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UM REALISMUS WAR es dem Schöpfer des Igels nicht gegangen. Hier handelte es sich um ein Fantasietier, eines von der gemütlichen Sorte in übergroßen grünen Schuhen, das fröhlich pfeifend über eine Blumenwiese latschte und seinen Freunden aus dem Wald frohgemut zuwinkte.
Aus dem Wald? Nein, aus den Highlands, verbesserte ich mich mit einem Blick auf den Schottenrock.
Der Kilt war rot, schwarz und blau kariert und wirkte ziemlich ramponiert. Die Falten waren ausgeheult, der Stoff war schmutzig und der Saum zerschlissen. Auch der Igel selbst hatte schon bessere Tage gesehen. Seine braunen Knopfaugen waren zerkratzt und matt, seine Stoffstacheln lagen an einigen Stellen schlaff auf dem Rücken, und eine früher mal flauschige vordere Pfote war platt gerieben, als hätte sie eine Kinderhand im Laufe von vielen Jahren zerdrückt.
Mir fiel wieder das sonderbare Lächeln ein, das um Miss Beachams Lippen spielte, als sie geflüstert hatte: »Hamish. Ich vermisse Hamish.« Dasselbe liebevolle, wenn auch verlegene Lächeln wäre wohl auch über mein Gesicht gehuscht, wenn ich jemandem, den ich nicht sehr gut kannte, von Reginald erzählt hätte. Erwachsene Frauen hängen ihre kindlichen Neigungen nicht gern an die große Glocke.
Ich hatte keinen Zweifel daran, dass Hamish ein Überbleibsel aus Miss Beachams Kindheit war und sie ihn genauso geliebt hatte wie ich meinen rosa Stoffhasen. Jetzt wünschte ich mir verzweifelt, ich hätte den Mut gehabt, ihr von Reginald zu erzählen. Hätte ich das getan, wäre ihr Vertrauen zu mir vielleicht groß genug gewesen, um mich zu bitten, ihren alten Freund zu ihr zu bringen, damit er sie an den letzten ihr verbleibenden Tagen auf dieser Welt tröstete.
Ich nahm den kleinen Igel aus seinem geheimen Fach, strich seinen Kilt glatt, richtete die eingedrückten Stacheln auf und stellte ihn auf das Pult.
»Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Hamish«, sagte ich ernst. »Aber leider muss ich dir eine schlechte Nachricht überbringen. Miss Beacham ist gestern gestorben. Trotzdem brauchst du dir jetzt keine Sorgen zu machen. Ich lasse dich nicht allein. Du kannst zu mir ziehen. Du und Reginald, ihr werdet euch bestimmt prima verstehen.«
Die Augen des Igels blieben matt und ausdruckslos. Vielleicht, überlegte ich, konnte nur ein Kind, das sein Spielzeug innig liebte, seine Züge lesen.
Schließlich waren auch Reginalds Augen für Fremde nichts weiter als zwei polierte schwarze Knöpfe.
Für mich aber redeten sie wie ein Buch.
Ich gab Hamish einen freundschaftlichen Klaps und wollte ihn gerade wieder im Pult einschließen, als ich bemerkte, dass sein Fach eine weitere Überraschung für mich bereithielt. Hamish hatte auf einer Art Büchlein gelegen, das wie ein in genarbtes Leder gebundenes Fotoalbum aussah. Ich nahm das rechteckige Ding heraus und setzte mich damit in den Sessel mit dem tiefen Sitz.
Es war ein Fotoalbum und noch dazu ein neues mit umweltfreundlichen kartonierten Blättern und durchsichtigen Plastikecken. Die Aufnahmen waren in chronologischer Reihenfolge eingeklebt worden, von der frühesten Kindheit bis zur jüngsten Vergangenheit. Dazu hatte Miss Beacham – die Handschrift war mir inzwischen wohlvertraut –
auf jeder Seite die nötigen Informationen vermerkt: Datum, Ort, Namen.
Ich geriet ins Grübeln. Wann hatte sie dieses Album zusammengestellt? Warum hatte sie es nicht Mr Moss gegeben, dem sie doch auch die anderen Familienfotos anvertraut hatte? Und warum sollten diese Aufnahmen hier im Zylinderpult verborgen bleiben?
Die Fotos waren allesamt älter als das Album.
