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ANNELISE NAHM MEINE Ankündigung, in den nächsten Tagen eine Wanderung zu unternehmen, gelassen auf. Und Bills denkwürdiger Kommentar zu der mir von Emma verordneten Kur gegen meinen Weihnachtskater war, dass er wünschte, er wäre selbst darauf gekommen.

»Geh nur«, sagte er beim Abendessen. »Nutze das gute Wetter aus, solange es noch anhält. Die frische Luft wird dir wieder den gewohnten Schwung verleihen. Aber versprich mir, dass du dein Mobiltelefon mitnimmst – für alle Fälle.«

»Für den Fall, dass ich mich hoffnungslos verirre?«, sagte ich und hob die Augenbrauen.

Die Antwort meines Mannes fiel eher galant denn aufrichtig aus. »Für den Fall, dass sich dir ein so grandioser Anblick bietet, dass du nicht umhinkannst, ihn mir an Ort und Stelle zu beschreiben.«

»Natürlich nehme ich mein Handy mit«, versprach ich und revanchierte mich für seine Liebenswürdigkeit mit einem Kuss. »Oder möchtest du gern mitkommen?«

»Nichts lieber als das, Lori, aber ich kann nicht. Du weißt ja, wie viel Arbeit während der Weihnachtferien liegen bleibt. Seit wir aus Boston zurück sind, habe ich noch nicht einen Quadratzentimeter meiner Schreibtischplatte zu Gesicht bekommen.«

Ich spürte einen Stich der Enttäuschung, bemühte mich jedoch, mir nichts anmerken zu lassen. Jetzt konnte ich keinen Rückzieher mehr machen – Emma hatte bereits meinen Rucksack mit allem Nötigen gepackt, und auch das Lunchpaket war schon fertig. Abgesehen davon gefiel Bill mein origineller Plan so sehr, dass ich es einfach nicht über mich brachte, ihm einzugestehen, dass ich mir meiner Sache doch nicht so sicher war.

Wollte ich wirklich einen ganzen Tag allein im Wald verbringen? Im Gegensatz zu den letzten Monaten, in denen ich kaum eine Minute allein gewesen war? Würde ich es ertragen, fünf, sechs Stunden allein zu sein, von ein paar herumspringenden Lämmern abgesehen, ohne mit jemandem reden zu können? Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als würden die Menschen, die mir am nächsten standen, mich mir nichts, dir nichts vor die Tür setzen.

»Lori«, sagte Bill, dem offensichtlich nicht entgangen war, dass ich die Stirn in Falten gelegt hatte, »du musst nicht gehen, wenn du nicht willst.«

»Ich will aber. Ich weiß nur nicht, ob ich allein wandern will.«

»Nimm doch Tante Dimity mit«, schlug er vor. »Mit ihr kannst du dich unterhalten, wenn du dich gar zu einsam fühlst.«

»Was für eine gute Idee!« Die Falten auf meiner Stirn verschwanden. »Mit der Natur Zwiesprache zu halten ist doch ganz nach ihrem Geschmack.«

»Und Reginald kannst du auch mitnehmen«, fügte Bill hinzu. »Setz ihn in deinen Rucksack und lass ihn den Kopf rausstrecken; Tante Dimity nimmt ohnehin nicht viel Platz ein. Außerdem wiegen beide nicht viel, und Emma muss auch das Lunchpaket nicht aufstocken.«

»Sie werden wunderbare Wanderkameraden sein«, stimmte ich ihm zu, während ich meinem Mann strahlend die Bratkartoffeln reichte.

Hätte ein Fremder unsere Unterhaltung belauscht, so hätte er uns womöglich für geistig umnachtet gehalten. Warum konnte Reginald nicht auf seinen zwei Füßen gehen?, würde er sich fragen. Und wie um Himmels willen können sie die naturverbundene Tante Dimity in einen Rucksack zwängen?

Zweifelsohne wäre der Fremde erleichtert gewesen, zu hören, dass Reginald ein Stofftier war, das ich seit meiner Kindheit besaß, ein kleiner, rosa Flanellhase, der absolut zufrieden damit war, die vorbeiziehende Landschaft von meinem Rucksack aus zu betrachten. Hätten wir dem Fremden hingegen erklären wollen, warum Tante Dimity so leicht zu transportieren war, hätten wir ihn in seiner Befürchtung, dass er es mit zwei Verrückten zu tun hatte, nur noch bestärkt.

