VIER
Der Adler landete sanft in einem Baumwipfel am Rande einer leeren Straße. Es war die dunkelblaue, taunasse Stunde vor Sonnenaufgang. Eine Bushaltestelle war zu sehen, eine Bank, aber keine Häuser. Es war still. Aber dann sah sie eine Bewegung. Ein magerer, kleiner Mensch näherte sich. Er schleppte ein Bein nach. Seine Jacke hielt er krampfhaft mit einer Hand zu. Sie hörte ihn keuchen. Er erreichte die Bank, sank darauf nieder, erschöpft war er, das konnte sie erkennen. Nun öffnete er vorsichtig die Jacke und besah seinen Unterleib. Seine Hose war voller Blut. Sie sah, dass er noch jung war. Und dass eine Pistole in seinem Gürtel steckte.
Dann flog der Adler mit ihr davon.
* * *
Er war bisher überhaupt erst ein Mal krank gewesen, seit er die Leitung der Kriminalpolizeistation Garmisch-Partenkirchen übernommen hatte, mit einer infektiösen Darmgrippe, und schon gar nicht war es in einunddreißig Jahren Ehe vorgekommen, dass Burgl ihn krankgemeldet hatte. Aber Schwemmer sah sich selbst dazu außerstande. Genau genommen war das Einzige, was er sich an diesem Morgen zutraute, zu sterben. Das würde er hinkriegen, aber sonst nichts. Eigentlich konnte er nicht mal liegen, er tat es nur, weil er alles andere noch weniger konnte.
Burgl hatte ihm gestern Nacht aus der Apotheke Zäpfchen mitgebracht, die entkrampfend wirken sollten. Für die hätte sie eigentlich sogar ein Rezept gebraucht, aber da sie dort als Psychotherapeutin und Polizistengattin bekannt war, hatte man sie ihr auf Vertrauensbasis ausgehändigt. Schwemmer hatte seit der Volksschulzeit kein Zäpfchen mehr verabreicht bekommen, und es war ein Ausdruck seines Zustandes, dass er es widerspruchslos mit sich geschehen ließ.
Es hatte insoweit geholfen, dass er schlafen konnte, wenigstens immer ein paar Minuten am Stück. Als die Nacht vorbei war, fühlte er sich so schwach, dass Burgl für ihn mit Schafmann sprechen musste.
Der hatte ihr, wie sie Schwemmer im Flüsterton berichtete, versichert, alles im Griff zu haben, und dem Chef gute Besserung gewünscht. Schwemmer hatte das kommentarlos zur Kenntnis genommen.
»Doktor Vrede wird gleich da sein«, sagte Burgl und vermied, über sein Haar zu streichen, weil ihm das Schmerzen bereitete. »Aber wenn du mich fragst: Das kommt vom Nacken.«
Es war Schwemmer egal. Immerhin hatte der Brechreiz so weit nachgelassen, dass er es wagte, einen Becher Kamillentee zu trinken. Er schaffte nicht einmal, sich Sorgen darüber zu machen, dass er sich keine Sorgen darüber machte, dass Schafmann nun das Chaos verwalten musste, das der Kripo Garmisch-Partenkirchen gerade vor die Füße gekippt worden war.
Doktor Vrede kam, und nach ausführlicher Schilderung der Anamnese durch Burgl und flüchtigem Abtasten von Schwemmers Hals- und Schultermuskulatur erklärte er, dass das vom Nacken komme. Die verspannten Muskeln drückten wohl auf einen Nervenstrang. Prophylaktisch riet er zu einer Röntgen-Untersuchung der Halswirbelsäule, sobald der Patient wieder bei Kräften war. Dann empfahl er Burgl noch einen sehr trinkbaren Bordeaux für zweiunddreißig Euro die Flasche, den er am Vorabend degustiert hatte, und verabschiedete sich mit einem fröhlichen Hinweis auf das phantastische Frühlingswetter.
Schwemmer war es egal. An anderen Tagen hätte er ihn dafür gehasst.
* * *
Der Herr Bredemaier hatte vor der Tür gestanden, als Johanna eigentlich gerade zum Markt wollte. Er hatte tags zuvor zwar angekündigt, noch einmal wiederzukommen, aber eine Uhrzeit hatte er nicht genannt. Als sie ihm geöffnet hatte, in Jacke, die Einkaufstasche in der Hand, hatte er freudig angeboten, sie zu begleiten. Er hatte sich für alles interessiert, was sie kaufte, zu jedem Marktstand und seinem Betreiber Fragen gestellt, und als sie ihm erzählte, dass sie Eier, Milch und Butter immer beim Discounter holte, schien er ein wenig enttäuscht. Sie musste ihm vorrechnen, was es bedeutete, mit ihrer Rente zwei Halbwüchsige durchzufüttern.
Sie hatte gerade einen Blumenkohl erstanden, als eine Frau, die sie überhaupt nicht kannte, sie ansprach.
»Sie sind doch die Frau Kindel, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete sie zögernd, denn die Frau klang nicht freundlich.
»Bringen Sie jetzt auch noch Ihre Enkel in die Hölle?«, fragte die Frau und sah sie mit vorgeschobenem Kinn an. Sie hatte laut genug gesprochen, dass einige Umstehende sich zu ihnen herdrehten.