Beim Durchblättern verfestigte sich meine Überzeugung, dass Miss Beacham die Bilder woanders herausgenommen und hier neu zusammengetragen hatte, damit sie ihre eigene Geschichte erzählten, die für sie eine spezielle Bedeutung barg.
Es war die Geschichte von Lizzie und Kenny.
Lizzie Beacham war zehn Jahre alt gewesen, als Kenny auf die Welt kam.
Das erste Foto, eine Schwarzweißaufnahme vom 21. Juli 1960, zeigte die dunkelhaarige ältere Schwester, die ihren winzigen Bruder in den Armen hielt, den Blick zärtlich auf ihn gesenkt. Verblüfft starrte ich das Datum an. Erst jetzt begriff ich, dass ich mich in einem Punkt gründlich getäuscht hatte: Ich hatte sie für eine alte Frau gehalten, doch sie hatte gerade erst die Mitte fünfzig erreicht, als sie gestorben war. Demnach musste ihr Bruder, dem das Album gewidmet zu sein schien, in den Mittvierzigern sein.
Die Aufnahmen spiegelten Kenny Beachams frühes Leben in allen Facetten wider. Sein erstes Picknick, sein erstes Weihnachten, sein erster Schultag waren dokumentiert worden, und sein pausbäckiges Gesicht lugte hinter einer ganzen Serie von Geburtstagskuchen hervor. Wenn Lizzie neben ihrem Bruder erschien, waren ihre Augen immer auf ihn, nie auf die Kamera gerichtet, und jedes Mal hatte sie dieses zärtliche Lächeln auf dem Gesicht – ihr Entzücken über ihn schien nie nachzulassen.
Mutter und Vater gesellten sich in Familienfotos zu Lizzie und Kenny, die sie im Londoner Zoo zeigten, auf den Stufen zum Britischen Museum und unter den Girlanden, mit denen die Städte zum silbernen Thronjubiläum der Königin geschmückt worden waren. Hamish war auch dabei. Aber nicht Lizzie hielt seine Pfoten fest umklammert, sondern Kenny. Immer wieder mal tauchte Hamish auf – an Kennys Faust baumelnd, fest von Kennys Armen umschlossen, auf Kennys Knien stehend –, bis er ab 1970 verschwand. Im Alter von zehn Jahren war Kenny seinem Kindheitsfreund offensichtlich entwachsen.
Eine Reihe von in regelmäßigen Abständen eingestreuten Fotos schien dem jährlichen Familienausflug zum Pier von Brighton gewidmet zu sein.
Vater, Mutter, Lizzie und Kenny standen mit zerzausten Haaren im Wind und grinsten in die Kamera, bis 1980 aus dem Quartett ein Trio wurde.
Auf einer Bildunterschrift hieß es: Unser erster Urlaub nach Vaters Tod. Fünf Jahre danach waren es nur noch zwei: Mutter in einem Rollstuhl, an ihrer Seite Lizzie mit einem liebevollen Lächeln. Doch für Kennys Fehlen wurde keine Erklärung geboten.
Auf dem nächsten und zugleich letzten Bild, einer Aufnahme von 1986, stand Lizzie ganz allein am Pier von Brighton. Darunter hatte Miss Beacham geschrieben: Mutter im Mai verschieden. Mein letzter Urlaub am Meer, zum Gedenken an glücklichere Zeiten.
Damit endeten die Fotos. Ich blätterte weiter vor und zurück, bis mich das Läuten von Kirchenglocken aus der Ferne in die Gegenwart zurückholte.
Es war zehn Uhr. Ich klappte das Album zu und blieb gedankenverloren im Sessel sitzen, die gefalteten Hände auf seinem Deckel, den Blick ins Leere gerichtet.
Ich hatte etwas gesucht, das aus Miss Beachams persönlichem Leben zu mir sprach. Und ich hatte es gefunden. Keine Erzählung hätte intimer sein können als das, was mir die Fotos offenbarten. Es war, als hätte sie aus dem Grab zu mir gesprochen.
Langsam wandte ich den Kopf, bis mein Blick erneut auf dem Zylinderpult ruhte. Miss Beacham hatte gewollt, dass ich dieses hübsche Möbelstück bekam. Sie hatte ausdrücklich geschrieben, dass es mich in vieler Hinsicht ansprechen würde. Auch Mr Moss hatte davon geredet, und zwar ganz so, als führte er Miss Beachams Anweisungen aus. »Meine Mandantin dachte, dass das Sheraton-Zylinder-Pult von besonderem Interesse für Sie sein könnte.« Warum hatte Miss Beacham meine Aufmerksamkeit derart nachdrücklich auf das Pult gelenkt? Wir hatten uns doch kein einziges Mal über meine Leidenschaft für Antiquitäten unterhalten.
