FÜNF
Es war ein graues Licht, durch das der Adler sie trug, die Sonne unsichtbar hinter gemächlich treibenden Wolkenfetzen, aus denen immer wieder Nieselschauer fielen. Der Adler ließ sich treiben über den bewaldeten Hang, dann kreiste er über einer Lichtung. Sie erkannte die Kapelle und den Kreuzweg vom Ort herauf. Und sie erkannte den blassen, blonden Mann wieder, der dort stand. Er war nicht allein, zwei andere waren bei ihm. Drei Männer, unbeobachtet von anderen Menschen. Sie redeten. Der Adler ließ es sie nicht hören. Sie redeten, dann gingen sie auseinander. Zwei der Männer, der blonde und ein dunkler, arabisch wirkender, gingen den Kreuzweg hinab. Der Dritte blieb an der Kapelle und musterte die Gedenktafeln dort. Er trug einen teuren Mantel und einen eleganten Hut mit breiter Krempe, von der das Regenwasser troff. Der Adler zeigte ihr sein schmales, hartes Gesicht, seine kalten Augen, die vom Alter gefurchte Stirn. Dann flog er mit ihr davon.
* * *
Schwemmer saß betont aufrecht an seinem Schreibtisch, aber die Zeitung, die vor ihm lag, hatte ihm den Morgen schon verdorben, bevor er richtig angefangen hatte.
SATANISTEN-OMA GEHT AUF PASSANTEN LOS
Darunter ein unscharfes Foto von Severin und Danni Kindel, anscheinend auf dem Schulhof aufgenommen »von unserer Leserreporterin Miriam Krußhoff«. »Severin K., Bassist der Satanistenband, mit seiner Schwester Danni. Seine Großmutter attackiert Marktkunden mit Schlagstock«, lautete die Unterschrift.
Von der Seherin zur Satanisten-Oma. Wenn das kein Aufstieg war, dachte Schwemmer böse.
Frau Fuchs balancierte ein Tablett herein. Sie stellte ein Stövchen auf seinen Schreibtisch, das sie umständlich anzündete, dann schenkte sie Kräutertee in einen Becher und platzierte die bauchige, verchromte Kanne auf dem Warmhalter. Das alles passierte in einer auf Schwemmer fast ohrenbetäubend wirkenden Stille, dann schlich sie wieder aus dem Zimmer.
Schwemmer nahm widerwillig einen Schluck von dem Kräutertee. Sein Blick fiel auf die Kanne, in deren Chromoberfläche sich sein Gesicht spiegelte, rundlich verzerrt und aufgeblasen glotzte es ihn so dümmlich-gutmütig an, dass Schwemmer ihm die Zunge rausstreckte. Das sah dann wiederum so bescheuert aus, dass er tatsächlich lachen musste. Er nahm das als gutes Zeichen.
»… attackiert Marktkunden mit Schlagstock«, las er erneut. Er hatte schon in der Wache angerufen: Es hatte keine Anzeige wegen eines solchen Vorfalls gegeben. Auf Nachfrage erfuhr er, dass Adolf Kurtzbeckers Anzeige wegen Betrugs noch unbearbeitet im Eingangskorb lag. Schwemmer hatte sie sich unverzüglich hochbringen lassen.
Kurtzbecker beschuldigte Johanna Kindel der gewerbsmäßigen Scharlatanerie. Sie habe einer Frau Heinckes, Gerda, wohnhaft usw., für die Prognose der Abiturnote ihres Enkels Florian zwanzig Euro abverlangt, die diese auch bezahlt hatte. Frau Kindel hat daraufhin eine Zwei vorhergesagt. Allerdings sei Florian Heinckes, was er seiner Großmutter verschwiegen hatte, wegen häufiger, unentschuldigter Fehlzeiten die Zulassung zur Abiturprüfung verweigert worden, sodass er das letzte Jahr würde wiederholen müssen. Die Vorhersage der Frau Johanna Kindel sei somit von vornherein unzutreffend gewesen und der Tatbestand des Betruges bewiesen.
Wie Kurtzbecker an die Information gekommen war, stand da nicht. Bisher hatte die Polizeistation Garmisch-Partenkirchen aus verschiedenen Gründen noch keine Gelegenheit gefunden, die Zeugin Heinckes, Gerda zu befragen, und das würde sich in den nächsten Tagen auch nicht ändern.
Schwemmer nahm sein Handy und rief Bredemaier an. Es läutete wenige Male, bevor sich die Mailbox meldete. Schwemmer bat um Rückruf.
Wenn der Bredemaier so viel Zeit mit der Kindel verbrachte, wie er Burgl erzählt hatte, sollte er etwas von der Schlagstockattacke mitbekommen haben, die im Innenteil von einer empört aus einem Foto starrenden Frau bezeugt wurde. Sie, gehbehinderte Hausfrau, präsentierte sich als das Opfer, das von Frau Kindel ohne erkennbaren Grund geschlagen worden war. Für Högewalds Journalistenehre wäre der Artikel nicht vollständig gewesen ohne den Hinweis auf die anhängige Betrugsanzeige gegen die Satanisten-Oma.
Nach einem scheuen Klopfen steckte Schafmann den Kopf ins Büro. Erst als Schwemmer ihm ermutigend zunickte, trat er ganz ein. Er hatte einen ganzen Stapel Aktenmappen dabei, die er auf Schwemmers Schreibtisch ablegte.
»Alles klar?«, flüsterte er. »Oder soll ich später kommen?«
Schwemmer winkte ärgerlich ab. »Komm rein und red normal. Solang du mich nicht anbrüllst, passt das schon.«
»Das Wichtigste zuerst«, sagte Schafmann, als er Platz genommen hatte. »Siegfried Schieb wurde heute Nacht am Hauptbahnhof Hamburg festgenommen. Er wird uns heut Nachmittag angeliefert.«
»Na, das ist doch mal was.« Das war eine Nachricht, die seine Laune erst mal stabilisierte. Etwas, das er auf der Pressekonferenz zum Besten geben konnte. »Besonderheiten bei der Festnahme?«
»Er hat versucht zu entkommen, am Ende aber keinen Widerstand geleistet.«
»Ich bin sehr gespannt, was der uns erzählen wird.«
Schafmann klappte die nächste Mappe auf.
»Von Pollscheidt bestätigt definitiv, dass es sich bei dem Toten um den Besitzer des Gebäudes, Walter Schieb, handelt.«
»Wie das?«
»Dräger hat die beiden Kiefer gefunden, und von Pollscheidt hat den Zahnarzt gefragt.«
»Die beiden Kiefer?«
»Ja. Einzeln. Sie haben ziemlich weit auseinandergelegen … Die Witwe wurde bereits informiert.«
Schwemmer räusperte sich. »Was ist mit den Eltern von Oliver Speck?«
»Bei denen war ich vorgestern Abend.«
»Du persönlich?«
»Ja.« Schafmann wollte das Thema offenbar nicht weiter vertiefen. Er zog eine weitere Mappe aus dem Stapel und blätterte darin.
Schwemmer sah zum Fenster. Er versuchte, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen, dass ihm diese Aufgabe erspart geblieben war.
»Das hier ist etwas kompliziert«, sagte Schafmann. »Wir haben bei den Netzbetreibern abgefragt, ob während der wahrscheinlichen Tatzeit am Reschberg mit Handys telefoniert wurde. Die Anzahl war einigermaßen übersichtlich. Deinen Anruf bei der Wache konnten wir als Referenz nehmen und so den Zeitraum eingrenzen: Außer deinem waren da oben vier Handys in Betrieb.«
»Vier?« Das waren mehr, als Schwemmer erwartet hatte.
»Ja, alles nicht registrierte Prepaidnummern und erst vor Kurzem erstmals benutzt. Wir haben sie der Einfachheit halber von 1 bis 4 durchnummeriert. 1 und 2, sowie 3 und 4 haben in den letzten Tagen jeweils untereinander regen Verkehr gehabt, aber nicht mit den jeweils anderen. Also 1 und 2 gehören zusammen. 3 und 4 gehören zusammen.«
Schwemmer nickte. Zwei Paare, die sich gegenüberstanden. Täter und Opfer? Wer war mit Oliver Speck dort oben gewesen?
»Besonders rege war der Verkehr während und nach deiner Verfolgungsjagd.«
»Während der Verfolgungsjagd?«
»Ja. Nummer 1 hat dreißig Sekunden vor deinem Anruf eine weitere Nummer, also die 5, angerufen. Die befand sich zu dem Zeitpunkt in Garmisch, Innenstadt. Die Nummer 5 hat daraufhin die 2 angerufen, die sich in der Nähe der 1 befand, das Gespräch wurde aber nicht angenommen. Dann hat die 5 noch eine Nummer, das wäre die 6, angerufen und erreicht. Das Handy war in Obergrainau. Das alles innerhalb von zwei Minuten. Keines der Gespräche dauerte länger als zehn Sekunden.«
»Das heißt: Keiner von denen war der Motorradfahrer«, sagte Schwemmer.
»Stimmt. Die Nummer 3 hat die 4 angerufen, dreieinhalb Minuten nach deinem Anruf. Das Gespräch dauerte fünfzehn Sekunden.«
»Der Motorradfahrer. Nachdem er mich losgeworden war, hat er Entwarnung gegeben.«
»Höchstwahrscheinlich. Das passt auch räumlich. Die 3 bewegte sich bei dem Anruf in der Gegend Pflegersee.«
Schwemmer kratzte sich an dem Pflaster an der Schläfe, das heute zu seiner Erleichterung den Verband ersetzt hatte. »Hast du das schriftlich für mich?«, fragte er.
»Klar.« Schafmann reichte ihm eine Kopie des Blattes, von dem er vorlas. »Die Nummern 1, 2, 5 und 6 haben in den drei Tagen vor dem Mord häufig untereinander gesprochen, in allen Kombinationen. Und meist befanden sie sich in Garmisch, Partenkirchen, Grainau oder Burgrain.«
»Was ist mit dem toten Walter Schieb? Könnte der dazugehört haben?«
»Unwahrscheinlich. Laut Aussage seiner Frau waren sie zur fraglichen Zeit in der Spielbank. Das hab ich zwar noch nicht überprüft, aber die nehmen ja die Personalien von jedem Besucher auf.«
»Dann check das bitte … Verbleiben also Oliver Speck, Petr Unbekannt, dazu Siegfried Schieb und Georg Schober.«
Schafmann schüttelte den Kopf. »Da sollten wir uns nicht festlegen. Oliver Speck und drei andere. Weiter würde ich nicht gehen.«
»Du hast recht.« Schwemmer ärgerte sich über seinen Patzer. Er ging schon wieder mit einem fertigen Bild an die Sache, das er sich von den Ergebnissen bestätigen lassen wollte. Er griff nach der Teekanne und schenkte sich nach.
»Und es gibt immer noch den Severin Kindel, nicht wahr?« Schafmann sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an.
»Weist denn irgendwas auf ihn hin?«, fragte Schwemmer.
»Wenn man mal hingeht und paranormale Fähigkeiten generell in Zweifel stellt … Wer wäre dann die wahrscheinlichste Quelle für Johanna Kindels Wissen?«
Schwemmer nippte an seinem Tee.
»Warum sollte ausgerechnet der Kindel der Einzige in der Band sein, der von nichts weiß? Mir erscheint die Annahme logisch, dass er seiner Großmutter davon erzählt hat, aus schlechtem Gewissen oder warum auch immer. Und dass die anderen etwas vorhaben, wissen wir ausschließlich von ihm.«
»Und dann sprengt er den Proberaum in die Luft?«
»Das meine ich nicht. Ich meine nur, dass wir ihn eigentlich genauso festnehmen müssten wie Siegfried Schieb.«
»Kindel ist immerhin nicht abgehauen.«
»Aber auch nur knapp. Nach der Explosion ist er uns stiften gegangen.«
»Wie?«
»Er hat sich aus der Wache verpisst, durch die Parkplatztür, Kommissar Greiner hat nicht aufgepasst. Aber dann ist er freiwillig zurückgekommen.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Nein. Vielleicht, um den Verdacht auf Siegfried Schieb zu lenken. Das hat er nämlich gemacht. Und diesen Petr kennt bisher auch nur er. Vielleicht hat er sich den ausgedacht, um seine eigene Rolle in dem Spiel zu verschleiern.«
Schwemmer trank weiter lustlos von dem Kräutertee. Was ihm an Schafmanns Ausführungen am meisten auf die Nerven ging, war, dass sie Hand und Fuß hatten.
»Fluchtgefahr?«, fragte er.
Schafmann wiegte den Kopf. »Gering. Es sei denn, er flüchtet vor Högewald.«
»Gut. Dann erklären wir ihn intern für verdächtig. Reicht dir das?«
Schafmann nickte.
