18
WIR STELLTEN DIE Lampen auf den Kaminsims und breiteten die Grundrisse auf dem Walnusstisch aus. Wendy erklärte, dass sie den Tag damit verbracht habe, das Haus auszukundschaften. Indem Jamie ihre Beobachtungen mit den Grundrissen verglich, waren sie zu dem Schluss gekommen, dass Tessa Gibbs, abgesehen vom Speicher, keine großen Veränderungen in der Struktur der Abtei vorgenommen hatte. Die Böden von Ladythorne waren im Großen und Ganzen die gleichen wie zu der Zeit, als James und Wally die Korridore unsicher gemacht hatten.
Mein Mut sank ein wenig, als mir klar wurde, dass meine Theorie bezüglich irgendwelcher Hohlräume im Mauerwerk des Gebäudes, die sich als Versteck geeignet hätten, in sich zusammenfiel. Tessa Gibbs hätte Bill zwar erzählt, wenn ihre Handwerker einen Juwelenschatz unter einem losen Dielenbrett gefunden hätten, aber es gab keinen zwingenden Grund, die Entdeckung eines leeren Marmorkastens zu erwähnen.
Das Gleiche galt in Bezug auf unrestaurierte Möbel. Ein leerer Schmuckkasten, der in einem wackeligen Queen-Anne-Sekretär gefunden wurde, mochte zwar ein gewisses Maß an Neugierde hervorrufen, aber wäre sicherlich kein Anlass, um die Angelegenheit mit seinem Anwalt zu besprechen.
»Ich glaube, wir sollten uns nicht mit den Umbauten aufhalten, die Tessa Gibbs im Speicher vornehmen ließ«, sagte Jamie. »Den Grundrissen zufolge waren im Dachgeschoss früher die Bedienstetenkammern untergebracht, und ich bezweifle, dass zwei GIs in der Lage gewesen wären, in deren Bereich vorzudringen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Mit Sicherheit hätte sie der unvermeidliche Tratsch bald vor eine Disziplinarkammer gebracht.«
»Ich kann selbst nicht glauben, was ich jetzt sage«, bemerkte Wendy, »aber ein dreifaches Hoch auf den Schneesturm. Er war nicht Teil des Plans, aber er hat uns den perfekten Vorwand geliefert, uns hier einzunisten. Wenn Petrus es gut mit uns meint, wird der Schnee bis Ende der Woche anhalten, sodass wir ausreichend Zeit haben, die Schmuckschatulle zu finden.«
»Wo sollen wir anfangen?«, fragte ich und lehnte mich über den Walnusstisch.
»Such dir einen Raum aus, irgendeinen.« Jamie hob in einer ratlosen Geste die Hände. »Der Schmuckkasten kann überall sein.«
»Ich wette auf den Glockenturm.« Wendy trommelte entschieden auf die Karten. »Dort oben ist es wie in einem Adlernest, mit einer Rundumsicht, mit der man das ganze Tal überblickt. Wenn ich an Lucastas Stelle gewesen wäre, hätte ich viel Zeit im Glockenturm verbracht und über der leeren Schatulle gebrütet, während ich Ausschau hielt nach einer amerikanischen Invasion.«
Ich meldete mich freiwillig, um die Schlafzimmer im zweiten Stock zu untersuchen. Den Plänen zufolge hatten die vier Söhne von Grundy DeClerke sie einst bewohnt, doch als Lucasta geboren wurde, war sicherlich eines der Zimmer in ein Mädchenzimmer verwandelt worden.
»Catchpole hat uns erzählt, dass Lucasta viel Zeit auf ihrem Zimmer verbrachte, nachdem sich ihr Geist allmählich umnachtete«, rief ich ihnen ins Gedächtnis. »Ich nehme an, dass es dasselbe Zimmer war, das sie schon als kleines Kind hatte, und dass sie die Schmuckschachtel mitnahm.
Dort musste sie sich sicher gefühlt haben, in dem Zimmer, wo sie jede Ecke und jeden Winkel kannte.«
»Wenigstens müssen wir nicht fürchten, dass Catchpole uns ins Handwerk pfuscht«, sagte Wendy. »Er scheint beschlossen zu haben, so lange in seinem Cottage zu bleiben, bis wir abgereist sind.«
Ich warf einen verstohlenen Blick über die Schulter und flüsterte: »Er könnte es sich anders überlegen.«
»Warum sollte er das?« Jamie sah mich eindringlich an. »Lori? Was hast du getan?«
»Ich habe ihn … na ja, sozusagen eingeladen, uns Gesellschaft zu leisten«, gab ich kleinlaut zu.
