11
MIT EINEM SELIGEN Lächeln und in warme Kleider gehüllt hastete Bill am nächsten Morgen schon vor sieben Uhr in einen weiteren nasskalten Märztag hinaus. Annelise und die Jungs, die für heute eine Einladung zum Frühstück auf Anscombe Manor angenommen hatten, folgten ihm wenig später. Ich wiederum kostete meine Einsamkeit voll aus und genoss erst ein wunderbar friedliches, gemütliches Frühstück, um es mir danach im Büro bequem zu machen und Tante Dimity von Gabriels und meinen neuen Erkenntnissen zu berichten.
»Jetzt wissen wir, dass Miss Beacham in aller Stille gute Werke getan hat«, schloss ich. »Aber das ist auch schon alles.«
Unsinn. Die Worte kringelten sich säuberlich über die leere Seite des blauen Notizbuchs. Du hast noch etwas über sie in Erfahrung gebracht, und das ist von unermesslichem Wert.
»Was?«, fragte ich.
Miss Beacham mag in einer kalten, unpersönlichen Stadt gelebt haben, aber sie hatte sehr wohl Freunde, und die liebten sie von Herzen. Und lass dir eines gesagt sein, Lori: Einer davon wird dir was über Kenneth erzählen können.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach ich. »Sie war eine gute Zuhörerin, verstehst du, keine, die viel redete. Sie wusste alles über Mr Mehtas Bruder, aber er wusste nicht mal, dass sie einen hatte. Ich glaube nicht, dass sie irgendwem von Kenneth erzählt hat, außer ihrem Anwalt, Mr Moss. Und das Einzige, was der mir verraten wollte, ist, dass Kenneth wahrscheinlich nicht tot ist.«
Ich schürzte erbost die Lippen. »So viel zu Mr Moss.«
Das sehe ich auch so: Du kannst nicht auf Mr Moss’ Hilfe zählen. Du bist auf dich gestellt, Lori.
»Na ja, nicht ganz«, sagte ich. »Emma wird mir helfen, wenn sie die Zeit dazu findet. Bill will von seiner Kanzlei aus weitere Anrufe erledigen. Und schließlich hat sich auch Gabriel zur Verfügung gestellt.«
Warum ist Gabriel eigentlich so erpicht darauf dir zu helfen? Er weiß, dass du verheiratet bist, oder?
»Ja, aber es ist nicht so, wie du denkst, Dimity.
Gabriel hat seine schmutzige Scheidung noch nicht überwunden. Seine Frau ist vor ungefähr einem Jahr mit einem Wirtschaftswissenschaftler durchgebrannt, und darum hat er im Moment mit Romanzen nichts am Hut. Er liebt seine Katze, aber was Frauen betrifft, hat er sich hinter einer Mauer verschanzt. Sogar vor harmlosen Flirts hat er Angst.«
Meine liebe Lori, wenn du es geschafft hast, Gabriel so viele persönliche Details über sein Liebesleben zu entlocken, habe ich keinen Zweifel daran, dass du Kenneth noch diese Woche aufspüren wirst. Du hast eindeutig das unausgesprochene Motto von Finch beherzigt: Neugier ist ihre eigene Belohnung.
»Ich kann gar nicht anders, als mich für Gabriel zu interessieren«, meinte ich mit einem verlegenen Grinsen. »Miss Beacham nahm ja auch Anteil an seinem Leben. Mr Mehta hat uns erzählt, dass sie bestimmt die richtige Frau für ihn gefunden hätte, wenn ihr die Zeit dazu vergönnt gewesen wäre. Es ist wirklich schlimm, dass ein derart netter Kerl so einsam sein muss!«
Wir schaffen uns unsere Einsamkeit selbst, Lori.
Ich musste wieder an Gabriels Abschiedsworte auf dem Parkplatz hinter Miss Beachams Haus denken und an die Trauer in seiner Stimme. »Ich glaube nicht, dass Gabriel sich die seine geschaffen hat. Es hat sich nur so ergeben, teilweise, weil er mit seiner Ehe Schiffbruch erlitten hat, und teilweise, weil … na ja, weil es in seiner Welt normal ist, dass man auf einer winzigen Insel lebt, losgelöst von den anderen. Allerdings scheint er darüber nicht glücklich zu sein. Egal, was er sagt, ich glaube, er fühlt sich hundeelend.«
Anscheinend hat Miss Beacham noch ein unvollendetes Projekt zurückgelassen, meine Liebe, eines, das in jeder Hinsicht so wichtig ist wie die Suche nach Kenneth.