»Schön. Noch was, das ich über die Handys wissen muss?«
»Steht alles in dem Bericht. Die Kollegen arbeiten an der Analyse. Nur eins noch: Die Handys 3 und 4 wurden nach dem letzten Gespräch sofort endgültig ausgeschaltet. 1, 5 und 6 erst am nächsten Tag, nach der Explosion. Die 2 war nach den Schüssen am Reschberg noch eine Zeit lang an, wurde auch mehrfach von den andern angerufen, hat sich aber nicht gemeldet. Nach etwa zwei Stunden wurde sie auch abgeschaltet.«
»Dann war das Oliver Specks Nummer.«
»Wir haben allerdings kein Handy gefunden bei ihm«, sagte Schafmann.
»Dann hat der Täter ihm das Gerät abgenommen, bevor er ihn den Hang hinuntergeworfen hat.«
»Apropos Handys …« Schafmann verzog den Mund. »Weißt du, was der Mensch im Rechenzentrum gesagt hat, als ich ihn wegen der Daten anrief? ›Noch mal das Gleiche?‹, fragt der mich. Ich sag: ›Wieso?‹ Und der sagt: ›Das hab ich doch grad schon fürs BKA rausgesucht.‹«
Schwemmer ließ seinen Kopf nach vorn fallen und bewegte ihn hin und her, in der Hoffnung, so seinen Nacken zu entspannen.
»Wann war das?«, fragte er.
»Kurz nachdem wir Speck gefunden hatten. Vorgestern so gegen Mittag, du warst noch zu Hause.«
»Fixer Bursche, der Bredemaier.«
»Mag ja sein. Aber ich hab von dem noch keine Hilfe gekriegt.«
»Er ist mehr ein Berater, sagte mir die Isenwald. Du kannst sie gleich selber fragen. Sie kommt zur Pressekonferenz.«
»Muss ich da eigentlich mitmachen?«, fragte Schafmann unsicher.
»Würd nicht schaden«, antwortete Schwemmer, aber er rechnete damit, dass Schafmann eine Ausrede finden würde. Seinen Magen, zum Beispiel. In Wahrheit war es Lampenfieber.
»Zu der Explosion«, sagte Schafmann und öffnete die nächste Akte. In diesem Moment läutete das Telefon auf Schwemmers Schreibtisch. Es war die Wache.
»Wir haben hier eine Zeugin, die sollten Sie sich vielleicht anhören«, sagte Oberwachtmeister Demski.
* * *
»Wie schaust du denn aus?«, fragte Silvie. Sie musterte Severin mit einer Mischung aus Spott und Erschrecken.
»Was meinstn, wie i ausschau?«
»Na, gruslig. Wie Halloween oder so …«
»Ned wie a Satanist?« Severin verzog unzufrieden den Mund.
»Wie ein Satanist willst aussehen? Wieso das denn?«
»Wenn de Leit an Satanisten brauchn, sollns eam a kriagn.«
»Sag mal, bist jetzt deppert, oder was? Was soll denn das?«
Sie standen auf dem Schulhof, an seinem Platz, und er war sehr froh gewesen, Silvie da stehen zu sehen, als warte sie auf ihn.
»I denk mir schon was dabei, wart’s halt ab.«
Sie musterte ihn erneut von Kopf bis Fuß. »Na ja, der schwarze Mantel passt schon«, sagte sie.
»Den hab i der Großmutter ausm Schrank klaut. Was isn mit am Make-up?«
»Na ja, zeig mal …« Sie trat zu ihm heran und öffnete ihre Tasche. Mit gezieltem Griff holte sie ein Mäppchen hervor, aus dem sie einen Kajalstift zog, mit dem sie seinen Lidstrich nachzog, und Wimperntusche, die sie großzügig auftrug. Mit einem Papiertaschentuch wischte sie noch hier und da in seinem weiß und grau geschminkten Gesicht herum, dann nickte sie zufrieden. »So kannst bei Marilyn Manson vorspielen.«
»Des mach i a.«
Er sah sich um. Natürlich hatte er die Zeitung gelesen. Er war früh aufgestanden, hatte Danni und der Großmama Zettel hingelegt, dass sie sich nicht sorgten. Dann war er aus dem Haus, hatte am Bahnhof einen Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen. Es war klar, dass es nicht vorbei war, aber der Artikel über die Großmutter hatte ihn geschockt. Sie hatte gar nicht erzählt, dass irgendwas vorgefallen war. Wie auch immer: Die Lage war eine andere heute. Er hatte kein Auge zugemacht in dieser Nacht, aber nun war er entschlossen, sein Ding durchzuziehen.
Er würde es ihnen zeigen.
Severin sah sich auf dem Schulhof um. Offenbar war sein Outfit schon Gesprächsstoff. Ingas Clique stand zusammen, es wurde hämisch gekichert und überheblich gelacht. Miriam Krußhoff stand auch dabei, die »Leserreporterin«.
»Jetzat pass auf«, sagte er zu Silvie und ging stracks auf Miriam zu. Er starrte sie an, sah nicht rechts oder links. Die Arme steif an den Seiten hängend stiefelte er in seinen Docs rücksichtslos über den Schulhof, rempelte ein oder zwei Leute zur Seite, ohne auf deren Protest zu reagieren. Die Mädchen bemerkten ihn, einige kreischten vor Vergnügen. Es würde was zu lachen geben.
Dachten sie.
»Was willst du denn? Verpiss dich bloß«, sagte Inga, aber er ignorierte sie völlig, was sie merklich irritierte. Er ging stumm und starr auf Miriam zu. Er sah ihr an, dass sie wusste, was sie getan hatte, in ihrem Gesicht arbeitete es, wahrscheinlich legte sie sich eine wütende Rechtfertigung zurecht.
Zwei Schritt vor ihr blieb er stehen, immer noch war sein Gesicht völlig unbewegt, seine Augen starr. Dann hob er langsam die linke Hand und richtete den kleinen und den Zeigefinger nach vorn auf Miriams Augen.
»Morituram septitiam augustus finitibus omen est«, sagte er laut mit seiner tiefsten Grindcore-Stimme. »Miriam Krußhoff, ich verfluche dich!«
Reglos, mit erhobenem Arm blieb er stehen.
Die Mädchen waren verstummt. Eine, die links neben Miriam stand, machte einen hastigen Schritt von ihr weg. Die auf der anderen Seite bekreuzigte sich, und eine andere aus der Gruppe machte es ihr eilig nach.
Als er leise bis zehn gezählt hatte, drehte er sich gravitätisch um. Überrascht bemerkte er Silvie, die dicht neben ihm stand. Ihr sichtbares Bemühen, ernst zu bleiben, machte es ihm auch schwer, aber es gelang ihm, gemessen und feierlich zurück zu seinem Platz neben der Aulatür zu schreiten.
Auf dem Schulhof, zumindest unter denen, die das Ganze mitbekommen hatten, herrschte Verblüffung.
Aber keiner lacht, dachte Severin grimmig.
Silvie redete eine ganze Weile ernsthaft auf Miriam ein. Als der Gong läutete, kam sie zu ihm.
»Das war jetzt nicht wirklich Latein, dein Spruch da«, sagte sie.
»Latein kann i ned. Aber de Henna da drübn, de könnens a ned. Was hast dene verzählt?«
»Sie wollten halt wissen, was du gesagt hast, und da musst ich natürlich improvisieren. Ich hab gesagt, dein Fluch würde sie in den siebten Kreis der Hölle bringen. Dann hat sie noch gefragt, wann, da hab ich gesagt: im August. Weil du hattest irgendwas mit Augustus dabei, oder? Jedenfalls: Respekt. Der Frau Schneider standen die Tränen in den Augen.«
»Im August? Warum ned. Da hats ja noch a paar Monat hin.«
»Na ja, ich hab ihr nicht gesagt, in welchem August …«
Severin bemerkte die drohenden Blicke der Aufsicht.
»’s wird Zeit. Wir müssn.«
Sie nahmen ihre Taschen und gingen zum Eingang.
»Was meinst, würd dein Vater was springn lassn für an Exklusivinterview mit’m Chef-Satanistn?«
Silvie sah ihn verblüfft an, dann begann sie zu lachen.
»Das willst du machen? Ich werd nicht mehr …«
»Was meinst? Geht da was?«
»Da geht einiges, Alter. Wir reden nachher drüber.« Immer noch lachend bog sie in den Gang zu ihrem Klassenraum.
Severin sah ihr ein paar Sekunden nach, bevor er die Treppe hochstieg.
* * *
Die alte Frau saß verschüchtert zwischen den Polizisten und nestelte am Knoten ihres Kopftuches. Ab und zu murmelte sie ein paar Worte in sich hinein.
»Sie meint, drei Schüsse gehört zu haben«, sagte Oberwachtmeister Demski.
Demski war in Omsk geboren und mit seinen Eltern kurz nach dem Mauerfall als Russlanddeutscher übergesiedelt. Die Kollegen waren häufig froh über seine Dolmetscherdienste. Auch diesmal wäre es ihnen ohne Demski nicht gelungen, wirklich zu verstehen, was die ängstliche Dame ihnen zu vermitteln versuchte.
»Gestern Nacht in der Nachbarwohnung. Sie wollte eigentlich sofort die Polizei rufen, aber ihr Mann hat es ihr verboten.«
»Warum?«, fragte Schafmann.
»Lebenserfahrung, würde ich vermuten«, antwortete Demski. »Es gibt Länder, da freut man sich gar nicht, wenn die Polizei ins Haus kommt. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob es wirklich Schüsse waren.«
»Und warum kommt sie jetzt trotzdem?«
»Sie hat heute Morgen an der Tür der Wohnung Blutspuren entdeckt. Sie hat geläutet, aber es gab keine Reaktion. Dann ist sie hergekommen. Sie bittet inständig, nichts ihrem Mann zu erzählen.«
»Wir werden sehen, was sich machen lässt«, sagte Schwemmer. »Wer wohnt in der Wohnung?«
»Der eigentliche Wohnungsbesitzer, ein Herr Bretcnik, ist seit einigen Monaten im Ausland«, sagte Demski. »Sie glaubt, er hat einen Job in der Schweiz. Jetzt wohnt da ein Mann, der angeblich sein Vetter ist. Er hat sich ihr als Petr vorgestellt.«
Schafmann und Schwemmer standen gleichzeitig auf.
»Demski, nehmen Sie ein ausführliches Protokoll auf«, sagte Schwemmer.
»Wir müssen da rein«, sagte Schafmann. »SEK?«
»Ja«, sagte Schwemmer. »Obwohl ich fürchte, dass es überflüssig sein wird.«
Schwemmer behielt recht. Das SEK brach nach Vorschrift die Wohnungstür auf und verabschiedete sich wieder, nachdem die gepanzerten Männer die drei Räume überprüft hatten. In der Wohnung war niemand mehr, der sie hätte angreifen können.
Aber im Durchgang von der winzigen Diele zum Wohnraum hatten sie den regungslosen Körper eines Mannes gefunden. Er trug eine dunkelbraune Jeans und ein schwarzes Lederjackett und lag auf dem Bauch. Neben seiner linken Hand lag ein kurzläufiger, verchromter .38er Revolver mit aufgeschraubtem Schalldämpfer.
Schwemmer und Schafmann waren vor der Wohnungstür im Treppenhaus stehen geblieben. Sie konnten von hier den Körper und den größten Teil des Wohnraums sehen. Neben dem Mann kniete ein Notarzt, der ihnen aber sofort mit einem Kopfschütteln zu verstehen gegeben hatte, dass hier nichts mehr zu machen war. Weiter hinten in der Wohnung war Dräger dabei, sich ein Bild zu machen. Der Nächste, den Schwemmer reinwinkte, war Drägers Fotograf.
Drei uniformierte Kollegen hatten die undankbare Aufgabe, die anderen Mieter des Hauses dazu zu bringen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Aus der gegenüberliegenden Tür hatte nur kurz ein sehr mürrisch dreinblickender alter Mann geschaut und sie dann wieder geschlossen, aber in den anderen beiden Stockwerken traf ihr Auftritt auf größtes Interesse. Vor allem zwei etwa sechsjährige Buben im zweiten Stock turnten am Stiegengeländer herum und waren ganz aus’m Häusl über das Abenteuer, die Polizei vor der Tür zu haben.
Nachdem der Fotograf die Lage der Leiche ausreichend dokumentiert hatte, drehte der Arzt den Toten um.
Das Jackett des Mannes und das dezent gemusterte, marineblaue Hemd darunter wirkten elegant und teuer, waren allerdings durch zwei Einschüsse ruiniert. Vor allem der in der Unterbauchgegend hatte einen großen Blutfleck zur Folge gehabt, der zweite hatte ziemlich genau ins Herz getroffen.
Der Mann schien nordafrikanischer Herkunft. Sein Haarschnitt war modisch kurz, die Wangen waren glatt rasiert.
Schafmann schüttelte den Kopf. Nach Severin Kindels Beschreibung war dies nicht der gesuchte Petr.