»Er tat mir leid. Schließlich wusste ich ja nicht, was ihr zwei im Schilde führt.«
»Der hätte uns gerade noch gefehlt«, murmelte Wendy. »Als oberster Reiseleiter an Bord unseres Kreuzfahrtschiffs.«
»Wenn das so ist, dann nehme ich mir am besten das Erdgeschoss vor.«
»Um Catchpole davon abzuhalten, uns zu überraschen?«, fragte ich.
Jamie nickte. »Wenn er uns morgen mit seinem Besuch beehrt, werde ich ihm erklären, dass ihr zwei zerbrechlichen Geschöpfe den Tag im Bett zu verbringen geruht.«
»Aber auf mein Frühstück werde ich nicht verzichten«, grummelte Wendy.
»Ich werde es dir auf einem Tablett in den Turm bringen«, schlug Jamie vor. Nachdenklich strich er sich über seinen Bart, dann schnalzte er mit den Fingern. »Noch besser – wenn Catchpole auftaucht, werde ich ihn bitten, euch beiden das Frühstück zu bringen. Auf diese Weise kann er sich selbst davon überzeugen, wie schwach und gebrechlich ihr seid.«
In der Tat begann ich mich allmählich ziemlich schwach und gebrechlich zu fühlen. Und als die Ebenholzuhr zwei Mal schlug, legte sich das Gewicht der vergangenen zwei Tage schwer auf mich. Innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden hatte ich mich durch einen wütenden Schneesturm gekämpft, mich Aug in Aug mit einem Geisteskranken mit einer Flinte im Anschlag gesehen, mit Müh und Not mehreren Verführungsversuchen widerstanden sowie das Gegenteil eines Diebstahls aufgedeckt. Wenn mein Aufenthalt mit weiteren Herausforderungen angereichert würde, dann würde ich reif für eine Therapie sein. Doch im Moment war ich einfach nur todmüde. Am liebsten wäre ich Jamie um den Hals gefallen, als er vorschlug, dass wir uns zu Bett begeben sollten.
Wendy stimmte dem Vorschlag ebenfalls zu, indem sie meinte, wenn sie nicht bald ein bisschen Schlaf bekäme, wäre ihr Blick zu verschwommen, um die Schmuckschachtel zu erkennen, selbst wenn sie darüber stolperte. Während ich die Steppdecke auf Jamies Bett zurücklegte, nahm sie ihre Grubenlampe und trat in den Flur hinaus.
Als sie gegangen war, drehte ich mich zu Jamie um, der die Grundrisse in einer Schublade des Schreibtisches verstaute, und sah ihn lange und unerbittlich an. Er musste meinen Blick im Nacken gespürt haben, denn er ließ die Pläne halb verstaut liegen und wandte sich mir zu.
»Du hast gar nicht geschlafen, als ich an deine Tür klopfte«, sagte ich ruhig. »Du hast dir die Grundrisse angeschaut. Aber es sollte so aussehen, als hättest du geschlafen, also hast du mich vor der Tür warten lassen, während du dich rasch deiner Kleider entledigt, sie auf einen Haufen geworfen und dein Bettzeug zerwühlt hast.
Richtig?«
Er zog den Kopf ein. »Tut mir leid.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
Ich schenkte ihm ein reumütiges Lächeln.
»Schließlich bin ich es, die eine falsche Vermutung nach der anderen angestellt hat. Da ist es tröstlich, wenn man wenigstens einmal richtig liegt.« Ich ging auf die Tür zu. »Schlaf gut, Jamie.«
»Warte.« Er war in zwei Schritten bei mir und legte mir seine Hand auf den Arm. »Ich möchte dich um einen ganz persönlichen Gefallen bitten.
Ich weiß zwar, dass ich kein Recht habe …«
»Frag einfach«, unterbrach ich ihn.