Worüber wir geredet hatten, das waren Krimis.
»Ansonsten halte ich das normale Leben für aufregend genug«, hatte sie gesagt. Danach hatte sie aufmerksam – äußerst aufmerksam, wie es mir jetzt vorkam – zugehört, während ich über alle möglichen Rätsel aus dem echten Leben geplappert hatte, über die ich im Laufe der Jahre gestolpert war. Hatte sie da beschlossen, mir ein neues unterzujubeln?
»Was ist aus Kenneth geworden?«, fragte ich laut, den Blick auf das Album gesenkt. »Warum ist er aus den Fotos verschwunden, und wo steckt er jetzt?«
Niemand konnte bezweifeln, dass Miss Beacham ihren Bruder geliebt hatte. Sie hatte Hamish für ihn aufbewahrt, lange nachdem Kenny über ihn hinausgewachsen war; sie hatte eine Fotosammlung zusammengestellt, die von ihrer Liebe zeugte; und sie hatte ihn vor Mr Moss verborgen. Warum?
Mr Moss hatte den Auftrag, Kenneth aufzuspüren. Aber was, wenn Miss Beacham das Vertrauen in ihren Anwalt verloren hatte? Sein herablassender Kommentar über Kenneths mutmaßliches Verschwinden – »ein schönes Kuddelmuddel« – war mir von Anfang an gegen den Strich gegangen, und dann hatte er es viel zu eilig gehabt, mir entgegenzuhalten, dass mich das überhaupt nichts anging.
Was, wenn Miss Beacham Zweifel daran beschlichen hatten, dass Mr Moss die Suche nach ihrem Bruder mit dem nötigen Elan betrieb? Vielleicht hatte sie befürchtet, dass Kenny nie gefunden werden würde, wenn die Angelegenheit Mr Moss überlassen blieb.
»Bin ich ihr Reserveplan für den Fall, dass Mr Moss versagt?«, murmelte ich. Ich spreizte die Hände über dem Ledereinband des Albums und erinnerte mich an die Vorahnung, die mich gestern befallen hatte, als ich Miss Beachams Schlüssel im Lampenlicht meines Büros hatte schimmern sehen.
Schon da hatte ich das Gefühl gehabt, dass etwas von höchster Bedeutung in ihrer Wohnung auf mich wartete. Und so war es auch. Sie hatte mir ihre Schlüssel anvertraut, sie hatte mich in ihr Zuhause eingeladen, und sie hatte mich zum Zylinderpult geführt, offenbar alles in der Hoffnung, dass ich das Album finden und die darin verborgene Botschaft verstehen würde.
»So viele Fragen, die nach einer Antwort schreien«, sagte ich laut. »So viel Verlorenes, das nur darauf wartet, gefunden zu werden.« Ich presste die Handflächen gegen das genarbte Leder, als wollte ich einen Eid darauf leisten. »Okay, Miss Beacham, Sie haben einen Bluthund angeheuert.
Ich hab keine Ahnung, wie, aber ich werde Kenneth für Sie aufspüren.«
Eine halbe Stunde später lag ich im Bett, auch wenn ich bis tief in die Nacht kein Auge zubrachte, weil mich unentwegt das Bild von einer Schwester verfolgte, die ihren angebeteten kleinen Bruder verloren hatte.
Ein Telefongespräch mit Bill, der sich erneut als mein persönlicher Wetterfrosch betätigte, erbrachte die Bestätigung, dass ein lebhafter Ostwind über Nacht den Nebel aus Finch und Umgebung vertrieben hatte. Der Heimfahrt stand also nichts mehr im Wege, oder wie Bill es ausdrückte, sicherer konnte sie nicht mehr werden, selbst wenn ich unterwegs war. Ich wusch mich, zog mich an, machte mir ein Frühstück mit Tee und Toast und räumte auf. Hamish und das Fotoalbum harrten meiner im Flur, wo ich sie zum Schutz gegen die Nässe in einer Einkaufstüte verstaut hatte. Sie kamen natürlich mit. Ich war schon halb in die Jacke geschlüpft, als mir einfiel, dass ich Gabriel Ashcroft noch etwas schuldig war. Ich schrieb eine zerknirschte Entschuldigung für meinen völlig ungerechtfertigten Gefühlsausbruch von gestern Abend und schob den Brief beim Verlassen des Hauses unter dem Türspalt durch.