Diesen Satz musste ich zweimal lesen, bis mir Dimitys versteckte Andeutungen klar wurden.
»Vergiss es, Dimity. Ich bin keine Kupplerin.«
Du kannst aber lernen, eine zu werden. Außer natürlich, du willst, dass es Gabriel weiter schlecht geht, was ich allerdings bezweifle. Es ist auch gar nicht schwer, eine solche Rolle zu spielen, Lori. In den nächsten Tagen wirst du ja einige Zeit mit Gabriel verbringen, und man weiß nie, wem man da alles über den Weg läuft. Du brauchst einfach nur Augen und Ohren offen zu halten und rechtzeitig einen Stups in die richtige Richtung zu geben.
»Ich kann doch unmöglich …«, doch Dimitys Schrift verblasste bereits. Ich klappte das Notizbuch zu und stellte es ins Regal zurück, blieb aber kopfschüttelnd und mit verschränkten Armen davor stehen.
»Nie und nimmer«, sagte ich an Reginald gewandt, da Hamish nicht zuzuhören schien. »Ich weigere mich, zu einer von diesen Frauen zu werden, die ständig die Nase in die Angelegenheiten anderer Leute stecken. Ich bin doch nicht Mrs Mehta.«
Zur Bekräftigung meines Entschlusses stampfte ich mit dem Fuß auf und hielt gut drei Sekunden lang Wort, bis sich ein kleiner, lange unterbeschäftigter Teil meines Gehirns zurückmeldete und mich an die kurze Liste der noch ledigen jüngeren Frauen in Finch erinnerte. Mrs Mehta wäre stolz auf mich gewesen.
Um Punkt zehn klingelte ich bei Gabriel. Wie jede echte Fincherin platzte ich fast vor Neugier darauf, wie es in seiner Wohnung aussah, doch er machte mir einen Strich durch die Rechnung und kam gleich fertig angezogen herunter. Ich konnte noch nicht einmal Stanley begrüßen.
»Bereit?«, fragte er.
Ich nickte, und wir marschierten die St. Cuthbert Lane hinunter. Sehr zu meinem Entsetzen und ohne meine Zustimmung oder Mithilfe begann die Mrs Mehta in mir auf der Stelle, Gabriel mit jeder unverheirateten Frau, die ich kannte, zusammenzubringen. Um sie zum Schweigen zu bringen, knüpfte ich ein Gespräch an. »Lassen Sie Stanley in der Nacht noch raus?«
»Er weigert sich momentan, die Wohnung zu verlassen. Jetzt, da er einen reichen Vorrat an Miss Beachams Feinschmeckerfutter hat, zieht es ihn nicht mehr nach draußen. Wenn ich an die Unmengen von Trockenfutter denke, die er in all den Jahren bei mir runterwürgen musste, komme ich mir wie ein Rabenvater vor.«
»Das würde Stanley mit Entzücken hören«, sagte ich. »Meine Freundin Emma meint, dass Katzen sich hervorragend darauf verstehen, einem Schuldgefühle einzuimpfen. Unterernährt ist er mir wirklich nicht vorgekommen.«
»Aber nur, weil Miss Beacham seinen Speiseplan aufgestockt hat«, erwiderte Gabriel düster.
Ich blieb stehen. »Fehlt Ihnen was? Sie haben wegen Stanley doch nicht etwa ein schlechtes Gewissen, oder?«
»Es ist nicht wegen Stanley«, brummte Gabriel.
»Mir schlägt was anderes aufs Gemüt, aber das ist so albern, dass es mir peinlich ist, darüber zu reden.«
»Mein lieber Gabriel, Sie können mir sagen, was Sie wollen, nichts davon wird mich schockieren«, erklärte ich. »Ich bin die Königin aller albernen Menschen.«
Er zögerte. Dann murmelte er, ohne mir in die Augen zu sehen: »Ich bin eifersüchtig auf Miss Beacham. Lächerlich, was? Aber es stimmt. Ich kenne Mr Mehta seit vier Jahren, aber für ihn bin ich immer noch nicht mehr als ein guter Kunde.