»Es gibt einen Einschuss in der Wand neben dem Fenster. Und Blutspuren«, sagte Dräger von hinten. »Nicht vom Opfer, wenn ihr mich fragt. An der Gardine, am Türrahmen zur Diele und an der Wohnungstür.«
Schwemmer versuchte, sich auf die Informationen einen Reim zu machen. Schafmann versuchte, schneller zu sein.
»Der Mann hier hat mindestens zwei Kugeln auf einen Menschen in der Wohnung abgefeuert, der hat zurückgeschossen. Beide haben getroffen, der andere allerdings tödlich. Der andere ist verletzt, kann aber die Wohnung verlassen …«
»Darf ich mal durch«, hörten sie eine satte Baritonstimme aus dem Erdgeschoss. Mit seinem Dienstausweis wedelnd drängte EKHK Bredemaier sich an den Kollegen vorbei die Stiege zum ersten Stock herauf. Schwemmer und Schafmann sahen ihm stumm entgegen, aber er schien das nicht als Missbilligung aufzufassen. Bredemaier war sichtlich guter Laune.
»Liebe Kollegen, wenn ich geahnt hätte, wie aufregend ihr netter, kleiner Ort ist, hätte ich Sie viel früher mal besucht.«
Dass er keine Antwort erhielt, störte ihn nicht merklich.
»Darf ich mal?«, fragte er und zwängte seinen Kopf in den Türrahmen. »Ah ja«, sagte er nach einem kurzen Blick auf das Opfer und zog den Kopf wieder zurück.
»Hat Frau Kindel das hier auch vorhergesagt?«, fragte Schwemmer.
»Nein, das hat sie nicht. Aber sie hat ja auch nie Anspruch auf Vollständigkeit erhoben … Ganz im Gegensatz zu unseren Dienstvorschriften, nicht wahr?« Bredemaier lächelte vergnügt.
»Es freut mich, Sie guter Laune zu sehen, Herr Bredemaier«, sagte Schwemmer. »Aber nach drei Toten in vier Tagen werden Sie mir verzeihen, dass ich die nicht teilen kann.« Ein bisschen freute Schwemmer, dass sein Gehirn wieder solche Sätze zu bilden in der Lage war. Es ging ihm offenbar wirklich besser.
»Haben Sie in der Wohnung nach einem Handy gesucht?«, fragte Bredemaier, der offenbar nicht willens war, sich von der herrschenden dienstlichen Ernsthaftigkeit beeindrucken zu lassen.
»Herr Kollege, wir suchen nicht nach etwas«, sagte Schafmann. »Wir schauen, was wir finden.«
»Das ist natürlich richtig so, Herr Hauptkommissar Schafmann. Aber falls Sie ein Handy finden sollten, empfehle ich, es als Erstes zu untersuchen.«
»Mit Handys haben Sie’s, hm? … Herr Kommissar Dräger«, rief Schwemmer mit genervtem Unterton in die Wohnung hinein. »Haben Sie ein Handy gefunden?«
»Ja«, war die Antwort.
Bredemaier strahlte. »Angeschaltet?«, rief er.
»Nein.«
»Schade. Chipkarte drin?«
»Moment … ja.«
»Danke!«, rief Bredemaier Dräger zu.
Er griente Schwemmer an, und der hatte den Eindruck, dass der Mann zu dieser Vormittagsstunde schon leicht rauschig war.
»Ich wette, das ist eines von denen, die oben am Reschberg waren«, sagte Bredemaier.
Schwemmer und Schafmann tauschten einen beherrschten Blick. »Danke für die Beratung«, sagte Schafmann.
»Keine Ursache«, antwortete Bredemaier. »Dieser Tote, der erinnert mich an etwas. Da war eine Sache, die von den Kollegen in Marseille kam, wenn ich nicht irre …« Er steckte wieder seinen Kopf in die Wohnungstür und sah die Leiche noch mal an. »Herr Doktor«, sagte er dann zu dem Arzt, der gerade seinen Koffer zuklappte, »wären Sie so lieb und schauen vielleicht mal, ob der Mann eine Tätowierung an der linken Schulter hat?«
Der Arzt öffnete die oberen Hemdknöpfe des Mannes und zog Hemd und Jackett nach hinten über die Schulter.
»Einen Totenkopf, zwischen den Zahlen 2 und 3«, sagte er.
Bredemaier nickte zufrieden. »So aus dem Kopf würde ich sagen, das ist Luc Deloitte«, sagte er. »Franzose algerischer Herkunft. Aber überprüfen Sie das bitte. Die Tätowierung spricht dafür, aber ganz sicher bin ich nicht.«
»Hat die Täto eine Bedeutung?«, fragte Schafmann.
»Ja. Sie entstammt ursprünglich dem Marseiller Herot-Clan. Die Tätowierung ist sozusagen das Clanwappen. Die 23 steht für das Gründungsjahr.«
»1923? So lange gibt’s die schon?«, fragte Schafmann.
»1823, Herr Kollege. Aber es gibt den Clan nicht mehr. In den Neunzigern, also den Neunzehnneunzigern, meine ich …«, er lachte, »wurden die Herots in Bandenkriegen mit einem korsischen und einem marokkanischen Clan regelrecht aufgerieben. Deloitte hat überlebt. Das sagt per se schon einiges über ihn aus. Seitdem arbeitet er auf eigene Rechnung. Wir wissen von vier Leuten aus der gehobenen Drogenszene, die er getötet hat, nicht nur in Frankreich. Aber ich bin mir sicher, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist.«
»Und was macht so einer in einer Siebenunddreißig-Quadratmeter-Sozialbauwohnung in Garmisch-Partenkirchen-Burgrain?«, fragte Schwemmer. »Wie passt der hierhin?«
»Der Mann ist ein Profi«, sagte Bredemaier. »Er tötet für Geld.«
»Ein Profi? Sie meinen, dieser Mann hat auch Oliver Speck erschossen?«
»Wäre doch naheliegend«, sagte Bredemaier lächelnd. »Finden Sie nicht?«
* * *
Sie begegneten sich auf dem Gang vor dem Physiksaal. Auf einmal fiel ihm auf, dass sie sich immer hier begegneten, wenn er nach Englisch zu Chemie ging. Aber er hatte sie nie beachtet. Und sie ihn auch nicht. Er war sich sicher, dass er bemerkt hätte, wenn es anders gewesen wäre.
Diesmal blieben sie voreinander stehen. Silvie musterte ihn erneut, seinen schwarzen Mantel und das alberne Make-up. Zwar verzog sie etwas spöttisch den Mund, aber ihr Blick war ernst.
»Und?«, fragte sie. »Probleme?«
»Na. Da Riedl hat getan, als wär nix. Und sonst hat sich keiner traut, was zu sagn.«
»Ich muss dich was fragen«, sagte sie ernst. »Wieso vertraust du mir eigentlich?«
»Meinst, zweng deim Vater?«
»Zum Beispiel. Ich könnt mein Wissen doch einfach an ihn weitergeben.«
»Wieso i dir vertrau …« Er sah sie an. Ihre Nase war ziemlich breit, und ihre linke Augenbraue zog sich außen so seltsam nach oben, was ihr Gesicht ein klein wenig unsymmetrisch machte. Und sie färbte ihre mittelblonden Haare nicht, was die meisten Mädchen in ihrem Alter wohl getan hätten.
Sie sah einfach ganz anders aus als Inga.
»Weißt was? I hab keinen Schimmer. Aber i denk drüber nach«, sagte er und hoffte, sein Lächeln würde nicht zu albern wirken unter seiner Maske.
»Okay«, antwortete sie nur und ging weiter. Er sah ihr nach und fühlte sich seit Tagen zum ersten Mal wieder gut. Es hielt sogar ein paar Momente lang an. Bis sein Handy vibrierte und Girgl sich am anderen Ende meldete.
* * *
»Vielen Dank für Ihr Erscheinen, meine Damen und Herren. Für diejenigen unter Ihnen, die mich noch nicht kennen: Ich bin Erster Kriminalhauptkommissar Schwemmer, ich leite die hiesige Kriminalpolizeistation. Hier neben mir sitzen Hauptkommissar Schafmann, der die SOKO leitet, und Frau Doktor Isenwald von der Staatsanwaltschaft in München …«
Eine Pressekonferenz dieser Größe hatte er das letzte Mal geleitet, als er noch in Ingolstadt war. Zwei Fernsehteams waren da. Damals war es um die Entführung einer Schlagersängerin gegangen, die sich nachher aber als aus dem Ruder gelaufene PR-Aktion ihres Managers entpuppt hatte. Schwemmer war damals vom Merkur lobend erwähnt worden. Den Artikel hatte Burgl noch irgendwo.
Sie hatten sich entschlossen, die PK durchzuziehen, obwohl wegen des Toten in Burgrain die Lagebesprechung der SOKO hatte verschoben werden müssen. So hatten sie fast nichts in den Händen, was sie der ungeduldig wartenden Meute hätten vorwerfen können.
Schafmann neben ihm hatte die Hände zu Fäusten gekrampft auf den Oberschenkeln liegen. Er hatte eigentlich nicht teilnehmen wollen, wegen Magenbeschwerden, aber Frau Isenwald hatte ein Tütchen mit Magenmittel aus ihrer schicken Handtasche gezogen und es Schafmann auf den Tisch geknallt. Danach hatte er sich nicht mehr getraut, sich zu drücken.
Schwemmer hatte sich den Trick für die Zukunft gemerkt. Aber ein bisschen in Sorge war er doch, denn als Leiter der SOKO würde Schafmann die ein oder andere Frage gestellt bekommen. Er hoffte, das Lampenfieber würde ihn dann nicht völlig lähmen.
Schwemmer erläuterte den Zuhörern so wortreich wie möglich, was sie bis jetzt wussten, was leider nicht viel war. Auch den von Bredemaier erwähnten Namen würden sie noch lange nicht veröffentlichen können. Er verbrämte ihren mageren Wissensstand mit einer polizeitaktischen Nachrichtensperre und kam dann umgehend zu seinem Anliegen.
»Eine der wenigen Sachen, bei der wir sicher sein können, ist, dass die Band ›Rattenbrigade‹ und ihre Mitglieder nicht, ich wiederhole: nicht in irgendeinem Zusammenhang mit Satanismus stehen oder standen und im gesamten Fall keinerlei Hinweise auf Okkultismus, Satanismus oder Ähnliches aufgetaucht ist. Die Mitglieder der Gruppe und im Besonderen den getöteten Oliver Speck mit Satanismus in Verbindung zu bringen, wäre von daher üble Nachrede.«
In der zweiten Reihe saß Högewald unter seinem unvermeidlichen Gamsbart-Hut und hob die Hand. Das maliziöse Lächeln auf seinem Gesicht ließ nichts Gutes ahnen, als er aufstand, um seine Frage zu stellen.
»Ein Zeuge hat ein Pentagramm im Keller des gesprengten Hauses gesehen«, sagte er. »Was ist damit?«
»Zum einen«, antwortete Schwemmer, »ist noch unklar, ob es sich um eine Sprengung, also eine absichtlich herbeigeführte Explosion oder um einen Unfall handelt. Von daher bitte ich, dieses Wort vorerst zu vermeiden. Zum Zweiten: Die Zeugenaussage ist uns bekannt und wurde im Rahmen einer anderen Ermittlung bereits vor dem Mord an Oliver Speck und damit auch vor der Explosion überprüft. Dabei wurde von uns festgestellt, dass es sich nicht um ein Pentagramm, sondern um einen sogenannten Anarcho-Stern handelte. Auch im Proberaum selber wurden keinerlei Hinweise auf Satanismus gefunden.«
»Was für Ermittlungen waren das respektive was für ein Fall?«, fragte Högewald.
Das Grinsen hing immer noch in seinem Gesicht, und nun wusste Schwemmer auch, wieso.
»Darüber kann ich aus ermittlungstechnischen Gründen hier und jetzt keine Auskunft geben«, sagte Schwemmer. Er merkte, wie steif das klang, aber eine bessere Formulierung war ihm nicht eingefallen. Frau Isenwald hüstelte.
»Können Sie bestätigen, dass es in unmittelbarer Umgebung des gesprengten Hauses eine Grabschändung gab?«
Im Saal gab es Gemurmel. Schwemmer bemerkte den Seitenblick Isenwalds. Es ärgerte ihn, dass Högewald einfach weiter von Sprengung sprach, aber wenn er jetzt noch mal darauf einging, war er der Kleinliche, der sich hinter Formalien verschanzte.
Schwemmer räusperte sich. »Kein Kommentar«, sagte er dann ins Mikrofon, und das Gemurmel nahm noch einmal zu. Er wollte das Wort weitergeben, aber Högewald hob noch einmal die Hand.