»Was moanst?« Johanna sah die Frau verständnislos an. Sie spürte, dass Herr Bredemaier neben sie trat, und empfand das als ermutigend.
»Ich nehme an, die Dame liest die falsche Zeitung«, sagte er. »Lassen Sie uns weitergehen, Frau Kindel.«
»Falsche Zeitung, ha! Betrügerin! Und der Enkel, der ist ein Teufelsanbeter!«
Johanna hatte nicht die geringste Ahnung, von was hier die Rede war, aber die Frau schien sich ihrer Sache sehr sicher. Sie sah sich Beifall heischend um. Einige wandten sich angewidert ab, aber etliche blieben auch neugierig stehen, in den Augen das kleine, hinterhältige Lächeln der Gaffer, die auf ein Opfer hofften.
Herr Bredemaier fasste Johanna am Oberarm, um sie fortzuziehen, aber sie streifte seine Hand ab und baute sich wütend vor der Frau auf.
»Wannst weiter so an Schmarrn daherredst, dann zeig i dir, was recht is«, sagte sie und starrte der Frau in die Augen.
»Jetzt bedroht sie auch noch die Leut auf der Straße!«, krähte die Frau triumphierend.
Johanna griff in ihre Einkaufstasche, zog den kurzen schwarzen Schirm hervor, der immer darin steckte, und versetzte der Frau einen präzisen, heftigen Schlag aufs Ohr.
Die Frau schrie auf, wohl mehr vor Schreck als vor Schmerz. Sie krümmte sich mit angsterfüllten Augen. »Hilfe!«, quiekte sie, aber ihr gaffendes Publikum gaffte nur weiter.
Wieder fühlte Johanna sich von Bredemaier am Arm gepackt, diesmal mit einem Griff, den sie wohl nicht einfach würde abstreifen können.
»Über mi kannst redn, was d’ willst, aber wannst noch amoi schlecht über mein Buam redst, kannst froh sein, wann i di ned derschlag«, sagte sie laut, dann zog Bredemaier sie fort.
Hinter ihnen gab es ein heftiges Geraune, und sie hatte Mühe, mit Bredemaier Schritt zu halten, der sie eilig aus dem Gewühl zog, bis sie außer Sicht waren. Sie merkte, dass er sich umdrehte, und folgte seinem Blick. Tatsächlich kam ein dünner, unfreundlich blickender Mann von Ende fünfzig hinter ihnen her, der einen Trachtenhut mit Gamsbart trug. Bredemaier bog wieder ab und hielt ein Taxi an, indem er sich einfach auf die Straße stellte. Der Fahrer schimpfte heftig, er sei bestellt und könne niemanden mitnehmen, aber Bredemaier hielt ihm seine Polizeimarke unter die Nase, und sie stiegen ein.
Bredemaier ließ den Fahrer gar nicht erst weiter zu Wort kommen, diktierte ihm Johannas Adresse und erklärte die Situation zu einem polizeilichen Notstand.
Johanna drehte sich um. Der Dürre mit dem Hut stand am Straßenrand und starrte ihnen hinterher.
»Was hat die oide Fotzn von mir gwollt? Und was hats über an Seve gsagt?«
Bredemaier bedeutete ihr mit einer Geste zu schweigen, solange sie im Taxi saßen. Die Fahrt dauerte kaum zwei Minuten. Bredemaier gab reichlich Trinkgeld, was den Fahrer etwas versöhnte, dann gingen sie ins Haus.
»Ich hätte Ihnen das gern schonender beigebracht«, sagte Bredemaier, als sie am Küchentisch saßen. Sie hatten nicht einmal abgelegt, er hatte noch den Kamelhaarmantel an und sie ihre Windjacke.
Er zog eine Zeitung aus der Manteltasche und legte sie vor ihr auf den Tisch. Johanna faltete sie auseinander und traute ihren Augen nicht.
TODESEXPLOSION
MORDANSCHLAG AUF SATANISTENBAND
Darunter ein Foto vom Ort des Geschehens.
Und ein Foto von ihr.
»Johanna K.: Der Enkel der Seherin spielt in der Satanistenband«, stand darunter.
Das Foto stammte noch aus der Zeit des Prozesses, damals war es häufig abgedruckt gewesen. Sie hatten es aus dem Archiv geholt. Johanna merkte, dass sie zitterte.
»Dürfn de des?«
Bredemaier zuckte betreten die Achseln.
»Des is ja noch viel hinterfotziger und hundsgmeiner als damals …«
»Vielleicht … sollten Sie … sollten wir einen Schnaps trinken«, sagte Bredemaier mit einem schiefen Lächeln.
»I hab nix do.« Sie bedauerte das tatsächlich. Dabei trank sie nie Schnaps.
»Ich könnte was anbieten.« Bredemaier griff in die Manteltasche und stellte einen ziemlich großen lederbezogenen Flachmann auf den Tisch. »Ich hoffe, Sie mögen Scotch.«
»Des is mir wurscht.« Sie stand müde auf. Im Schrank musste sie eine Weile nach den Stamperln suchen.
Als sie anstießen, bemerkte sie Mitleid in Bredemaiers Blick.
