Er brach den Satz mitten im Wort ab, als Wendy vom Dienstbotenflur in die Küche geeilt kam.
»Hallo, Fremde«, begrüßte er sie fröhlich. »Hast du dir inzwischen eine neue Route für deine Wanderung zurechtgelegt?«
»Noch nicht«, sagte Wendy. Sie trug weite Leggings und den blassgrauen selbstgestrickten Pullover. Ihr langes graues Haar hatte sie mit einer Schildpattspange im Nacken zusammenge-rafft und ihre schweren Wanderstiefel gegen Hüttenschuhe eingetauscht.
»Du hast den ganzen Morgen über deinen Karten gebrütet, du fleißiges Mädchen«, sagte Jamie neckend. »War es so schwierig?«
»Es gibt mehr Möglichkeiten, als ich angenommen hatte«, sagte Wendy. »Es wäre besser, wenn ich eine Übersichtskarte hätte, aber ich finde meine nicht. Ich muss sie zu Hause gelassen haben.«
»Das ist wirklich ärgerlich«, sagte ich, innerlich triumphierend. Es gab nichts Beschämende-res für jemanden von der Karten-und-Kompass-Fraktion, als sich eingestehen zu müssen, dass einem eine besonders wichtige Karte abhanden-gekommen war. Das brachte diese Spezies unweigerlich dazu, sich mit der schrecklichen und entwürdigenden Möglichkeit auseinanderzuset-zen, sich verirren zu können.
Wendy musste den ironischen Unterton in meiner Stimme bemerkt haben, denn sie sah mich scharf von der Seite an, um dann meine schneegetränkte Jeans einer eingehenden Inspektion zu unterziehen.
»Was haben Sie denn gemacht?«, fragte sie.
»Im Schnee herumgetollt? Sind Sie nicht ein bisschen zu alt für solche Spielchen?«
Innerlich vor Wut kochend, legte ich mir eine schnippische Antwort zurecht, doch Jamie kam mir zuvor.
»Lori war auf einer ganz besonderen Mission, nämlich in Sachen Menschlichkeit: Sie hat nachgesehen, ob Catchpole gestern Abend sicher zu Hause angekommen ist. Kurz und gut, sie hat sich bis zu seinem Cottage durchgekämpft und wieder zurück, eine Heldentat, die einem Sir John Franklin zur Ehre gereicht hätte.«
»Ich bin froh, dass Sie das übernommen haben.« Nicht ohne mich mit einem herablassenden Blick zu bedenken, wandte sich Wendy von mir ab und Jamie zu. »Ich habe Hunger. Willst du auch etwas zu Mittag essen?«
»Ich bin sicher, dass wir alle etwas essen wollen«, erwiderte Jamie.
»Ich schau mal, was die Speisekammer so her-gibt«, sagte Wendy und ging wieder auf den Flur hinaus.
Als sie außer Hörweite war, murmelte ich nachdenklich: »Glaubst du, sie wäre sehr wü-
tend, wenn ihr plötzlich all ihre Karten abhan-denkämen? Das ließe sich arrangieren.«
»Vergiss es«, erwiderte Jamie lachend. »Geh du besser auf dein Zimmer und zieh dir was Trockenes an. Bis du wieder unten bist, wird auf dem Herd ein Topf Suppe stehen, die leise vor sich hin köchelt.«
Ich warf ihm ein schuldbewusstes Lächeln zu, sammelte Jacke, Mütze und Handschuhe ein und ging in Richtung meines Zimmers. Als ich an der Speisekammer vorbeikam, hörte ich Wendy dort rumoren, verzichtete aber darauf, einen Blick hineinzuwerfen. Je weniger Kontakt wir mitein-ander hatten, umso besser, sagte ich mir.
