pratchett & Moss gearbeitet hatte, und wie Gabriel zeigte er sich überzeugt, dass ihre Doppelrolle als Mandantin und Angestellte Mr Moss keine andere Wahl ließ, als auf absoluten Schutz ihrer persönlichen Daten zu achten.

»Damit dürfte erklärt sein, warum sich Mr Moss in Bezug auf Miss Beachams Angelegenheiten so zurückhaltend gibt«, hatte er gesagt. »Auf alle Fälle ist das der Grund, warum er die Akten vor Joanna Quinn versteckt. Joanna stand in Miss Beachams Schuld. Sie wäre nicht in der Lage, den Fall unvoreingenommen zu betrachten.«

Auf meine nicht gerade wohlwollende Interpretation von Mr Moss’ Verhalten – »Er will, dass Kenneth unauffindbar bleibt, damit er sich einen größeren Anteil an Miss Beachams Geld schnappen kann!« – hatte Bill nur überaus pointiert geantwortet, dass er doch sehr hoffe, niemand würde Joanna dazu ermutigen, Mr Moss’ Schreibtisch aufzubrechen und Miss Beachams Testament zu lesen.

Ich hatte ihm hoch und heilig geschworen, dass Joanna so etwas nie tun würde, und mich eilig ins Büro verzogen, um meine Schamesröte zu verbergen und Emma anzurufen.

Der undichte Wassertank und tausend in letzter Minute aufgetretene Notfälle hatten die Internetrecherche in den hintersten Winkel von Emmas Gehirn verbannt. Zwar hatte sie mir versprochen, der Suche ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen, sobald sie eine freie Minute hatte, doch das lief im Endeffekt darauf hinaus, dass ich die Ergebnisse wahrscheinlich erst zu sehen bekommen würde, wenn wir beide tattrige Greisinnen waren.

Seufzend wünschte ich nun den Sternen eine gute Nacht, kehrte ins Cottage zurück und schlüpfte leise ins Büro. Ich hatte meine Gedanken gesammelt, jetzt war ich bereit, sie Tante Dimity vorzutragen.

Ich schmiegte mich gemütlich in den Ledersessel vor dem Kamin, öffnete das Buch und erklärte ohne Umschweife: »Ich bin froh, dass ich deinem Rat gefolgt bin und mit den Leuten geredet habe, Dimity. So habe ich viel mehr erfahren, als wenn ich mich auf Emmas Computer verlassen hätte.«

Und schon kringelten sich die vertrauten königsblauen Schriftzeichen über die Seite. Hast du etwas Wertvolles erfahren?

Ich erzählte ihr von den beeindruckenden Plaudereien, die Gabriel solo mit den Ladeninhabern geführt hatte – einschließlich des interessanten Details über Mr Balcoes Fußballen –, von Blinkers nützlichem Tipp, Joanna Quinns Geschichte und Big Als erstaunlicher Offenbarung.

Schließlich meinte ich kopfschüttelnd: »Als ich Miss Beachams Wohnung zum ersten Mal gesehen habe, habe ich sie mir vorgestellt, wie sie jeden Abend allein dasaß und Patiencen legte, aber wenn ich bedenke, dass sie bei Pratchett und Moss eine Vollzeitstelle hatte, in der Freizeit Hunderte von Rosinenbroten backte und sich so ziemlich um jeden kümmerte, den sie kannte, glaube ich nicht mehr, dass sie viel Zeit mit Kartenlegen verbrachte.«

Die Wohnung muss nach den Anstrengungen der langen Arbeitstage eine himmlische Zuflucht für sie gewesen sein.

Ich nickte. »Ich denke mir, dass das der Grund ist, warum sie niemanden zu sich eingeladen hat.

Sie muss sich nach Frieden und Ruhe gesehnt haben, wenn sie die Tür hinter sich zumachte, vor allem zum Schluss, als ihre Krankheit ihr mehr und mehr zusetzte.«

» Jede Frau braucht einen Bereich für sich allein.

Das hast du gut gemacht, Lori. So langsam sehe ich ein Muster in den Informationen, die du gesammelt hast

»Wirklich?«, fragte ich skeptisch. »Was für eines?«

Elizabeth und Kenneth sind in einer eng verbundenen Familie aufgewachsen. Wenn es nach dem Fotoalbum geht, ist die Familie einmal im Jahr zusammen nach Brighton gefahren, auch dann noch, als die Kinder groß waren. Das endete erst, als Kenneth aus uns unbekannten Gründen beschloss, sich abzusetzen. Wie alt dürfte er damals gewesen sein?

Ich stand auf. »Warte einen Moment. Ich schau nach.«

Ich holte das Album vom Eichenschreibtisch, überflog die Daten zu den Fotos und nahm wieder das Notizbuch zur Hand.