Mitleid von einem Trinker, dachte sie, so weit kommt’s noch. Entschlossen kippte sie den Schnaps hinunter und musste sich dann heftig schütteln. Am liebsten wäre sie zum Klo gerannt und hätte ihn wieder ausgespien, aber die Blöße würde sie sich nicht geben.
Bredemaier schenkte sich einen zweiten ein und steckte den Flachmann dann weg.
»Ich glaube«, sagte er dann, »es wäre gut, wenn Sie für eine gewisse Zeit verreisten.«
»Verreisn? I? I bin noch nie ned verreist.«
»Dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, damit anzufangen.«
»Schmarrn! De Kinder müssn in de Schul. I kann ned einfach furt.«
Bredemaier kratzte sich am Kinn. »Wahrscheinlich wäre es auch für die Kinder besser …« Er nippte an seinem zweiten Whisky und sah auf die Zeitung. Ihr Blick folgte dem seinen.
»Der Enkel der Seherin spielt in der Satanistenband«, stand da.
»Ja, stimmt denn des? Tun de wirklich so was, de Buam? I moan, de Musi is fei greislich gnug … Aber Satanisten, des san doch de, de an Teifi anbetn, oder ned?«
»Was da steht, ist haltloser Unfug, Frau Kindel. Bitte glauben Sie mir das. Und glauben Sie besonders dem Severin. Er braucht Ihr Vertrauen. Heute mehr denn je.«
Johanna sah ihn zweifelnd an, aber sie nickte.
Was soll ich nur tun?, dachte sie. Theo, was soll ich denn nur tun?
* * *
Severin stand allein neben dem Aulaeingang. Niemand stellte sich zu ihm. Er bemerkte die neugierigen Blicke. Kaum einer auf dem Schulhof, der ihn nicht mehr oder weniger verstohlen musterte – meist weniger.
Jetzt bin ich ein Star, dachte er bitter. Der Letzte der »Rattenbrigade«. Einer tot, mindestens, der Rest auf der Flucht. Proberaum in die Luft gesprengt. Wenn sie nur genug Aufnahmen gemacht hätten – jetzt wäre der Zeitpunkt, eine CD rauszubringen.
Fucking Bavarian Grindcore!
Er stieß ein böses Lachen aus.
Dem Nächsten, der ihn anglotzte, zeigte er den Stinkefinger.
Dann kam Danni angelaufen. Sie weinte. Er ging in die Hocke und nahm sie in den Arm.
»Was is?«, fragte er.
»Die aus der Sechsten sagen, du würdst zum Teifi beten.«
»Wie kommn denn de auf so an Schmarrn?«
»Es steht in der Zeitung!«
»In da Zeitung?«
Er sah über ihre Schulter auf den Schulhof. Von überall schienen ihn Blicke zu treffen. Köpfe wurden zusammengesteckt und geschüttelt, es wurde gegrinst, auch mit dem Finger wurde gezeigt. Bei Inga und ihrer Clique war er offensichtlich auch Thema. Eines der Mädchen richtete seine Handykamera auf ihn. Sogar Dr. Friedrichs und Herr Riedel, die Aufsicht hatten, schienen über ihn zu tuscheln.
»Hörst! I bet ned zum Teifi«, sagte er. »Hab i niemals ned gmacht und werd i niemals ned tun, verstehst! Und was in da Zeitung steht, is eh ois gelogn.«
Danni nickte und zog die Nase hoch.
»Dann sag eane des, wanns wieder an Schmarrn redn. Und wanns dann ned stad san, dann sag eane, i würd eane schon zeign, wo da Teifi auf se wart!«
»Des mach i«, sagte sie tapfer und lief davon.
Silvie, die mit Girgl im Lateinkurs war, kam zu ihm herüber. Severin sah ihr drohend in die Augen, aber Silvie hob die Hand, als wolle sie signalisieren, dass sie in Frieden käme.
»Schöne Scheiße, das alles«, sagte sie.
Severin nickte nur.
»Was meinst, wen’s da erwischt hat?«
»Da Girgl wahrscheinlich. Oder Schibbsies Onkel.«
»Weißt, dass die Bullen beim Direktor nach Schibbsie gefragt haben?«
Severin schüttelte den Kopf. Dass Schibbsie nicht hier sein würde, hatte er den Bullen gesagt.
»Und jetzt gehen sie durch alle Klassen und fragen nach diesem Petr. Kennst den?«
»Flüchtig.«
Silvie sah sich um, bevor sie weiterredete. »Hast du die Schlagzeile schon gesehen?«
»Na.«
Silvie zog eine klein gefaltete, dünne Zeitung aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und reichte sie ihm.
Severin faltete sie auseinander und spürte, wie seine Kinnlade nach unten klappte.
»Des dürfn de doch ned machn!«, entfuhr es ihm.
Silvie stieß ein mitleidiges Lachen aus. »Doch«, sagte sie. »Das dürfen die. Und sie machen es.«
»Ja, aber … Sakra, de Danni!« Severin fasste sich hilflos an den Kopf.
