SIEBEN

Der Adler glitt mit ihr über die Wälder. Sie wusste nicht, wo sie war. Die Gegend war sanft hügelig, am Horizont, gegen ein diesiges Abendrot, sah sie die Silhouetten von Fabrikschloten und Kühltürmen. Dann ein großes altes Haus, allein an einer breiten Straße im Wald. Der Adler kreiste. Ein Wagen näherte sich. Ein kleines Auto. Sie erkannte es und erschrak: Es war ihr eigenes. Es kam die Straße entlang, wurde langsamer, hielt auf dem lehmigen, leeren Parkplatz neben dem Haus. Die Lichter erloschen, der Motor erstarb, da schoss wie aus dem Nichts eine silberne Limousine heran. Sie hielt dicht neben ihrem Wagen. Ein Mann stieg aus, sie erkannte ihn wieder. Es war der Blonde, der Mörder. Er hielt eine Waffe in der Hand und ging zur Fahrertür. Sie hörte keine Schüsse, aber sie sah Blitze, drei, vier, fünf, sechs.

Dann ließ der Adler sie fallen.

* * *

»Nein, Frau Kindel, das sollten Sie sich wirklich nicht antun«, sagte Bredemaier. »Das sind ja schon über zehn Stunden Fahrt, wenn Sie glatt durchkommen. Und das werden Sie nicht. Fahren Sie gemütlich und übernachten Sie am besten in diesem Hotel. Ich war da schon. Das ist sauber und preiswert.«

Bredemaier gab ihr das zerknitterte Prospekt eines Hotels, das damit warb, nur einen Kilometer von der Autobahn 7 entfernt zu liegen und trotzdem in idyllischer Ruhe. Auf der Rückseite war eine Anfahrtsskizze, die so einfach war, dass sogar Johanna sich zutraute, es zu finden.

Der Kofferraum ihres kleinen Wagens war bis zum oberen Rand der Heckklappe gefüllt, und Severin und Danni stritten sich, ob sein Bass, den er hinter den Beifahrersitz gestellt hatte, ihr auf der Rückbank zu viel Platz nehmen würde oder nicht.

»Kriagn mir da denn noch a Zimmer für heut Nacht?«

»Normalerweise haben die Betten frei um diese Jahreszeit. Aber wenn Sie möchten, ruf ich an und reserviere für Sie.«

Johanna nickte, und er zog sein Handy aus der Manteltasche. Sie schickte die Kinder noch einmal in ihre Zimmer, um zu überprüfen, ob alle Fenster zu und alle Stecker raus waren. Dann ging sie in den Keller und drehte Wasser und Gas ab.

»I bin scho arg aufgregt«, sagte sie, als sie die Haustür verriegelt hatte und wieder beim Wagen stand.

»Genießen Sie es«, sagte Bredemaier. »Nehmen Sie es einfach als kleines Abenteuer.«

»Abenteuer hab i grad gnug ghabt, de letztn Tag«, murmelte Johanna.

»Ich hab Ihnen ein Zimmer in dem Hotel reserviert. Doppelzimmer mit Beistellbett. War das recht?«

»Passt scho.«

»Sie möchten aber bitte bis achtzehn Uhr da sein, das sollten Sie locker schaffen. Und meine Mutter erwartet Sie dann morgen ab Mittag. Sie freut sich auf Sie!«

Johanna stieg ein, überprüfte, ob die Kinder ordentlich angeschnallt waren, dann fuhr sie los.

Sie sah Bredemaier im Rückspiegel winken, bis sie außer Sicht waren.

* * *

»Wollte jemand zu ihm?«, fragte Schwemmer.

»Nur der Herr vom BKA. Aber Sie hatten ja …«

»Sehr gut«, sagte Schwemmer und öffnete die Tür, hinter der Petr Bretcniks Krankenbett stand.