»Als er zum letzten Mal im Album auftauchte, war er vierundzwanzig«, erklärte ich.

Im Alter von vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahren trennte sich Kenneth Beacham von seiner fest zusammengewachsenen Familie. Viele Jahre vergingen. Miss Beacham arbeitete in einer Londoner Anwaltskanzlei, bis bei ihr Krebs diagnostiziert wurde, woraufhin sie nach Oxford zog, um näher bei ihrem Bruder zu sein. Verstehst du den Nebensinn ihrer Entscheidung, Lori?

Bisher war er mir zumindest nicht aufgegangen.

Jetzt starrte ich verblüfft auf die vollgeschriebenen Zeilen hinunter. »Wenn sie nach Oxford gezogen ist, muss sie die ganze Zeit gewusst haben, wo er war.«

Eben. Wir nahmen an, er hätte sich in Luft aufgelöst. Stattdessen war er einfach nach Oxford gegangen, wo er in welchem Geschäftszweig auch immer Erfolg hatte – wie uns die teuren Anzüge und die exklusive Villa beweisen.

»Dann muss ich das Fotoalbum völlig falsch interpretiert haben«, stöhnte ich betreten. »Wenn Kenneth gar nicht verschwunden ist …«

Aber er ist doch verschwunden, Lori. Zweimal sogar. Dimity betonte ihr Argument, indem sie die königsblaue Tinte extradick auftrug. Zum ersten Mal mit Mitte zwanzig und dann wieder, als Miss Beacham nach Oxford gezogen ist. Und in beiden Fällen hat er sich nach einer Phase abgesetzt, in der die Geschwister gut miteinander harmoniert hatten.

Jetzt war ich vollends verwirrt. »Daraus werde ich nicht schlau. Du sagst ständig, dass Kenneth verschwunden ist. Wenn Miss Beacham aber wusste, dass er in Oxford war, wie …?«

Schon flog Dimitys elegante Kursivschrift über die Seite. Miss Beacham mag gewusst haben, wo Kenneth war, aber das bedeutet doch nicht notwendigerweise, dass es ihr erlaubt war, mit ihm Kontakt zu pflegen.

Ich blinzelte mehrmals schnell hintereinander, während mir langsam die Tragweite von Dimitys Worten dämmerte. »Willst du sagen, dass er sie mit seinem Umzug nach Oxford aus seinem Leben verstoßen hat? Dass er so getan hat, als hätte er keine Schwester? Dass er sie ignoriert hat?«

Es hat ganz den Anschein. Und offenbar hat Miss Beacham diese Bedingungen akzeptiert. Die Diagnose Krebs hat Kenneth dann gezwungen, die Regeln zu ändern – eine Zeit lang zumindest. Miss Beacham durfte in Oxford leben, wo sie zwei Jahre lang ihre alte Nähe wiederherstellten. Dann ging plötzlich irgendwas schief. Etwas muss am Ende dieser zwei Jahre geschehen sein, das Kenneth dazu veranlasste, sich erneut von ihr zu trennen. Aus welchem Grund würde ein Mann seine Schwester allein lassen, wenn er weiß, dass sie an einer tödlichen Krankheit leidet?

»Weil er ein Scheißkerl ist?«

Ich glaube, dass die Antwort um einiges komplexer ausfallen wird.

Ich ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken, und meine Augen wanderten von Reginald zu dem von Motten zerfressenen Stoffigel, mit dem er sich jetzt seine Nische teilte.

Mit einem Lächeln erinnerte ich mich an das Foto von Hamish in seinen besten Zeiten, als seine Knopfaugen funkelten, der Kilt noch tadellos gefaltet und sein Stofffell schön flauschig war. Seitdem war er gehörig durch die Mangel gedreht worden, und jede dieser Drehungen hatte ihre Spuren hinterlassen. Jetzt war der arme Kerl nur noch ein kläglicher Schatten seines früheren Selbst. Mein Blick verweilte auf ihm, bis ich mich jäh aufsetzte, weil mir eine neue Idee gekommen war.

»Blinker war gar nicht überrascht, als ich ihm erzählt habe, dass Miss Beacham tot ist«, sagte ich langsam. »Es kam mir so vor, als hätte er damit gerechnet. Er meinte, sie hätte große Augen gehabt.

Aber niemand sonst von den Leuten, mit denen wir heute gesprochen haben, war aufgefallen, dass es mit Miss Beacham zu Ende ging – nicht mal Joanna. Nur Blinker hat es gespürt.«

Wie schön, dass ein Mann wie er bestimmte Dinge so deutlich erkennen kann!