Für mich war es klar, dass sie die Urheberin des geheimnisvollen Lichts war, das Catchpole vergangene Nacht auf dem Dachboden gesehen hatte, und ich zweifelte keine Sekunde daran, was sie dort oben gesucht hatte. Sicherlich keine zusätzlichen Decken, dafür schien mir der Weg doch etwas lang, aber umso idealer war der Ort, um nach wertvollen Gegenständen zu suchen, die man mitgehen lassen konnte. Wer würde je In-ventur der Dinge machen, die man dort verstaut hatte?, überlegte ich weiter. Ladythorne war vermutlich bis in den hintersten Winkel mit Nippes gefüllt. Es würde Jahre dauern, bis jemandem auffiel, dass etwas fehlte.
Allerdings mussten es kleine, handliche Dinge sein, um sie im Rucksack transportieren zu können, doch mir fielen auf Anhieb Dutzende trag-barer Gegenstände ein, die die DeClerkes über die Jahre angesammelt haben könnten: Schnupf-tabakdosen, kleine Krüge, Kerzenhalter, Reise-wecker …
Auf dem Weg von Catchpoles Cottage zurück hatte ich beschlossen, meinen Verdacht für mich zu behalten. Erst wollte ich eine Gelegenheit abwarten, um selbst einen Blick auf den Dachboden zu werfen. Jamie hatte meine Befürchtungen in Bezug auf Wendy als eine Art Überreaktion auf die merkwürdige Situation abgetan, in der wir uns auf Ladythorne befanden. Also wollte ich etwas Konkretes vorweisen können, wenn ich ihn abermals damit behelligte – einen Stiefelab-druck im Staub vielleicht, oder ein aufgebrochenes Schloss, dessen Kratzer unmissverständlich auf die Einwirkung eines Stemmeisens zurückzuführen waren. Wenn ich Jamie beweisen konnte, dass Wendy hinter unserem Rücken in der Abtei herumgeschnüffelt hatte, würde er mich ernst nehmen müssen. Er würde mir vielleicht sogar helfen, sie im Auge zu behalten.
Ich betrat mein Zimmer, rief Reginald einen fröhlichen Gruß zu und legte Jacke, Mütze und Schal auf den Ankleidesessel. Während meiner Abwesenheit war das Zimmer abgekühlt, also schüttete ich die restliche Kohle auf die Glut und stellte den leeren Eimer neben die Tür, als Erin-nerungsstütze, ihn später mit hinunterzunehmen.
Im Schrank fand ich eine hellgraue Gabardi-nehose und ein Paar hirschlederne Hausschuhe, die ich am vorigen Abend übersehen haben musste. Die Slipper waren etwas zu groß, und die Hose war zu lang, doch ein zusätzliches Paar Socken löste das eine Problem und ein umgeschla-gener Saum das andere.
Um einem dritten, bestimmt heikleren Problem aus dem Weg zu gehen, schlug ich das blaue Notizbuch auf und sagte: »Dimity?«
Die vertraute altmodische Handschrift entfaltete sich gleichmäßig auf der leeren Seite. Guten Tag, Lori. Ich nehme an, du hast gut geschlafen?
»Besser als je zuvor«, sagte ich und setzte mich auf den Bettrand. »Außerdem hatte ich einen ereignisreichen Vormittag. Ich bin zum Cottage des alten Verwalters gegangen, um nach ihm zu sehen, und rate mal, was er mir gesagt hat.«
Keine Ahnung, Liebes.
»Er sagte, dass er gestern Nacht Licht auf dem Dachboden gesehen hat. Jamie oder ich waren es nicht – wir waren zusammen in der Bibliothek.
Also muss es Wendy gewesen sein.«
Ach ja, die berühmte – oder sollte ich besser sagen, die berühmt-berüchtigte Wendy? Ich bin gespannt, mehr von ihr zu erfahren. Als du sie gestern Abend erwähnt hast, schwang ein miss-billigender Ton in deiner Stimme. Sie wird also kaum eine Freundin von dir werden?