Wenn es um Tante Dimity ging, so war jeder Versuch, ihre Existenz erklären zu wollen, äußerst heikel. Als Kind hatte ich sie als Hauptfigur in einer Serie von Gutenachtgeschichten kennengelernt, die meine Mutter sich für mich ausgedacht hatte. Als ich viele Jahre später erfuhr, dass die fiktionale Heldin meiner Mutter auf einer ganz und gar nicht fiktionalen Britin namens Dimity Westwood basierte, war ich doch sehr erstaunt.

Meine Mutter war Dimity Westwood in London begegnet, wo beide Frauen ihrem jeweiligen Heimatland im Zweiten Weltkrieg gedient hatten. Schnell waren sie während jener düsteren Jahre Freundinnen geworden, und nach dem Krieg hatten sie den Kontakt aufrechterhalten, indem sie sich ausführliche Briefe schrieben, die zu Hunderten über den Atlantik hin und her flogen.

Erst nachdem Dimity Westwood gestorben war, erfuhr ich von dieser Freundschaft und dass sie mir darüber hinaus nicht nur diese wertvolle Korrespondenz vermacht hatte, sondern auch ein honigfarbenes Cottage in den Cotswolds, ein ansehnliches Vermögen sowie ein merkwürdiges Notizbuch, das in dunkelblaues Leder gebunden war.

Durch dieses Notizbuch lernte ich die liebe Freundin meiner Mutter allmählich kennen. Sobald ich das blaue Büchlein aufschlug, füllten sich die weißen Seiten mit Dimitys anmutiger Schrift, einer altmodisch gestochenen Handschrift, wie man sie seinerzeit in der Dorfschule gelehrt hatte, als Automobile noch ein seltener und wunderlicher Anblick waren. Zwar wäre ich das erste Mal, als Dimitys Worte auf den Seiten erschienen, fast in Ohnmacht gefallen, aber seither hatte ich mich längst an ihre seltsame Gegenwart in meinem Leben gewöhnt.

Aber niemals würde ich auch nur den Versuch machen, diesen Umstand einem Fremden zu erklären.

»Nach dem Abendessen werde ich Reginald und das Notizbuch aus dem Büro holen«, sagte ich und füllte Bills Weinglas. »Außerdem werde ich den Akku des Mobiltelefons über Nacht aufladen, sodass ich morgen früh startklar bin.«

»Bravo.« Bill hob das Glas, um mit mir anzustoßen. »Auf die große Entdeckerin. Auf dass deine Wanderschuhe stets leicht bleiben mögen.«

Ich lachte und stieß mit ihm an. Jetzt war ich zuversichtlich, dass meine Wanderung genauso angenehm werden würde, wie jedermann zu erwarten schien.

Wie versprochen, kam Emma bei Morgengrauen zu mir, um mich zum Ausgangspunkt meiner Wanderung zu bringen. Da ich ein Morgenmuffel bin, achtete ich nicht auf die Kurven und Abzweigungen, die sie fuhr, sondern gönnte mir ein zusätzliches Nickerchen. Als wir angekommen waren, weckte Emma mich.

»Ich weiß wirklich nicht, wie du es schaffst, an einem so schönen Morgen wieder einzuschlafen«, sagte sie. »Du bist ein hoffnungsloser Fall.«

»Ja, es ist tragisch, aber wahr«, stimmte ich gähnend zu.

»Hör mal, Lori, ich will dich nicht unter Druck setzen, also wenn du dich nicht in der Lage fühlst …«

»Doch«, fiel ich ihr ins Wort, »ich werde das schon schaffen.« Ich drehte mich um und nahm den Rucksack von der hinteren Sitzbank.

»Wenn du meinst.« Emma sah mich zweifelnd an. »Aber um Himmels willen bleib auf dem vorgesehenen Weg. Wenn du das Ziel erreicht hast, werde ich auf dich warten.«

Ich stieg aus dem Wagen und winkte, bis Emma aus meinem Blickfeld verschwunden war.

Es war ein wundervoller Tag. Die Morgenluft war frisch, aber nicht eisig, und nur ein leichtes Lüftchen bewegte die dunklen Locken, die unter meiner Zipfelmütze hervorschauten. Hoch oben am stahlblauen Himmel hing ein zerrissener Wolkenschleier, und als einziges Geräusch war das Rascheln vertrockneter Blätter zu hören, die sich noch an winterlich karge Äste klammerten.