Bestimmt werden die Leute in den anderen Läden alle dasselbe sagen: Ja, ja, Mr Ashcroft ist ein bekanntes Gesicht, aber Miss Beacham war eine geschätzte Freundin. Darum bin ich eifersüchtig.« Er wetzte mit der Fußspitze an einem Pflasterstein herum. »Albern genug für Sie?«
»Es ist doch nicht albern, wenn man gemocht werden will«, erwiderte ich ernst. »Aber man kann natürlich nicht erwarten, dass das von selbst kommt. Man muss etwas dafür tun. Miss Beacham hat was getan. Sie hat mich wie einen Menschen behandelt, der es wert ist, dass man sich um ihn bemüht. Und dass sie alle anderen genauso behandelt hat, ist offensichtlich.«
»Ich weiß ja gar nicht so genau, ob ich was dafür tun will«, seufzte Gabriel. »Ich bin nicht so wie Miss Beacham. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in meinem Leben Platz für so viele neue Freunde habe.«
»In Ihrem Leben oder in Ihrem Herzen?«, bohrte ich nach.
»Wahrscheinlich in beidem«, gab er zu.
Seine Worte weckten in mir Erinnerungen an die ersten Tage im St.-Benedict’s-Asyl, als ich mein Möglichstes getan hatte, um diesen Männern, die ich nicht kannte, ja nicht nahezukommen, und sich dann doch Veränderungen ergeben hatten, weil ich mich zu guter Letzt gezwungen hatte, auf sie zuzugehen.
Ich reckte das Kinn und lächelte ihn an. »Wissen Sie, was das Komische am Herzen ist, Gabriel? Je mehr man es benutzt, desto größer wird es. Man kann es nicht auffüllen, aber es hört einfach nicht auf, sich von selber auszudehnen.« Ich stupste ihn sanft gegen die Schulter. »Versuchen Sie’s doch mal. Was haben Sie denn schon zu verlieren außer Ihrer Anonymität?« Und bevor ich mich bremsen konnte, fügte ich hinzu: »Und es könnte ganz hilfreich sein, wenn Sie damit aufhören würden, immer gleich innerlich auf zujaulen, wenn eine hübsche Frau Sie ansieht.«
»Wie bitte?«, fragte Gabriel verblüfft.
»Äh … n-nichts«, stammelte ich. »Seien Sie einfach ein bisschen freundlicher. Das ist alles. Ein bisschen offener.«
»Bei Ihnen klingt das so leicht.«
»Mit der Übung wird es immer leichter«, versicherte ich ihm im Weitergehen. »Betrachten Sie das heute als Ihre erste Lektion. Und bei den Befragungen lasse ich Sie das Wort führen. Sie werden über sich selbst staunen.«
Gabriel war ein gelehriger Schüler. Als wir in der Travertine Road von Laden zu Laden zogen, überraschte er sich selbst und auch die Ladeninhaber, die doch alle geglaubt hatten, ihn als großen Schweiger zu kennen, denn er zeigte sich fast so redselig, wie ich es normalerweise war, und ließ mir kaum eine Chance, selbst mal ein Wort unterzubringen.
Mit dem Betreten eines Ladens warteten wir immer so lange, bis drinnen kein Kundenandrang mehr herrschte. Stets wurden wir mit »Guten Morgen!« begrüßt, worauf Gabriel statt der üblichen Erwiderung betrübt sagte: »Leider kein so guter Morgen für mich. Ich habe gerade die traurige Nachricht über die arme Miss Beacham gehört.
Wir beide haben im selben Haus gewohnt, wissen Sie.« Und das war genug – mehr als genug –, um das Gespräch in Gang zu bringen, das bisweilen ganz unerwartete Wendungen nahm.
»Wie schlage ich mich?«, fragte mich Gabriel, als wir die Bäckerei verließen.
»Einfach großartig«, lobte ich ihn. »Das mit Mr Blascoes schmerzenden Ballen war wirklich interessant. Ich selbst wäre nie darauf gekommen, mich nach seinen Füßen zu erkundigen.«
Gabriel zuckte mit den Schultern. »Das kam mir irgendwie völlig natürlich vor. Bäcker verbringen eben viel Zeit im Stehen. Ich bin doch nicht etwa zu neugierig, oder?«
»Nein, nein, Sie machen das ganz toll«, beruhigte ich ihn und musste an ein weiteres Motto von Finch denken: »Nur jetzt nicht nachlassen.«
Die nächsten drei Stunden waren gefüllt mit faszinierendem Geplauder über die Wehwehchen von Hunden, die Marotten von Nachbarn und die Triumphe von Enkelkindern, erbrachten aber nicht das Geringste über Kenneth. Auch wenn die Geschäftsleute nur zu bereitwillig von Miss Beacham erzählten, waren ihre Geschichten denen, die wir bereits von Mr Mehta und Father Musgrove gehört hatten, auffällig ähnlich.
