14
ALS DIMITYS WORTE auf der Seite verblassten, saß ich eine Weile in verwirrtem Schweigen da. Jeder Anflug von Schläfrigkeit war wie weggewischt. Es war, als hätte sie mir befohlen, in meine Rüstung zu steigen und mich auf mein Pferd zu schwingen, um mich auf die Suche nach dem Heiligen Gral zu begeben. Die Vorstellung gefiel mir, doch fühlte ich mich nicht gut genug ausgerüstet für meine Suche.
Ich legte das Notizbuch auf den Teetisch, stützte mich mit dem Ellbogen auf die Armlehne und legte das Kinn auf meine Hand. Ladythorne Abbey war zwar kein Blenheim Palace, doch auch hier gab es Dutzende von Räumen. Die Pfauen-Parure konnte in irgendeinem dieser Zimmer versteckt sein. Das Geschmeide konnte sogar in mehrere Einzelteile zerlegt und an verschiedenen Orten versteckt worden sein – die Ohrringe hier, die Armbänder dort, das Diadem woanders. Es fiel mir schon schwer, fehlende Socken in meinem Cottage zu finden, und verglichen mit Ladythorne Abbey war mein Heim eine spärlich eingerichtete Nussschale.
»Es ist unmöglich, was Dimity von mir verlangt«, murmelte ich.
Der glühende Kohlenhaufen auf der Feuerstelle stürzte ein und sandte einen Funkenregen den Kamin hinauf. Als ich mich davor niederkniete, um dem Feuer mehr Nahrung zu geben, spürte ich Reginalds Blick auf meinem Rücken. Ich schaute mich über die Schulter um und entdeckte ein vorwurfsvolles Glitzern in seinen schwarzen Knopfaugen, so als wollte er mich daran erinnern, dass Dimity noch nie zu viel von mir verlangt hatte.
»Hör zu, Reg«, sagte ich, »das einzig Gute, das unsere Unterhaltung gebracht hat, ist, dass ich aufgehört habe, an Jamie zu denken. Abgesehen davon ist es einfach lächerlich.«
Das Glitzern schien noch vorwurfsvoller zu werden.
»Okay, ich höre ja zu.« Im Schneidersitz ließ ich mich auf dem Läufer vor dem Kamin nieder und blickte erwartungsvoll meinen Hasen an, der bequem auf dem Ankleidesessel saß. »Nenn mir einen guten Grund, warum es nicht eine unmögliche Aufgabe sein sollte.«
Während ich den zwillingshaften Widerschein des Feuers in Reginalds Augen betrachtete, dämmerte mir allmählich, dass die Aufgabe doch nicht ganz so aussichtslos war, wie sie zunächst schien. Nach Catchpoles Erzählungen waren Tessa Gibbs’ Handwerkstrupps seit zwei Jahren damit beschäftigt, die Abtei zu restaurieren. Sie hatten das ganze Dachgeschoss neu gebaut und den Rest des Gebäudes sorgsam restauriert. Sie hatten die elektrischen Leitungen erneuert, Wasser-und Abflussrohre ersetzt, die Böden neu gelegt und kilometerweise Wandverkleidungen herausgerissen und erneuert. Die Handwerker hatten somit ausreichend Gelegenheit gehabt, auf Verstecke zu stoßen, in denen Schätze verborgen lagen. Mit Catchpoles Adlerblick im Rücken, der ein ebenso wachsames Auge auf die Handwerker wie auf die Putzfrauen hatte, wäre es ihnen unmöglich gewesen, eine solche Entdeckung geheim zu halten. Und wäre Tessa Gibbs ganz unverhofft in den Besitz von so etwas Wertvollem wie der Pfauen-Parure gekommen, so hätte ihr Anwalt – mein Mann – bestimmt davon erfahren und es mir gegenüber erwähnt.
»Das Ganze läuft darauf hinaus, Reg«, sagte ich, »dass wir unsere Suche eingrenzen können.
Ich werde also nicht Mauern einreißen oder Dielenbretter aufstemmen müssen, um die Pfauen-Parure zu finden.« Ich warf einen Blick zu dem intarsienverzierten Schreibtisch. »Der Schmuck muss in irgendeinem Möbelstück verborgen sein
– in einer geheimen Schublade oder einem verborgenen Fach.«
Reginalds Augen glühten ermunternd. Er dachte also, dass ich auf dem richtigen Weg war, und ich fuhr fort.
