15

ICH WEISS NICHT, wie lange ich so dastand, mit offenem Mund und starrem Blick, vollkommen gebannt von dem funkelnden Schatz, der auf dem blauen Läufer ausgebreitet lag. Es war so, als wäre ich in Ali Babas Höhle hineingestolpert. Da lag sie vor meinen Augen, die Pfauen-Parure in ihrer ganzen Pracht – das filigrane Diadem, die ausgefallenen Armbänder, die tränenförmigen Ohrringe, das Paar Broschen, das Kropfband, die wunderbare Halskette – ein Vermögen, das leichfertig auf dem dunkelblauen Teppich ausgebreitet lag wie eine Galaxie von Sternen, die am Mitternachtshimmel hing.

Nach ein paar Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, spürte ich, wie etwas meine Handgelenke berührte, und mir wurde bewusst, dass Jamie es war. Ich zuckte zurück, als hätte mich seine Berührung verbrannt, erwachte vollends aus meiner Träumerei und wich rückwärts, bis ich ans Bett stieß.

» Du …« Ich stieß das Wort so giftig aus, dass er zusammenzuckte. Mein Blick wanderte vom Grundriss zu dem Album und wieder zu der auf dem Boden ausgebreiteten Parure, und ich schwankte, so benommen war ich von meiner eigenen bodenlosen Dummheit. Von Anfang an hatte ich gewusst, dass nur eine außergewöhnliche Laune des Schicksals drei Amerikaner gleichzeitig an einen so abgelegenen und unbekannten Ort hätte führen können. Jetzt wusste ich, dass ich die Einzige von uns dreien war, die durch Zufall in Ladythorne Abbey landete.

Die Erkenntnis zuckte wie ein Blitz durch mein Bewusstsein. Jamies Vater war der Soldat gewesen, Jamies Vater war verwundet worden und zur Genesung in die Abtei geschickt worden, um dann von den Lügen einer wahnsinnig gewordenen Frau in Schande von diesem Ort vertrieben zu werden. Jamie war es, der nach Ladythorne gekommen war, um die Parure zu entwenden, um seinen Vater zu rächen für die falschen Anschuldigungen und die rachsüchtigen Briefe von Lucasta, die ihm so sehr zugesetzt hatten.

Jamie, der so einfühlsam, so fürsorglich gewirkt hatte, als er während unseres ersten Abendessens Catchpole davon abhalten wollte, mit seinen schaurigen Erinnerungen fortzufahren. Jetzt wurde mir klar, dass sein Einsatz kein ritterlicher Akt gewesen war – mein Ritter in der glänzenden Rüstung hatte nur nach einem Vorwand gesucht, den alten Mann zum Schweigen zu bringen, ehe ich zu viel über Lucasta erfuhr.

Schlimmer noch, Jamie war in der ersten Nacht nicht deshalb vor meiner Tür stehen geblieben, um mich zu fragen, ob ich ihm in der Bibliothek Gesellschaft leisten wolle. Nein, er wollte sichergehen, dass ich brav auf meinem Zimmer war, ehe er in die Bibliothek huschte, um nach Hinweisen zu suchen, die ihn zu dem Versteck der Pfauen-Parure führen könnten. Bis ich ihn dann in der Bibliothek aufstörte, hatte er bereits das Kronjubiläumsalbum gefunden, und ich war so dumm, ihm zu zeigen, wo er die Grundrisse fand.

Jamie hatte Wendy auf ihrer Suche dirigiert.

Er hatte ihren Plan entworfen, sie hatte nur die Laufarbeit getan, während er den nächsten Schritt plante. Er hatte ihr gesagt, dass sie sich später in der Bibliothek treffen wollten. Sie hatte nicht zufällig seinen Namen durch die geschlossene Tür geflüstert, sondern weil sie erwartete, ihn in der Bibliothek zu finden statt meiner. Seine angebliche Sorge um mein Wohlergehen, sein Interesse an Büchern, die charmante Unterhaltung, die er mit mir führte – all das war nichts weiter als ein Lügengespinst, das er um mich gesponnen hatte, damit ich nicht erkannte, was wirklich vor sich ging.