»Versteh mich jetzt richtig«, sagte Silvie. »Ich will dir nicht zu nahe treten. Nur als gut gemeinter Rat. Ich find dich nämlich ganz okay – im Gegensatz zu Girgl und diesem Schibbsie-Arsch. Aber wenn ich du wäre, würd ich mit dem Direktor reden und mich erst mal beurlauben lassen. Und deine Schwester gleich mit.«
»Meinst, de machn weiter mit dem Scheiß?« Er hielt Silvie angewidert das Boulevardblatt entgegen.
»Sie sind schon dabei«, sagte Silvie und wies mit dem Kinn in Richtung Tor. Dort stand ein hagerer, großer Mann mit einem Gamsbart auf dem Hut und redete mit den Schülern, von denen einer in ihre Richtung zeigte. Silvie hatte dem Schultor den Rücken zugewandt.
»Das ist der Typ, der das geschrieben hat. Eine echte Schmeißfliege. Das größte Arschloch, das hier in der Gegend rumläuft, wenn du mich fragst. Gehört für meinen Geschmack eingesperrt, aber mein Geschmack ist leider nicht gerichtsverwertbar. Ihr habt keine Chance gegen den. Haut für ‘ne Weile ab. Und nehmt auch eure Oma mit. Die hat er nämlich auch auf dem Kieker. Wenn der mit euch fertig ist, nimmt im Ort keiner mehr ein Stück Brot von euch.«
»Ja, aber wieso denn?«
»Ihr seid halt die mit der Story, das reicht dem. Was er damit anrichtet, ist ihm piepegal.«
Severin sah wieder zu dem Mann. Auch Silvie drehte den Kopf.
»Guck mal, der Friedrichs«, sagte sie.
Auch Dr. Friedrichs war der Mann aufgefallen. Er ging entschiedenen Schrittes auf ihn zu, offenbar um ihn des Hofes zu verweisen.
»Pass mal auf, was jetzt passiert«, sagte Silvie.
Friedrichs sagte einen Satz zu dem Mann, und Sekunden später hatte der ihn in ein Gespräch verwickelt. Friedrichs’ heftige Gesten wirkten, als kämpfe er gegen ein unsichtbares Spinnennetz, in dem er sich verfangen hatte. Der Mann blieb unverrückt stehen und stellte Fragen.
»Ein verdammter, abgefuckter Profi«, sagte Silvie. »Und dann immer dieser Hut. Dabei ist der gar kein Bayer. Der stammt aus Hessen.«
»Woher kennst den eigentlich so gnau?«, fragte Severin.
»Ist mein Vater«, sagte Silvie.
* * *
Es war weit nach Mittag, als Schwemmer sich zutraute, das Bett zu verlassen. Der bohrende Kopfschmerz war einem matten Druck gewichen, was ein eindeutiger Fortschritt war.
Er schleppte sich ins Bad und duschte heiß, was zwar seinen optischen und olfaktorischen, nicht aber seinen körperlichen Gesamtzustand verbesserte. Den Versuch, sich die Zähne zu putzen, brach er ab, weil sofort der Würgereiz wieder einsetzte.
Er zog sich den Bademantel an und ging hinunter, weniger weil ein Bedürfnis vorlag, als um sich zu beweisen, dass er es konnte.
Auf der Treppe hörte er Stimmen durch die geschlossene Wohnzimmertür. Burgl lachte herzlich, was ihm einen leichten Stich versetzte. Dann sprach ein Mann in einem satten Bariton, und Burgl lachte erneut. Schwemmer blieb unentschlossen in der Diele stehen, dann entschied er sich, in die Küche zu gehen und einen Kamillentee aufzugießen.
Er hatte gerade den Wasserkocher angeschaltet und war nun auf der Suche nach den Teebeuteln, als die Wohnzimmertür aufging und Hauptkommissar Bredemaier herauskam.
»Direkt neben der Haustür«, hörte er Burgl rufen.
Bredemaier ging auf das Gäste-WC zu, aber aus den Augenwinkeln musste er Schwemmer hinter der offenen Küchentür entdeckt haben. Er wollte wohl gerade freudig auf ihn zukommen, aber ein einziger Blick Schwemmers reichte, die Bewegung schon im Ansatz zu stoppen.
»Ich hoffe, es geht Ihnen besser«, sagte er zurückhaltend.
»Besser ja. Aber nicht gut«, sagte Schwemmer.
»Ich wünsche Ihnen eine rasche Genesung«, sagte Bredemaier. »Sie werden vermisst.«
Schwemmer antwortete mit einer Grimasse, die ein spöttisches Grinsen hatte werden sollen, und Bredemaier verschwand auf dem Klo.
Als der Schlüssel sich im Schloss gedreht hatte, schaltete Schwemmer den Wasserkocher wieder aus. Er wollte außer Sicht sein, wenn der Mann wieder zum Vorschein kam. Auf dem Weg zur Treppe wurde er allerdings von Burgl bemerkt, die sofort aus dem Wohnzimmer kam.
»Heh, da bist du ja«, sagte sie sanft. »Geht’s was besser?«
»Muss«, sagte er. »Ich leg mich wieder hin. Hast du Besuch?«
»Nein«, sagte sie. »Du hast Besuch.«
»Oh …« Er wandte sich der Treppe zu und machte sich an ihre Ersteigung.