»Catchpole erzählte mir, dass einige der Zimmer noch nicht fertiggestellt sind. Er sagte …« –
ich runzelte die Stirn, während ich angestrengt versuchte, mir seine Worte in Erinnerung zu rufen –, »… dass ein Teil der Einrichtung ziemlich derb sei. Was wohl bedeutet, dass einige Möbelstücke der Abtei nicht restauriert oder neu lackiert wurden, sondern noch immer in ihrem Urzustand sind, also so, wie Lucasta sie hinterlassen hatte.«
Während mein Plan in meinem Geist Gestalt annahm, zog ich die Beine an und stützte das Kinn auf die Knie. Ich müsste also den Raum ausfindig machen, in dem die alten, schäbigen Möbel aufbewahrt wurden, und dort mit der Suche beginnen. Wenn ich nicht fündig wurde, müsste ich die Möbel in den bereits renovierten Zimmern durchstöbern. Es wäre keine leichte Aufgabe, aber ganz so aussichtslos war sie auch wieder nicht.
»Danke für deine Hilfe, Reg.« Ich streckte die Hand aus und schüttelte meinem Hasen die Pfote. »Die Nadel ist zwar ziemlich dünn, aber der Heuhaufen ist nicht ganz so gewaltig, wie ich zunächst befürchtet habe.«
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr.
Es war halb elf. Wenn ich mit meiner Suche bis zum nächsten Morgen wartete, würde ich mir tausend Ausreden ausdenken müssen, um die Gelegenheit zu haben, allein durch das Haus zu streifen. Es wäre sehr viel besser, gleich mit der Suche zu beginnen, solange Catchpole in seinem Cottage war und meine beiden Hausgenossen friedlich in ihren Betten schliefen.
Ich drehte den Docht in der Petroleumlampe herunter, um den Eindruck zu erwecken, dass ich ins Bett gegangen sei, dann nahm ich die kleine Taschenlampe aus der Tasche meiner Gabardinehose und ging auf Zehenspitzen auf den Flur hinaus. Mein erstes Ziel, so entschied ich, war die Bibliothek. Ehe ich meine Suche nach schäbigen Möbeln begann, wollte ich mich noch mal am Anblick des Heiligen Grals weiden.
Mit dem schwachen Schein der Taschenlampe leuchtete ich die Bibliothek aus, als ich die Schwelle betrat. Noch barg der Raum die restliche Wärme eines gemütlichen Kaminfeuers, das hier wenige Stunden zuvor gebrannt hatte. Doch die von Jamie aufgehäufte Kohle war nunmehr zu kirschgroßen glimmenden Kohlestückchen zerglüht, sodass die Glut nur noch einen schwachen Lichtschein warf. Wieder wurde mir die vollkommene Stille in der Abtei bewusst, die tief in ihrem verborgenen Tal dräute, eingehüllt in einen dichten Mantel aus Schnee. Sogar die schwatzhaften Pilger in dem Canterbury-Mosaik machten einen demütigen Eindruck, so als hätten sie vereinbart, sich nicht länger Geschichten zu erzählen und für die Nacht Ruhe zu wahren. Einen Moment lang hielt ich inne, um ihre stille Schönheit zu betrachten, dann richtete ich die Taschenlampe auf den Tisch neben dem Sessel, in dem Jamie gesessen hatte. Augenblicklich fiel mir auf, dass das Album nicht mehr an dem Platz lag, an den Wendy es die Nacht zuvor gelegt hatte.
Ich sah auf den anderen Tischen in der Bibliothek nach und ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über die Buchregale schweifen. Doch das Album war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte es Jamie an seinen Platz im Regal zurückgestellt.
Wenn dem so war, dann würde ich keine
Schwierigkeiten haben, es zu finden. Ich mochte keinen blassen Schimmer davon haben, wie viktorianische Herde funktionierten, aber mit Büchern kannte ich mich aus.