Ich konnte nicht glauben, dass ich so blind hatte sein können. Die Wahrheit hatte so klar vor meinen Augen gelegen wie ein Schaltplan, aber ich war so sehr von Jamies Charme abgelenkt gewesen, dass ich ihn nicht sah.

»Und was war dein Job bei dem Ganzen?«, fragte ich ihn, während Tränen der Demütigung in meinen Augen brannten. »Hast du deshalb heute so viel Zeit mit mir verbracht? Weil es deine Aufgabe war, mich abzulenken, während Wendy die Abtei durchstöberte? Warst du deshalb so nett zu mir?«

Jamie wandte den Blick ab.

»Er wollte es nicht tun«, sagte Wendy, »ebenso wenig wie ich grob zu Ihnen sein wollte. Aber wir mussten uns eine Möglichkeit ausdenken, um

…«

»Warum?« Ich wirbelte zu ihr herum. »Was gab es da noch auszudenken, wo ich doch so unglaublich kooperativ war? Jamie war der perfekte Babysitter. Er hat mich ganz vereinnahmt.

Wenn ich nicht mit ihm zusammen war, dann war ich bei Catchpole oder auf meinem Zimmer.« Ärgerlich wischte ich eine Träne weg, die mir über die Wange kullerte. »Ich habe Ihnen jede Zeit der Welt gegeben, um im Haus herumzuschnüffeln mit Ihrem Stemmeisen, Wendy. Ich habe Ihnen mehr Zeit gegeben, als Sie brauchten, um die Diamanten zu stehlen. Ich habe sogar den verdammten Grundriss für Sie gefunden. Wollen Sie mir dafür nicht wenigstens danken?«

»Lori …«, sagte Wendy sanft und ging auf mich zu.

Ich erstarrte. »Kommen Sie mir ja nicht näher.

Mein Mann weiß, dass ich hier bin, und er weiß auch, wofür ich Sie von Anfang an gehalten habe. Und wehe, wenn mir etwas zustößt, dann werden Sie den Zorn Gottes zu spüren bekommen.«

Wendy blieb abrupt stehen, starrte mich einen Moment lang an und reckte dann die Arme empor. »Herrgott noch mal«, sagte sie. »Ich kann mit hysterischen Frauen nichts anfangen. Versuch du, vernünftig mit ihr zu reden, Jamie.« Sie streifte ihre Grubenlampe von der Stirn, warf sie aufs Bett und ging in aller Seelenruhe zum Schrank, wo sie die Türen öffnete.

Ungläubig schnappte ich nach Luft. » Sie sind aufgebracht? Zuerst nutzen Sie mich schamlos aus, und jetzt spielen Sie die Genervte?«

»Ich bin nicht aufgebracht, ich habe einfach nur Hunger«, erwiderte Wendy und langte in den Schrank hinein. »Das Mittagessen war vor Ewigkeiten, und ich habe den Abend nicht damit verbracht, herumzusitzen und mich zu unterhalten. Ich habe gearbeitet.«

Ich wollte sie gerade fragen, wie sie in solch einer Situation an Essen denken konnte, wo mein Magen zu rebellieren drohte. Ich errötete, als ich fassungslos zusah, wie Wendy ein Silbertablett von einem Regalbrett im Schrank nahm und es zu dem Walnusstisch hinübertrug.