»Brauchst du was?«
»Einen Tee … frische Bettwäsche vielleicht. Und Ruhe.«
»Ich schmeiß ihn raus und komm dann hoch«, sagte sie leise mit einem Lächeln.
Schwemmer schleppte sich wieder ins Bett. Keine fünf Minuten später kam Burgl mit Tee und bezog sein Bett frisch, während er auf ihrem hockte und fror.
»Was wollte dieser Mensch?«, fragte er.
»Einen Krankenbesuch machen.«
»Wie kommt der auf so was? Man macht doch keinen Krankenbesuch bei fremden Menschen, schon gar nicht, ohne sich vorher anzumelden.«
»Er hat sich angemeldet.« Burgl strich das Laken glatt und zog dann das Kopfkissen ab.
»Was?«
»Er hat vorher angerufen. Und als ich mit ihm sprach, ist mir eingefallen, woher ich den Namen kannte. Er ist Spezialist für forensische Psychologie, allerdings als Praktiker. Ich hab ihn vor Jahren mal auf einem Kongress getroffen. Muss in den frühen Neunzigern gewesen sein.«
»Und deshalb lädst du ihn ein? Ich dachte, er wollte zu mir.«
»Wollte er auch. Ich hab gesagt, dass es dir was besser ginge und dass er es einfach mal versuchen solle.«
Sie warf das frisch bezogene Kissen auf seinen Platz und nahm sich das Federbett vor.
»Und auf die Art habe ich erfahren, was er hier will, was er vorhat und was er schon getan hat. Ich habe dir Arbeit abgenommen. Denn das wolltest du doch wissen, oder?«
»Kann schon sein«, murmelte Schwemmer, zu schwach, um das zu diskutieren. Ungeduldig wartete er darauf, endlich wieder unter das Federbett kriechen zu können. Er trank von dem Kamillentee und rieb sich den Nacken, der sich immer noch brettsteif anfühlte.
»Hat Schafmann sich gemeldet?«, fragte er und gähnte.
»Nein.« Sie schüttelte das Plumeau noch einmal auf und schlug dann auffordernd auf seine Matratze. »Brauchst du noch irgendwas?«
Er nannte ein paar Kleinigkeiten, die sie ihm umgehend ans Bett brachte, dann löschte sie das Licht und ließ ihn allein.
Anders, als er erwartet hatte, schlief er nicht sofort wieder ein. Langsam, ganz langsam nahmen seine Gedanken wieder Fahrt auf.
Zunächst lagen sie noch sehr unsortiert in seinem Gehirn herum, aber nach und nach schälte sich der ein oder andere klar aus dem dünner werdenden Dunst dort. Es gab etliche beruhigende:
Schafmann würde tun, was zu tun war.
Dräger würde tun, was zu tun war.
Isenwald würde tun, was zu tun war.
Und ein paar weniger beruhigende:
Hatten Drägers Leute noch einmal den Hang am Reschberg nach seiner Waffe durchsucht? Natürlich nicht, das K 3 war mit allen Mann in Grainau beim Explosionskrater.
EKHK Bredemaier machte, was er wollte, sprach, ohne jemanden davon zu unterrichten, mit Johanna Kindel und jetzt auch noch mit Notburga Schwemmer.
Und dann, ganz hinten im Dunst, da, wo der sich noch nicht verzogen hatte:
Was hatte Högewald geschrieben?
Aber das war alles nicht das, was Schwemmers Gehirn so mühsam wieder antrieb. Das war die eine Frage, die über all den dienstlichen Bemühungen hing wie eine blasse Leuchtreklame im Londoner Edgar-Wallace-Nebel:
Warum?
Welches Motiv konnte der Täter haben, einen Teenager im Wald zu erschießen? Und einen weiteren Menschen mit einer Explosion zu töten? Es war quälend, seine Gedanken durch diese weiche, klebrige Masse zu treiben, die sein Gehirn auszufüllen schien. Er konnte nicht denken, zumindest nicht, wie er es gewohnt war. Aber Schritt für Schritt kämpfte er sich voran, klaubte Ideenbrösel und Intuitionskrümel auf und hatte das Gefühl, einige der Teile tatsächlich zu etwas Funktionierendem zusammensetzen zu können.
Irgendwann kam Burgl herein und legte einige Zeitungen und Papiere auf seinen Nachttisch.
»Darf ich Licht machen?«, fragte sie.
»Probieren wir’s halt mal.«
Sie schaltete die Nachttischlampe an, und Schwemmer konnte es ertragen.
»Schafmann hat angerufen«, sagte sie. »Magst es hören?«
»Wenn du langsam und leis sprichst, geht’s vielleicht.«
»Also …« Sie nahm einen Notizblock von dem Haufen Papier, den sie mitgebracht hatte. »Zunächst das, was er als erfreulich eingestuft hat: Mit der EC-Karte von Siegfried Schieb alias Schibbsie wurde gestern Nacht hier am Bahnhof Geld abgehoben. Sie besorgen gerade das Überwachungsvideo, gehen aber davon aus, dass er es selbst war. Foto und Beschreibung an die Bundespolizei sind raus. Severin Kindel hat gestern Abend eine Aussage gemacht, in der er den Verdacht äußerte, dass die drei anderen Bandmitglieder gemeinsam mit einem gewissen Petr, Nachname unbekannt, ›irgendwas vorhatten‹, wie er das ausdrückte. Er hat aber angeblich nicht die geringste Ahnung, was.«
»Was ist das für ein Kerl, dieser Petr?«, fragte Schwemmer.