Er war immer noch blass, aber im Vergleich zu gestern schien er das blühende Leben. Aus gleich zwei Infusionsflaschen tropften Flüssigkeiten in eine Kanüle auf seinem linken Handrücken. In Bretcniks Blick lag so etwas wie Dankbarkeit, vor allem aber Vorsicht.

»Geht besser heute«, sagte er.

»Gut.« Schwemmer zog einen Stuhl heran und setzte sich ans Bett.

»Sie wollen wissen, was passiert ist.«

»Ja. Auch wenn ich mir das ein oder andere schon denken kann«, sagte Schwemmer. »Sie haben Professor Zehetgruber erpresst. Gemeinsam mit Siegfried Schieb, Georg Schober und Oliver Speck.«

Bretcnik nickte.

»Wofür haben Sie die drei überhaupt gebraucht? Warum haben Sie das nicht alleine gemacht?«

»War Schibbsies Idee. Ich hab Professor in der Zeitung entdeckt. Zufall. Hab ich Schibbsie und Girgl von dem Stick erzählt.«

»Was ist da drauf?«

Bretcnik zuckte die Achseln und sah weg. »Fotos«, sagte er leise.

Schwemmer verzichtete für den Moment auf Nachfragen. Das Thema würde unangenehm werden und trug im Moment nicht zur Aufklärung bei.

»Und Oliver Speck sollte die Übergabe machen?«, fragte er stattdessen.

»Schibbsie meinte, brauchen wir einen Trottel, der keine Fragen stellt. Hatte keine Ahnung, Spacko. Sollte nur Rucksack holen. Ich sollte aufpassen. Aber was konnt ich aufpassen? Armer Spacko. Tut mir so leid.«

»Und Herr Schieb? Hielt sich brav im Hintergrund?«

»Ja …« Bretcnik schüttelte den Kopf, offenbar über sich selber. »Feiger Hund. Aber immer kommandieren. Hat nichts gemacht. Wollte er haben den Stick. Hab ich ihm gegeben. Was sollte ich damit? Ich wusste, was ist drauf, aber hab ihn nicht gekriegt auf. Hab ich probiert im Internetcafé. Ging nicht. Girgl musste anrufen bei Professor. Halbe Million wollte Schibbsie von ihm. Und er hat tatsächlich gesagt ja. Spacko sollte holen Geld … aber dann …« Er hob die Hand, als schieße er mit einer Pistole. »Bäng! Bäng! Bäng! Servus, Spacko.«

»Aber Sie konnten entkommen.«

»Haben mich nicht gesehen, die Männer. Bin zum Fahrrad und weg. Und dann lag Pistole da. Ihre.« Er sah Schwemmer direkt an. »Hat gerettet mein Leben.«

»Was ist passiert, in der Wohnung?«

»Der Mann kam, mitten in der Nacht. Ich hab gelegen wach, ganze Zeit, vor Angst, mit Pistole in der Hand. Deshalb ich ihn gehört an der Tür, obwohl er war leise. Hab ich mich hinter dem Bett versteckt. Er steht in der Tür, aber Licht geht nicht, Birne nämlich rausgedreht. Hatte ich gesehen in Film. Er sieht mich nicht, aber ich seh ihn. Hab ich geschossen. Dann er schießt, dann wieder ich. Er schießt noch mal, ich auch. Dann er ist tot. Ich Kugel im Bein, aber renn trotzdem weg. Hab Fieber. Und Schmerzen. Versteck ich mich im Wald.«

Wieder schüttelte er den Kopf, als verstünde er immer noch nicht, was ihm da widerfahren war.

»Steht die Wache noch vor der Tür?«, fragte er.

»Ja«, sagte Schwemmer. »Da wird sie auch bleiben, solange Sie hier sind.«

»Wie lange bleibe ich denn?«

»Bis Sie transportfähig sind. Dann verlegen wir Sie ins Gefängniskrankenhaus.«

Bretcnik stieß ein resigniertes Lachen aus.