Auf dem Tablett lagen zwei Silbergedecke, zwei Trinkgläser, eine große Flasche Mineralwasser und etliche Dosen, Gläser und Packungen, die allesamt Delikatessen enthielten – Beluga-Kaviar, Gänseleberpastete, Heringfilets in Senfsauce, Anchovisröllchen mit Kapern, geräucherte Miesmuscheln, marinierte Venusmuscheln, Oliven, Essiggurken, Perlzwiebeln, Sahnecracker, Käseplätzchen, Grissini – vollkommen hingerissen starrte ich die Ansammlung an Leckerbissen an, als Wendy mit dem Tablett an mir vorbeiging »Die Schüssel dürfen wir nicht vergessen«, sagte Jamie. Er holte eine bedeckte Steingutschüssel aus dem Schrank und stellte sie in die Nähe des Kaminfeuers. »Das ist Catchpoles Aprikosenkompott. Bis wir mit dem Hauptgang fertig sind, ist es bestimmt warm.«

Während Wendy die Ottomane ein wenig zur Seite schob, sodass der Walnusstisch zwischen Armlehnsessel und Ottomane stand, und Wasser in die Gläser füllte, durchsuchte Jamie seinen Rucksack. Schließlich brachte er eine kleine Plastiktasse und Campingbesteck und einen Teller zum Vorschein und zauberte damit ein drittes Gedeck. Dann rückte er den Schreibtischstuhl an den Tisch.

»Bitte, Lori«, sagte er und drehte ihn einladend mit dem Sitz in meine Richtung, »willst du dich nicht zu uns setzen?«

Die ganze Situation kam mir unwirklich vor.

Was waren das für Verschwörer? Ich war Zeugin eines Verbrechens geworden, hatte sie auf frischer Tat ertappt. Sie wussten, dass mein Mann Anwalt war. Und nun luden sie mich zu einem Mitternachtsimbiss ein? Die Tatsache, dass niemand es für nötig befunden hatte, die Diamanten aufzulesen, oder mich bedroht hatte, war zwar merkwürdig beruhigend, ebenso wie das groteske Bild, das die auf dem Tisch ausgebreiteten Dosen und Delikatessenpackungen im Verein mit den Juwelen abgaben, aber noch immer zögerte ich.

»Schauen Sie, Lori« – Wendy setzte sich auf die Ottomane und deutete einladend auf das Silbertablett –, »die Packungen sind eingeschweißt.

Sie können beruhigt sein, es ist kein Gift im Spiel.«

»Wendy«, sagte Jamie vorwurfsvoll. Er legte eine Hand auf die Rückenlehne des Schreibtischstuhls. »Bitte, leiste uns Gesellschaft, Lori. Gib mir bitte die Gelegenheit, mich bei dir zu entschuldigen … und dir alles zu erklären.«

Es war nicht Jamies reuevolles Bitten oder seine offensichtliche Bereitschaft, ein Geständnis abzulegen, was mich dazu bewegte, die Einladung anzunehmen. Mein Magen gab schließlich den Ausschlag, indem er ein so sehnsuchtsvolles Knurren vernehmen ließ, dass ich mich gezwungenermaßen seiner erbarmte.

Ich drehte den Stuhl mit dem Sitz zum Tisch, setzte mich und starrte in das Feuer, um ja keinem der Verschwörer in die Augen blicken zu müssen.

»Danke.« Jamie nahm im Sessel mit dem

Schottenmuster Platz und machte sich daran, die Konserven zu öffnen.

»Catchpole wird euch umbringen, wenn er erfährt, dass ihr die Vorratskammer geplündert habt«, murmelte ich.

»Beim Mittagessen haben Sie sich nicht beschwert.« Wendy bediente sich von den Käseplätzchen. »Ich erinnere mich gesehen zu haben, wie drei Schüsseln Paella in Ihrem Rachen verschwanden.«

Ich hatte mir vorgenommen, ein distanziertes Schweigen während des Essens zu bewahren, als Zeichen für meine Missbilligung und um meinem verletzten Stolz Tribut zu zollen, doch Emma Harris hatte schon recht gehabt, als sie mir vor nicht langer Zeit sagte, dass ich nicht dafür geschaffen sei, still zu sein. Schnell entschied ich, dass ein paar bissige Bemerkungen denselben Zweck erfüllen und mich obendrein weniger Anstrengung kosten würden.