Ein paar Meter entfernt zu meiner Rechten stand ein Wegweiser mit einem bunten Pfeil, der den Beginn des Wanderwegs markierte. Ich sah, dass ich über einen Zaunübertritt klettern musste, um den Weg zu erreichen, aber ich hatte nichts gegen ein wenig Frühgymnastik einzuwenden. Die frische Luft hatte meine Schläfrigkeit vertrieben. Ich fühlte mich wachsam, lebendig und bereit für alle Schandtaten.

»Emma wäre zufrieden mit mir«, versicherte ich mir. »Ihre Wanderkur scheint bereits Wirkung zu zeigen – dabei habe ich noch nicht einmal einen Schritt getan.« Grinsend streifte ich mir die gepolsterten Riemen meines Rucksacks über die Schultern, rückte ihn in eine bequeme Position, stopfte meine Wollhandschuhe in die Taschen meiner leichten Daunenjacke und zog den Reißverschluss auf. Es war so mild, dass mein cremefarbener Baumwollpullover und meine Jeans ausreichend warm sein würden, wenn ich mich erst einmal bewegte.

»Halt dich gut fest, Reg«, sagte ich und fasste nach hinten, um die Hasenohren zu kraulen. »Da vorn ist ein Zaun, der erklommen werden will.«

Ohne Pause wanderte ich drei Stunden. Der Weg führte an einigen Weiden vorbei, auf denen zu meiner großen Enttäuschung weit und breit keine Schafe zu sehen waren, ehe er langsam in ein bewaldetes Tal hinabführte. Als ich die ordentlich mit Hecken umgebenen Weiden hinter mir ließ, erfreute ich mich an der wohlgeordneten Sauberkeit, welche die englische Landschaft auszeichnet.

Im Verlauf der vergangenen tausend Jahre war in den Cotswolds jeder Fußbreit Erde irgendwann einmal entweder von Bauern gepflügt, von Schafen abgegrast oder von übermütigen Landschaftsarchitekten umgestaltet worden. Das Ergebnis ist eine kultivierte Landschaft, eine Landschaft, die beruhigend wirkt, und mögen einige sie auch als langweilig und zu sehr gezähmt empfinden, fühlte ich mich in ihr geborgen. Es gibt Menschen, die erst richtig aufblühen, wenn sie am Abgrund von unergründlichen Schluchten balancieren, während sie versuchen, eine Horde Grizzlys in die Flucht zu schlagen, und dann gibt es den Rest – Leute wie mich. Ich hatte kein Bedürfnis danach, in der Dunkelheit einen Pfad durch die Wildnis eines unbekannten Dschungels zu suchen. Ich zog es vor, auf Wegen zu gehen, auf denen Generationen vor mir gegangen waren, wo die Wahrscheinlichkeit, irgendwelchen blutrünstigen Tieren zu begegnen, relativ gering ist. Gut ausgetretene Pfade erlaubten es mir, meinen Tagträumen nachzuhängen.

Andererseits hat man, wenn man seinen Tagträumen nachhängt, nicht gerade die beste Voraussetzung, seinen Pfad zu finden. Als ich anhielt, um einen Blick auf Emmas Karte zu werfen, und bemerkte, dass ich dank des Wandererfluchs – oder vielmehr dank meiner Unaufmerksamkeit – die unübersehbare Abzweigung übersehen hatte, überkam mich ein vertrautes Gefühl des Verdrusses. Statt links abzubiegen und wieder den Anstieg aus dem Tal zu nehmen, war ich immer geradeaus weitergegangen, bis ich die Talsohle erreicht hatte.

Augenblicklich hätte ich kehrtmachen und den Weg zurückgehen müssen, aber die Abenteuerlust hatte mich gepackt. Mich in der Sicherheit meines Mobiltelefons wiegend, ging ich weiter und genoss den dumpfen Laut, den meine Wanderschuhe auf dem harten Boden erzeugten, die Stille der schlafenden Bäume und den gelegentlichen Anblick eines Vogels, der nicht in den wärmeren Süden aufgebrochen war. Ich war so eingenommen von dem physischen Hochgefühl des bloßen Voranschreitens, dass mir die Sturmwolken entgingen, die sich über mir zusammenbrauten. Erst als mich eine daunenweiche Schneeflocke an der Wange streifte, bemerkte ich auch die anderen, die plötzlich wie Distelwolle von einem bleifarbenen Himmel herabschwebten.