»Sie behaupten, die Mitglieder seien keine Satanisten. Wie geht damit überein, dass Severin Kindel heute Morgen auf dem Schulhof des Werdenfels-Gymnasiums in aller Öffentlichkeit eine Mitschülerin mit einer okkulten Formel verflucht hat?«
»Er hat was?«, entfuhr es Schwemmer.
Das Gemurmel verwandelte sich in Durcheinanderreden. Schwemmer musste mehrfach um Ruhe bitten, um dann, als sie endlich hergestellt war, gestört zu werden von einem Kollegen aus dem K 3, der Schafmann dringend von der Bühne holen musste.
Ein junger Mann in einer der hinteren Reihen meldete sich. Mit seiner Hornbrille wirkte er auf Schwemmer wie ein Praktikant in der Redaktion einer evangelischen Kirchenzeitung, und er erteilte ihm eilig das Wort.
»Wie muss man sich diesen Anarcho-Stern denn vorstellen?«, fragte er mit so dünner Stimme, dass Schwemmer nachfragen musste, um ihn zu verstehen.
Schwemmer beschrieb den fünfzackigen schwarzen Stern auf rotem Grund mit weißem A in einem Kreis in der Mitte.
»Und wie groß war der Stern?«
Schwemmer wiegte den Kopf. »Schon ziemlich groß. Eins fünfzig vielleicht.«
»Wurde der Staatsschutz eingeschaltet?«, fragte Högewald, ohne sich gemeldet zu haben.
»Kein Kommentar«, sagte Schwemmer.
* * *
»Selten so gelacht«, sagte Isenwald. Sie marschierte neben ihm her die Treppe rauf, und Schwemmer war froh, so nicht den Ausdruck in ihren Augen ansehen zu müssen.
Er konnte davon ausgehen, gleich von ihr schockgefroren und anschließend frittiert zu werden, als angemessene Anerkennung für den Ablauf der Pressekonferenz, die vor allem auf sein Betreiben hin angesetzt worden war. Er riskierte einen Ausfall.
»Sie werden doch wohl nicht erwarten, dass ich den Staatsschutz einschalte, weil sich ein paar Halbwüchsige einen schwarzen Stern an die Wand sprühen«, sagte er.
»Geschenkt, Herr Schwemmer! Aber dass es Fragen wegen der Grabschändung geben würde, darauf hätten Sie vorbereitet sein müssen!«
»Ich war da wegen einer haltlosen Verdächtigung! Und deshalb weiß ich ja auch, dass an diesem Satanismuszeugs nichts dran ist. Der Högewald –«
»Was der Högewald morgen schreibt, will ich mir gar nicht ausmalen!«
Schwemmer konnte sich nicht erinnern, sich jemals so über das Auftauchen Schafmanns gefreut zu haben wie jetzt, außer vielleicht einmal, als er samstagnachts vor der Disco am Wellenbad den sieben Australiern gegenübergestanden hatte, die zu betrunken gewesen waren, um noch zu verstehen, dass »Police« auf Deutsch »Polizei« heißt, und er natürlich keine Waffe dabei gehabt hatte.
»Schober hat auf Kindels Handy angerufen«, sagte Schafmann und winkte sie hinter sich her zum K 3. »Er hat ihn angewiesen, was aus einem Versteck zu holen.«
»Hören wir den Kindel ab?«, fragte Schwemmer und hätte sich sofort am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Ja«, sagte die Isenwald eisig. »So was machen wir manchmal. Ich hoffe, das widerspricht nicht Ihrer Auffassung von Verbrechensbekämpfung.«
»Übrigens ist schon wieder jemand vom BKA vor uns auf die Idee gekommen«, sagte Schafmann. »Schober ist in Rheda-Wiedenbrück. Er hat dort eine Telefonzelle benutzt.«
»Wo ist das denn?«, fragte Schwemmer.
»NRW«, sagte Isenwald.
Sie erreichten den Technikraum, und Schafmann forderte den Mann, der dort vor einem PC saß, mit einer Geste auf, ihnen die Aufnahme vorzuspielen.
»Chef, i bins«, sagte Schober.
»Er nennt ihn Chef«, sagte Schafmann.
»Mann! Wo bistn du?« Das war Kindels Stimme. »Was is los? Was habts ihr angstellt? Weißt eigentlich, was mitm Spacko passiert is? Und was is mitm Probnraum? Wer war das? Und warum?«
Schober antwortete nicht, nur ein Greinen war zu hören.
»Wo seids ihr, zefix noch amoi?«
Jetzt platzte es aus Schober heraus.
»I bin in a Telefonzelln. Wo, muaßt ned wissn. I wollt nur sagn, dass mir des leidtuad. I hab doch koa Ahnung ghabt, dass de glei schiaßn. Und dann a noch da Probnram … Jessasmaria, des muaßt mir glaubn, Chef, i hab des überhaupts ned gwusst! I hab denkt, des war a simple Sach, so wie’s da Schibbsie gsagt hod. Aber dass die glei an Spacko derschiaßn …«
»Was für a Sach denn? I hab kei Ahnung, von was d’ redst!«
»Hör zua … Woaßt no, wo mir amoi a Versteck gfundn haben? So a ganz a kloans, für a ganz a kloane Sach? Mir viere zsamm. Letztn Sommer.«
»Was? Von was redst da?«
Im Hintergrund ertönte ein Schulgong.
»War während der kleinen Pause«, sagte Schafmann.
»Denk halt mal nach. Da is was drin. Hol’s da weg, hearst? I hab Angst, die komman dahinter. Aber sag’s niemand, hearst? Niemand!«
»I hab keine Ahnung, was d’ meinst. Und wer sind die?«
Die Aufzeichnung endete.
»Die Kollegen in Rheda … Dingenskirchen sind an ihm dran. Zugriff erfolgt in Kürze, hieß es«, sagte Schafmann.
»Schön«, sagte Isenwald. »Und was macht der Chef jetzt?«
Schafmann sah fragend zu Schwemmer.
»Ich meinte den Kindel«, zischte Isenwald.
»Ach so … Er hat gerade die Schule verlassen und sitzt jetzt in der Zugspitzbahn.«
»Be–«, entfuhr es Schwemmer, aber er tarnte es mit einem Husten. Beschatten wir ihn?, hatte er fragen wollen, und er war froh, es gelassen zu haben.
Einen Tag krank, und schon bist du abgemeldet, dachte er.
»Der Zug steht noch im Bahnhof. Fährt erst in …«, Schafmann sah auf seine Armbanduhr, »achtzehn Minuten.«
»Dann können wir ja jetzt mit der Lagebesprechung anfangen«, sagte Isenwald und schob ab in Richtung Konferenzraum.
Schafmann sah Schwemmer an, verkniff sich aber in Anwesenheit des Technikers eine Bemerkung. Stattdessen klopfte er ihm brüderlich auf die Schulter. Schwemmer nickte dankbar, dann folgten sie der jungen Staatsanwältin, die heute Bordeauxrot als Grundfarbe gewählt hatte, was sie ganz ausgezeichnet kleidete.
* * *
Severin nahm den Weg durchs Bahndepot, den sie immer genommen hatten, zum Proberaum. Eigentlich war da der Durchgang verboten. Aber es war vom Bahnhof halt viel kürzer als hintenrum über die Zufahrt auf der anderen Seite der Gleise. Anfangs waren sie mal angemacht worden deswegen, aber im Laufe der Zeit hatten die Leute im Depot sich an sie gewöhnt. Sie waren die langhaarigen Spinner, die in der alten Halle hinten Radau machten.
Die Männer auf der Arbeitsbühne, die oben die geborstenen Fensterscheiben ersetzten, bemerkten ihn nicht, aber drei der Bahnleute standen vor der Tür an der Seite der großen Wagenhalle und rauchten. Ihre Blicke folgten ihm, stumm und eisig.
Da geht der Satanist, stand darin.
»A ganz a kloane Sach«, hatte Girgl gesagt.
Die Chemiestunde bei Frau Huber-Gollhuber war an ihm vorbeigerauscht, ohne dass irgendwas hängen geblieben wäre. Aber irgendwann während der fünfundvierzig Minuten war ihm klar geworden, welches Versteck Girgl gemeint hatte.
Severin war mit der Zugspitzbahn nach Grainau gefahren, wie immer. Wenn ihn jemand gefragt hätte warum, hätte er irgendwas gesagt, vielleicht, dass er einfach noch einmal sehen müsste, was passiert ist, weil etwas in ihm nicht akzeptieren konnte, was gestern dort geschehen war. Oder was anderes in der Art.
Er ging um die Wagenhalle herum, vorbei an dem Getränkelager für die Bergstation, bis zum Rand des Geländes. Hier wehte ein Flatterband im Wind, und er sah eine erstaunliche Zahl Menschen auf der Wiese und am Krater, die Gegenstände auflasen und untersuchten.
»Sie hatten einen Gasofen in Ihrem Proberaum?«, hatte der Polizist ihn gefragt, und er hatte sehr skeptisch getan, als Severin ihm sagte, dass die Flasche schon seit beinahe einem Monat in Gebrauch war und fast leer sein musste.
Als ob eine einzelne Gasflasche so eine Verwüstung anrichten könnte. Er ging ein paar Schritte an dem rot-weißen Band entlang und sah hinüber zur Ruine. Er fröstelte. Es war die Ruine seiner Musik, die er da sah. Aber er spürte etwas in seinem Hinterkopf hämmern. Du bist du, und die waren die. Was immer passiert ist, es war nicht dein Fehler. Und Gitarristen gibt’s überall. Singen kann der Schibbsie auch nicht besser als du. Singen und Bass geht genauso gut wie Singen und Gitarre. Musst halt mehr üben.
Musst halt wieder neu anfangen.
Bist halt allein.
Wieder mal.
Er räusperte sich ärgerlich, als er Tränen in der Nase spürte. Zwischen Huflattich und Sauerampfer stand er vor der Rückseite der Wagenhalle. Er musste ein wenig suchen, bis er die unverputzte Stelle am Sockel wiederfand. Dort tastete er die Backsteine ab, bis er auf den einen lockeren stieß, den er gesucht hatte.
A Versteck für a ganz a kloane Sach.
Es hatte ein bisschen gedauert, bis er sich erinnert hatte. Die Stelle hatten sie zufällig gefunden, letztes Jahr, im Frühjahr, kurz nachdem Schibbsies Onkel ihnen den Raum überlassen hatte. Sie waren vor der Tür herumgestreunt, neugierig, und irgendwer, Girgl wahrscheinlich, wenn er sich nicht irrte, hatte diesen lockeren Stein gefunden und herausgezogen. Und Girgl hatte dann auch sofort die Idee, da ihr Dope zu verstecken, damit nichts im Proberaum gefunden werden könnte. Irgendwie schafften sie es tatsächlich, den Stein zu halbieren. Sie hatten ihn auf einem anderen Stein zerschlagen. Wenn man den Rest wieder reinsteckte, blieb ein Hohlraum.
Es war natürlich eine reine Schnapsidee. Sie hatten es einmal gemacht, und schon beim zweiten Mal war sogar Girgl der Weg zu lästig gewesen. Das Dope war dann einfach im Raum geblieben. War ja eh nie der Rede wert gewesen, die paar Gramm, die sie da hatten. Schibbsie war zu geizig und zu feig, und sie, die anderen drei, waren viel zu pleite, um einen nennenswerten Vorrat anzuschaffen. Das Versteck war jedenfalls nie wieder Thema gewesen.
Aber für a ganz a kloane Sach war es genau das Richtige.
Severin drehte sich um. Die Leute auf der Wiese arbeiteten konzentriert, keiner hatte ihn auch nur bemerkt, geschweige, dass sich jemand für ihn interessierte.
Er zog den Ziegel heraus und tastete in der Öffnung herum. Tatsächlich fand er einen wasserdicht verschließbaren Plastikbeutel. Doch er enthielt weder Gras noch Haschisch.
* * *
Dräger war in seinem Element.
»Wir haben mittlerweile Vergleichsmaterial von Schober und Schieb bekommen, vor allem Haare. Kindel hat sie uns während seiner Aussage freiwillig gegeben. Für DNA-Ergebnisse ist es natürlich noch zu früh, aber die mikroskopischen Untersuchungen lassen die Möglichkeit offen, dass die Haare am Tatort von den dreien stammen. Das abgebrochene Plektrum entspricht dem Typ, den Schober vorwiegend spielt, jedenfalls haben wir ein halbes Dutzend davon in seinem Gitarrenkoffer gefunden. Die Fingerabdrücke darauf stimmen mit denen auf dem Fragment überein.«
Auf einem Stuhl am Fenster saß Bredemaier. Die Beine gestreckt, präsentierte er seine dünn gelaufenen Ledersohlen. Seine Augen waren geschlossen. Schwemmer bezweifelte, dass es ein Zeichen konzentrierten Zuhörens war. Für ihn sah es mehr nach alkoholisiertem Wegdämmern aus.