»Sie waren an einer Erpressung beteiligt. Und Sie haben einen Menschen getötet. Was erwarten Sie?«

»Gefängnis …« Er zuckte die Achseln. »Von mir aus Gefängnis. War ich schon in Slowakei. Aber die bringen mich um, da.«

»Wer?«

»Wenn der hat die zwei Mann, dann er hat noch mehr. Hatt ich nicht gedacht. War ein Fehler. Ein großer Fehler. Hatt ich nicht gedacht, dass er kennt solche Leute.«

»Was hatten Sie denn gedacht?«

Wieder ein Schulterzucken. »Ist irgendein reicher Mann. Ein alter, dreckiger, reicher Mann.«

»Alt und dreckig?«

»Alt und sehr, sehr dreckig«, sagte Petr.

* * *

Der Blonde lehnte sich im Fahrersitz zurück, drehte den Innenspiegel zu sich und fuhr mit den Fingern korrigierend durch seine glatten blonden Haare. Der silberne Mercedes stand seit dreißig Minuten auf einem Parkplatz für Wanderer, nicht weit von der A 7. Im CD-Spieler lief Sibelius’ »Valse Triste«. Er war hierhergefahren, wie man nur auf deutschen Autobahnen fahren konnte. Dreieinhalb Stunden hatte er gebraucht, und nun saß er in seinem Wagen auf diesem Parkplatz und wartete.

Die Sache war komplett aus dem Ruder gelaufen, aber man konnte kaum jemandem die Schuld geben. Vom ersten Tag an, als plötzlich dieser Bulle mit dem Auto im Wald aufgetaucht war, lief alles schief. Dabei hatte es sich nach einem leichten Job angehört. Deloitte hatte den Rucksack als Köder hingestellt, und er hatte den Mann erledigt. Nur dass es kein Mann war, sondern ein pickeliger Teenager. Und dass er nicht alleine war.

Nun war Deloitte tot. Und er war selber schuld. Der Blonde hatte keine Ahnung, was mit Luc los gewesen war in den letzten Tagen. Zuerst hätte er sich fast von dem Bullen erwischen lassen, obwohl er mit der Enduro einfach nur irgendwo ins Gebüsch hätte fahren müssen, um ihn loszuwerden. Und als er in diesen stinkenden Probenkeller eingebrochen war, um das Zeug für die DNS-Spuren zu holen, hatte er es nicht geschafft, ein Feuer zu legen, das auch wirklich brannte. Dass das Ganze dann später in die Luft flog, war das genaue Gegenteil von dem, was man von ihnen erwartete: Unauffälligkeit.

Und am Ende hatte Luc sich von einem halbwüchsigen Stricher umlegen lassen wie irgendein Anfänger. Vielleicht hatte er doch zu viele von diesen kleinen roten Pillen genommen, die er immer dabeihatte.

Wie auch immer … Er schüttelte missmutig den Kopf.

Noch nie war er an einem derartigen Mist beteiligt gewesen. Jedenfalls nicht außerhalb von Kriegsgebieten.

Eigentlich sollte nach alldem eine Extraprämie für ihn drin sein. Aber er machte sich nichts vor. Er konnte froh sein, wenn sie ihm überhaupt noch mal einen Job gaben. Denen war egal, dass er nichts dafürkonnte.

Immerhin würde dies hier das Ende des Jobs sein. Wenn dies erledigt war, konnte er raus aus Deutschland, und das wurde langsam dringend.

Der Junge hatte ihn gesehen. Und die alte Frau kannte sein Gesicht auch, hatte der Bulle gesagt. Er zweifelte lieber nicht daran. Bisher hatte der Bulle immer recht behalten.

Es war nicht gut, wenn jemand sein Gesicht kannte. Denn zum einen war es fast neu – der Professor hatte gute Arbeit geleistet. Und zum anderen war er offiziell seit einem Jahr tot. Ein Umstand, der in seinem Beruf von großem Vorteil war.