»Bitte versuch, nicht zu hart mit Wendy ins Gericht zu gehen«, sagte er. »Sie hat ihren Vater so sehr geliebt, und es war so schwer für sie, zu
… zu …« Seine Stimme erstarb, während seine Hand von meinem Arm glitt, und es schien, als würde er sich von mir entfernen und sich in seine ganz eigene Welt zurückziehen. »Wenn man seinen Vater nur als guten, ehrenwerten Mann kennengelernt hat, ist es schwer, plötzlich zu erfahren, dass er ein mit Fehlern behafteter Mensch war. Aber trotzdem kann man nicht aufhören, ihn zu lieben. Was auch immer er getan hat, man kann nichts dagegen tun, ihn zu lieben.« Einen Moment lang starrte er ins Leere, dann blinzelte er und war wieder bei mir. Er lächelte. »Wendy ist eine kluge Frau. Sie wird schon damit klarkommen. In der Zwischenzeit sei bitte nicht zu hart mit ihr.«
»Da ich ein extrem fehlerhafter Mensch bin, kann ich in dieser Beziehung leider keine Versprechungen machen«, erwiderte ich. »Aber ich werde mein Bestes versuchen, Jamie.«
»Gute Nacht.«
Ich nahm meine Petroleumlampe vom Kaminsims und ging in mein Zimmer zurück. Das Feuer war fast ausgegangen, und ich legte Kohlen nach, ehe ich mir das weiße Leinennachthemd anzog. Ich blies die Lampe aus, setzte Reginald auf den Nachttisch und nahm das blaue Notizbuch mit ins Bett. In den Kissenberg zurückgelehnt, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, legte ich das Buch auf die Knie, schlug es auf, und schon entfaltete sich die vertraute blaue Schrift auf der leeren Seite. Das Feuer brannte jetzt hell genug, um jedes Wort lesen zu können.
Ich bin so froh, dass du endlich ins Bett gekommen bist, Lori. Ich hatte schon Angst, du würdest die ganze Nacht aufbleiben und deine Suche fortsetzen, aber das bringt doch nichts.
Hast du zufällig die Parure gefunden, meine Liebe?
Ich schloss die Augen und stellte mir das in braunes Packpapier eingeschlagene Bündel vor, das unter den Decken in Jamies Schrank lag.
»Ja, Dimity«, murmelte ich. »Ich habe die Parure gefunden …«
Es war ein Fehler, die Augen zu schließen. Ich öffnete sie nicht mehr bis zum nächsten Morgen.
Fünf Stunden später wurde mehrmals energisch an meine Tür geklopft.
»Madam?«, rief Catchpole mürrisch. »Habe Ihr Frühstück mitgebracht. Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Ich stöhnte und rieb mir die Augen. Ich lag noch immer so da, wie ich eingeschlafen war, und da die Decke noch immer bis zu meinem Kinn hochgezogen war, konnte ich guten Gewissens Besuch empfangen, also schlug ich schnell das blaue Buch zu, legte es auf den Nachttisch und krächzte dann schwach: »Kommen Sie herein.«
Wenn es etwas gibt, das ein Mensch verabscheut, der zu wenig Schlaf abbekommen hat, dann ist es das beherzte Auftreten eines anderen.
Catchpole gehörte sicherlich zu jener grässlichen Sorte von Menschen, die morgens Bäume ausreißen können und auf jeden anderen mit Missbilligung herabschauen, der nicht so ist. In diesem Moment hasste ich ihn voller Inbrunst und bereute es zutiefst, ihn dazu ermuntert zu haben, sein Cottage zu verlassen.
»Guten Morgen, Madam«, dröhnte er und
öffnete mit einer Hand die Tür, während er mit der anderen ein vierfüßiges Stehtablett balancierte. »Sie sehen, ich bin Ihrer Einladung gefolgt.
Tut mir leid zu hören, dass es Ihnen nicht gut geht. Mr Macrae hat mir erzählt, dass Sie den Tag wahrscheinlich im Bett verbringen werden.«
»Mmmmh«, erwiderte ich und blinzelte in sein Gesicht, das so schrecklich wach war.
Wenn Catchpole auch nur geahnt hätte, in welcher Laune ich war, hätte er mir das Tablett von der Tür aus aufs Bett geschleudert und augenblicklich kehrtgemacht. Aber da er ein egozentrischer, unsensibler Morgenmensch war, spürte er nichts von den Flutwellen des Hasses, die vom Bett aus auf ihn zurollten.