»Nun weiß ich, warum Sie gestern keinen Appetit hatten«, sagte ich. »Zuerst dachte ich, Sie hätten Angst vor Lucastas Geist, aber jetzt kenne ich den wahren Grund. Sie hatten keine Angst vor dem Geist, Sie hatten Angst, dass Catchpole Ihnen in die Quere kommen könnte, ja Sie davon abhalten könnte, die Parure zu stehlen.« Ich bestrich einen Sahnecracker mit einer großzügigen Portion Pastete. »Kein Wunder, dass Sie nicht einmal mehr Ihr Geschirr spülen konnten.«

Wendys graue Augen verengten sich unheilvoll. Sie öffnete den Mund, doch Jamie kam ihr zuvor, indem er den Arm ausstreckte, wie um zwei übereifrige Sparringspartner in Schach zu halten.

»Lasst uns zuerst essen, dann reden wir«, sagte er. »Mit einem leeren Magen lässt es sich schlecht denken.«

Die Unterhaltung erstarb. Mein bissiger Kommentar hatte unbeabsichtigt dazu geführt, dass ich mein ursprüngliches Vorhaben, mich in Schweigen zu hüllen, doch noch in die Tat umsetzen konnte. Doch es war nicht von langer Dauer. Seit wir die Paella gegessen hatten, waren etliche Stunden vergangen, und die Kokosnuss-Ingwer-Suppe war eher ein kleiner Imbiss gewesen als eine richtige Mahlzeit, also hatten wir alle einen gehörigen Appetit. In Rekordzeit verschlangen wir jeden schmackhaften Bissen, der sich auf dem Tablett befunden hatte, um uns dann wie eine Horde von Hyänen über das Aprikosenkompott herzumachen. Wendy hatte gerade das Silbertablett und die Steingutschüssel vor die Tür gestellt, als die Ebenholzuhr Mitternacht schlug. Als der letzte Gong verhallte, lehnte sich Jamie vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Finger locker verschränkt.

»Bei Gott, du hast wahrlich allen Grund, wütend auf mich zu sein, Lori«, sagte er. »Ich mache mir selbst Vorwürfe, weil … weil ich dich in die Irre geführt habe. Falls es ein kleiner Trost ist

– ich habe keineswegs nur gespielt. Was ich in der Bibliothek sagte, meinte ich auch so. Ich habe jeden Moment unseres Zusammenseins genossen. Ich mag dich sehr.«

Ich ließ ein abfälliges Schnauben vernehmen.

»Wenn du so Menschen behandelst, die du magst, möchte ich nicht wissen, wie du jene behandelst, die du nicht ausstehen kannst.«

»Was du gerade miterlebt hast, ist eine kurze Episode eines Epos«, sagte Jamie. »Wenn du mich lässt, werde ich dir den Rest erzählen. Du hast zwar keine Veranlassung, auch nur ein Wort dessen zu glauben, was ich dir erzählen werde, aber ich hoffe, dass du mir trotzdem zuhören wirst. Und ich hoffe, du wirst erst dann den Stab über mich brechen, wenn du alles gehört hast –

oder auch nicht.«

Ohne es zu wissen, hatte Jamie genau die Strategie gewählt, gegen die ich keine Verteidigung hatte. Noch nie war es mir gelungen, der Verlockung einer guten Geschichte zu widerstehen.