Er sah die Landstraße entlang. Der Verkehr war dünn. Von seiner Position aus konnte er sie bis zur Autobahnausfahrt überblicken. Er sah jeden Wagen, der von dort in seine Richtung abbog. Langsam begann es zu dämmern.

Und dann, wie der Bulle es angekündigt hatte, tauchte der winzige Nissan an der Ausfahrt auf. Er blieb an der Haltelinie stehen, als sei sich der Fahrer nicht sicher, ob er hier richtig war. Aber dann bog er ab und kam nun direkt auf den Mercedes zu.

Der Blonde stellte die Musik aus und ließ den Motor an. Gemächlich rollte er zur Ausfahrt des Parkplatzes. Der kleine Wagen fuhr an ihm vorbei. Auf dem Rücksitz sah er ein Mädchen mit blonden Haaren sitzen, und er konnte die Buchstaben GAP auf dem Nummernschild lesen.

Er ließ dem Micra hundert Meter Vorsprung, bevor er folgte.

Wie erwartet, bog der Nissan auf den leeren Parkplatz des alten Waldhotels. Dessen seit Jahren vernagelte Fenster waren von dort aus nicht zu erkennen. Er gab Gas, und der V6-Motor nahm den Auftrag gerne an. Die schwere Limousine machte einen Satz nach vorn. In dem Moment, als die Lichter des kleinen Wagens erloschen, hielt der Mercedes bereits neben ihm. Er griff nach der Glock mit dem Schalldämpfer, die unter einer Zeitung auf dem Beifahrersitz lag.

Dann stieg er aus.

* * *

Schwemmer parkte den Passat vor dem Rathaus und überquerte die Hauptstraße. Die sinkende Sonne leuchtete den Ort in honigfarbenem Frühlingslicht aus.

Bredemaier saß in der hintersten Ecke der kleinen Kneipe zwischen der Nachtbar und dem Irish Pub. Er sah Schwemmer mit melancholischem Lächeln entgegen.

»Sie haben geflunkert«, sagte er, als Schwemmer sich setzte.

»Und Sie haben’s gemerkt.«

Bredemaier hatte ein Helles vor sich stehen. »Trinken Sie was?«

»Keinen Alkohol«, sagte Schwemmer.

»Das ist vernünftig«, sagte Bredemaier ernst. »Sehr vernünftig.« Er nahm einen Schluck Bier und wischte mit dem Handrücken über die Lippen. »Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, aber mit dem Bier hier bei Ihnen werd ich nicht so recht warm.«

»Warum sollte ich das persönlich nehmen?«, fragte Schwemmer. »Ist doch nicht meine Brauerei.«

»Gott sei Dank.« Bredemaier winkte die Bedienung heran. »Haben Sie Maltwhisky?«, fragte er, als die junge Dame an ihrem Tisch stand.

Man sah ihr an, dass sie stolz war, die Frage beantworten zu können. »Wir haben Oban, Laphroaig, Dalwhinnie –«

»Den nächsten nehm ich«, fiel ihr Bredemaier ins Wort.

»Wie jetzt?«

»Welchen hätten Sie denn als nächsten genannt?«

Sie sah ihn unsicher an. »Ich weiß nicht …«

»Geben Sie ihm den teuersten«, sagte Schwemmer. »Und ein Wasser für mich.«

Bredemaier lachte laut, während die Bedienung beleidigt abzog.

»Den teuersten! Der war gut.«

»Nobel geht die Welt zugrunde, nicht wahr, Herr Bredemaier?«

Bredemaiers Lächeln wurde wieder so melancholisch wie zuvor. »Geht sie denn zugrunde?«

»Was haben Sie mit Zehetgruber zu tun?«, fragte Schwemmer.