Schafmanns Handy klingelte, er meldete sich und lauschte, wobei ihm die gesamte SOKO zusah. Außer Bredemaier.
»Lassen Sie es ihn finden«, sagte Schafmann. »Und dann schauen Sie, wo er es hinbringt.«
Er klappte das Handy zu und wandte sich ans Plenum.
»Kurzes Update: Severin Kindel ist in Grainau an der Ruine. Er wurde von Georg Schober aufgefordert, etwas aus einem Versteck zu holen. Vier Kollegen beobachten ihn und werden uns hoffentlich bald mitteilen, dass er es gefunden hat.«
Bredemaier gähnte und sah verschlafen im Raum umher.
Die Diskussion drehte sich um die Handydaten in Verbindung mit den Spuren.
Eine junge Kollegin meldete sich zu Wort. Es war die Neue von Schafmanns K1, Kriminaloberwachtmeisterin Zettel. »Die Spuren legen also nahe, dass die gesamte Band am Tatort Reschberg war«, sagte sie. »Aber wann?«
Gute Frage, dachte Schwemmer, der sich vorgenommen hatte, erst mal so wenig wie möglich zu sagen. Ist ja Schafmanns SOKO, sagte er sich. Dass Frau Isenwald neben ihm saß, mochte auch eine Rolle gespielt haben. Er sah zu Bredemaier. Der BKA-Mann hatte die Füße wieder ausgestreckt und ein Handy in der Hand, auf dem er nachlässig herumtippte.
»Wenn alle Bandmitglieder zur Tatzeit da waren«, sagte Zettel, »und noch mit zwei weiteren Personen gesprochen wurde, die sich im Tal befanden, wären wir schon bei insgesamt sechs beteiligten Personen. Mit Petr Bretcnik sogar sieben. Es könnten sogar neun sein, wenn die Benutzer der Handys 3 und 4 nicht dazugehörten.«
»Aber die hatten keinen Kontakt zu den anderen«, sagte Schafmann.
»Vielleicht«, sagte Isenwald, »weil die Benutzer die Täter sind.«
»Wir sollten mit den Schlussfolgerungen abwarten, bis der Tote aus Burgrain identifiziert ist«, sagte Schwemmer. »Dass er involviert war, ist doch offensichtlich.«
Bredemaier, der zwischenzeitlich eingeschlafen zu sein schien, öffnete die Augen und zwinkerte ihm zu.
* * *
Severin betrachtete den schwarzen USB-Stick, der in dem Plastikbeutel steckte. Ein billiges No-Name-Teil. »4G«, stand darauf, sonst nichts. Mit einem Achselzucken steckte er es in die Manteltasche. Dann ging er langsam an der endlos langen Wand der Wagenhalle entlang, stapfte durch Gras und Disteln zum Parkplatz, der mit Polizei- und Zivilautos zugestellt war. Ein knappes Dutzend Schaulustige stand ebenfalls dort. Einige musterten ihn neugierig, wahrscheinlich wegen seines Satanistenkostüms. Ein junges Paar, das Arm in Arm an der Absperrung stand, versuchte, nicht zu offensichtlich zu ihm herzusehen, und ein Tourist, ein blasser Blondschopf in einer blauen Wanderjacke, starrte ihn unverhohlen an. Der Mann hatte auf der Herfahrt im Zug im selben Waggon gesessen wie er. Jetzt machten die Touris schon Ausflüge zur Ruine ihres Proberaums.
Severins Handy läutete, die Nummer war unterdrückt. Er zögerte, weil seine Erfahrung ihn lehrte, dass die Chance, ein Arschloch am Apparat zu haben, bei unterdrückten Nummern etwa um den Faktor zwölf stieg. Aber seine Neugier siegte.
»Högewald«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Spreche ich mit dem Chef-Satanisten?«
Severin schluckte. Silvie hatte es getan. Sie hatte mit ihrem Vater gesprochen.
»Ja«, sagte er.
»Eins mal vorweg, junger Mann. Die Zahl, die Sie da aufrufen, ist völlig illusorisch.«
Zahl? Was für eine Zahl?, dachte Severin.
»Über die Hälfte können wir reden.«
»De Hälftn?«, fragte Severin verständnislos.
»Na schön, weil Sie ein Freund von Silvie sind, sagen wir drei statt zweieinhalb. Aber das ist dann komplett und vollständig exklusiv, klar?«
»Drei?«
»Jetzt werden Sie nicht unverschämt. Für dreitausend muss ‘ne alte Frau lange stricken. Fragen Sie mal Ihre Großmutter.«
Severin traute seinen Ohren nicht. Dreitausend. Euro.
Kein popeliger Peavey mehr. Ampeg hieß das Zauberwort, und es klingelte in seinen Ohren.
Ein richtiger Ampeg SVT.
Dreihundert Watt.
Und dazu die Box mit den acht Zehn-Zoll-Lautsprechern.
Und es würde sogar noch was übrig bleiben.
»Also guat, von mir aus«, sagte er, nachdem er sich geräuspert hatte. »Und was geht jetzt?«
»Vor allem geht’s schnell. Ich nehme an, sogar Satanisten wissen, was eine Deadline ist. Und die naht. Wir treffen uns in einer halben Stunde am Bahnhof im Burger King.«
»Ois klar«, sagte Severin, und Högewald legte auf.
Er brauchte nur zum Haltepunkt, die Zugspitzbahn fuhr in zehn Minuten. Er würde dem Mann mit dem Gamsbart erzählen, was er hören wollte, irgendwas über okkulte Riten, mit Blut, und, wenn es sein musste, auch von Tieropfern oder was auch immer, und dabei einen Whopper essen.
Und dann würde er sich einen Ampeg kaufen.
Es war ihm egal, dass sein Grinsen so gar nicht zu seinem Satanistenoutfit passte. Er ging weiter und erreichte den Parkplatz. Der Blonde starrte ihn immer noch an.
»Ois klar bei Eane?«, fragte Severin im Vorbeigehen.
Ohne ein Wort ging der Mann hinter ihm her, ganz nah. Severin sah sich irritiert um.
»He, was werd’n des?« Er blieb stehen. Sie standen an der Ausfahrt des Parkplatzes.
»Geh einfach weiter«, sagte der Blonde, dabei sah er geradeaus, an Severin vorbei. Sein Akzent klang skandinavisch. Und da war etwas in seinen Augen, das Severin veranlasste, zu gehorchen. Er ging weiter Richtung Bahnhof. Sie ließen den Parkplatz hinter sich. Severin drehte sich um.
»Nicht umdrehen. Weitergehen«, sagte der Mann. »Am unkompliziertesten wird das hier, wenn du mir einfach gibst, was du da eben gefunden hast. Es macht mir aber auch nichts, wenn du es kompliziert haben möchtest.«
Sie gingen weiter. Severins Gedanken rasten. Wer war dieser Mann. War er ein Bulle? Einer, der Aufsehen vermeiden wollte? Nie im Leben. A ganz a kloane Sach. So klein, dass Spacko dafür sterben musste. Und jetzt er? Sie hatten auf Spacko nicht aufgepasst, und jetzt passten sie nicht auf ihn auf. Warum war er überhaupt hier? Hätte er nicht sofort den Bullen Bescheid geben müssen, als Girgl angerufen hatte? Ja, hätte er. Er hätte Girgl sofort verpfeifen müssen.
Dreitausend Euro, dachte er. Ich muss den Zug kriegen.
Er würde jetzt einfach stehen bleiben und dem Mann den Stick geben. Für wen oder was sollte er hier den Helden spielen? Er hielt an und drehte sich um. Aber der Mann war gar nicht mehr direkt hinter ihm. Er stand ein paar Meter entfernt und starrte auf das Display seines Handys. Dann drehte er sich zum Parkplatz um.
Das Pärchen hatte wohl genug gesehen von der Ruine und hatte sich auch auf den Weg zur Bahn gemacht. Sie näherten sich langsam.
Der Blonde sah sie nur kurz an, dann wandte er sich wieder Severin zu, kam mit raschen Schritten näher. Aber er ging weiter, an Severin vorbei, ohne ihn noch eines Wortes oder Blickes zu würdigen.
Severin starrte ihm nach. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Der Blonde entfernte sich rasch. Plötzlich trabte die Frau, die eben noch Arm in Arm mit ihrem Mann hinter ihnen gegangen war, an Severin vorbei, dem Blonden hinterher. Der sah sich um, und als er die Frau kommen sah, begann er zu laufen. Die Frau war zwanzig Meter hinter ihm. Unerwartet bog er nach rechts ab. Er überquerte die Gleise und verschwand aus Severins Blickfeld. Die Frau folgte ihm ohne Zögern.
Ihr Mann blieb neben Severin stehen.
»Kommissar Haderteuer«, sagte er und hielt ihm einen Ausweis in einer Plastikhülle unter die Nase. »Kripo Garmisch. Würden Sie bitte mitkommen, Herr Kindel.«
* * *
»Sag mir bitte, dass ich nicht im Fernsehen war«, sagte Schwemmer.
»Was war denn los?«, fragte Burgl.
Er verzwirnte mit dem Zeigefinger die Hörerschnur und versuchte, die öffentlichen Demütigungen durch Högewald so zu schildern, dass er ein Minimum an Würde behielt und dabei ein Maximum an Mitleid bei ihr hervorrief. Es gelang, fast.
»Die seriöse Presse hat natürlich nur mit dem Kopf geschüttelt«, endete er.
»Über Högewald oder über dich?«, fragte Burgl, und sein Schweigen war ihr Antwort genug. Sie wechselte gnädig das Thema.
»Einen seltenen Anruf hab ich eben bekommen. Von Magdalena Meixner.«
»Was will die denn?« Hoffentlich keine Beschwerde über Bredemaiers Benehmen als Hotelgast, dachte er.
»Sie wollte eigentlich dich sprechen, aber über die Dienstnummer bist du im Moment ja nicht erreichbar.«
Schwemmer nickte zufrieden. Frau Fuchs zog das also seinen Wünschen entsprechend durch.
»Es ist so, dass sie glaubt, ihr Hotel würde observiert.«
»Von uns nicht«, sagte Schwemmer.
»Sie weiß nicht, was los ist, und wollte dich persönlich um Rat fragen, bevor sie irgendwas Offizielles macht.«
Schwemmer seufzte. »Genau wegen so was bin ich nicht erreichbar«, sagte er, zeitigte damit aber nicht die erwünschte Reaktion.
»Sie hat mir eine Autonummer gesagt. Kannst du die nicht mal eben überprüfen?«, fragte Burgl, als hätte er gar nichts gesagt.
»Mal eben. Klar.« Grimmig griff er nach Stift und Notizblock und schrieb die Offenbacher Nummer auf, die sie ihm diktierte.
»Angeblich sind drei Leute im Haus gegenüber, und mit dem Auto verfolgen sie einen Gast.«
Schwemmers Augenbrauen schoben sich nach oben.
»Hat sie gesagt, welchen?«
»Nein. Du weißt doch, wie diskret die sind im ›Lenas‹. Denk mal an den Düsseldorfer, letztes Jahr.«
»Ungern«, sagte Schwemmer. Seit dem Fall mit dem Toten in der Klamm hatte er nicht nur Vorbehalte gegen Privatdetektive und Adlige, sondern besonders gegen adlige Privatdetektive, zumal solche aus Düsseldorf.
Es klopfte in der Leitung. »Du, ich muss Schluss machen. Bis nachher. Ich liebe dich.« Er unterbrach und nahm das andere Gespräch an.
»Severin Kindel ist im Vernehmungszimmer«, sagte Schafmann.
* * *
»Haben Sie es sich überlegt?«, fragte Bredemaier.
»I woaß ned. Da Seve wird ned mitkommn wolln.«
»Na ja.« Bredemaier lächelte Johanna sanft an. »Ist er nicht alt genug, dass er mal ein, zwei Wochen allein bleiben kann?«
»Mag sein, aber ned jetzat, wo ois kopfsteht.«
»Vielleicht kann ich ihn ja überzeugen mitzufahren.«
»Glab i ned.«
»Wer weiß, vielleicht ist Severin am Ende sogar froh, wenn er mit wegkann. Aber wenn nicht, sollten Sie ohne ihn fahren.«
Bredemaier zog eine Zeitung aus der Jackentasche und legte sie vor sich auf den Küchentisch – gefaltet, sodass sie die Schlagzeile nicht sehen konnte, aber sein Blick machte klar, dass es eine schlimme sein musste. Sie rührte die Zeitung nicht an.
»’s hört ned auf, oder?«, murmelte sie.
»Mit dem Schirm auf die Dame loszugehen, gestern, war aber auch keine gute Idee.«
»Dame! A Dame war des gwiss ned, de oide Vettl.«
Bredemaier lachte. »Sie erlauben?«, fragte er dann, mehr rhetorisch, denn sie hatte ihm bisher nie untersagt, seinen Flachmann hervorzuholen und sich den Schraubverschluss vollzuschenken. Solange die Kinder nicht dabei waren, war es ihr egal. Bredemaier hob seinen Becher in ihre Richtung und trank dann genießerisch.