»Ich muss schon sagen, dass Sie in der Tat elend aussehen«, bemerkte er und stapfte laut durch das Zimmer, um sich vor meinem Bett aufzubauen. »Sie haben sich in der Nacht erkältet, wie Mr Macrae mir sagte, Sie und Miss Walker. Damen sollten sich nicht zu viel zumuten, sag ich immer. Hier ist Ihr Frühstück, Madam.«
Er platzierte das Tablett auf meinem Schoß.
»Das wird die Farbe wieder zurück in Ihre Wangen bringen.«
Ich wandte meinen finsteren Blick von seinem Gesicht ab und sah unausgeschlafen auf das Teakholztablett. Darauf standen ein antikes silbernes Teekannenset, eine zerbrechliche Porzellantasse mit Untertasse, eine Schüssel Chutney, Silberbesteck, eine Leinenserviette und ein großer Teller, der mit einer Silberhaube bedeckt war.
Ich warf einen zweiten Blick auf den silbernen Milchgießer.
»Ist das … richtige Milch?«, fragte ich.
»So ist es«, bestätigte Catchpole. Er hob die Silberhaube vom Teller. »Und richtige Eier.«
Freude stieg in mir auf. Ein dampfendes, mit Kräutern gefülltes Omelett bedeckte den Teller bis zum Rand. Es war garniert mit frischen Rosmarinzweigen und mit Estragon bestreut, und als sein verführerisches Aroma mir in die Nase stieg, lief mir das Wasser im Mund zusammen.
»Ich halte eine Kuh und ein paar Hühner in den alten Ställen«, erklärte Catchpole, während er zum Kamin hinüberging und in der Glut herumstocherte, um dann frische Kohlen nachzulegen. »Die Kräuter ziehe ich selbst in meinem Cottage, im Gedenken an alte Zeiten. Dachte, dass Ihnen ein Bissen mit frischen Zutaten, die nicht aus der Packung kommen, recht wäre.«
»Es ist … es ist wunderbar«, brachte ich mit vor Rührung bebender Stimme hervor.
»Schade, dass ich keinen Orangensaft habe«, fuhr er fort, »aber die Eier werden Ihnen bestimmt gut tun.« Er wandte sich vom Kamin ab und stellte sich an eines der Fenster. »Meine Mutter hat auf die Kraft der Eier geschworen. Sie haben jede Menge Vitamine und so weiter, Sie wissen schon. Die werden Sie schon wieder auf Vordermann bringen.«
Ich wäre wahrscheinlich wieder zu meinen mörderischen Gedanken zurückgekehrt, hätte Catchpole nicht in eben diesem Moment die Vorhänge aufgezogen. Für Augen, die seit zwei Tagen fast nur Kerzenlicht gewöhnt waren, war es ein Schock. Auf meinen erschrockenen Schrei hin zog Catchpole die Vorhänge rasch wieder zu und kam zum Bett.
»Das Licht tut Ihren Augen weh, nicht wahr, Madam?«, fragte er und beugte sich besorgt über mich.
»Oh«, jammerte ich und hielt noch immer die Handballen auf meine Augen gepresst.
Dem flüchtigen Blick nach zu urteilen, den ich von der Außenwelt erhascht hatte, ehe die stechenden Sonnenstrahlen auf meine Augäpfel trafen, war es ein wunderschöner Morgen. Die Sturmwolken hatten sich verzogen, der Himmel war strahlend blau, und das gleißende Sonnenlicht wurde durch den dicken Schneemantel, der das Tal umhüllte, um ein Hundertfaches verstärkt.
»Am besten, wir lassen die Vorhänge zugezogen«, schloss Catchpole. Er nahm meine Lampe und überprüfte den Behälter. »Petroleum muss auch bald nachgefüllt werden. Ich kümmere mich schon darum, Madam, wenn Sie sich ein wenig gedulden wollen. Ich muss als Erstes mit dem Schneepflug Schnee räumen. Werde den ganzen Tag damit beschäftigt sein, die schlimmsten Verwehungen zur Seite zu räumen, aber keine Sorge. Mr Macrae sagte, er wird von Zeit zu Zeit nach Ihnen und Miss Walker sehen.«
»Danke Ihnen«, wisperte ich schwach.