Meine Kindheit war geprägt gewesen von der Stimme meiner Mutter, die mir die Abenteuer von Tante Dimity erzählte. Auch einen großen Teil meines bisherigen Erwachsenenlebens hatte ich mit Büchern verbracht. Ich zweifelte zwar keine Sekunde daran, dass das, was Jamie mir auftischen würde, ein fiktionales Werk wäre, aber dennoch rührte ich mich nicht vom Fleck, denn ich war neugierig zu hören, wie er den Plot so hindrehen würde, dass er selbst dabei als Held erschien.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sagte möglichst gereizt: »Fang bitte an, ich höre.«

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte mit einem angestrengten Stirnrunzeln ins Feuer, so als würde er versuchen, eine komplizierte Abfolge von Ereignissen in die richtige Reihenfolge zu bringen.

»Stell dir, falls du möchtest, zwei amerikanische Soldaten vor. Lass uns sie James und Walter nennen.«

»Wally«, sagte Wendy steif, »jeder hat ihn Wally genannt.«

Ich sah sie scharf an und war mir plötzlich sicher, dass sie von ihrem Vater sprach. Mit der gleichen Sicherheit kombinierte ich einen Augenblick später, dass Jamie nach seinem Vater getauft war, James. Mein Blick wanderte von Wendys düsterer Miene zu Jamie, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ich hier die Fremde war, die eingedrungen war in die Gemeinschaft zweier Leidensgenossen. Unbehagen beschlich mich, und ich fragte mich, wie viel es sie kosten mochte, sich mir anzuvertrauen.

»Wir nennen ihn also Wally.« Jamie nickte feierlich, dann fuhr er fort. »James, der Ältere der beiden, war Captain. Wally war sein Fahrer.

Seit drei Jahren hatten James und Wally Seite an Seite gekämpft. Sie hatten den D-Day mitgemacht, genauso wie dein Vater, waren bei der Landung am Omaha Beach dabei gewesen. Sie hatten sich bei der Ardennenoffensive durchgekämpft und waren bis in die Vororte von Berlin vorgestoßen, bis ein Scharfschütze sie stoppte.«

»Sie waren noch sehr jung, als sie angeschossen wurden«, fügte Wendy hinzu, so als hätte Jamie ein wichtiges Detail vergessen. »James war dreiundzwanzig, und Wally war gerade zwanzig geworden.«

»Wally war fast zwanzig Jahre jünger, als ich es jetzt bin«, sagte Jamie. Einen Moment lang dachte er schweigend nach, dann schien er eine Entscheidung zu treffen. Er stand auf. »Sollen wir uns ein wenig die Beine vertreten? Ich finde, dass ein kleiner Verdauungsspaziergang nicht schaden kann. Abgesehen davon gibt es ein paar Dinge, die ich dir gern zeigen würde, Lori, um die Geschichte zu illustrieren, sozusagen.«

Gern kam ich seiner seltsamen Aufforderung nach und erhob mich von meinem Schreibtischstuhl. Ich bedeutete ihm voranzugehen. Die Mahlzeit und Jamies ruhiges Gebaren hatten meine überstrapazierten Nerven beruhigt. Ich wusste zwar nicht, wohin der Spaziergang führte, doch hatte ich keine Angst mehr, dass meine Hausgefährten mich jeden Moment mit dem Stemmeisen erschlagen könnten, um meine Leiche dann in der Wäschetruhe zu verstecken.

Ehe wir das Zimmer verließen, kniete Wendy nieder, um die Juwelen einzusammeln. Sie wickelte sie in das braune Packpapier und schob das Bündel unter einen Stapel Decken auf Jamies Schrank.

»Für den Fall, dass Catchpole auf die Idee kommt, einen Bettencheck zu machen«, erklärte sie und nahm Jamies Petroleumlampe vom Schreibtisch.

Zu dritt gingen wir nebeneinander den Flur entlang, während Wendy mit der Lampe den Weg beleuchtete und Jamie leise weitersprach, so als wollte er die Stille des schlummernden Hauses nicht stören.

»Nachdem James und Wally verwundet worden waren, wurden sie nach England evakuiert.