Der Regen hatte aufgehört, doch immer noch hingen dicke Wolken über Oxford, und die Sonne ließ nicht mehr als einen silbrigen Schimmer ohne jede Wärme erahnen. Als ich die offene Landstraße erreichte, verschmierten feine Dunsttropfen die Windschutzscheibe, und von den Furchen der frisch gepflügten Felder trieben Nebelschwaden heran. Der graue Tag dämpfte meine Stimmung, und mich befielen Zweifel an den sensationellen Schlussfolgerungen, auf die ich gestern Abend gekommen war.
Wenn Miss Beacham wirklich gewollt hatte, dass ich ihren Bruder aufspürte, warum hatte sie mich dann nicht einfach darum gebeten? Das hätte sie persönlich im Radcliffe tun können oder wenigstens mit einer nachträglichen Erklärung in ihrem Schreiben an mich. Es wäre nicht nötig gewesen, vage Andeutungen fallen zu lassen, die ich vielleicht, vielleicht aber auch nicht verstehen würde, oder mit Gegenständen, die ihr so unendlich viel bedeuteten, ein Versteckspiel zu veranstalten.
Was, wenn ich mich für etwas anderes als das Zylinderpult entschieden hätte? Dann wäre das Pult versteigert worden und sein Inhalt einem vollkommen Fremden in die Hände gefallen, der weder von der Sache mit Miss Beachams nächstem Verwandten wusste noch sich im Geringsten dafür interessierte. Sie war eine intelligente Frau. Wenn sie wirklich gewollt hätte, dass ich Kenneth aufspürte, wäre ihr bestimmt eine weniger riskante Methode eingefallen, mich das wissen zu lassen.
Auf der ganzen Heimfahrt nagten Zweifel an mir. Am liebsten hätte ich meine verblüffende Erkenntnis sofort mit Bill erörtert, aber da er in der Kanzlei war, beschloss ich, zuallererst Tante Dimity einzuweihen. Bei ihr konnte ich mich darauf verlassen, dass sie es mir gleich sagen würde, wenn ich mich in etwas verrannt hatte.
Bei meiner Ankunft herrschte Stille im Cottage.
Ein Zettel, den Annelise im Wohnzimmer an den Kaminsims geheftet hatte, informierte mich, dass sie dem Drängen der Zwillinge nachgegeben und sie wieder nach Anscombe Manor gebracht hatte, wo sie Emma Harris und Kit Smith unbedingt bei den Vorbereitungen für die Eröffnung des Reitstalls helfen wollten. In der Sorge, die Jungs könnten mehr im Weg als von Nutzen sein, ging ich schnurstracks ins Büro und wählte die Nummer des Reiterhofs.
Kit Smith nahm ab. Kit war der Stallmeister auf Anscombe Manor und einer meiner liebsten Freunde. Er lebte in einer spartanisch eingerichteten Wohnung gegenüber den Stallungen und schien vom Leben nicht mehr zu verlangen als Frieden, Ruhe und die Gesellschaft von Pferden.
Bill und ich liebten ihn, und die Zwillinge vergötterten ihn förmlich. Als ich mich erkundigte, ob die Jungs sich langweilten, versicherte er mir, dass das Gegenteil der Fall war.
»Wir haben zehn Kisten voller Bänder und Schleifen, die ausgepackt werden müssen. Mit ihren flinken Fingern leisten Rob und Will einen wertvollen Beitrag und halten Emma und mir den Rücken für andere Aufgaben frei.« Er senkte die Stimme. »Annelise hat mir von deiner Freundin erzählt, der Frau, die gestorben ist. Ich würde gern mehr über sie erfahren, Lori.«
»Das wirst du auch«, versprach ich ihm. »Im Moment hast du alle Hände voll zu tun, aber ein andermal, wenn es besser passt, erzähle ich dir alles.«
»Na, du weißt ja, wo du mich erreichst«, sagte Kit freundlich und beendete das Gespräch.