»Hausl, ich kann’s dir nur vorlesen, gell? Fragen kann ich dir nicht beantworten.«
Er brummte eine Entschuldigung ins Kopfkissen.
»Dieser Petr ist erst seit ein paar Wochen im Ort. Wohnt angeblich bei Verwandten in Burgrain. Den Kollegen ist niemand mit dem Vornamen untergekommen in letzter Zeit. Und jetzt wird’s interessant: Petr hat dem Severin eine Waffe gezeigt, um ihn einzuschüchtern. Gestern, unmittelbar vor der Explosion.«
»Was für eine Waffe?«, fragte Schwemmer.
»Eine schwarze Pistole. Genauer kann er es nicht sagen. Der Petr hatte sie im Hosenbund stecken. Immerhin hat der Severin eine ziemlich präzise Beschreibung von Petr abgegeben. Schafmann hat Leute ins Werdenfels-Gymnasium geschickt, möglicherweise ist er einigen Schülern da bekannt. Phantombild ist in Arbeit.«
»Schön«, murmelte Schwemmer. »Noch mehr gute Nachrichten?«
»Das K 3 und die Labors arbeiten rund um die Uhr, aber vor morgen Nachmittag ist mit nichts Interessantem zu rechnen.«
»Und die schlechten Nachrichten?«
Burgl legte den Block weg. »Bist sicher, dass du die wissen willst?«
»Nützt ja nix«, stöhnte Schwemmer. »Högewald, hm?«
»Ja. Diesmal übertrifft er sich selber.« Burgl klang beherrscht, aber die Art und Weise, wie sie die Zeitung nahm und auffaltete, ließ auf mächtig schlechte Laune schließen. Sie hielt Schwemmer die Schlagzeile hin.
Mit zusammengekniffenen Augen starrte er eine Sekunde darauf, dann schloss er die Augen wieder. Nicht, weil er krank war. Sondern in hilfloser Wut.
»Der Teufel soll ihn holen«, sagte er.
»Ja. ›Der Enkel der Seherin spielt in der Satanistenband.‹ So erwischt er gleich zwei auf einen Schlag.« Burgl war hörbar sauer, mindestens so wie er.
Schwemmer atmete ein paarmal tief durch. »Wir müssen dagegenhalten«, sagte er.
»Und wie?«
»Hast du das Telefon da?«
»Warum?«, fragte Burgl vorsichtig.
»Ich muss die Isenwald sprechen. Wir müssen für morgen eine Pressekonferenz einberufen.«
»Schafmann soll eine Pressekonferenz halten? Bei dem heißen Eisen?« Burgl kräuselte skeptisch die Nase. »Willst du nicht lieber warten, bis du wieder im Dienst bist?«
»Ich bin morgen wieder im Dienst.«
»Morgen wieder im Dienst?« Burgl lachte zweifelnd und sah ihn mit einer Mischung aus Spott und Mitleid an. »Du Held!«
Schwemmer ging so souverän wie möglich darüber hinweg. Der Ärger über Högewald hatte zwar nicht unmittelbar zur Verbesserung seiner Verfassung beigetragen. Aber er hatte seinen Kampfgeist angestachelt.
* * *
»Ich rede morgen mit dem Direktor«, sagte Bredemaier. »Wir werden eine Lösung finden.«
Severin und Danni hockten nebeneinander auf der Bank. Severin starrte finster vor sich hin. Dannis Augen waren verheult.
»I geh ned wieder in die Schul«, sagte sie, ohne jemanden anzusehen.
»Wie bist du denn in der Schule?«, fragte Bredemaier.
»Sie is guat«, sagte Severin.
»De is wirklich guat«, bekräftigte Johanna
»I hab nur eine Drei. In Musik«, sagte Danni.
Bredemaier tauschte einen Blick mit Johanna und nickte ihr beruhigend zu. »Ich denk, morgen bleibst du erst mal zu Hause. Dann sehn wir weiter.«
»I geh hin. Von dene Drecksäck lass i mir ned an Schneid abkaufn«, sagte Severin.
Johanna seufzte. Ihr war, als hörte sie das Bienerl reden.
»Würdet ihr mich denn noch ein bisschen mit eurer Großmama reden lassen? Allein, mein ich?«
»Darf i dann fernsehn?«, fragte Danni.
»Ja, aber ned an ganzn Tag«, sagte Johanna.
Severin sah Bredemaier misstrauisch an, sagte aber nichts.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Bredemaier lächelte freundlich.
»I mach mir immer Sorgen, wenn de Bulln im Haus san.« Severin schob den Tisch weg, und die beiden standen von der Bank auf. Danni ging ins Wohnzimmer, Severin nahm seinen Bass, der immer noch an der Garderobe stand, und ging die Stiege hinauf.