Jedem von ihnen hatte Miss Beacham auf persönliche und einfallsreiche Weise geholfen und nach ihrem Tod Beträge in jeweils verschiedener Höhe hinterlassen. Sie alle schwärmten von ihrem Rosinenbrot. Und es gab keinen, der über die Nachricht von ihrem Tode nicht aufrichtig bestürzt war und nicht den Wunsch äußerte, am Gedenkgottesdienst in der St. Paul’s Church teilzunehmen.
Irgendwelche Informationen über Kenneth hatte hingegen keiner beizusteuern, und als Gabriel sich nach Miss Beachams Beruf erkundigte, erntete er überall denselben verständnislosen Blick.
»Irgendwas muss sie ja gearbeitet haben«, meinte Mr Jensen, der bärtige Inhaber des Computergeschäfts. »Außer an den Wochenenden ist sie immer zweimal am Tag an meinem Fenster vorbeigekommen, in der Früh und am Abend. Hat mir jedes Mal zugewinkt, und manchmal ist sie auf einen Plausch zu mir rein. Da ist es eigentlich naheliegend, dass sie irgendwo gearbeitet haben muss, nur dass ich keine Ahnung habe, wo. Komisch, dass ich vorher nie an so was gedacht habe, aber sie war keine von der Sorte, die übermäßig viel über sich selber erzählt.«
»Vielleicht war sie ja eine Spionin«, brummte Gabriel, als wir Mr Jensens Laden verließen. »Vielleicht war es ihr verboten, über sich zu reden.«
»Genau«, pflichtete ich ihm bei. »Beacham muss ein Pseudonym gewesen sein.« Abrupt blieb ich stehen und zwickte mich in die Nasenwurzel.
»Fehlt Ihnen was?«, fragte Gabriel besorgt.
»Ich merke, dass Kopfschmerzen im Anmarsch sind. Das liegt an dem vielen Lärm und dem Verkehr. Ich bin das nicht gewöhnt.«
Gabriel zog mich in eine dunkle, schmale Passage zwischen dem Computergeschäft und dem Café an der Ecke. »Sie brauchen eine Pause. Ich übrigens auch. Zum Glück …« – er warf einen Blick auf unsere Liste – »… ist das Woolery’s Café unsere letzte Anlaufstelle. Dorthin schaffen wir es gerade noch.« Dann tätschelte er die Mauer des Etablissements gegenüber Jensens Laden. »Ich habe hier schon so oft gegessen, aber mich nie mit dem Besitzer unterhalten.«
»Dafür wird er heute entschädigt«, lächelte ich und wollte schon die Passage verlassen, als mich zwei kräftige Hände von hinten an der Schulter fassten und in die Dunkelheit zurückrissen.
»Hey!«, rief ich erschrocken.
»Hey!«, schrie jetzt Gabriel, und bevor ich in Panik geraten konnte, hatte er meinen Angreifer gepackt, knallte ihn gegen die Ziegelmauer und klemmte ihn mit dem Unterarm quer über der Kehle fest. »Was zum Teufel machst du da?«, herrschte er ihn an.
»G-g-gar nix, Mister«, stammelte mein Angreifer. »W-wo-wollte ihr nix Böses.«
»Drum gehst du auch von hinten auf Frauen los, oder was?«, bellte Gabriel.
»Ich geh nich’ auf Frauen los«, verteidigte sich der Mann. »Wo-wo-wollte bloß zur Missus.«
Das letzte Wort ließ mich hellhörig werden. Als
»Missus« wurde ich eigentlich nur von bestimmten Leuten angesprochen. Ich spähte an Gabriel vorbei, auf die zerlumpten Kleider und die verängstigten Augen des Mannes, und erkannte schließlich eines von Julian Brights Schäfchen. »Blinker?«, rief ich.
»J-j-ja, Missus, ich bin’s, Blinker.«
»Gabriel«, sagte ich, »lassen Sie ihn los.«
Gabriel starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Kennen Sie diesen Gauner etwa?«
»Er ist kein Gauner«, sagte ich. »Er ist ein Freund. Und furchtbar schüchtern. Sie können ihn wirklich loslassen.«
»Komm bloß nicht auf dumme Gedanken!«, knurrte Gabriel und gab Blinker zögernd frei.
Blinker fiel sofort wieder in sich zusammen und nahm seine gewohnte unterwürfige, leidende Haltung an. Sein Kopf war in ständiger Bewegung und drehte sich von einer Seite zur anderen, als hielte er nach Feinden Ausschau, und seine wässrigen Augen zuckten panisch bei jeder Bewegung.