Lächelnd legte ich den Hörer auf die Gabel. Ich hatte ein Bild von den Zwillingen vor Augen, wie sie bis zu den Ellbogen in bunten Schleifen steckten, von denen viele eines Tages unseren Kaminsims zieren würden – sobald Bill und ich endlich dazu kamen, den beiden ein Paar Ponys zu kaufen, wie wir das schon seit einem Jahr vorhatten. Zum x-ten Mal erweiterte ich meine mentale Liste mit den dringend zu erledigenden Dingen um › Ponys!‹, dann entfachte ich vor dem Kamin kniend ein Feuer, ehe ich mich aufrichtete und Hamish Reginald vorstellte. »Er ist ein Waise«, sagte ich, und diese Erklärung schien zu genügen. Nun saßen die zwei einträchtig nebeneinander in derselben Nische, und auch wenn Hamishs Augen für mich ausdruckslos blieben, schien in denen von Reginald Verständnis aufzuleuchten. Ich hatte das irrationale, aber trotzdem irgendwie tröstliche Gefühl, dass Reg alles ihm Mögliche tun würde, damit der arme, zerlumpte Igel sich bei uns wie zu Hause fühlte.
Ich legte das Fotoalbum auf die Ottomane, holte das blaue Notizbuch von seinem Platz im Bücherregal und ließ mich im Ledersessel vor dem Kamin nieder.
»Dimity«, begann ich und öffnete das Notizbuch. »Ich zähle darauf, dass du mir sagst, ob das, was ich mache, sinnvoll ist oder ob ich mich wie eine sentimentale Närrin verhalte.«
Und schon kringelte sich Dimitys zarte Schreibschrift über die Seite. Es ist möglich, etwas Sinnvolles zu tun und dabei sentimental zu sein, meine Liebe, aber ich werde mein Bestes tun, um bei dir Spuren von Narretei zu entdecken. Fahr fort.
Ich erzählte Dimity von dem Brief, den Schlüsseln und dem Geld, das Miss Beacham dem St.-
Benedict’s-Heim, Schwester Willoughby und Mr Barlow hinterlassen hatte.
Sie war eindeutig nicht die arme Rentnerin, für die du sie gehalten hast.
Ich nickte. »Bestimmt nicht. Ich war in ihrer Wohnung, und auch die ist nicht gerade die heruntergekommene Bruchbude, die ich erwartet hatte.
Das Haus selbst ist ganz nett, wenn auch in einem entsetzlich kalten, modernen Stil, aber die Wohnung ist nicht nur mit den herrlichsten Tapeten dekoriert, sondern auch mit unglaublich kostbaren Antiquitäten eingerichtet. Wenn sie mehr Geld gebraucht hätte, hätte sie es locker durch den Verkauf von einem oder zwei Stühlen auftreiben können. Sie war auch gar nicht so alt. Erst Mitte fünfzig.«
Eine schwere Krankheit kann einen vorzeitig altern lassen.
»Genauso wie Kummer.« Ich holte tief Luft und wappnete mich schon für Spott. »Ich glaube, dass ihr jüngerer Bruder Miss Beacham das Herz gebrochen hat, Dimity. Ich glaube, dass er ohne ein Wort des Abschieds aus ihrem Leben verschwunden ist und es nie für nötig befunden hat, wieder Verbindung mit ihr aufzunehmen. Und ich glaube, sie erwartet von mir, dass ich ihn aufspüre.«
Ich verstehe. Ich nehme an, du hast Gründe für deine Vermutung.
Ich stellte meine Argumentationskette so logisch dar, wie ich nur konnte: der Brief, der mich zum Pult geführt hatte; das Pult, das mich weiter an das Album verwiesen hatte; das Album, das mir die Geschichte von einem geliebten, verlorenen Bruder erzählte; ein Anwalt, der sich weigerte, sein Verschwinden wirklich ernst zu nehmen, und ihn wohl nie finden würde. Doch selbst in meinen Augen wirkte das alles sehr weit hergeholt. Umso verblüffter war ich, als Tante Dimity meiner Schlussfolgerung von ganzem Herzen zustimmte.
Du musst Kenneth aufspüren, falls das überhaupt möglich ist. Nichts anderes hat sich Miss Beacham von dir gewünscht.