»Keine Ursache.« Er beugte sich abermals zu mir herab und fügte mit gesenkter Stimme hinzu:
»Haben Sie herausgefunden, wer neulich Abend auf dem Speicher war, Madam?«
»Es war Wendy. Ihr war langweilig, und sie wollte sich nur ein wenig umsehen. Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten.«
»Wenn Sie meinen, Madam.« Catchpole richtete sich auf. »Ruhen Sie sich jetzt aus. Ich geh dann mal, jede Menge Arbeit, die auf mich wartet.«
Der dumpfe Widerhall von Catchpoles schweren Stiefeln auf dem Boden meines Zimmers sagte mir, dass er sich tatsächlich entfernte, aber erst als die Tür sich schloss, erlaubte ich mir, zwischen meinen Fingern hervorzuspähen. Nachdem ich mich versichert hatte, dass die schweren Vorhänge jeden verirrten Sonnenstrahl verschluckten, wandte ich mich dem Omelett zu. Es schmeckte noch besser, als es aussah.
Ich war gerade bei meiner dritten Tasse Tee und weitaus heiterer gestimmt, als Jamie mit der nachgefüllten Petroleumlampe kam. Er hatte seinen blauen Pullover gegen einen dicken ockergelben Rollkragenpullover ausgetauscht. Der Rollkragenpullover stand ihm ausgezeichnet, aber auch ihm war anzusehen, dass das frühe Aufstehen eine Qual für ihn war.
Auch kein Frühaufsteher, dachte ich mit Befriedigung und dankte ihm für die Lampe. Er stellte sie auf meinen Nachttisch und streckte dann die Hand aus, um Reginalds Nase zu berühren.
»Wer ist das?«, fragte er.
Ich musterte sein Gesicht auf Anzeichen von Spott, aber sah nur aufrichtige Neugier.
»Reginald«, sagte ich und schlug alle Vorsicht in den Wind. »Er liebt Naturabenteuer, und deshalb nehme ich ihn immer mit, wenn ich wandern gehe.«
Jamie enttäuschte mich nicht. »Ah, eine Sicherheitsmaßnahme«, sagte er weise. »Mein Führer aus meiner alten Pfadfindergruppe wäre zufrieden mit dir.« Kaum hatte er den Satz beendet, wurde er von einem Gähnanfall übermannt, und ich fürchtete schon, dass er den ganzen Sauerstoff aus meinem Zimmer verbrauchte.
»Hast du überhaupt geschlafen?«, fragte ich.
»Ein paar Stunden«, erwiderte er. »Ich habe mir gedacht, dass Catchpole bei Sonnenaufgang aufsteht und ich bereit sein müsste, ihm unsere Geschichte aufzutischen.«
»Was für ein Held du bist.« Ich bot ihm meine Teetasse an.
Er leerte sie in einem Zug und reichte mir die leere Tasse zurück. »Wendy ist schon auf. Sie kann es nicht abwarten loszulegen.«
»Eine Lerche, keine Nachteule wie unsereins«, sagte ich. »Ich hätte es wissen sollen.«
»Lerchen sind nützliche Wesen«, bemerkte Jamie.
»Danke für den Wink mit dem Zaunpfahl.« In einer matten Geste legte ich mein Handgelenk an die Stirn. »Wenn Sie freundlicherweise das Tablett wegräumen würden, Sir, werde ich versuchen, mich von meinem Krankenbett zu erheben.«
Jamie rollte mit den Augen, hob das Tablett hoch und ging in Richtung Tür.
»Warte eine Sekunde«, rief ich und schwang die Beine über den Bettrand. »Catchpole behauptet, er hätte einen Schneepflug. Stimmt das?«
»Kommt drauf an, was man darunter versteht.
Das Gerät, das er meint, ist nicht viel größer als eine Schneeschippe – Gott sei Dank. Es wird ihn Jahre kosten, um einen Weg in die Schneemassen zu pflügen. Ich werde ihn im Auge behalten, aber ich glaube, er wird alle Hände voll zu tun haben und uns heute nicht weiter belästigen.«
»Gut«, sagte ich. »Und keine Sorge, Jamie, ich bin sicher, wir werden die Schatulle finden. Ich spüre es in den Knochen.«
Jamie grinste – es war das gequälte Grinsen einer Nachteule, die bei Morgengrauen aus ihrem Nest gestoßen wurde – und ging mit dem Tablett hinaus.