»Sie hat eine ziemlich große Klappe«, sagte ich ohne Umschweife. »Sie lässt keine Gelegenheit aus, mich zu piesacken. Außerdem ist sie eine von der Sorte, die einfach alles kann und die mir das Gefühl gibt, zwei linke Hände zu haben und ein zu klein geratenes Gehirn. Doch das allein würde mir nichts ausmachen, wenn sie nicht so aufgeblasen wäre.«
Aufgeblasen, vorlaut und clever. Was für eine abscheuliche Kombination von Eigenschaften.
»Ist schon gut«, sagte ich beschwichtigend.
»Ich habe bereits eine Lösung gefunden, wie ich es ihr heimzahlen kann.«
Erzähl es mir.
»Ich werde beweisen, dass sie etwas vom Dachboden stibitzt hat. Gleich nach dem Mittagessen gehe ich hinauf und suche nach Beweisen.«
Wie aufregend! Und wenn du nichts Verdächtiges findest?
Ich machte ein säuerliches Gesicht. »Dann werde ich ihr eben einen Streich spielen.
Wünschst du mir Glück?«
Alles Glück der Welt, meine Liebe. Ich bin froh, dass du dir die Zeit vertreibst.
»Bloß keine Langeweile aufkommen lassen.
Also, bis später.«
Ich freue mich, wieder von dir zu hören.
Ich legte das Notizbuch auf den Teetisch, hängte die Jeans über die Rücklehne des Schreibtischstuhls zum Trocknen auf und verließ mit der leeren Kohlenschütte in der Hand mein Zimmer.
Während ich die Haupttreppe hinabstieg, wurde mir bewusst, dass in meinem Magen die gleiche gähnende Leere herrschte wie in der Kohlenschütte. Außerdem überlegte ich mir, dass Wendy Walker wenigstens über einen positiven Zug verfügte – sie hatte eine gute Nase, was die Futtersuche anbelangte.
Wendy übertraf meine Erwartungen noch, indem sie mit einer Paella zum Mittagessen aufwartete.
Es war zwar eine Camper-Version des Gerichts, bestehend aus Zutaten aus der Dose und haltba-ren Packungen, die sie in der Speisekammer gefunden hatte, aber dennoch schmeckte sie vorzüglich, und vor allem stillte sie meinen Bärenhunger. So erntete Jamies halbherziges Angebot, die Reste von Catchpoles Dessert vom vergangenen Tag aufzuwärmen, nur ein Stöhnen und den Vorschlag, es für das Abendessen aufzubewahren.
»Ich wusste gar nicht, dass ihr euch etwas aus dem Kompott macht«, sagte ich, während wir den Tisch abräumten. »Keiner von euch beiden hat mehr als einen Löffel davon angerührt.«
»Führen Sie immer Buch darüber, wie viel die Leute wovon essen?«, lautete prompt Wendys Kommentar.
»Ihretwegen habe ich mir Sorgen gemacht.«
Verstohlen sah ich sie an. »Ich dachte, Catchpoles Geschichte von Mrs DeClerkes blutdürstigem Geist hätte Sie so mitgenommen, dass es Ihnen den Appetit verschlagen hat. Als er den Geist erwähnte, sahen Sie erschrocken aus, um nicht zu sagen, die Angst stand Ihnen ins Gesicht geschrieben.«
»Ich fürchte mich nicht mehr vor Geistern, seit ich ein Kind war«, erwiderte Wendy. »Und selbst als Kind hatte ich einen Baseballschläger unter dem Bett für den Fall, dass einer aufkreuzte.«
»Mir hat das Kompott geschmeckt«, sagte Jamie, »aber ich war noch gesättigt von dem Risotto.«
»Du hast auch vom Risotto nicht viel gegessen«, bemerkte ich.