»Ach, daher weht der Wind …« Bredemaier lachte verstehend. »An dem Herrn Professor habe ich natürlich ein berufliches Interesse.«

»Wieso?«

»Na, immerhin ist Zehetgruber einer der besten plastischen Chirurgen Europas oder sogar weltweit. Das lockt unterschiedliche Kundschaft an. Menschen, die sich verschönern lassen wollen, aber auch Menschen, die aus, sagen wir: geschäftlichen Gründen ein neues Gesicht brauchen. Und für solche interessiert man sich eben, wenn man beim BKA ist.«

»Ich dachte, Sie sind Forscher?«

»Aber Herr Schwemmer! Doch nicht nur. Oder haben Sie das geglaubt?«

»Nein. Nicht wirklich.«

Sie bekamen ihre Getränke. »Der kost aber neun Euro«, sagte die Bedienung, und Bredemaier fragte tatsächlich nicht nach, was für einen er da serviert bekam. Er nippte und sagte: »Schmeckt.«

»Bretcnik und die drei anderen haben Zehetgruber erpresst«, sagte Schwemmer, als die Bedienung wieder weg war.

Bredemaier nickte. »Damit haben sie sich natürlich verhoben.«

»Interessiert Sie nicht, mit was?«

»Na, mit was schon? Bretcnik war Stricher. Da kann man sich doch an zwei Fingern abzählen, was auf dem Stick ist. Wie ist Bretcnik eigentlich da drangekommen?«

»Zehetgruber hat ihn vergessen. Einfach im Hotelzimmer liegen lassen.«

»Was’n Scheiß«, sagte Bredemaier ernst. »So sollten Komödien anfangen. Aber am Ende sterben Menschen.« Er kippte den Whisky mit einer entschlossenen Kopfbewegung hinunter.

»Bretcnik hat den Stick behalten, ohne zu wissen, was er damit anfangen soll. Aber als er seinen Vetter in Burgrain besucht hat, hat er Zehetgrubers Bild in der Zeitung entdeckt. Darauf hat er Schieb und Schober von dem Stick erzählt. Schieb hatte sofort die Idee mit der Erpressung und hat das Kommando übernommen. Georg Schober war mehr zufällig dabei, und Oliver Speck war der Trottel, der den gefährlichen Teil machen sollte, ohne zu wissen, um was es ging.«

»Die, die’s angeht, erfahren es immer als Letzte«, sagte Bredemaier und schwenkte sein bereits leeres Glas in Richtung Theke. Die Bedienung antwortete mit einem Nicken.

»Sie kennen Zehetgruber also«, stellte Schwemmer fest.

»Persönlich? Nein. Ich kenne seine Haushälterin. Mit der telefonier ich ab und zu. Ist aber unergiebig. Besser ist da schon eine OP-Schwester aus der Klinik. Die ruft mich manchmal an.«

»Aha. Das erklärt die Anrufe von der Klinik und in die Leitlestraße.«

»Ja. Das tut es.«

»Was man Ihnen nachweisen kann, geben Sie natürlich auch zu«, sagte Schwemmer.

»Ich bitte Sie! Was sollte ich denn sonst zugeben?«

»Dass Sie persönlich in Kontakt mit Zehetgruber stehen.«

»Haben Sie das von Frohnhoff? Was wollen Sie mir denn eigentlich nachweisen – Sie und unser kettenrauchender Freund im Rollstuhl? Was genau soll ich denn getan haben?«

Bredemaier erhielt seinen Whisky und bedankte sich übertrieben artig dafür.

»Das weiß ich noch nicht«, sagte Schwemmer. »Aber Professor Zehetgruber wird gewiss etwas dazu einfallen, wenn ich ihm die richtigen Fragen stelle.«

Bredemaier begann zu lachen, leise und anhaltend. »Das wage ich aber stark zu bezweifeln. Ganz stark!« Kopfschüttelnd lachte er und lachte. Schwemmer sah ihm eine Weile verständnislos zu. Doch plötzlich durchfuhr ihn das Verstehen wie ein Stromschlag. Er sprang von seinem Stuhl auf und zog sein Handy. Noch auf dem Weg zur Tür rief er Schafmann an. In seinem Rücken hörte er Bredemaier lachen, bis die Tür der Kneipe hinter ihm zufiel.