»Gibt es denn etwas Neues?«, fragte er. »Vom Adler, meine ich?«
»Scho«, sagte Johanna leise.
»Mögen Sie erzählen?«
»Na. I mein, i woaß ned …«
Sie schwieg. Bredemaier sah sie stumm lächelnd an und wartete geduldig. Ganz entspannt und zufrieden saß er auf seinem Stuhl, manchmal schloss er für ein paar Sekunden die Augen. Irgendwann fürchtete Johanna, dass er hier an ihrem Tisch einschliefe.
»I hob eam wieder gsehn. Den Mann, der wo den Buam derschossn hat«, sagte sie endlich.
* * *
»Der ist mir einfach weggelaufen«, sagte Kommissarin Würzbach frustriert und wischte sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht.
Sie saß in Schafmanns Büro, hatte ein großes Glas Mineralwasser vor sich stehen und griff immer wieder danach. Alles in allem machte sie einen etwas derangierten Eindruck.
Neben ihr saß Kommissar Haderteuer, mit dem gemeinsam sie die Hälfte des Observationsteams für Severin Kindel gebildet hatte. Im Gegensatz zu ihr nippte Haderteuer entspannt an seinem Filterkaffee.
»Die Kollegen standen mit dem Wagen am Haltepunkt, aber der ist ja einfach über die Gleise und dann querfeldein. Wer hätt mir da helfen können? Und die rechten Schuh dafür hatt ich ja auch nicht an. Ich wusst doch nicht, dass es durch die Wiesen geht.« Würzbach schien geradezu beleidigt, dass der Mann sich nicht an die Regeln gehalten hatte. »Der war einfach schneller als ich.«
»Wie hat er Sie eigentlich bemerkt?«, fragte Schwemmer.
»Keine Ahnung«, sagte Würzbach finster, als stochere er weiter in ihrer Wunde. Die junge Kommissarin war offenbar schwer enttäuscht von sich.
Schwemmer nickte ihr aufmunternd zu. Auch Schafmann meinte wohl, dass sie eine Ermutigung gebrauchen konnte.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Wie hätten Sie damit rechnen können? Sie können schließlich nicht hellsehen.«
Für eine Sekunde wurde es sehr still im Raum. Haderteuer und Würzbach sahen unsicher zu Schwemmer, aber er beschloss, über Schafmanns kleinen Patzer hinwegzugehen.
»Aber er wird doch nicht einfach so davongelaufen sein«, sagte er.
»Doch«, antwortete Würzbach trotzig.
»Er ging hinter Kindel her Richtung Bahnhof«, sagte Haderteuer etwas konzilianter. »Dann hat er sein Handy aus der Tasche gezogen und aufs Display geguckt, als hätt er ‘ne SMS gekriegt. Dann hat er sich umgedreht, uns gesehen, und sofort hat er den Kindel stehen lassen und ist weitergegangen, sehr schnell auf einmal. Marita ist sofort hinter ihm her. Aber als er sie gesehen hat, ist er über die Bahn und weg. Wenn Sie mich fragen …« Haderteuer sah unsicher zu seiner Kollegin, die darauf mit einem Achselzucken reagierte.
»Reden Sie, Herr Kollege«, sagte Schafmann.
»Also für uns sah das aus, als sei er vor uns gewarnt worden«, sagte Haderteuer.
»Und da fragt man sich natürlich, von wem«, ergänzte Würzbach.
»Wussten ja nicht so viele, dass wir den Kindel observieren.«
Schwemmer tauschte einen Blick mit Schafmann. »Das werden wir klären müssen«, sagte er.
»Und Kindel?«, fragte Schafmann. »Kannte er den Blonden?«
Haderteuer schüttelte entschieden den Kopf. »Ich hatte nicht den Eindruck. Der klang für mich glaubhaft. Der Mann schien ihm einen ziemlichen Schrecken eingejagt zu haben.«
»Ist Kindel freiwillig mitgekommen?«, fragte Schwemmer.
»Nein. Er gab vor, einen dringenden Termin zu haben, und als ich ihm sagte, dass er den leider verpassen würde, wurde er renitent. Da musste ich schon nachhelfen.«
»Was heißt das?«
»Na ja, Handschellen halt. Das fiel natürlich auf, da in Grainau.«
»Na toll«, murmelte Schwemmer. »Da waren dann bestimmt auch Leserreporter in der Nähe.«
»Kann gut sein«, sagte Haderteuer. »Der Junge hat fast geweint, als ich ihn ins Auto gesetzt hab. Ist auch was: ein weinender Satanist …«
»Fangen Sie jetzt auch mit diesem Satanismus-Quatsch an?«, fragte Schwemmer ärgerlich.
»Na so, wie der aussieht!«, sagte Würzbach empört.
»Wieso? Wie sieht er denn aus?«
Schafmann grinste in sich hinein. »Wie der kleine Bruder vom Joker«, sagte er.
»Ja, stimmt genau«, sagte Haderteuer. »War mir noch gar nicht aufgefallen. Stimmt aber.«
In Schwemmer brodelte es. Er war sehr gespannt auf die Erklärung für diesen Unfug.
»Und das Ding, das er aus dem Versteck geholt hat?«, fragte er.
»Den USB-Stick hat Drägers Datenfex an sich genommen«, sagte Schafmann. »Laut seiner ersten Auskunft ist der ziemlich aufwendig gesichert. Er hält es für machbar, wird aber dauern.«
Schwemmer brummte und stand auf.
»Na, dann wollen wir mal hören, was uns der kleine Bruder vom Joker zu sagen hat.«
* * *
»I kenn den Mann ned. Aber für mi hat der ausgschaugt wie a rechter Großkopfeter.«
»Was für eine Kapelle war das denn, wo Sie die Männer gesehen haben?«, fragte Bredemaier.
»De Kriegergedächtniskapelln, drobn über dem Strauß seiner Villa. Kennst de ned?«
»Nein …« Bredemaier lachte leise. »Ich bin doch erst ein paar Tage hier, Frau Kindel. Und der dritte Mann, was war das für einer?«, fragte er.
»Des war so a Dunkler, a Araber, glab i. Aber ned so mit Bart und so, mehr so a Schicker.«
»Was glauben Sie denn, haben die drei da besprochen?«
»I kanns fei ned wissn, aber i mein, was könnt des denn scho zum Sagn ham, wenn so a oida Mann mit so böse Augn sich mit am Mörder trifft? Mit einem, der für Geld de Leit derschiaßt?«
Bredemaier nickte, ohne sie anzusehen.
»Und was soll i tun, jetzt? Noch amoi zur Polizei, dass de mi wieder auslachn? Des mach i ned.«
»Wir haben ja schon darüber gesprochen«, sagte Bredemaier, und er klang, als hätte er ein schlechtes Gewissen Johanna gegenüber. »Die Polizei … wir, muss ich wohl sagen … wir können nichts tun aufgrund einer solchen Aussage.«
»Ach, des woaß i ja ois schon seit dreizehn Jahr. Hat si nix geändert. Gar nix.«
»Immerhin hat Herr Schwemmer versucht, den Jungen zu retten«, sagte Bredemaier.
»Ja«, sagte Johanna leise. »Aber tot is der trotzdem.«
* * *
»Herr Kindel, was soll denn bitte diese alberne Maskerade?«, fragte Schwemmer.
Der Junge sah erbärmlich aus. Schwemmer hätte fast Mitleid mit ihm haben mögen, wie er da mit seiner verschmierten weißen Schminke vor ihm saß. Aber das kalte Funkeln in den Augen der jungen Staatsanwältin erinnerte ihn wieder daran, in welche peinsame Bredouille er von dem jungen Mann gebracht worden war.
Severin Kindel druckste eine Weile herum, bis er sich endlich eine verständliche Antwort zurechtgelegt hatte.
»I wollt’s dene zeign. Wanns unbedingt an Satanisten habn wolln, sollns an kriagn, hab i mir denkt. Und da hab i mi angmalt und de Klamottn zsammgsucht. Hätt ja auch passt, wenn …«
»Wenn Sie nicht versucht hätten, eine Spur in einem Fall mit mittlerweile drei Toten zu verwischen«, bellte Schafmann.
»Drei?« Severin sah verständnislos in die Runde. »Wieso drei?«
»In der Wohnung eines nur als Petr bekannten Mannes in Burgrain wurde heute ein Mann erschossen aufgefunden«, sagte Schwemmer.
»Da Petr a?«
»Nein. Offenbar nicht Petr. Ein noch nicht endgültig identifizierter Mann mittleren Alters.«
»Sakra«, murmelte Severin.
»Was meinten Sie eben mit ›Hätte ja auch gepasst‹?«, fragte Schwemmer. »Was hätte gepasst?«
»I hab schon an Termin ghabt mitm Högewald. Für an Interview. Aber grad da müssts ihr mi verhaftn.« Er sank in wütender Resignation in sich zusammen.
»Sie wurden nicht verhaftet, Herr Kindel«, sagte Isenwald eisig.
»Von mir aus. Aber mitkommn hab i ja gmusst, oder hab i d’ Wahl ghabt? I wär ja mitkommn. Aber halt a halbe Stund später …«
Schwemmer traute seinen Ohren nicht. »Dann tragen Sie dieses alberne Kostüm für den Högewald? Ausgerechnet für den wollen Sie sich zum Affen machen?« … haben Sie mich zum Affen gemacht, hätte er fast gesagt, aber er verkniff es sich angesichts Frau Isenwalds immer noch unterkühlter Miene.
»Was soll’s?«, fragte Severin, unverändert wütend. »Schreibn tut der sowieso, was er will. Aber für des Interview hätt i sechs große Scheine kriagn solln. Scheiße! Dreitausend Euro! Weißt, was des für mi gwesn war?« Er starrte die Wand an.
Dreitausend Euro dafür, dass ein Halberwachsener ihm erzählt, was er hören will. So funktioniert Högewalds Journalismus, dachte Schwemmer. Die Tatsachen so lange verdrehen, bis sie wirklich krumm sind. Und sie mir dann in die Eier rammen.
»Sie haben weder sich noch uns einen Gefallen damit getan, Herr Kindel«, sagte Frau Isenwald. Der Blick, mit dem sie Schwemmer streifte, hatte fast wieder Raumtemperatur.
»Wieso nennt Georg Schober Sie Chef?«, fragte Schafmann.
»Chef? Des is mein Name bei de andern. A in da Schul.«
»Also sind Sie der Chef?«
»Naaaa! Des kommt von Sev und des halt von Severin. Des is ois. I bin ned da Chef.«
»Und wer ist der Chef?«
Severin zuckte die Achseln. »Mir habn koan Chef. A wenn da Schibbsie sich manchmal so aufführt … Wieso wissens des überhaupts? Dass da Girgl mi Chef nennt?«
Schafmann ging nicht darauf ein. »Und der Name Schibbsie kommt woher?«, fragte er.
»Von Schieb, Siegfried. So heißt der halt. Aber kein Mensch heißt eam Siegfried. Und dann muss da a Sportlehrer gwesen sei, der hat die Anwesenheit immer so kontrolliert, mit de verdrehtn Namen. Eben Schieb, Siegfried. Und da hat sei Klass eam halt Schibbsie gheißn.«
Schafmann drehte sich zu Schwemmer und Isenwald. »Ich glaub, wenn meine Eltern mich Siegfried Schieb getauft hätten, würd ich auch Death-Metal spielen«, sagte er.
Severin starrte ihn böse an. »Mir spuiln kein Death-Metal.«
Schwemmer nickte zustimmend. »Die spielen Grindcore«, sagte er. »Die sind politisch.«
* * *
»Klingt mir nicht glaubwürdig, diese Chef-Sache«, sagte Schafmann. »Wenn jemand Chef genannt wird, wird er es auch sein.«
»Ja«, sagte Frau Isenwald. »Die Sache mit dem Spitznamen kommt mir auch komisch vor.«
Frau Fuchs brachte Espresso für Frau Isenwald, Kaffee für Schwemmer und Lebkuchen-Latte für Schafmann herein.
»Ich bin nicht sicher. Als ich noch in Ingolstadt war«, sagte Schwemmer und ignorierte routiniert die beiden verdrehten Augenpaare, »da gab es einen Kollegen, den nannten alle ›Elch‹, obwohl er Wolfgang Leitmeier hieß. Alle nannten ihn so, aber als ich mal nachgefragt habe, wusste keiner, wieso eigentlich. Er erzählte mir dann Folgendes: Weil er überdurchschnittlich lang war, nannten sie ihn in der Schule ›Elend‹, als Kurzform von ›Langes Elend‹. Daraus wurde irgendwann erst ›Elias‹ und daraus dann eben ›Elch‹. Den Namen ist er nie mehr losgeworden.«
»Aha«, sagte Isenwald.