»Blinker«, sagte ich sanft, »das ist mein Freund Gabriel Ashcroft. Gabriel, das ist Blinker McKay.«
Beide Männer murmelten etwas, das sich wie ein äußerst unaufrichtiges »Sehr erfreut« anhörte.
Ich wandte mich an Gabriel. »Könnten Sie Blinker und mich bitte einen Moment allein miteinander reden lassen? In der Gegenwart Fremder fühlt er sich immer etwas befangen.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Gabriel misstrauisch.
Als ich nickte, trat er widerwillig vor zur Straße, von wo er mich und meinen sonderbaren Gefährten immer noch gut im Auge behalten konnte.
»Okay, Blinker«, begann ich, sobald wir allein waren. »Was ist los?«
»Father Bright hat mir gesagt, dass ich Sie suchen soll«, erklärte er mir mit gesenktem Kopf, den Blick auf seine Schuhe gerichtet.
»Sie haben gute Arbeit geleistet. Hier bin ich.«
»Nur bin ich jetzt kaum noch in der Ecke hier.«
Erneut sah sich Blinker nervös um. »Früher schon, aber jetzt nich’ mehr.«
Damit war erklärt, warum er sich angeschlichen hatte, statt offen auf mich zuzugehen. Wenn ein Bettler einen Stammplatz aufgab, dann war er in der Regel vertrieben worden, und zwar von Ladeninhabern, Polizisten oder auch von rabiaten Konkurrenten. Jemand hatte Blinker so schreckliche Angst eingejagt, dass er sich nicht mehr in die Travertine Road traute.
»Niemand wird Sie belästigen, solange ich dabei bin«, versprach ich ihm.
Blinkers Augen flackerten ängstlich zu Gabriel hinüber. »Und was is’ mit dem da?«
»Er weiß, dass Sie mein Freund sind. Er wird Ihnen nichts tun.«
Blinkers Blick kehrte zu seinen Schuhen zurück.
»Father Bright hat mir gesagt, dass ich mit Ihnen reden soll.«
»Über Miss Beacham?«, fragte ich voller Hoffnung.
»Father Bright hat uns gesagt, dass Sie ihren Bruder suchen«, erklärte er.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, doch ich zügelte meine Aufregung. »Wissen Sie, wo ihr Bruder ist?«
Blinker schüttelte den Kopf.
»Was wissen Sie denn?«, setzte ich nach.
»Ich weiß was über sie. Sie is’ regelmäßig hier vorbeigekommen. Und hatte immer ein Pfund für den alten Blinker übrig. Manchmal auch ’n Brot –
selber gebackenes mit Rosinen. Und sie hat sogar mit mir geredet. ›Wie geht’s Ihnen denn heute?‹
oder ›Hoffentlich ist Ihnen warm genug‹ oder ›Bis Montag‹ – solche Sachen eben.«
»Bis Montag«, wiederholte ich nachdenklich.
»Ist sie Ihnen auch am Wochenende begegnet?«
»Da hat sie nich’ gearbeitet. Aber von Montag bis Freitag hätte man die Uhr nach ihr stellen können, so regelmäßig kam sie.«
Mein Herz vollführte einen kleinen Freudensprung. »Wissen Sie denn, wo sie gearbeitet hat?«
»Ja, Missus. Gegenüber vom Café, in dem Haus mit der grünen Tür. Das is’ alles, was ich weiß, aber Father Bright hat mir gesagt, dass ich Ihnen das verklickern soll.«
»Ich werde Father Bright berichten, dass Sie den Auftrag bravourös ausgeführt haben, Blinker.« Ich zog einen Fünfpfundschein aus der Umhängetasche und drückte ihn ihm in die Hand. »Vielen Dank für die Mühe.«
Blinker stopfte sich das Geld in die Hosentasche, dann hob er leicht den Kopf. »Sie is’ tot, nich’
wahr?«
»Ja. Sie ist vor vier Tagen im Krankenhaus gestorben.«
»Das dachte ich mir schon. Sie hat danach ausgesehen. So große Augen, wissen Sie, und das Gesicht so schrecklich blass. Schade. Sie hatte immer ein Pfund für den alten Blinker übrig. Und ein freundliches Wort.« Er verstummte für einen Moment, dann hob er den Kopf noch ein bisschen mehr. »Sagen Sie, Missus, sie hätte doch nix dagegen, wenn ich bei der Beerdigung auch dabei wär, oder?«
»Bestimmt nicht. Sie würde sich sogar freuen.