»So viel zu Emmas Fähigkeiten, das Wetter vorherzusagen«, murmelte ich und hielt an, um Reginald in den Rucksack zu stopfen. »Willst du wissen, warum es seit Dezember nicht mehr geschneit hat, Reg? Weil der Schnee warten wollte, bis ich auf Wanderschaft ging.« Die schwarzen Augen von Reginald strahlten mich mitleidig an, als ich die Rucksackklappe über seine Ohren zog. »Nun gut«, fügte ich hinzu, während ich den Rucksack wieder schulterte, »vielleicht wird der Wind ihn bald wieder wegblasen.«

Bei dem Wort wegblasen fuhr eine Windböe in die Baumwipfel. Grimmig lachte ich in mich hinein angesichts dieses kleinen Scherzes, den Mutter Natur sich mit mir erlaubte, und zog den Reißverschluss meiner leichten Daunenjacke zu.

Dann machte ich kehrt, um den Anstieg aus dem Tal in Angriff zu nehmen, in der Hoffnung –

auch wenn sie gegen jede Wahrscheinlichkeit war

–, den Weg zurück zu der Abzweigung zu finden, die ich eigentlich hätte nehmen müssen, ehe die Laune der Natur noch launischer wurde.

Etwa zehn Minuten später schlug der

Schneesturm zu. Er schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen und wälzte sich durch das Tal wie eine Schneelawine, sodass die Bäume am Wegesrand nur noch entfernt als graue bizarre Schatten wahrzunehmen waren und der Weg in Windeseile mit einer immer dicker werdenden Schicht Schnee bedeckt wurde. Ein gemeiner Wind blies durch meine Jeans, herumwirbelnde Flocken stachen mir ins Gesicht. Das Geheul des Windes ließ mich nahezu taub werden, die beißenden Schneeflocken machten mich blind – ich fühlte mich vollkommen allein auf der Welt. Es machte keinerlei Sinn, Bill einen Hilferuf zu senden. Was hätte ich ihm sagen sollen – »Ich weiß nicht, wo ich bin, aber bitte komm mich holen«?

Entschlossen streifte ich mir die Wollhandschuhe über und stapfte weiter.

Ich war keine fünfhundert Meter weit gekommen, als eine schneebedeckte Wurzel mich zu Fall brachte und ich einen kleinen steilen Abhang hinabrutschte, wo ich in einem matschigen Haufen abgestorbener Blätter landete. Mit blauen Flecken übersät, erschöpft und äußerst verärgert, rollte ich auf die Knie und stellte fest, dass ich nur um Armeslänge entfernt von einem imposanten, efeuüberwucherten steinernen Torpfosten gelandet war. Zusammen mit dem gegenüberliegenden Pfosten bildete er ein Paar, welches eine schmale Straße einrahmte. Als ich mich aufrappelte, fuhr der Wind in das Efeu, und durch eine Lücke in dem rankenden Grün erkannte ich ein dunkles Quadrat, das sich gegen den blassen Cotswold-Stein des Pfostens abhob.

Ich machte einen Schritt vorwärts, schob das zitternde Efeu beiseite und sah ein bronzenes Schild, auf dem zwei Worte standen.

»Ladythorne Abbey«, flüsterte ich und dankte meinem Schutzengel.

Diese Worte hatte ich zuvor schon auf Emmas Karte gelesen. Dort waren sie in winzigen Buchstaben gedruckt, ein Hinweis darauf, dass Ladythorne Abbey nichts weiter als eine verlassene Ruine war. Aber auch wenn es sich nur um eine Ruine handelte, würde sie wenigstens etwas Schutz vor dem Sturm bieten. Und, was noch wichtiger war, würde ich Bill wenigstens einen Anhaltspunkt liefern können, wo ich mich befand. Ich könnte Bill anrufen und ihm sagen, wo ich war.

Bestärkt durch die Vision von meinem edlen Mann, der auf unserem kanariengelben Range Rover angeritten kam, um mich zu retten, beugte ich den Kopf, um dem Wind zu trotzen, und ging die Allee hinauf, die zu Ladythorne Abbey führte.