Mein Lächeln erstarb schnell. »Worauf ich eigentlich hinauswill, ist, dass Kenneth vielleicht einer von der Sorte ist, die es nicht aushält, zuzusehen, wie ein geliebter Mensch immer mehr verfällt.

Vielleicht ist er ein zweites Mal weggelaufen, gerade weil seine Schwester krank war.«

Warum er beim ersten Mal weggelaufen ist, lässt sich mit Miss Beachams Krankheit aber nicht erklären, und ich bin der festen Überzeugung, dass seine beiden Fluchten miteinander in Zusammenhang gebracht werden können. Sie folgen demselben Muster – eine Phase der Nähe, der jeweils ein abrupter Bruch folgt. Natürlich ist es denkbar, dass Kenneths Beruf öfter einen Ortswechsel erfordert, aber ich kann mir keine Tätigkeit vorstellen, die von ihm verlangen würde, dass er den Kontakt mit dem einzigen noch lebenden Mitglied seiner Familie abbricht.

»Vielleicht können ja seine früheren Nachbarn ein paar Lücken füllen«, meinte ich. »Gabriel und ich nehmen sie uns am Montag vor.«

Apropos Gabriel … Wie geht es diesem bedauernswerten Mann? Ist er immer noch so einsam?

»Vorläufig.« Ich legte die Stirn nachdenklich in Falten. »Aber ich brauche nur noch den Ehering von Joannas Finger abzustreifen und Gabriel neue Möbel zu besorgen, dann sind die beiden die längste Zeit einsam gewesen.«

Ehering? Neue Möbel? Ich werde aus deinen Andeutungen nicht schlau, Lori. Bei deiner Zusammenfassung der gestrigen Ereignisse hast du offenbar einige wesentliche Details ausgelassen.

»Sagen wir es einfach mal so: Bei Gabriel und Joanna hat es gefunkt. Joannas Mann ist vor fünf Jahren gestorben, und sie trägt immer noch den Ehering. Und Gabriel ist seit einem Jahr geschieden, hat es aber bisher nicht geschafft, die Möbel, die seine schreckliche Ex mitgenommen hat, durch neue zu ersetzen. Wenn er Joanna zu sich einlädt, muss er ihr schon eine bessere Sitzgelegenheit anbieten als einen hässlichen grünen Kunstledersessel.

Und wenn sie seine Einladung annimmt, muss sie vorher diesen Ehering loswerden.«

Für jemanden, der sich dagegen verwahrt, Kupplerdienste zu leisten, schlägst du dich außerordentlich gut.

»Lach nur über mich!«, rief ich naserümpfend.

»Ich mag mich ja mehr und mehr zu einer Wichtigtuerin nach allen Regeln der Fincher Kunst entwickeln, aber das tue ich doch nur zu ihrem Besten!

Beide stecken in ihrer schmerzhaften Vergangenheit fest, Dimity. Da betrachte ich es fast schon als meine Pflicht, sie da heraus und in eine viel glücklichere Gegenwart zu ziehen. Und ich muss schnell handeln. Gabriel ist sogar noch unglücklicher, als ich dachte.«

Inwiefern?

»Er ist unzufrieden mit sich und seinem Beruf.

Er hat mir gesagt, dass er sein Geld mit gemalten Lügen verdient. Wie er das sieht, würde ein echter Künstler seine Gaben nicht damit verschwenden, schmeichelhafte Porträts von Honoratioren zu malen.«

Ist er begabt?

»Unbedingt. Ich habe seine Arbeiten gesehen.

Sie sind verblüffend. Außerdem würde er seine Sachen nicht so runtermachen, wenn er wirklich bloß ein Schmierfink wäre.«

Vielleicht sollte sich Gabriel anregendere Motive suchen.

»Er hat schon eines gefunden.« Ich grinste. »Er lechzt nur so nach einer Chance, Joannas Gesicht auf Leinwand zu bannen. Der arme Kerl hat ihr Profil heute Nachmittag in Lasagne nachgebildet.«

Originell, aber so was lockt zwangsläufig Fliegen an.

»Mach dir keine Sorgen, ich hab mich schon dahintergeklemmt. Sie kommen beide morgen zu Emmas Party, und Gabriel bringt seinen Skizzenblock mit. Er glaubt, dass er Pferde zeichnen wird, aber ich werde ihn dazu ermutigen, sich auf eine ganz bestimmte Stute zu konzentrieren.«

Das klingt nicht so, als ob er viel Ermutigung brauchte. Darf ich dir einen Rat anbieten, meine Liebe?

»Ich bin ganz Ohr.«

Lass Gabriels Wohnung vorerst so, wie sie ist.

Wenn alles nach Plan geht, hat er bald jemand anderen, der ihm bei der Renovierung hilft.