Ich blinzelte überrascht. »Aber … warum hat sie mich nicht einfach darum gebeten? «
Darüber kann ich dir natürlich auch keine Gewissheit verschaffen, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie dir die Aufgabe vergnüglich gestalten wollte. Nachdem sie deine Abenteuergeschichten gehört hatte, muss sie sich gesagt haben, dass es dir größeren Spaß machen würde, wieder mal eine harte Nuss zu knacken, als bloß eine einfache Bitte um Hilfe zu erfüllen. Auch könnte es ihr Freude bereitet haben, das Labyrinth zu entwerfen und dir ein kurzes Fadenende zu hinterlassen, dem du gerade so folgen kannst. Es kann aber auch sein, dass das Thema für sie zu schmerzhaft war, um offen darüber zu sprechen. Wenn sie es dir persönlich erzählt hätte, hättest du sie womöglich mit Fragen bedrängt.
»Stimmt«, gab ich zu. »Ich habe einen ganzen Sack voller Fragen in petto, die ich ihr jetzt gerne stellen würde. Das Einzige, was sie mir über ihren Bruder verraten hat, ist, dass er in Oxford auf ein College gegangen ist, aber ich weiß nicht, auf welches oder wann er dort studiert hat. Und Mr Moss nützt mir nichts. Als ich mich bei ihm über Kenneth informieren wollte, hat er mir nur zu verstehen gegeben, dass ich mich um meinen eigenen Kram kümmern soll. Wie geht es nun weiter? Wo findet man Hilfe bei der Suche nach einer verschollenen Person?«
Ich würde mit dem Telefonbuch anfangen. Miss Beacham war nicht verheiratet. Demnach müssen sie und ihr Bruder denselben Nachnamen haben.
»Das habe ich schon getan«, sagte ich. »Vor der Heimfahrt habe ich in Miss Beachams Wohnung noch schnell im Oxforder Telefonbuch nachgeschlagen. Darin ist aber niemand unter dem Namen Kenneth Beacham verzeichnet.«
Hast du mit ihren Nachbarn gesprochen? Alleinstehende Frauen vertrauen sich oft Menschen an, die in ihrer Nähe leben. Vielleicht weiß ja jemand im Haus über Kenneth Bescheid.
Ich stieß ein verächtliches Schnauben aus.
»Wenn Miss Beacham in Finch gelebt hätte, wüsste ich jetzt Kenneths Größe, Gewicht, Schuhgröße und die Ergebnisse seines letzten Zahnarztbesuchs.
Alle wären auf dem Laufenden. Aber Oxford ist eine Stadt, Dimity. So was wie Nachbarn gibt es dort nicht. Ich habe mit einem Typen gesprochen, der seit vier Jahren in Miss Beachams Haus lebt und nicht das Geringste über sie wusste. Er hatte noch nicht mal gehört, dass sie im Krankenhaus war.«
Trotzdem würde ich mich in der Nachbarschaft umhören. Miss Beacham war einfach zu interessant, um keine Freunde zu haben.
»Was sind das für Freunde, die sie allein lassen, wenn sie im Sterben liegt?«
Freunde, die zu viel zu tun haben? Freunde, die nicht Bescheid wussten? Vielleicht hat sie niemandem von ihrer Krankheit erzählt, Lori.
Auf die Idee, dass Miss Beacham ihre Krankheit womöglich geheim gehalten hatte, war ich bisher nicht gekommen. »Aber warum hätte sie das ihren Freunden verschweigen wollen?«
Vielleicht wollte sie sie nicht mit ihren Problemen belasten. Vielleicht hatte sie was dagegen, bemitleidet zu werden. Die Nachricht von ihrem Tod könnte doch für diejenigen, die sie gern mochten, einen gehörigen Schock bedeuten.
»Für Kenneth wird sie jedenfalls einen gewaltigen Schock bedeuten«, erklärte ich. »Wenn ich das Fotoalbum richtig interpretiere, ist er vor zwanzig Jahren verschwunden und hat keine Adresse hinterlassen.«
Ich starrte missmutig das von Efeu zugewachsene Fenster über dem Schreibtisch an. »Ich bin ein Einzelkind, Dimity. Ich weiß nicht, wie es ist, Geschwister zu haben, aber mir gefällt die Vorstellung, dass ich mit ihnen in Verbindung geblieben wäre, wenn ich welche hätte.«
Beziehungen unter Geschwistern können mit großen Schwierigkeiten belastet sein, Lori.
Zwistigkeiten in der Kindheit können zu lebenslanger Feindschaft führen.
»Aber Miss Beacham liebte ihren Bruder!«, wandte ich ein.