Nach einem kurzen Besuch im Badezimmer schlüpfte ich in Jeans und den warmen Kaschmirpullover des vergangenen Tages. Während ich vom Badezimmer in mein Schlafzimmer huschte, war nichts von Wendy zu sehen, und ich nahm an, dass sie bereits den Glockenturm erklommen hatte. Ich konnte es kaum erwarten, mir die Schlafzimmer im zweiten Stock vorzunehmen, aber zuerst gab es noch zwei wichtige Angelegenheiten, die meine Aufmerksamkeit benötigten.
Zuerst langte ich nach dem blauen Notizbuch.
Ein Satz erschien auf der leeren Seite, noch ehe ich den Mund aufmachen konnte.
Was sagtest du?
Schuldbewusst zog ich den Kopf ein. »Tut mir leid, Dimity, dass ich erst jetzt antworte. Aber die Müdigkeit hat mich übermannt.«
Das habe ich auch vermutet und habe vollstes Verständnis, meine Liebe, aber jetzt würde ich gern wissen, wo die Parure ist!
»Ich weiß«, sagte ich, »aber ich kann dir jetzt nicht alles erzählen. Gibst du dich mit einer knappen Version zufrieden?«
Jede Version ist mir lieber als gar keine.
»Also. Die beiden Rucksacktouristen, mit denen ich hier festsitze, sind im Gegensatz zu mir nicht zufällig wegen des Schneesturms hier gestrandet. Ihre Väter haben die Parure gestohlen, und Jamie und Wendy versuchen nun, sie an ihren ursprünglichen Ort zurückzulegen, und ich habe ihnen versprochen, ihnen dabei zu helfen.
Wir müssen uns beeilen, denn wenn die großen Schneepflüge kommen und uns hier ausgraben, werden wir keinen Vorwand mehr haben, hierzubleiben, und das ist alles, was ich dir im Moment sagen kann, denn ich muss jetzt dringend los.« Ich holte tief Luft. »Außerdem muss ich Bill noch anrufen.«
Habe ich dir jemals davon abgeraten, deinen Mann anzurufen? Ruf ihn gleich an. Ich kann mich gedulden, bis ich eine detailliertere Version von deiner Geschichte bekomme. Die Parure ist also doch gestohlen worden, sagst du? Und du und deine beiden Wohngenossen, ihr wollt also versuchen, sie zurückzulegen? Wie aufregend.
Alte Sünden werfen lange Schatten, meine Liebe.
Man kann ihnen nicht entkommen, und die Schatten, die über Ladythorne liegen, sind beileibe alt …
Ich zweifelte keinen Moment, dass Dimity das Puzzle zusammengesetzt hatte, ehe ich ihr die ganze Version ausführlich erzählen konnte, also überließ ich sie ihren eigenen Schlüssen und griff nach dem Mobiltelefon. Es waren fast vierundzwanzig Stunden vergangen, ohne dass ich die Stimmen der Menschen gehört hatte, die ich am meisten liebte. Wenn das kein Notfall war!
Bill freute sich ebenso, meine Stimme zu hören, und wartete mit allerlei Informationen über die DeClerkes auf. Ich hatte ganz vergessen, dass ich ihn gebeten hatte, Nachforschungen anzustellen, er hingegen nicht. Obwohl er in unserem Cottage festsaß, war er seinem Auftrag nachgekommen, indem er ganz einfach Miss Kingsley anrief.
Miss Kingsley, eine langjährige Freundin, war Concierge in dem ehrenwerten Flamborough-Hotel in London und eine niemals versiegende Quelle an Informationen, welche die alten, wohlhabenden Familien Englands betrafen. Doch diesmal entpuppten sich ihre Kenntnisse als dürftiger im Vergleich zu meinen. Nichts von dem, was sie Bill über die DeClerkes erzählt hatte, war neu für mich.
Nachdem er mit seinem Bericht geendet hatte, übermittelte Bill mir die unwillkommene Neuigkeit, dass das Land sich allmählich von dem unvorhergesehenen Schneesturm erholte. Heathrow befreite sich krächzend aus den Schneemassen, und schwere Räumfahrzeuge pflügten über die wichtigsten Verkehrsadern des Landes. Zwar rangierten Finchs schmale Landstraßen noch immer weit hinten auf der Prioritätenliste, aber sie würden schneller an der Reihe sein, als mir lieb war.