Die Ärzte fanden, dass ihr Zustand nicht stabil genug sei, um einen transatlantischen Transport zu überstehen, also wurden die beiden Freunde in ein Genesungsheim in England geschickt, an einen abgelegenen Ort auf dem Land, das von deutschen Raketen verschont blieb. An einen Ort namens Ladythorne Abbey.«

Während wir die Haupttreppe hinabgingen, schwieg er und sprach erst wieder, als wir die Eingangshalle erreichten.

»Nie zuvor hatten sie etwas Vergleichbares gesehen.« Seine tiefe Stimme hallte in dem riesigen Gewölbe wider. Er streckte eine Hand zu einem der Rosenholzengel aus, die auf den Treppenpfosten thronten, und fuhr mit der Fingerspitze die grazile Linie des Flügels nach. Dann trat er in die Mitte der Halle und ließ den Blick von der Kupferschüssel auf dem Wandtisch zu den Wappenmedaillons wandern, mit denen die Kassettendecke geschmückt war. »Die großen Landhäuser, die sie in Frankreich und Deutschland gesehen hatten, waren während des Kriegs stark beschädigt worden, doch Ladythorne, das verborgen in einem geheimnisvollen Tal lag, war unberührt, abgelegen, romantisch.«

Er drehte sich abrupt um, nahm Wendy die Petroleumlampe aus der Hand und durchquerte die Halle zu einer Flügeltür zur Rechten der Treppe. Er stieß beide Flügel auf und trat zur Seite, während er mir mit einer Kopfbewegung bedeutete einzutreten. Ich zögerte, dann trat ich an ihm vorbei in den angrenzenden Raum. Der übertraf die Eingangshalle sowohl in Größe als auch an Pracht. Jamie, der mir auf dem Absatz folgte, hielt die Lampe hoch, doch die bessere Beleuchtung ließ den Raum nur noch fantastischer erscheinen.

Mächtige dunkle Eichenbalken durchzogen die weiß verputzte Decke, und an jedem hing ein Kronleuchter in Form eines schwarzen schmiedeeisernen Wagenrads. Die gegenüberliegende Wand wurde beherrscht von einem riesigen Steinkamin, der von einer aufwendigen Eichenvertäfelung umgeben war, die oben ein bunt bemaltes Wappen zierte. Das Ganze war gekrönt von kannelierten Zinnen, die fast bis zur Decke reichten. Ein riesiger Axminster-Teppich, der in intensiven Blau-, Rot-und Goldtönen gehalten war, lief über die gesamte Länge des Raumes.

Darauf standen mehrere Sitzgruppen aus mit Chintz bezogenen Armlehnsesseln, mit Nägeln beschlagenen Ledersofas und Tischen, die mit silbergerahmten Fotos bedeckt waren sowie ledergebundenen Büchern, Schüsseln mit duftendem Blütenpotpourri und einer Kollektion von kleinen Bronzestatuen.

Die Außenwand war durchbrochen von einem Dutzend schmaler gotischer Bleiglasfenster, doch mein Blick wurde unwillkürlich von der Innenwand angezogen, die beinahe ganz von drei Wandteppichen bedeckt war. Auf einem war ein Falke abgebildet, der von der behandschuhten Hand des Falkners abhob; auf dem zweiten bellte eine Hundemeute einen in die Enge getriebenen Fuchs an, während zwei berittene Jäger zusahen.

Auf dem dritten spannte ein Schütze seinen Bogen und zielte mit dem Pfeil auf eine Schar Tauben. Auch wenn mit der Zeit die Farben ausgeblichen waren und der Webstoff an manchen Stellen fadenscheinig geworden war, hatten die Abbildungen ihren lebensechten Charakter und ihre Ausstrahlung bewahrt, sodass mir bei ihrem Anblick der Atem stockte.

Hinter mir murmelte Jamie: »Wenn dich diese große Halle sprachlos macht, Lori, dann stell dir einmal vor, welchen Endruck sie auf zwei geschwächte Männer gemacht haben musste, die geradewegs aus der Hölle kamen.«