»Nur ein paar Freunde, die nannten ihn Pappi«, ergänzte Schwemmer.
»Hatte er Kinder?«, fragte Schafmann.
»Keine Ahnung.«
»Ja, dann«, sagte Schafmann.
»Eben«, sagte Schwemmer. »Spielte übrigens toll Saxophon, der Kollege.«
Schwemmer hatte das Fenster seines Büros geöffnet, um die laue Luft hereinzulassen, bevor der feuchte Aprilabend zu kühl wurde. Die weitere Vernehmung hatten sie Würzbach und Haderteuer überlassen, die schlecht genug gelaunt waren, um alles aus Severin Kindel herauszukitzeln, was herauszukitzeln war.
»Ich denke, Kindel bringt uns nicht weiter«, sagte Isenwald. »Wer ist der Blonde? Glauben wir, dass Kindel ihn nicht kennt?«
Sogar Schafmann nickte.
»Er wusste, dass Kindel etwas aus einem Versteck geholt hat«, fuhr Isenwald fort, »und er wurde vor unserm Team gewarnt. Von wem? Das interessiert mich momentan am dringendsten.«
Schwemmer ahnte, was kommen würde.
Ist nicht mein Tag heute, dachte er. Wär ich mal zu Haus geblieben.
»Können Sie für die Verschwiegenheit Ihrer Mitarbeiter die Hand ins Feuer legen, Herr Schwemmer?«, fragte die Staatsanwältin. »Können wir davon ausgehen, dass es nicht wieder ein Leck gibt?«
Schwemmer hatte sich eine Antwort zurechtgelegt, schon bevor die Isenwald angefangen hatte, aber Schafmann kam ihm zuvor und sprang für ihn in die Bresche.
»Wir sind genauso dicht oder undicht wie jede andere Dienststelle mit sechzig Leuten«, sagte er bestimmt. »Und der Einzige, den ich in der Lagebesprechung eine SMS habe schreiben sehen, ist vom BKA.«
Schwemmer war sehr gespannt, wie Isenwald reagieren würde. Eigentlich rechnete er mit einem heftigen Anschiss für seinen Stellvertreter, aber stattdessen war ihr Blick ungewöhnlich nachdenklich geworden.
Eine Weile sagte niemand etwas.
Ein Engel geht durch den Raum, hatte seine Mutter in so einem Moment immer gesagt. In der Sowjetunion hatten die Leute gesagt: Ein Polizist wird geboren.
Wieso fällt mir das ausgerechnet jetzt ein, dachte Schwemmer.
»Auf was wollen wir hinaus, Werner?«, fragte er. Schafmann und er nannten sich selten beim Vornamen. Eigentlich nur, wenn es ernst war.
»Er hat eine SMS geschrieben«, sagte Schafmann. »Unmittelbar nachdem die SOKO von unserer Observation erfahren hat.«
»Das stimmt«, sagte Isenwald, ungewohnt leise. »Ich hab es auch gesehen.«
»Zur selben Zeit kriegt der Blonde eine SMS und verduftet.« Schafmann hob fragend die Hände. »Ja. Auf was wollen wir hinaus?«
Frau Isenwald räusperte sich verhalten. »Ich habe beim BKA angefragt zu Bredemaiers Rolle hier, und die Antwort war ungewöhnlich vage. Er arbeitet an einem internen Forschungsbericht zu paranormalen Phänomenen in Verbindung mit Kriminalfällen, und das weitgehend selbstständig. Er ist offiziell bei OK, aber ich habe nicht rausfinden können, wem er eigentlich berichtet. Wenn Wiesbaden Wind von einer ungewöhnlichen Sache wie unserer hier bekommt …«
»Und zwar durch die Staatsanwaltschaft«, brummte Schafmann, aber Isenwald ging nicht drauf ein.
»… dann bekommt er das auf den Schreibtisch und entscheidet eigenständig, was er unternimmt.«
»Klingt nach ‘nem Traumjob«, sagte Schafmann.
»Klingt kaum glaubhaft«, sagte Schwemmer.
»Das dachte ich auch«, sagte Isenwald. »Ich vermute, dass er verdeckte Aufgaben bei OK hat.«
»Und welche?«
»Keine Ahnung«, sagte Isenwald. Zwei Worte, von denen Schwemmer sich sicher war, sie noch nie aus ihrem Mund gehört zu haben.
Schafmanns Handy läutete. Er meldete sich, hörte kurz zu und klappte nach einem kurzen Dank das Gerät wieder zusammen.
»Der Zugriff auf Georg Schober in Rheda-Wiedenbrück ist misslungen. Verwechslung. Sie haben den Falschen erwischt. Zur Zeit keine weiteren Hinweise auf seinen Aufenthalt.«
»Sakrament«, sagte Schwemmer. »Wieso muss so was immer in die Hose gehen? Man möchte glauben, bei denen klappt nie was.«
»Tja, wenn man nicht alles selber macht …«, sagte Frau Isenwald und blickte dabei angelegentlich zur Decke. Schafmann versuchte, ein Grinsen im Zaum zu halten.
Schwemmer hustete ärgerlich. »Konkrete Vorschläge zur Causa Bredemaier?«, fragte er dann knapp.
Frau Isenwald zog ihr Handy und ihren Terminplaner hervor und wählte eine Nummer aus dem Kurzwahlspeicher, während sie mit der Linken in dem kleinen Ringordner blätterte.
»Staatsanwaltschaft München, Isenwald«, meldete sie sich. »Wir brauchen eilig die Verbindungsdaten der Handynummer …« Sie las Bredemaiers Nummer ab. »Mir würde eine mündliche Auskunft im Moment schon reichen … So gegen vierzehn Uhr, heute, eine SMS, abgehend … Oh … ja …« Sie sah die beiden an und verzog skeptisch die Miene. »Natürlich, die richterliche Genehmigung reich ich nach. Vielen Dank.«
Sie verstaute das Gerät wieder.
»Bredemaier hat heute genau zwei Mal telefoniert. Beide Male mit der Taxizentrale Garmisch.«
»Keine SMS?«, fragte Schafmann.
»Nein.«
»Dann haben wir uns wohl geirrt«, sagte Schwemmer. »Vielleicht war es ja keine SMS, vielleicht hat er es nur auf stumm geschaltet oder so was.«
»Das kann natürlich sein«, sagte Isenwald achselzuckend.
»Aber vielleicht«, sagte Schafmann, »hat er auch mehr als ein Handy.«
Sie sahen sich schweigend an. Es war nicht ungewöhnlich, dass Polizisten neben ihren Diensthandys auch das private dabeihatten. Aber irgendwie passte das bei Bredemaier nicht ins Bild, fand Schwemmer.
»Weitere Vorschläge?«, fragte er. Als er keine Antwort bekam, ging er vom Fenster zu seinem Schreibtisch. »Dann probieren wir es mal mit einem Schuss ins Blaue«, sagte er.
Er setzte sich und zog bedächtig die Computertastatur heran. Er gab das Offenbacher Kennzeichen ein, das Magdalena Meixner ihm via Burgl zu überprüfen gegeben hatte.
»Autoverleih Klaus Schmitt, Offenbach«, las er vor, als ihm die Frage nach dem Halter beantwortet wurde.
»Schmitt?« Isenwald sah ihn skeptisch an.
»Es gibt Leute, die heißen so«, sagte Schwemmer. »Sagt einem das was?«
»Moment … Da war was …« Schafmann kniff grübelnd die Augen zusammen. »Doch! Kenn ich. Das ist ‘ne Deckadresse. Weißt doch noch, vor drei, vier Jahren, die Riesensache mit den Drogenkurieren im Dorint-Hotel?«
Natürlich wusste Schwemmer noch. Die Kripo Garmisch-Partenkirchen hatte den Verkehr geregelt, während LKA und BKA die Herrschaften aus ihren Apartments geholt und danach den Lorbeer und die Beförderungen kassiert hatten.
»Die hatten Wagen von Schmitt«, sagte Schafmann.
»Die Drogenkuriere?«, fragte Isenwald.
»Nein«, sagte Schafmann. »Die vom BKA.«
* * *
Frau Isenwald hatte mitkommen wollen, aber Schwemmer hatte sie daran erinnert, dass sie letztes Jahr Magdalena Meixners Schuhschrank durchsucht hatte und ihr Auftauchen im »Lenas« deshalb wahrscheinlich eher unfreundlich aufgenommen werden würde. Es hatte Schwemmer sowieso schon überrascht, dass Magdalena bei ihm um Rat fragte. Aber offenbar war der Zorn verraucht, den seine Ermittlungen bei ihr hinterlassen hatten.
Der kleine Parkplatz des Hotels am Loisachufer war voll, sodass er fast hundert Meter weiter parken musste, aber ein paar Schritte an der frischen Luft taten ihm nur gut.
Von Interpol hatten sie Foto und Fingerabdrücke von Luc Deloitte bekommen. Dem ersten Eindruck nach hatte Bredemaier recht, aber sie würden den Vergleich der Abdrücke abwarten.
Siegfried Schieb war angeliefert worden, kurz bevor Schwemmer die Wache verlassen hatte, und wurde gerade von Schafmann verhört.
Seine Waffe war immer noch nicht aufgetaucht, was ihm wie ein kalter Klumpen im Magen lag, besonders seit er am Morgen den toten Franzosen gesehen hatte.
Und jetzt noch Bredemaier und das BKA.
Er hätte noch mehr frische Luft brauchen können, aber er hatte die Glastür des ›Lenas‹ erreicht und ging hinein.
Hinter dem Portierstresen stand der Angestellte von Magdalena, mit dem sie seit einiger Zeit verlobt war. Schwemmer überlegte angestrengt, und der Name fiel ihm gerade rechtzeitig noch ein.
»Grüß Gott, Herr Weidinger«, sagte er. »Die Frau Meixner hatte bei mir angerufen. Ist sie zu sprechen?«
Weidinger begrüßte ihn freundlich und ging sofort Magdalena holen. Der Mann machte einen angenehm entspannten Eindruck auf Schwemmer. Und er trug ein auffallend elegantes Hemd.
Als Magdalena aus ihrem Büro kam, starrte Schwemmer zunächst einigermaßen verdutzt auf ihren deutlich gerundeten Bauch.
»Ich wusst ja gar nicht … Wann ist es denn so weit?«, fragte er statt einer angemessenen Begrüßung.
»Im Juli«, sagte sie lächelnd.
»Und wer ist der … Glückliche?«
»Na, der Andi!« Sie zeigte auf Weidinger, der sich sichtlich mindestens so freute wie sie.
»Ja, dann … wünsch ich nur das Beste«, murmelte Schwemmer.
Sie boten ihm Kaffee an, den er freundlich ablehnte, denn davon hatte er heute ausreichend gehabt. Er fragte nach ihrem Problem. Magdalena überzeugte sich, dass keine Gäste in der Nähe waren, dann bat sie ihn hinter den Tresen und zeigte nach vorn durch die Glastür.
»Mir ist das das erste Mal aufgefallen, als ich vorvorgestern Abend hier an der Buchhaltung saß. Da war in dem Haus gegenüber Licht im ersten Stock. Erst hab ich mir nix dabei gedacht, aber dann fiel mir ein, dass das Haus ja leer steht, seit der Computerladen Pleite gemacht hat.«
Schwemmer knurrte ärgerlich. In dem Laden hatte er sich einen Drucker gekauft, und als der zwei Wochen später im Eimer war, war der Laden verschwunden gewesen.
»Dann hab ich mal drauf geachtet«, sagte Magdalena. »Immer wenn ein bestimmter Gast in sein Taxi steigt, fahren die ihm hinterher.«
»Und das Komische ist«, sagte Weidinger, »die scheinen immer zu wissen, wenn wir für den ein Taxi bestellen. Die kommen runter, sobald wir angerufen haben, und sitzen schon im Wagen, wenn das Taxi kommt.«
»Wie viele Leute sind denn da drüben? Haben Sie eine Ahnung?«, fragte Schwemmer.
»Ich hab drei verschiedene Männer gesehen, die da rein- und rausgehen.«
»Und wie viele folgen dann dem Herrn Bredemaier?«
»Zwei Mann fahren hinterher, und einer …« Magdalena sah ihn überrascht an. »Wie kommen Sie auf Bredemaier? Ich hab doch gar keinen Namen genannt!«
»Ich wollte euch nicht in Verlegenheit bringen und danach fragen.«
»Verstehe …« Magdalena lächelte ihn an.
»Als was hat der sich denn bei euch angemeldet?«
Andi warf einen Blick auf den Computerbildschirm hinter dem Tresen.
»Beruf: Forschungsreisender«, las er vor.
Schwemmer lachte leicht. »Humor hat er ja«, sagte er.