»Such sofort nach Zehetgruber«, kommandierte er, sobald Schafmann sich gemeldet hatte. »Ruf in der Klinik an, aber wahrscheinlich ist er zu Hause. Wenn dir da keiner aufmacht, brich die Tür auf. Gefahr im Verzug.«

»Und wenn ich ihn finde?«, fragte Schafmann.

»Dann pass auf ihn auf. Falls er noch lebt. Aber das bezweifle ich leider.«

Er beendete das Gespräch und ging wieder ins Lokal. Auf Bredemaiers Gesicht war ein Grinsen, das man mit gutem Willen melancholisch nennen konnte. Schwemmer ekelte es an, so wie ihn mittlerweile der ganze Mann anekelte: der selbstgefällige, überhebliche Klang seiner Stimme, sein snobhaftes Auftreten, das demonstrative Geldausgeben, genauso wie das weichliche Gesicht mit den Aknenarben und die blassen, kalten Augen.

»Was werden meine Leute finden, bei Zehetgruber?«, fragte Schwemmer.

»Einen zweifelsfreien Selbstmord, würde ich annehmen. Mit einer Schusswaffe wahrscheinlich. Er war ja Jäger.« Bredemaier hing entspannt in seinem Stuhl.

»Und das ist Jochens Schuld«, sagte Schwemmer.

Bredemaier machte eine abwägende Geste. »Das klingt mir zu hart. So ein Datenfex macht doch auch nur seinen Job.«

»Dass Jochen doch noch einen Weg gefunden hat, den Stick zu knacken – das war Zehetgrubers Todesurteil«, sagte Schwemmer. »Bretcnik als Zeugen hätten Sie einfach beseitigen können. Beim nächsten Mal hätte es bestimmt besser geklappt. Aber einen Zeugen und einen Beweis gegen einen Mann, der die neuen Gesichter von Mafiabossen geschaffen hat … Das Risiko, dass der Professor auspackt, war denen zu groß.«

»Genau so ist es, Herr Kollege. Fein erkannt. Aber: leider nicht rechtzeitig.« Er kippte den Whisky hinunter. »Fräulein! Noch so einen leckeren, bittschön!«, rief er dann zu laut in Richtung Theke.

»Und Sie haben die Information an diese Leute weitergegeben«, sagte Schwemmer.

»Ich? Aber Herr Kollege! Es ist doch bekannt, dass Ihre Dienststelle leckt wie ein Sieb!«

»Sie meinen, ich kann es nicht beweisen.«

»Nein, das meine ich nicht. Sie können es nicht beweisen.« Bredemaier griente. »Und hätte ich Sie vor der Gefahr für Zehetgruber warnen können? Selbstverständlich! Wenn Sie mir gesagt hätten, was Sie schon wussten. Hätten Sie mir den Namen Zehetgruber genannt, hätte ich Sie gewarnt. Mein Fehler? Doch eher nicht!«

Schwemmer zwang sich zur Ruhe. Aber es fiel ihm zunehmend schwerer. Bredemaier erhielt seinen dritten Scotch und lächelte die Bedienung dankbar an.

»Wen hat man denn zu Zehetgruber geschickt, jetzt, wo Deloitte tot ist?«, fragte Schwemmer.

Bredemaier zuckte gut gelaunt die Achseln. »Da findet sich immer einer.«

Es entstand eine Pause, in der Schwemmer ihm angewidert zusah, wie er genießerisch an seinem Malt nuckelte.

»Wenn man mal mit solchen Menschen zu tun hatte«, sagte Schwemmer dann, »diesen sogenannten Profis, dann weiß man, dass die auch Profis sind, wenn sie erwischt werden. Die kalkulieren dann eiskalt, wie sie ihre Chancen verbessern können.«

»Eiskalt find ich gut, besonders im Bezug auf Deloitte«, sagte Bredemaier. Immerhin lachte er nicht darüber.