Zuerst suchte ich die Regale ab, die Jamie und ich inspiziert hatten, dann wandte ich mich einem verglasten Bücherschrank zu, den wir noch nicht geöffnet hatten. In diesem Schrank befanden sich ausschließlich Fotoalben. Alle waren in das gleiche kostbare Maroquin gebunden, und ihre Rücken waren mit den gleichen feinen Etiketten versehen wie das Album mit den Fotos von dem Ball zu Ehren des Kronjubiläums. Die feine Handschrift auf den Etiketten offenbarte das Datum und den Inhalt der darin enthaltenen Fotos: Familienpicknicks, Taufen, Partys, Bälle, Beerdigungsprozessionen, Geburtstage und Feierlichkeiten zu patriotischen Anlässen. Den Etiketten nach zu schließen enthielten die Alben eine faszinierende Bildergeschichte eines Familienlebens im viktorianischen und edwardianischen England. Nichts hätte ich lieber getan, als den Rest der Nacht damit zu verbringen, längst vergessene Zeiten zu ergründen, die in diesen alten Fotos eingefangen waren.
Seufzend musste ich allerdings feststellen, dass das Kronjubiläumsalbum verschwunden war.
Auf einem Regal gähnte eine Lücke, die einzige in der Albensammlung – wohl der Platz, an dem es hätte stehen sollen. Ich öffnete die Glastüren und beugte mich zu dem Platz hinab, um sicherzustellen, dass das Album nicht nach hinten an die Wand gerutscht war. Aber es war nicht da.
Als ich die Glastüren wieder verschloss, spiegelte sich der Schein der Taschenlampe in meinen Augen. Ich blinzelte und fühlte mich einen Moment lang ärgerlich an Wendys zyklopenhaftes Grubenlicht erinnert. Plötzlich hörte ich auf zu blinzeln.
»Wendy«, sagte ich laut und starrte in die gesprenkelte Dunkelheit des Raums, während all meine vagen Vermutungen, die ich von mir weggeschoben hatte, wieder in mein Bewusstsein strömten.
Hatte Wendy das Album mitgenommen? Die Frage schien zunächst absurd, hatte sie doch behauptet, dass sie alte Fotografien abstoßend finde. »Alte Fotografien verursachen mir eine Gänsehaut«, ja, so hatte sie gesagt, aber das könnte sie auch behauptet haben, um Desinteresse zu heucheln.
Hatte sie das Jubiläumsalbum bewusst links liegen lassen, um die Bedeutung herunterzuspielen, die es in Wahrheit für sie hatte? Um später, als Jamie und ich auf unseren Zimmern waren, in die Bibliothek zurückzukommen und es sich zu schnappen? Doch warum wollte sie die Fotos allein betrachten? Warum mochte das Album eine solche Bedeutung für sie haben, es sei denn, sie wusste von der Pfauen-Parure?
»Aber wie um alles in der Welt kann sie über den Schmuck Bescheid wissen?«, murmelte ich leise vor mich hin, während ich auf den Orientteppich vor dem Kamin trat, um mich in der schwachen Wärme der ersterbenden Glut etwas aufzuwärmen.
Da ich mir sicher war, dass Tante Dimity nicht mit Wendy kommunizierte, konnte ich davon ausgehen, dass Wendy ihre Information von einer konventionelleren Quelle bezogen hatte.
Aber wer, außer Tante Dimity, war in die Geschichte von der angeblich gestohlenen Pfauen-Parure eingeweiht? Nicht einmal Catchpole wusste offensichtlich davon. In Gedanken ließ ich das Gespräch nochmals abspulen, das Wendy und ich in der vergangenen Nacht in der Bibliothek führten, und das Räderwerk der Logik begann sich zu drehen.
Im Verlauf unseres gestelzten Tête-à-Tête hatte Wendy von ihrem Vater gesprochen; er sei ein Scharfschütze gewesen, hatte sie nebenbei fallen lassen. Und ein Scharfschütze war eine militärische Bezeichnung. Was, wenn Wendys Vater Soldat gewesen war, fragte ich mich, und zwar nicht irgendein Soldat, sondern einer der verwundeten Amerikaner, die Lucasta ungerechterweise des Diebstahls bezichtigt hatte? Selbstverständlich hätte er seiner Tochter gegenüber seine Unschuld beteuert. Er hätte ihr erklärt, dass niemand den märchenhaften Schmuck geraubt habe; vielleicht hätte er ihr die beleidigenden Briefe gezeigt, die Lucasta ihm nach dem Krieg geschickt hatte. Und Jahre später würde die kluge und ob des Unrechts, das ihrem Vater angetan wurde, verbitterte Tochter »durch Zufall« auf das so gut wie unbewohnte Ladythorne Abbey stoßen. Ausgestattet mit dem nötigen Werkzeug, um in das Haus einzubrechen, und mit dem Ziel, sich an der Frau zu rächen, die ihren Vater so übel verleumdet und mit ihren Vorwürfen gequält hatte.