»Weil ich von deinem Rucksackimbiss schon fast satt war. Die Cranberry-Muffins waren gi-gantisch.« Jamie spülte den letzten Teller ab, stellte ihn auf das Abtropfgestell und trocknete sich die Hände am Geschirrtuch ab. »Was fangen wir mit dem restlichen Tag an? Wie wär’s, Lori, wenn wir beide in die Bibliothek gehen, um nach einem Buch über im Sonnenlicht gleißende Strände zu suchen? Wendy, willst du ebenfalls mitkommen?«
»Nein, danke. Ich werde ein Bad nehmen und anschließend einen Mittagsschlaf halten.«
»Ein Mittagsschlaf hört sich gut an«, sagte ich und wich Jamies Blick aus. »Tut mir leid, Jamie, aber ich fürchte, meine Polarexpedition fordert ihren Tribut.«
»Gott sei Dank.« Jamie lehnte sich gegen die Spüle. »Ich hatte tatsächlich gehofft, heute Nachmittag die Gelegenheit zu bekommen, mich aufs Ohr zu legen, wollte dich aber nicht enttäuschen.«
»Ich bin keineswegs enttäuscht, wie du siehst«, erwiderte ich lachend. »Und du brauchst Schlaf. Die Stille gestern Nacht hat ihn nämlich wach gehalten«, fügte ich erklärend zu Wendy hinzu. »Doch statt sich heute Morgen nochmals hinzulegen, hat er es vorgezogen, in der Küche auf meine Rückkehr von Catchpole zu warten.«
»Scheint der perfekte Babysitter zu sein«, bemerkte Wendy trocken. »Ich werde wahrscheinlich auf das Abendessen verzichten«, fügte sie hinzu, während sie zur Tür ging, »also macht euch nicht die Mühe, mich zu rufen.«
»Wirst du heute Abend nicht hungrig sein?«, rief Jamie ihr nach.
»Ich habe noch allerlei Müsliriegel und der-gleichen in meinem Rucksack«, erwiderte sie.
»Das wird mir bis zum Frühstück reichen.«
»Hoffentlich erstickt sie an dem Zeug«, entfuhr es mir in dem Moment, als die Tür hinter ihr zufiel. »Ein Babysitter …«, schnaubte ich.
»Sie kann sich ihre schnippischen Bemerkungen einfach nicht verkneifen.«
Jamie zuckte die Schultern. »Nicht jeder ist so sanftmütig wie du, Lori.«
»Sanftmütig? Ich? Wohl kaum«, sagte ich er-rötend. »Aber wenn du darunter verstehst, dass ich nicht bei jeder Gelegenheit mit Beleidigungen um mich werfe, dann magst du recht haben. Was ist eigentlich los mit ihr? Als wir uns hier begeg-neten, war sie anfangs ja ganz nett, aber seither hat sie sich in eine streitsüchtige Zicke verwandelt.« Ich sah nachdenklich in Jamies seelenvolle Augen und betrachtete seine zerzausten Locken, die ihn noch attraktiver machten. »Vielleicht ist es wegen dir. Vielleicht will sie dir imponieren –
indem sie mich lächerlich macht, um sich selbst in ein vorteilhafteres Licht zu rücken. Manche Frauen legen ein stutenbissiges Verhalten an den Tag, sobald ein attraktiver Mann in ihrer Mitte aufkreuzt.«
»Unsinn«, sagte Jamie. »Wenn du mich fragst, ist sie einfach nur frustriert, weil sie unfreiwillig ihren Trip unterbrechen musste.«
»Wenn du mich fragst, ist sie eine schreckliche Nervensäge«, sagte ich erregt.
»Du solltest dich nicht in deinen Groll hinein-steigern. Ansonsten bringst du dich noch um deinen Mittagsschlaf.« Jamie deutete auf meine leere Kohlenschütte und nahm mich bei der Hand. »Komm, Lori. Wir füllen im Kohlenkeller deinen Eimer auf, dann geht jeder auf sein Zimmer, wo wir hoffentlich schönere Gedanken haben werden.«
Das Bild von Wendy Walker hinter den Git-tern eines Hochsicherheitsgefängnisses zauberte ein grimmiges Lächeln auf meine Lippen, ich be-hielt die Vision jedoch für mich. Es war sicherlich nicht die Art von Gedanken, auf die Jamie anspielte.