Vielleicht liebte er sie auch. Menschen verschwinden aus den unterschiedlichsten Gründen, Lori. Was, wenn Kenneth ein Verbrechen begangen hat? Was, wenn er die letzten zwanzig Jahre im Gefängnis war? Er könnte sich aus Scham von seiner Schwester losgerissen haben oder weil er den löblichen Wunsch hatte, sie davor zu beschützen, wegen seines Verbrechens an den Pranger gestellt zu werden.
Ich schürzte nachdenklich die Lippen. »Ein Verbrechen, das einem zwanzig Jahre einbringt, würde doch in den Zeitungen stehen, oder?«
Möglicherweise.
»Aber klar doch«, sagte ich mit Nachdruck.
»Kenneth hat wahrscheinlich eine Bank überfallen oder die Hunde der Königin entführt. Jedenfalls irgendwas Gravierendes. Ich meine, Ladendiebe werden doch nicht zwanzig Jahre lang eingesperrt.«
Vielleicht war Kenneth überhaupt nicht eingesperrt! Bitte, Lori, denk dran, dass eine Haftstrafe nur eine von vielen möglichen Erklärungen für Kenneths Verschwinden ist.
»Aber eine gute. Zum Beispiel wüssten wir dann, warum Miss Beacham nicht über ihren Bruder sprechen wollte und warum Mr Moss sich keinen Deut um ihn schert. Ich werde Emma bitten, im Internet für mich zu recherchieren. Wenn Kenneth Beacham ein großer Fisch ist, wird sein Name garantiert irgendwo auftauchen.«
Vergiss nur nicht, dass sein Name auch aus anderen Gründen auftauchen könnte.
»Telefonbücher!«, rief ich aufgeregt. »Die sind ja auch alle im Internet! Wenn Kenneth irgendwo in England lebt, wird Emma ihn aufspüren können.«
Mein liebes Kind, mir ist klar, dass du ein hoffnungsloser Fall bist, was Computer betrifft, wohingegen Emma großes Geschick dafür hat. Aber ist sie momentan nicht voll ausgelastet? Gilt es da nicht die Kleinigkeit zu berücksichtigen, dass sie demnächst einen Reitstall eröffnet?
»Sie kann immer noch jederzeit ablehnen«, verkündete ich.
Was immer sie sagt, ich möchte dich inständig bitten, mit Miss Beachams Nachbarn zu sprechen.
Recherchen im Internet sind schön und gut, aber sie reichen nie an das heran, was die Mitmenschen über einen zu sagen haben. Am Ende wirst du noch Bauklötze staunen, was du alles erfährst.
Ich rieb mir nachdenklich das Kinn. »Morgen Vormittag arbeite ich in der St. Benedict’s Church.
Aber am Nachmittag könnte ich einen Abstecher in die St. Cuthbert Lane machen und ein paar Klingeln putzen. Wenn irgendjemand was über Kenneth weiß, werde ich es zutage fördern.«
Das weiß ich doch, meine Liebe. Finch hat dich alles gelehrt. Viel Glück.
»Danke, Dimity.«
Als sich die königsblauen Zeichen aufgelöst hatten, stellte ich das Notizbuch ins Regal zurück und setzte mich an den Schreibtisch, um Bill anzurufen.
Eigentlich erwartete ich, dass er mir raten würde, die Fahndung nach Kenneth Beacham den schläfrigen Bluthunden von Pratchett & Moss zu überlassen, aber zu meiner Überraschung unterstützte er mich auf der ganzen Linie.
»Ich weiß, dass das einen Schock für dich bedeuten wird, Lori«, sagte er in gespieltem Ernst,
»aber Anwälte sind nicht immer vertrauenswürdig.
Ich kann mir mehrere Gründe vorstellen – die meisten davon nicht gerade ehrenhaft –, warum Mr Moss am Auffinden von Miss Beachams nächstem Verwandten nicht so sehr gelegen sein könnte.
Es erscheint mir merkwürdig, dass er dir einerseits bereitwillig darüber Auskunft gegeben hat, was sie dem Obdachlosenheim der St. Benedict’s Church gestiftet hat, sich aber weigert, über die Erlöse aus der Auktion zu sprechen. Ich frage mich, ob sie für Kenneth bestimmt sind oder ob Mr Moss sich eine kleine Scheibe vom Kuchen abschneiden möchte.