»Pressefreiheit«, sagte Johanna, als sie fort waren. »A ganz a tolle Sach.«
»Es gibt immer und überall schwarze Schafe«, sagte Bredemaier. »Auch unter Polizisten. Und sogar unter Hellsehern.«
Johanna konnte tatsächlich ein bisschen lachen darüber. Bredemaier zog seinen Flachmann aus der Tasche seines Mantels, den er über seine Stuhllehne gelegt hatte.
»Sie erlauben?«, fragte er.
»Wennst moanst, des tat dir guat.«
Bredemaier schenkte sich den Schraubverschluss voll. »Die Frage, ob mir das guttut, stellt sich mir leider nicht mehr«, sagte er und prostete ihr mit dem erhobenen Becher zu.
»Warum hast de Kinder nausgschickt? Gibt’s doch noch a Frag, de du mir ned gstellt hast?«
»Oh, Tausende, liebe Frau Kindel, Tausende. Ich glaube ja, dass sie viel mehr gesehen haben als das, an das Sie sich erinnern. Viel mehr, als Sie selber wissen.«
»I hab ois verzählt, was i woaß, von da Explosion.«
»Lassen wir die Explosion für den Moment mal beiseite …«
Er nahm einen Schluck von seinem Scotch und begann dann, in den scheinbar unerschöpflichen Taschen seines Kamelhaarmantels zu wühlen. Endlich zog er einen braunen Umschlag hervor. Seine Ecken und Kanten waren abgestoßen, er sah aus, als trage Bredemaier ihn immer mit sich herum. Ein bisschen umständlich zog er einen Stapel Fotos daraus hervor und schob ihn Johanna über den Küchentisch zu.
»Seien Sie doch so lieb und schauen Sie die mal durch. Einfach so, ohne Erwartung an irgendetwas. Wenn Ihnen was auffällt, sagen Sie es. Frei von der Leber weg.«
Johanna nahm den Stapel entgegen. Sie sah sich ein Foto nach dem anderen an, bald runzelte sie die Stirn. Sie verstand nicht, was Bredemaier wollte. Die Fotos zeigten ausnahmslos Männer. Männer jeden Alters, jeder Hautfarbe und, nach ihrem Äußern zu schließen, jeder Einkommensklasse. Das Einzige, was diese Fotos gemein hatten, war, dass die Männer offenbar nicht wussten, dass sie fotografiert wurden. Oft stiegen sie in oder aus Autos, betraten Hotels oder verließen Restaurants. Auch schienen die Fotos an den unterschiedlichsten Orten aufgenommen worden zu sein. Einmal erkannte sie ein grünes New Yorker Straßenschild, auf einem waren Ladenschilder zu sehen in einer Schrift, die sie für indisch hielt, und einmal war es das »Vier Jahreszeiten« in München.
Und dann, bei einem, das ein blaues Taxi in einer gesichtslosen Hotelvorfahrt zeigte, zuckte sie zusammen. Ein blasser, hellblonder Mann warf gerade die Tür des Taxis zu, er wirkte skandinavisch. Er trug helle, locker fallende Sommerkleidung. Aber Johanna hatte keinen Zweifel.
Dies war der Mann.
Der Mann, der Spacko erschossen hatte.
Sie sah Bredemaier entgeistert an, und fast noch mehr entgeisterte es sie, dass er überhaupt nicht überrascht schien, sondern gelassen und sehr zufrieden von seinem Scotch trank.
»Welcher ist es?«, fragte er nur, und sie zeigte ihm das Foto. Er warf einen beiläufigen Blick darauf.
»Das war einer von dreien, die ich nach Ihrer Beschreibung in der engeren Wahl hatte«, sagte er.
»Wer is des? Was hat der mit am Spacko zum Tun?«
»Nichts«, sagte Bredemaier. »Dieser Mann tut solche Dinge für Geld. Es ist sein Beruf.«
Sie versuchte zu verstehen, was sie gerade gehört hatte, es zu verarbeiten, Schlüsse zu ziehen, aber ihr Verstand wollte sich nicht bewegen.
»Aber wer zahlt denn dafür, so an jungn Buam zum derschiaßn?«, stieß sie endlich hervor.
»Das«, sagte Bredemaier und nahm genießerisch noch einen Schluck Scotch, »ist die nächste Frage.«
* * *
Schwemmer kniff die Augen zusammen und rieb sich die Stirn. Burgl saß neben ihm auf dem Bettrand und beobachtete ihn skeptisch.
Frau Isenwald hatte am Telefon zwar voller Mitleid zugesagt, auf seinen Zustand Rücksicht zu nehmen, aber schon nach wenigen Sätzen war sie in Tempo, Tonhöhe und Lautstärke wieder auf ihrem Normallevel angekommen.
»Hauptkommissar Schafmann leistet wunderbare Arbeit, da sind wir uns einig, Herr Schwemmer, da gibt es gar keine Diskussion zwischen uns. Aber was ich vermisse, wenn Sie nicht da sind, ist ein bisschen … so die Kreativität.«
»Genau damit kann ich gerade auch nicht dienen«, sagte Schwemmer schwach.