Der Schneesturm jedoch musste ihre Pläne durchkreuzt haben. Unmöglich konnte Wendy mit der Ankunft zweier wirklich vom Weg abgekommener Wanderer gerechnet haben, die Zuflucht auf Ladythorne Abbey suchten. Ich war mir sicher, dass Wendy, hätte sie nicht Jamie und mich am Hals gehabt, mit Catchpole kurzen Prozess gemacht hätte, indem sie ihm eins mit dem Stemmeisen übergezogen hätte.
Ich schlug mir mit der flachen Hand an die Stirn, als ich mir wieder die jungfräuliche Schneedecke ins Gedächtnis rief, die die Treppe zum Haupteingang bedeckte. Jetzt verstand ich, warum dort keine Fußspuren gewesen waren.
Wendy hatte mich angelogen, als sie mir erzählte, sie hätte es zuerst an der Vordertür versucht.
Von Anfang an hatte sie vorgehabt, durch die Hintertür ins Haus einzudringen, heimlich wie ein Dieb.
Auch ihre Feindseligkeit gegenüber der verstorbenen Lucasta machte auf einmal einen Sinn, ebenso wie ihre Lüge über die zusätzlichen Decken, nach denen sie gesucht haben wollte. Jetzt war ich überzeugt, dass sie nach etwas sehr viel Wertvollerem und weitaus Rarerem gesucht hatte als nach antiken Quilts oder einem Federbett.
Hätte der Deckel der Wäschetruhe sie nicht verraten, hätte sie ungestört weiter herumschnüffeln und sich sicher sein können, dass niemand sie ihres heuchlerischen Spiels verdächtigte – niemand außer mir, und – Ehre, wem Ehre gebührt
– Catchpole.
Insgeheim hatte ich ihr auch die Behauptung nicht abgenommen, dass sie den ganzen Tag auf ihrem Zimmer blieb, um eine neue Wanderroute auszuarbeiten. Stattdessen hatte sie sich das Gebäude von einem Ende zum anderen vorgenommen, auf der Suche nach versteckten Diamanten.
»Ich wusste, dass sie etwas im Schilde führt.«
Ich stampfte mit dem Fuß auf, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, ehe ich herumwirbelte und fluchtartig die Bibliothek verließ. Wie Catchpole so weise orakelt hatte: Ein in die Enge getriebenes Raubtier konnte gefährlich sein. Es wäre dumm, das zu versuchen. Wenn ich Wendy davon abhalten wollte, die Pfauen-Parure in ihren Rucksack zu stopfen, müsste ich auf Jamies Hilfe zurückgreifen.
Ein matter Schein goldenen Lichts bildete sich unter der Tür zu Jamies Zimmer ab, so als wäre sein Feuer bereits heruntergebrannt, während er eingeschlafen war. Flüchtig überkam mich ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, ihn aufzuwecken, ich schob ihn aber rasch beiseite und klopfte an die Tür. Dass ich eine schlafende Wendy in ihrem Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs aufwecken könnte, darum machte ich mir keine Sorgen, denn ich war mir ziemlich sicher, dass sie nicht dort war. Zweifelsohne war sie um diese Uhrzeit dabei, im Gebäude herumzuschnüffeln, mit ihrem Grubenlicht und dem Stemmeisen ausgerüstet, auf der Suche nach der famosen Parure.
»Jamie«, sagte ich in eindringlichem Flüsterton, »Jamie, bist du noch auf? Mach die Tür auf, bitte.«
Ich wollte gerade ein zweites Mal anklopfen, als die Tür aufschwang und Jamie mit zerzausten Haaren, verschlafenen Augen und mit nichts anderem als einer Thermo-Unterhose bekleidet vor mir stand.