»Ein Profi, der einen Maulwurf im BKA benennen könnte, würde das machen«, sagte Schwemmer.

»Sicher. Haben Sie einen?«

»Noch nicht.«

»Na sehen Sie.«

Schwemmers Handy klingelte.

»Oh, oh«, sagte Bredemaier. »Schlechte Nachrichten vom Herrn Professor?«

Schwemmer sah auf das Display und schüttelte verneinend den Kopf. Er meldete sich und lauschte.

»Gut«, sagte er dann, »sehr gut«, und klappte das Handy zu. »Ich sage Ihnen, was ich Ihnen nachweisen will, Herr Bredemaier: Sie haben Zehetgruber die Leute besorgt, die ihm die Erpresser vom Hals schaffen sollten. Sie haben alles koordiniert. Sie kennen unsere Arbeit und unsern Wissensstand und haben den weitergegeben. Sie sind der Mann im Hintergrund. Der Mann von OK. Der mit den Verbindungen zu beiden Seiten. Sie sind der Maulwurf.«

»Das wollen Sie mir nachweisen? Ja, denn man tau, wie man in meiner Heimat sagt.«

»Ein Profi«, sagte Schwemmer, »der einen Maulwurf im BKA benennen könnte, würde das machen.«

Bredemaier runzelte die Stirn. »Hatten wir das nicht gerade schon? Also schön, noch mal: Klar, das würde er. Und? Haben Sie einen?«

Unterhalb der Tischkante löste Schwemmer mit einer unauffälligen Bewegung die Sicherungsschlaufe an der Waffe, die in seinem Gürtelholster steckte. »Sagt Ihnen der Name Føsdergård etwas, EKHK Bredemaier?«, fragte er dann ruhig. »Das ist so ein drahtiger Blonder. Sie haben Johanna Kindel ein Foto von ihm gezeigt.«

Bredemaier setzte den Whisky ruckartig ab. Alles Glasige war aus seinen Augen verschwunden. Sein Blick fuhr den möglichen Fluchtweg durch den Raum ab. Langsam näherte sich seine Rechte der Knopfleiste seines Jacketts.

»Versuchen Sie’s«, sagte Schwemmer und entsicherte die Walther, die er unter dem Tisch in der Hand hielt. »Versuchen Sie’s, und ich knall Sie ab.«

Er hatte nicht geglaubt, dass er einen solchen Satz einmal aussprechen würde.

* * *

Der Blonde warf noch einen prüfenden Blick auf die Landstraße. Sie war leer, kein Mensch und kein Auto weit und breit. Dann ging er ohne Eile um seinen Wagen herum. Als er direkt vor dem Micra stand, hob er die Glock mit dem Schalldämpfer und zielte auf die Frau hinter dem Steuer.

Doch dann rief jemand seinen Namen.

»Føsdergård!« Eine Megafonstimme, vom Waldrand her, hinter ihm. »Ein halbes Dutzend Waffen ist auf Ihren Kopf gerichtet. Lassen Sie die Waffe fallen!«

Sein Gehirn brauchte weniger als eine Sekunde, um eine Entscheidung zu fällen. Er hechtete über die Motorhaube hinweg, dabei hörte er das Pfeifen von Kugeln, die ihn knapp verfehlten. Er rollte ab, in die relative Deckung zwischen den beiden Wagen. Sofort riss er die Fahrertür des Kleinwagens auf. Wenn er die alte Frau als Deckung benutzte, würde er eine Chance haben.

Doch als er in den Wagen sah, blickte er in den Lauf einer Neun Millimeter. Die Frau auf dem Fahrersitz war nicht alt. Sie war Mitte zwanzig, trug eine graue Perücke und eine schusssichere Weste.

»Fallen lassen«, sagte sie. »Hände hinter den Kopf.«

Er war Profi. Er wusste, wann er verloren hatte. Er gehorchte.