»Wir müssen uns dringend Gedanken über mögliche Motive machen. Wir müssen irgendwas anbieten können, wenn wir wirklich morgen eine PK machen wollen.«
»Was soll das heißen, wenn?«
»Wir haben fast nichts«, sagte Isenwald. »Die Laborergebnisse kommen nicht vor Mittag, und die müssen ja auch erst mal interpretiert werden.«
»Ich lass nicht zu, dass Oliver Speck posthum als Satanist denunziert wird«, sagte Schwemmer, lauter, als er beabsichtigt hatte.
»Denken Sie an Ihren Kopf, Herr Schwemmer«, sagte Isenwald denn auch prompt.
Und sie hatte völlig recht, wie Schwemmer spürte.
»Ich mach morgen Mittag eine PK, mit Ihnen oder ohne Sie«, sagte er. Burgl sah ihn an, als traue sie ihren Ohren nicht, aber sie stand an seiner Seite: Tapfer reckte sie den rechten Daumen in die Höhe.
Sogar Frau Isenwald schwieg eine Sekunde lang, dann lachte sie auf. »Oho«, sagte sie. »Da geht’s aber jemandem besser.«
»Das kommt davon, wenn man mich bemitleidet«, sagte Schwemmer. »Das kann ich nicht ab. Was ist eigentlich mit Hauptkommissar Bredemaier? Was treibt der? Hat der nichts beizusteuern?«
»Tja, da fragen Sie mich ehrlich gesagt zu viel. Ich glaube, sein Status ist mehr der eines … Beraters.«
»Ist das so oder sieht er das so?«
»Das sollten wir nicht am Telefon besprechen«, sagte Frau Isenwald ungewohnt ernst.
»Na schön. Wir sehen uns ja morgen.«
»Das klang gerade zumindest ganz so. Dann weiterhin gute Besserung.«
Frau Isenwald legte auf, und Burgl beugte sich über ihre Sessellehne zu ihm.
»Du kommst ja tatsächlich wieder in Form«, sagte sie und küsste ihn. »Möchtest du was essen?«
»Ein Steak mit Fritten, schön blutig«, sagte er und wartete ihren entgeisterten Blick ab, bevor er sagte: »Warn Scherz. ‘ne Scheibe Toast mit Margarine könnte ich mir eventuell vorstellen.«
* * *
»Leck?«, fragte Johanna. »Wie ›Leck am Oarsch‹?«
»Schleswig-Holstein«, sagte Bredemaier. »Da stamm ich her. Meine Mutter lebt da. Es ist ein schönes, großes Haus. Meine Großeltern haben da noch Landwirtschaft betrieben. Die Eltern haben es dann umgebaut, zum reinen Wohnhaus. In meiner Kindheit hatten wir noch zwei Mietparteien drin, später dann Ferienwohnungen. Aber seit mein alter Herr tot ist, vermietet meine Mutter nicht mehr. Wenn Sie mögen, können Sie da unterschlüpfen, bis sich hier der Rauch verzogen hat.«
»Schleswig-Holstein …«, murmelte Johanna.
»… meerumschlungen«, ergänzte Bredemaier mit einem warmen Lächeln.
»Wie muss i mir des nachad vorstelln, dort?« Johannas Miene war mehr als skeptisch.
»Flach«, antwortete Bredemaier.
»Und dei Frau Muatter … was meint denn de dazu?«
»Mit der red ich schon.« Bredemaier schenkte sich noch einen Scotch ein, es war der fünfte an diesem Tag, nach Johannas Zählung.
»Leck.«
Sie konnte es sich nicht vorstellen. Beim besten Willen nicht. Manchmal sah sie im Fernsehen Filme, die an der Nordsee spielten. Wo die Landschaft kein Ende nahm und irgendwie immer Nebel herrschte. Und ständig das Meer drohte, über die Deiche zu kommen.
Sie wollte da nicht hin.
Aber das war höchstens die halbe Wahrheit. Sie wollte hier nicht weg, gestand sie sich ein.
Theo und sie waren einmal für ein langes Wochenende in Österreich gewesen. Es hatte ihnen gefallen, aber es hatte ihnen auch beiden gereicht.
Das Bienerl hatte immer weggewollt. Sie war in ihrem kurzen Leben an zehnmal mehr Orten gewesen als Johanna bis heute. Ihr graute jedes Jahr vor der Forderung der Kinder, in Urlaub zu fahren. Unter Mühen schaffte sie es Jahr für Jahr, sie in Jugendgruppen unterzubringen, mit denen sie dann in die Welt fuhren oder flogen. Flogen! Allein die Vorstellung trieb Johanna den Schweiß auf die Stirn. Sie saß dann allein zu Hause und hatte die ganze Zeit nichts als Sorge, dass die beiden heil wieder heimkämen. Severin war nun auch alt genug, allein zu fahren, und schon der Gedanke daran nagte an ihren Nerven. Sie war richtig erleichtert gewesen, als er ihr mitteilte, für Urlaub erst mal kein Geld mehr ausgeben zu wollen. Stattdessen suchte er sich nun in den Ferien Jobs, um sich seine Instrumente kaufen zu können.
Und jetzt wollte dieser Bredemaier, dass sie sich mit den Kindern in Leck verkroch. Schleswig-Holstein.
Aus Angst vor der Pressefreiheit.
Nein, dachte sie. Noch nicht. Theo wird mir sagen, wann ich gehn muss.