»Lori?«, fragte er. »Was ist los? Brauchst du eine Decke?«
»Nein«, sagte ich, »ich brauche dich. Kann ich hereinkommen?«
Jamie trat zur Seite, und ich schlüpfte rasch in sein Zimmer, das ebenso männlich wirkte wie meines feminin. Ein Paar muskulöser, bronzener Pferde flankierte die Ebenholzuhr, die auf dem Kaminsims aus Eichenholz thronte, und die Wände waren bedeckt mit einer Seidentapete, die in einem überwältigenden Mitternachtsblau gehalten war, das im schwindenden Feuerschein schimmerte wie die Oberfläche eines von Mondlicht beschienenen Pools. Das reich mit Schnitzereien versehene Himmelbett hatte einen Himmel aus blaurotem Schottenstoff, der farblich auf die zerknitterte Steppdecke und die roten Seidenlaken abgestimmt war. Vor dem Kamin bildeten ein Armlehnsessel mit Schottenmuster und eine passende Ottomane zusammen mit einem runden Walnusstisch eine gemütliche Sitzgruppe. Die zwei hohen Fenster gegenüber der Tür flankierten einen geräumigen Rolltop-Schreibtisch und einen Drehstuhl, der so aussah, als stamme er geradewegs aus dem viktorianischen Kontor von Grundy DeClerke.
Jamies Lampe, deren Docht heruntergedreht war, stand auf dem Schreibtisch, auf einer Ecke eines großen rechteckigen Papierbogens, den sie auf diese Weise auseinandergefaltet hielt. Wieder überkam mich ein Schuldgefühl, ihn aufgeweckt zu haben, als mein Blick auf seine Jeans und den dunkelblauen Pullover fiel, die auf einem Haufen am Fuß seines Bettes lagen. Er war offensichtlich zu müde gewesen, die Kleidungsstücke ordentlich zusammenzulegen, ehe er in die verführerisch weichen roten Seidenlaken schlüpfte.
»Würde es dir etwas ausmachen, deinen Pullover anzuziehen?«, fragte ich, als ich mich zu ihm umdrehte. Ich wollte mich auf mein Anliegen konzentrieren, doch Jamies nackter Oberkörper, der sich schimmernd von der blauen Seide abhob, lenkte mich ab.
Er rieb sich mit den Knöcheln seiner Hand die Augen und neigte dann den Kopf zur Seite. »Du willst, dass ich mich anziehe? Verzeih mir, aber ich hatte eher den Eindruck, dass du wolltest, dass ich mich ausziehe.«
»Das war ein Trugschluss.« Energisch schüttelte ich den Kopf und trat rasch einen Schritt zurück, ermahnte mich aber, nicht unhöflich zu sein. »Nicht dass es nicht … Das heißt nicht, dass du abstoßend wärest oder etwas in der Art.
Um ehrlich zu sein, finde ich dich schrecklich unabstoßend, aber wie auch immer, als ich sagte, dass ich dich brauche, meinte ich es nicht in diesem Sinn.« Ich hielt inne, um Atem zu schöpfen, und machte dann eine Handbewegung zu dem Kleiderberg. »Im Grunde genommen wäre es gut, wenn du alle Kleider anziehen würdest. Ich muss dir eine ziemlich lange Geschichte erzählen, und es wäre furchtbar, wenn du dich dabei erkälten würdest.«
Während meines nur halbwegs schlüssigen Gestammels war Jamies Lächeln zu einem Grinsen geworden, und offensichtlich hörte er so etwas wie ein Kompliment heraus. Schließlich nickte er einfach nur und ging auf seinen Kleiderberg zu.
Während Jamie sich ankleidete, beschäftigte ich mich damit, dass ich Kohlen nachlegte und darüber nachdachte, wie ich ihn mit den Fakten bekannt machen konnte, ohne ihm zu verraten, aus welcher Quelle sie stammten. Ich hatte bereits beschlossen, Tante Dimity durch Bill zu ersetzen, und als Jamie angezogen war, war ich ausreichend vorbereitet, mit meiner Geschichte auszupacken, wenngleich nicht mit der ganzen.
Ich setzte mich auf die Ottomane und bedeutete ihm, es sich in dem Armlehnsessel bequem zu machen. Er setzte sich und faltete die Hände im Schoß, entspannt und erwartungsvoll zugleich.
Wenn er erstaunt war, mitten in der Nacht von einer Frau mit flackerndem Blick aus dem Schlaf gerissen zu werden, dann zeigte er es nicht. Vielleicht, so kam mir in den Sinn, war es ihm schon des Öfteren passiert, sodass er bereits daran gewöhnt war.
»Als ich auf meinem Zimmer war, hat mein Mann angerufen«, begann ich meine Geschichte zu erzählen und folgte meinem spontanen inneren Drehbuch. »Offensichtlich kam Tessa Gibbs, als sie Ladythorne erworben hatte, in den Besitz einer Schachtel, die private Dokumente von Lucasta DeClerke enthielt. Vor ein paar Wochen schickte sie die Unterlagen Bill, damit er prüfte, ob sie irgendwelche juristische Bedeutung hätten.