Von hinten näherten sich die Schritte schwerer Stiefel. Jemand riss ihn hoch und legte ihm Handschellen an. Er sah, dass der Mann auf dem Beifahrersitz ebenfalls eine Perücke trug und auf dem Rücksitz eine lebensgroße blonde Puppe festgeschnallt war.

Man schob ihn auf den Platz hinaus, der nicht mehr leer war, sondern von Polizisten in dunkelblauen Jacken mit der Aufschrift BKA wimmelte. Ein großer Mann steuerte seinen Rollstuhl auf ihn zu. Die Zigarette in seinem Mundwinkel verbreitete einen widerwärtigen Qualm.

»Føsdergård«, sagte der Mann. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal freuen würde, dass Sie noch leben.«

Mit einer Handbewegung gab er Order, ihn abzutransportieren. Jemand schob ihn vorwärts auf einen großen Audi mit verdunkelten Scheiben zu. Føsdergård legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf in den purpurnen Himmel.

Über ihm kreiste ein großer Greifvogel. Ein Adler, vielleicht.

* * *

Es war kein schöner Anblick. Ohnehin war die Einrichtung der Villa nicht nach Schwemmers Geschmack, zu viel dunkles Holz, kombiniert mit zu vielen dunklen Ölschinken und zu vielen ausgestopften Tieren. Aber der halbe Quadratmeter Wand, vor dem Zehetgruber in seiner letzten Sekunde gesessen hatte, wäre in keinem Ambiente angenehm anzuschauen gewesen.

Die Leiche lag jetzt vor dem Sessel, und Schwemmer war ganz froh, dass Dräger noch niemanden hineinließ. Es gab dort ohnehin nichts Sinnvolles für ihn zu tun.

Dräger würde alles daransetzen, um nachzuweisen, dass es kein Selbstmord war. Trotz der Jagdflinte auf dem Schoß des Opfers, trotz des Abschiedsbriefs. Vielleicht würde es Dräger sogar gelingen. Vielleicht könnte er sogar nachweisen, dass es Føsdergård war, der Zehetgruber umgebracht hatte.

Aber für was?, dachte Schwemmer. Føsdergård würde eine milde Strafe bekommen, wenn er Frohnhoff den Maulwurf im BKA nannte: Bredemaier – ohne den Zehetgruber noch leben würde. Und Bredemaier würde eine milde Strafe kriegen, denn der würde Frohnhoff einen der Mafia-Hintermänner liefern – einen der kleineren. Und der würde …

Schwemmer rieb sich den Nacken. Schafmann trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Jetzt mach dir bloß keine Vorwürfe«, sagte er, als Schwemmer ihn ansah. »Und nein, ich habe keine Zigarette.«

»Ich hätte das verhindern müssen«, sagte Schwemmer.

»Und wie?«

»Es reicht eben nicht immer, eins und eins zusammenzuzählen. Wir müssen auch mit drei und vier rechnen können.«

Schafmann sah ihn von der Seite an. »Und wen hättest du gern gerettet? Den verdienten Wissenschaftler, den Perversen oder den Mafiadoktor?«

»Solche Unterschiede zu machen gehört nicht zu unserm Job«, sagte Schwemmer.

»Leider wahr«, murmelte Schafmann.

Sie schwiegen eine Weile.

»Warum macht einer wie der Bredemaier so was?«, fragte Schafmann dann. »Der kommt aus gutem Hause, hat ein Vermögen geerbt … Der hat’s doch echt nicht nötig.«

»Langeweile«, sagte Schwemmer.

»Ist das dein Ernst?«

Schwemmer nickte. »Langeweile und Geltungsbedürfnis. Dem ist immer alles leichtgefallen. Der hat nie was riskieren müssen. Im Job war er so weit, wie er kommen konnte. Es hat ihm nicht gereicht. Er wollte jemand Besonderes sein. Er hat gewusst, was er tut. Für ihn war das ein Abenteuer.«

»Woher weißt du das?«

»Man konnte es in seinen Augen lesen«, sagte Schwemmer. »Man hätte es nur glauben müssen.«