»Es hat ein paar interessante Entwicklungen hier in Ladythorne gegeben, seit wir zuletzt telefonierten«, erzählte ich ihm. »Nichts Gefährliches, einfach nur bemerkenswert. Glaubst du, du könntest noch ein, zwei Tage davon Abstand nehmen, mich von hier zu befreien?«
Bill lachte. »Da es mich mindestens einen Tag kosten wird, die Schneemassen in unserer Einfahrt wegzuräumen, glaube ich, dass sich eine aufgeschobene Rettungsaktion arrangieren lässt.
Warum? Was hast du vor?«
»Ich helfe, ein gutes Werk zu vollbringen.«
»Kann ich auch etwas dazu beitragen?«
Ich dachte einen Moment lang nach, ehe ich fragte: »Wenn du eine junge Frau wärst, deren Verlobter gerade gestorben ist, wo würdest du die Juwelen verstecken, die du am Tag deiner Hochzeit geerbt hättest?«
»Hmmm …« Eine Pause entstand, während
derer Bill seinen beachtlichen Verstand bemühte, um eine schwierige Frage zu beantworten, die ihm aus dem Blauen heraus gestellt worden war.
»Nee«, sagte er dann, »keinen blassen Schimmer, aber ich kann es kaum erwarten, die Geschichte, die hinter dieser Frage steckt, zu erfahren.«
»Es ist eine spannende Geschichte«, sagte ich,
»aber ich fürchte, du musst noch ein wenig warten. Ich werde dir alles erklären, aber nicht jetzt.
Gibst du mir kurz die Jungen, ja?«
Es folgte eine atemlose Unterhaltung mit Will und Rob, die es nicht erwarten konnten, mir von ihrem Plan zu erzählen, einen Tunnel von unserem Cottage bis zu Emma Harris’ Stall zu graben, um sicherzugehen, dass es den Pferden gut ging. Die Tatsache, dass sie sich über mein Wohlergehen kein bisschen sorgten, war ein wenig ernüchternd, aber auf der anderen Seite zeugte es von dem großen Vertrauen, das sie in die Überlebensfähigkeit ihrer Mutter setzten, und so nahm ich es als Kompliment.
Nach dem Telefonat mit meinen Lieben wurde meine Aufmerksamkeit zum Fenster gelenkt, durch das ein ziemlich irritierendes Geräusch aus dem Hof heraufdrang. Es war das schwache Röhren eines Motors, der erste mechanische Laut, den ich seit meiner Ankunft in Ladythorne hörte. Einen Moment blieb ich noch reglos sitzen und dachte überrascht, wie sehr ich die absolute Stille der Abtei vermissen würde. Dann ging ich zu einem der Fenster, zog die Vorhänge zurück und sah blinzelnd nach unten.
Catchpole in seiner geflickten Segeltuchjacke und Sammlung diverser Wollschals saß auf einem Schneepflug von der Größe eines Rasenmähers und bahnte einen Weg zur Vorderseite des Hauses. Der Weg, den er bereits von seinem Cottage in den Hof gepflügt hatte, zog sich wie ein Faden durch die mächtige Tagesdecke, die über der Landschaft lag.
»Er wird bis Mitternacht beschäftigt sein«, murmelte ich froh. Dann drehte ich mich um, um mein Zimmer in Augenschein zu nehmen.
Den alten Grundrissen zufolge gab es acht Schlafzimmer im zweiten Stock: vier Zimmer, die die Söhne bewohnten, welche allesamt in zwei verschiedenen Weltkriegen umgekommen waren, sowie je eine Zwei-Zimmer-Suite, die Grundy und Rose bewohnt hatten. Ich wusste, dass Tessa Gibbs mindestens drei der ehemaligen Kinderzimmer in Gästezimmer verwandelt hatte, nämlich die drei Zimmer, in denen Wendy, Jamie und ich schliefen, und ich nahm an, dass sie die restlichen Zimmer ebenfalls als Gästezimmer eingerichtet hatte. Da Wendy und Jamie ihre Zimmer bereits gründlich untersucht hatten, beschloss ich, mit meinem anzufangen, ihre beiden Zimmer auszulassen, mich stattdessen den Suiten am Ende des Flurs zuzuwenden und mich auf der anderen Seite des Flurs in Richtung Haupttreppe zurückzuarbeiten.
Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich auf meinem Zimmer, indem ich emsig die Wände abtastete und die Teppiche zusammenrollte, um auch die Bodendielen abzuklopfen. Ich räumte sämtliche Kleider aus dem Schrank und fuhr mit dem Fingernagel über die Nahtstellen im Holz; ich zog die Schubladen der Frisierkommode und des Schreibtischs hervor, untersuchte die Polster der beiden Sessel und kroch unters Bett, um auch dort nach lockeren Dielenbrettern zu fahnden.
Ich stellte mich auf die Tische und fuhr mit den Fingern an den Deckenleisten entlang, untersuchte die Fenstersimse auf Hohlräume und jeden Quadratzentimeter des marmornen Kaminsimses in der Hoffnung, auf eine Sprungfeder zu stoßen, die ein Geheimfach öffnete.
Ich fand nichts.
»Ich habe mein Bestes gegeben, Reg«, sagte ich, nachdem ich das Zimmer wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt hatte. »Wenn es hier irgendwo ein geheimes Fach gibt, dann muss es verdammt gut verborgen sein. Nächstes Ziel: die zwei Suiten.«
Mein erster Gedanke, als ich die Suite auf Jamies Seite des Flurs betrat, war, dass sie den Geschmack von Grundy DeClerke widerspiegeln musste. Die Mahagonimöbel, die schweren, drapierten Stoffe und die damastrote Wandbespannung, all das war genau so, wie ich es im privaten Tempel eines viktorianischen Gentleman erwartet hätte, der aus eigener Kraft zu Wohlstand gelangt war.
Ich durchquerte das Schlafzimmer und betrat das angrenzende Ankleidezimmer, wo ich als Erstes die Schranktüren öffnete, in der Hoffnung, eine Garderobe aus der Zeit der Jahrhundertwende vorzufinden – bis zum Boden reichende Schlafröcke mit Paisleymuster, Westen mit Goldknöpfen und Smokingjacketts mit Samtaufschlägen. Enttäuscht stellte ich fest, dass der Schrank stattdessen mit ziemlich fantasielosen modernen Kleidungsstücken gefüllt war. Eine gründliche Untersuchung sagte mir, dass er ansonsten nichts Verdächtiges enthielt.
Das Schlafzimmer hingegen schien mir recht vielversprechend zu sein, zumindest barg es unzählige Möglichkeiten für geheime Verstecke.
Wer immer das Zimmer eingerichtet hatte, musste eine Leidenschaft für Schachteln aller Art gehabt haben, denn überall gab es welche – auf dem Kaminsims, dem Schreibtisch, den Nachttischen, den diversen Beistelltischen und auf den Fenstersimsen. Jede horizontale Fläche schien eigens zu dem Zweck da zu sein, die Sammlung an Schachteln darauf zu präsentieren. Ich öffnete Holzschachteln mit aufwendigen Einlegearbeiten, lackierte Schachteln, Schachteln mit Perlmuttintarsien, Teakholzschachteln, Schachteln, die mit Blattgold überzogen waren, Bambusschachteln, Schatullen aus Porzellan und eine große samtbezogene Schachtel, deren Anblick mich mit Hoffnung erfüllte, bis ich mir ins Gedächtnis rief, dass die Schachtel, die wir suchten, aus Marmor war.
Ziemlich ernüchtert wandte ich meine Aufmerksamkeit den Dielenbrettern zu, den Wänden und schließlich den schwerfälligen Möbeln. Als ich fertig war mit Klopfen, Pochen und Tasten, waren meine Knöchel empfindlich gerötet, und ich war mir ziemlich sicher, jedes Staubkorn eingeatmet zu haben, das dem wöchentlichen Putztrupp entkommen war. Hundertprozentig sicher war ich mir, dass ich weder die Schmuckschatulle gefunden hatte, die für die Parure angefertigt worden war, noch ein geheimes Fach, in dem sie möglicherweise aufbewahrt worden war.
Neben einem geheimfachlosen Sekretär saß ich auf meinen Fersen, lutschte an meinen wunden Knöcheln und tat mir ein wenig leid, als die Tür aufgerissen wurde, Wendy hereinplatzte und mir beinahe einen Herzinfarkt verursachte.
»Schnell!«, rief sie. »Sofort ins Bett zurück!
Catchpole ist im Anmarsch!«