Heute Abend ging er sie durch und entdeckte etwas äußerst Interessantes. Du erinnerst dich an das Fotoalbum, das du in der Bibliothek entdeckt hast?«
Ohne mich zu unterbrechen, hörte Jamie mir zu, während ich ihm eilig berichtete, was es mit der Geschichte der Pfauen-Parure auf sich hatte und welchen Aufruhr ihr angeblicher Diebstahl verursachte. Schließlich weihte ich ihn in meinen Verdacht ein – verkleidet als Bills Verdacht –, dass der glorreiche Schmuck niemals gestohlen wurde und stattdessen, im Gegensatz zu Lucasta DeClerkes Behauptung, irgendwo in der Abtei versteckt war. Erst nachdem ich mit meiner Vermutung endete, dass Wendy hier war, um ihren zu Unrecht beschuldigten Vater zu rächen, ergriff er das Wort.
»Du stellst da ziemlich viele Vermutungen auf, Lori.«
»Aber sie ergeben Sinn«, beharrte ich.
»Wirklich?« Jamie stand auf und ging zum Schreibtisch hinüber. Als er zurückkam, hatte er das von mir gesuchte Album in der Hand. » Ich habe es aus der Bibliothek mitgenommen. Die Fotos fand ich so fesselnd und wollte sie mir nochmals in Ruhe ansehen.« Er setzte sich wieder in den Armlehnsessel und reichte mir das Album.
»Und obwohl ich es hasse, jemanden belehren zu wollen, so ist ein Scharfschütze nicht ausschließlich ein militärischer Ausdruck. Jeder, der ein guter Schütze ist, kann als Scharfschütze bezeichnet werden. Vielleicht ist Wendys Vater Jäger.«
»Also hat Wendy das Album nicht genommen, und wir haben keine Veranlassung anzunehmen, dass ihr Vater ein Soldat war.« Ich verschränkte die Arme und sagte unglücklich: »Und schon wieder tust du es, Jamie.«
»Was denn?«
Ich legte das schwere Album auf den Boden und sah ihn vorwurfsvoll an. »Du schaffst es, dass ich meinen Instinkten nicht mehr trauen kann.«
»Was, wenn du ihnen wirklich nicht trauen kannst?« Jamie lehnte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf seine Knie. »Sag mir ganz ehrlich: Magst du Wendy Walker?«
»Nicht besonders«, gab ich zu. »Sie gibt mir das Gefühl, dass ich dumm bin und hilflos und gefühlsduselig, außerdem hat sie ziemlich unschöne Dinge über Lucasta gesagt, aber darum geht es hier nicht, Jamie. Ich kann durchaus ein Vorurteil von einer logischen Schlussfolgerung unterscheiden. Ich glaube ganz ehrlich, dass Wendy Walker nach Ladythorne kam, um die Pfauen-Parure zu stehlen.«
»Ich weiß, dass du das glaubst, Lori, aber …«
»Okay«, unterbrach ich ihn und bedeutete ihm zu schweigen, »lass uns eine Abmachung treffen. Wir werden jetzt gemeinsam zu Wendys Zimmer gehen. Wenn sie dort ist, gebe ich zu, dass ich mich in ihr getäuscht habe. Wenn sie nicht auf ihrem Zimmer ist, wirst du zugeben, dass ich womöglich recht habe.«
Ich wollte mich gerade von meiner Ottomane erheben, als Jamie mir eine Hand auf die Schulter legte und mich davon abhielt.
»Nein.« Seine Stimme war so sanft wie seine Berührung, aber dennoch fest. »Ich bin entzückt über deine Gesellschaft, Lori, aber ich bezweifle, dass Wendy ebenso fühlt. Sie hat ihre Nachtruhe verdient. Also werden wir sie nicht stören.«
»Aber Jamie …«
»Wir werden morgen früh mit ihr reden«, schlug er vor. »Was hältst du davon, wenn du in der Zwischenzeit in dein eigenes Bett zurückgehst?« Seine Hände glitten langsam meine Arme hinab, und seine Augen fingen abermals Feuer.