Schließlich hat er ihr Testament aufgesetzt. Da könnte er die eine oder andere Klausel untergebracht haben, die ihn begünstigt. Willst du, dass ich ihm mal auf den Zahn fühle?«
»Noch nicht. Ein so toller Anwalt wie du könnte sich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt als nützlich erweisen. Ich behalte dich lieber erst mal in der Hinterhand.«
»Klingt vernünftig«, meinte Bill. »Dann versuche ich in der Zwischenzeit herauszufinden, bei welcher Londoner Kanzlei Miss Beacham beschäftigt war. Das dürfte nicht allzu schwierig sein.
Wenn sie neunundzwanzig Jahre lang in ein und derselben Kanzlei gearbeitet hat, wird man sich zwangsläufig an sie erinnern.«
»Und sie wäre dort auch schon vor Kenneths Verschwinden tätig gewesen«, fügte ich hinzu.
»Das bedeutet, dass vielleicht auch irgendjemand weiß, warum er plötzlich weg war. Vielleicht kannte ihn sogar jemand persönlich.«
»Daran habe ich auch gerade gedacht«, meinte Bill.
Mein nächster Anruf galt Anscombe Manor.
Emma meldete sich noch knapper als normalerweise, und ihr Ton verriet mir, dass sie mit anderen Dingen beschäftigt und ziemlich erschöpft war.
»Hör zu«, sagte ich, »wenn du zu viel um die Ohren hast, um zu reden …«
»Geht schon in Ordnung«, unterbrach sie mich.
»Ich laufe heute schon den ganzen Tag wie eine Verrückte durch die Landschaft. Da tut es gut, wenn man mal eine Ausrede hat, um still zu sitzen.«
»Möchtest du noch eine Ausrede haben?«, fragte ich und gab ihr eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse, die zu meiner Suche nach Kenneth Beacham geführt hatten, um ihr dann mein Anliegen vorzutragen. »Könntest du mir einen Gefallen tun und mal schauen, was dein Computer alles zu seinem Namen ausspuckt? Ich revanchiere mich dann bei Gelegenheit und helfe im Reitstall aus.«
»Wie denn?«, fragte Emma. »Du hast doch Angst vor Pferden.«
»Ich hab überhaupt keine Angst vor Pferden!«, protestierte ich. »Nur großen Respekt. Aus der Ferne. Aber jetzt mal im Ernst, ich mache wirklich alles. Den Stall ausmisten. Die Socken waschen.
Deine Jeans stopfen. Deine Fingernägel pflegen.«
Ich hätte weitergemacht, wenn Emma mich nicht mit prustendem Lachen unterbrochen hätte.
Ein Blick auf meine Fingernägel, die noch nie eine Maniküre genossen hatten, genügte, und ich verstand den Witz. Es dauerte mehrere Minuten, bis Emma sich wieder im Griff hatte.
»Uff«, stöhnte sie schließlich. »So hab ich seit Ewigkeiten nicht mehr gelacht. Ein Beweis mehr, dass ich eine Pause dringend nötig habe. Heute Abend erledige ich diese Recherche für dich. Morgen früh kann ich dir dann berichten, worauf ich gestoßen bin.«
»Du bist ein Schatz, Emma!«
»Häng dich nur nicht so sehr in dein neues Projekt rein, dass du meines vergisst. Ich erwarte dich zur großen Eröffnung am Samstag.«
»Die würde ich um nichts auf der Welt verpassen«, versprach ich. »Rob und Will würden das nie zulassen.«
»Schön, denn ich hab eine Überraschung für dich. Übrigens eine, die mich selbst ganz schön aus den Latschen gehauen hat.«
Ich wollte schon versuchen, ihr mehr Informationen zu entlocken, als eine Stimme im Hintergrund sie hinaus zum Übungsgelände befahl.
»Tut mir leid, Lori«, entschuldigte sie sich. »Die Pflicht ruft.«
Ich bedankte mich noch einmal und legte in Jubelstimmung auf. Mein Versprechen gegenüber Dimity würde ich natürlich halten und in die St.
Cuthbert Lane zurückkehren, aber noch mehr Vertrauen als in Miss Beachams Nachbarn setzte ich ins Internet. Der Fincher Nachrichtendienst mochte blühen und gedeihen, aber ich war mir sicher, dass der von Oxford mangels Gebrauchs eingegangen war.