»Es sei denn natürlich, du hast es dir anders überlegt und willst meines mit mir teilen.«
»Ich habe mir gar nichts anders überlegt.« Ich schüttelte seine Hände ab, stand auf und ging zum Fenster zur Rechten des Schreibtischs, um in die Dunkelheit hinauszustarren. Meine Enttäuschung war so tief, dass die Aussicht, die Nacht in jenen purpurroten Laken mit einem Mann zu verbringen, den ich unglaublich unabstoßend fand, nicht im Entferntesten verlockend für mich war. »Wenn du mir nicht helfen willst, Wendy zu beobachten, willst du mir dann wenigstens helfen, die Parure zu finden, ehe sie es tut? Zu zweit können wir mehr ausrichten als ich allein.«
Jamies Gesicht, das sich in der dunklen Fensterscheibe spiegelte, schien seltsam körperlos durch die Luft zu schweben, als er sich aus seinem Armsessel erhob und sich hinter mich stellte.
»Natürlich werde ich dir helfen, Lori.« Er war so nah, dass sein warmer Atem meine Locken bewegte. »Ich werde dir so gut helfen, wie ich kann. Sollen wir gleich hier in diesem Zimmer anfangen? Am Kopfteil meines Betts gibt es eine aufwendige Holzschnitzerei.« Mit der Fingerspitze zeichnete er einen Schnörkel auf meinen Nacken. »Lass uns schauen, ob wir nicht ein verstecktes Fach dahinter finden.«
Ich konnte nichts dagegen tun, dass ich zitterte, und kaum ließ die Enttäuschung nach, spürte ich auch schon wieder den Lockruf der Verführung. Ich räusperte mich und trat entschlossen, wenngleich auch ein wenig schwankend zum Schreibtisch. Jamie folgte mir, und einen Augenblick lang war die Versuchung, mich in seine Arme zurückzulehnen, den Kopf an seine Wange zu legen und seinen weichen Bart an meinem Hals zu spüren, so stark, dass ich kaum atmen konnte.
»Übernimm du inzwischen … das Kopfteil«, brachte ich hervor und versuchte vergeblich, möglichst entschlossen zu klingen. »Ich werde mit dem, ähm, dem Schreibtisch anfangen. Huch, so viele … Postfächer …«
Mit einem Mal wurde mein wirrer Blick von dem ausgebreiteten Papierbogen gefangen genommen, den ich bei meinem Eintreten bemerkt hatte. Es war ein Grundriss, auf feinem Leinenpapier gezeichnet, und die altmodische Schrift darauf kam mir merkwürdig vertraut vor. Ich lehnte mich vor, um die Zeichnung näher zu betrachten, und spürte, wie sich meine Arme mit einer Gänsehaut überzogen. Die kleine, präzise Handschrift war identisch mit den Bildlegenden im Fotoalbum.
»Ladythorne Abbey«, las ich laut. »Bedienstetenräume.«
»Lori?« Jamies Stimme schien von weit her zu kommen. »Ich kann erklären …«
Langsam richtete ich mich auf, während tausend Gedanken in meinem Kopf herumwirbelten, und als die Zimmertür aufging, drehte ich mich erschrocken herum.
Wendy Walker kam rückwärts ins Zimmer, während sie einen verstohlenen Blick nach beiden Seiten des Ganges warf. Sie trug wieder ihre Grubenlampe auf der Stirn und hatte ein in braunes Packpapier gewickeltes Paket unter dem Arm. Nachdem sie leise die Tür geschlossen hatte, knipste sie die Grubenlampe aus, nahm das Paket in beide Hände und sagte: »Die Grundrisse stimmen, Jamie. Abgesehen vom Dachgeschoss ist nichts …«
Als sie mich bemerkte, brach sie ab, und ihr Blick wanderte zu Jamie, während sie sich wieder rückwärts der Tür näherte. »Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass ihr zwei hier … ich sehe schon, ihr wollt allein sein, also gehe ich …«
»Sie gehen nirgendwo hin!«, schrie ich.
Ich wich Jamies Händen aus, die sich nach mir ausstreckten, und schoss auf Wendy zu, um ihr das Paket zu entwenden. Wendy wich mir mit einer Drehbewegung aus, dabei entglitt ihr das Paket und flog in hohem Bogen durch das Zimmer. Mit einem dumpfen Knall landete es auf dem Läufer vor dem Kamin, und die Verpackung platzte auf.
Ich schnappte nach Luft, und die Zeit schien stillzustehen, als ein Wasserfall aus Diamanten sich über den dunkelblauen Läufer ergoss und funkelnd im tanzenden Feuerschein liegen blieb.