»Bredemaier ist zur Zeit unterwegs«, sagte Andi. »Das heißt, der Wagen ist weg. Da drüben dürfte jetzt nur ein Mann sein.«
»Was hat das denn zu bedeuten?«, fragte Magdalena. »Was ist mit dem Mann?«
»Das«, sagte Schwemmer, »wüsst ich auch gern.«
* * *
»Was haben Sie denn gehofft zu finden, da in Ihrem Versteck?«, fragte der Polizist, der sich als Haderteuer vorgestellt hatte.
»’s is ned mein Versteck. I hab des nie braucht.«
»Aber Sie kannten es doch!«, fauchte die Frau.
Der Mann war noch einigermaßen nett, aber die Frau hatte extrem schlechte Laune. Würzburg oder so ähnlich hieß sie.
Severin hatte keine Ahnung, was sie von ihm wollten. Manchmal redeten sie von dem Blonden, der war das Lieblingsthema von der Frau, dann von dem Stick, obwohl er ihnen mindestens ein Dutzend Mal gesagt hatte, dass er keine Ahnung habe, was da drauf sei, dann fragten sie ihn plötzlich nach einem Franzosen, von dem er noch nie gehört hatte.
Immerhin war er nicht verhaftet, das hatte die Staatsanwältin ja gesagt. Die war bei ihnen am Küchentisch auch erheblich netter gewesen. Mann, ein echter Besen, dachte er. Sogar die Bullen hatten Respekt vor der, das war nicht zu übersehen.
»Also was haben Sie da erwartet? Wenn Sie nicht wussten, was da drin ist, dann müssen Sie doch überlegt haben, was es sein könnte!« Der Polizist war vielleicht netter als die Frau, aber offensichtlich hatte er trotzdem nicht vor, ihn früher als nötig gehen zu lassen.
»I hab ned nachdenkt. Leider. Sonst war i ja gar ned hingangn.«
Er hatte tatsächlich nicht darüber nachgedacht. Nur darüber, von welchem Versteck Girgl geredet hatte. Und als es ihm eingefallen war, war er halt hingefahren.
Nein, er hatte nicht nachgedacht. Das war ihm nun klar, und er war nicht stolz drauf.
»Machen Sie häufig Sachen ohne nachzudenken?«, fragte Frau Würzburg.
»Schon. Solltens amoi probiern. Is a Gaudi – manchmal.«
Als sie ihn ansah, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte.
»Was haben Sie erwartet? Eine Waffe?«, fragte sie.
Severin sah sie fassungslos an. »A Waffn? So an Schmarrn! Außerdem: Was für a Waffn passt scho in so a kloans Loch? A Schweizer Messer vielleicht.«
»Oder waren es Drogen? Sie nehmen doch Drogen, oder?«
»Nur wenn’s was umsonst gibt«, murmelte Severin.
»Wie bitte? Ich habe Sie nicht verstanden!«, bellte die Polizistin.
»I hab nix gsagt.« Er wischte sich durchs Gesicht und ärgerte sich über die weiße Farbe an seinen Fingern.
»Urinprobe«, sagte die Polizistin.
Ihr Kollege nickte.
»Hä? Wieso’n des?«
»Wir werden Ihnen eine Urinprobe abnehmen. Für ein Drogen-Screening«, sagte der Polizist.
»Das Ergebnis dürfte Auswirkungen auf Ihre Zulassung zur Führerscheinprüfung haben«, ergänzte seine Kollegin.
»Führerschein? Was wollts denn mit meim Führerschein?«
Frau Würzburg zog ihn am Arm hoch und führte ihn zur der Tür.
»I will mein Anwalt sprechn!«, schrie Severin.
»Das sagen sie alle«, meinte Haderteuer.
* * *
Schwemmer überquerte die Straße. Er schirmte seine Augen mit der flachen Hand ab und ging nah an die Scheibe des leeren Schaufensters im Erdgeschoss heran. Aber es gab nichts zu sehen, außer einem schmuddeligen Teppichboden, einem Plastikeimer und einem Karton mit der Aufschrift ULTIMATIVE-PC-AUTOMATION GARMISCH-PARTENKIRCHEN – UND DU SCHAFFST ES!
Und eine Treppe.
Schwemmer trat ein paar Schritte zurück und sah zum ersten Stock hoch. Das Licht war ausgegangen, als er vom Hotel her die Straße überquert hatte. An den Fenstern waren Jalousien, und Schwemmer war sich ziemlich sicher, hinter einer eine Bewegung wahrzunehmen.
Sicher genug, seinen Dienstausweis hochzuhalten und auf die Eingangstür zu zeigen. Er blieb eine halbe Minute so stehen, bis ein sehr dunkelhäutiges Ehepaar in brandneuen Wanderschuhen an ihm vorbeiging und ihn sehr befremdet ansah. Das Licht hinter den Jalousien ging wieder an, und Schwemmer marschierte zur Eingangstür. Wenn der Mensch da oben unbemerkt bleiben wollte, konnte er es sich nicht leisten, einen Clown vor der Tür stehen zu haben.
Der Mann, der Schwemmer die Tür öffnete, sah nicht aus wie ein BKA-Mann, auch wenn Schwemmer aus Erfahrung wusste, dass das System hatte. Er war irgendwas zwischen fünfunddreißig und fünfundfünfzig, knapp eins siebzig groß, hatte sehr schütteres, sehr aschblondes Haar und ein staunenswert selbstbewusstes Auftreten.
Die gläserne Ladentür aufschließen, öffnen und Schwemmer am Arm ins Innere zerren war eins.
»Sagen Sie mal, haben Sie sie noch alle?«, blaffte er Schwemmer an. »Was sollte denn dieser Quatsch grade?«
Schwemmer hob die Rechte und befreite sich mit einer betont langsamen Bewegung von der Hand seines Gegenübers, die immer noch an seinem Oberarm hing.
»EKHK Schwemmer, Kripo Garmisch«, sagte er und hielt ihm seinen Dienstausweis unter die Nase. »Und Ihren Namen habe ich gerade nicht verstanden.«
Und der geht Sie auch nichts an, hätte der Mann am liebsten gesagt, jedenfalls stand das in seinem hasserfüllten Blick.
»Hauptkommissar Schneider«, sagte er dann aber doch. »BKA.«
»Angenehm, Herr Schneider«, sagte Schwemmer. »Wo Sie gerade meinen Dienstausweis gesehen haben, zeigen Sie mir doch bitte auch Ihren.«
Schneider schien einen Moment zu brauchen, bis er verstand, was Schwemmer meinte, aber dann zog er eine zerknitterte Kunstledermappe aus der Gesäßtasche und reichte sie Schwemmer.
Er las sich den Ausweis durch. Schneider war tatsächlich erst achtunddreißig. Und er war bei der Innenrevision.
Schwemmer reichte ihm die Mappe zurück. »Sollen wir nicht raufgehen? Nicht dass Sie jemandem da draußen auffallen.«
Schneider ging wortlos vor ihm her die Treppe hoch.
Im ersten Stock waren drei Räume, alle nicht sehr groß, in zweien lagen Luftmatratzen und Seesäcke, im letzten, der dem Hoteleingang am nächsten lag, stand die Technik. Eine fette Digitalkamera auf einem Stativ, die durch die schräg gestellte Jalousie gerichtet war, ein Richtmikrofon, das unbenutzt in einer Ecke lag, und drei PCs plus jede Menge Schnickschnack. Alle Computer liefen.
»Was wollen Sie hier? Uns auffliegen lassen?« Schneider setzte sich auf einen der drei billigen Klappstühle. Er bot Schwemmer keinen Platz an, also setzte er sich ohne Einladung.
»Wer hat Sie eigentlich informiert?«, bellte Schneider.
»Halten Sie bitte mal den Ball flach, Herr Kollege. Informiert hat mich das Hotel. Die haben sich beschwert über einen Mietwagen der Firma Schmitt, der Taxen mit einem bestimmten Fahrgast verfolgt. So viel zum Thema Auffliegen.«
Schneider verlor einiges von seiner Selbstsicherheit. Er schob das Kinn vor, sagte aber nichts.
»Leiten Sie die Operation?«, fragte Schwemmer.
Schneider nickte stumm.
»Wenn schon die vom Hotel Sie bemerkt haben, dann hat Bredemaier es auch«, sagte Schwemmer.
Schneiders Blick wurde hektisch. »Den Namen haben Sie nicht von uns!«, sagte er.
»Aber natürlich nicht, Herr Schneider. Den hab ich auch nicht vom Hotel. Da bin ich ganz alleine draufgekommen.«
Schneider sank zusehends in sich zusammen.
»Ich bin nämlich die Polizei«, setzte Schwemmer hinzu.
Den Spruch hab ich mir verdient, dachte er. Nach dem Tag darf ich mir auch mal was gönnen.
»Ich kann Ihnen keinerlei Auskünfte geben«, sagte Schneider heiser.
Schwemmer seufzte mitleidig. Er sah sich um. Einer der drei Monitore zeigte einen Ortsplan von Garmisch-Partenkirchen. Ein Punkt blinkte stetig auf dem Rathausplatz.
»Ist er im Irish Pub?«, fragte Schwemmer.
»Nein«, flüsterte Schneider. »In der Kneipe daneben.«
»Er hat ja schon einen außergewöhnlichen Geschmack«, sagte Schwemmer und bemerkte leicht amüsiert, dass Schneider nickte.
Auf dem zweiten Bildschirm war ein halbes Dutzend Tabellen zu sehen, lange Reihen von Zahlenkolonnen. Die Spalten waren mit Handynummern übertitelt.
»Wie viele Handys hat er?«, fragte Schwemmer.
Schneider schwieg.
»Na kommen Sie schon!«, sagte Schwemmer scharf.
»Er benutzt zwei, zurzeit.«
»Hat er mit einem eine SMS abgesetzt, heute gegen vierzehn Uhr?«
Schneider sah ihn hasserfüllt an, aber er schob seinen Stuhl an den Bildschirm und fuhr mit dem rechten Zeigefinger eine der Tabellen entlang.
»Ja«, sagte er dann.
»An wen?«
»Wissen wir nicht. Sie wurde in Grainau empfangen, die Nummer kennen wir nur durch Bredemaier. Nicht registriert, hatte bisher nur Kontakt zu einer einzigen anderen Nummer, ebenfalls nicht registriert.«
»Was war der Text?«
»›Exodus Finito‹. Unmittelbar nach Empfang wurde das Handy ausgeschaltet. Endgültig, bisher. Bredemaiers übrigens auch.«
Schwemmer kaute auf der Unterlippe. Obwohl er mit der Auskunft gerechnet hatte, war es ein sehr neues und unangenehmes Gefühl, zu wissen, dass er einen Maulwurf im Haus hatte.
Und er konnte nichts unternehmen.
Nicht alleine.
Schwemmer nahm die Maus und klickte auf das »Print«-Feld unter den Tabellen. Auf dem Tisch nebenan begann ein Laserdrucker zu surren.
»He, was machen Sie da?«, protestierte Schneider, aber Schwemmer brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.
»Ich muss Sie bitten, Ihren Vorgesetzten anzurufen, Herr Schneider«, sagte er. »Jetzt.«
In Schneiders Gesicht arbeitete es. Das bedeutete für ihn, seinem Chef ungefiltert gestehen zu müssen, aufgeflogen zu sein.
»Wenn Sie es nicht tun, tu ich es«, sagte Schwemmer.
Schneider nickte unfroh und griff nach seinem Handy.
* * *
Frau Würzburg oder wie sie hieß zog Severin am Oberarm den Gang entlang hinter sich her. Herr Haderteuer ging neben ihnen. Dem leichten Grinsen auf seinem Gesicht nach schien er sich zu amüsieren, was Severin noch saurer machte. Haderteuer schloss eine Tür auf, als Kommissar Schafmann aus dem Raum gegenüber trat.
»Zu euch wollt ich gerade«, sagte Schafmann zu den beiden Polizisten. »Bringt mir den Burschen doch mal rein.«
Severin schöpfte Hoffnung. Schafmann schien zwar auch ein harter Brocken, aber gemessen an der übel gelaunten Frau, die gerade versuchte, ihn durch die Tür zu schubsen, war er auf jeden Fall die angenehmere Alternative.
»Aufgeschoben, nicht aufgehoben«, zischte ihm die Polizistin ins Ohr, während sie ihn zu Schafmann hineinbugsierte. Als die Tür sich hinter ihr schloss, hätte Severin wohl erleichtert aufgeatmet, wenn er nicht gleichzeitig Schibbsie entdeckt hätte, der finster blickend auf einem Stuhl hockte.
»Hey, Oida, ois klar?«
Schibbsie antwortete nicht. Er musterte nur angewidert seine Maskerade mit der verschmierten Schminke. Dann drehte er den Kopf zur Wand.
»Die Herren kennen sich ja«, sagte Schafmann. »Nehmen Sie Platz, Herr Kindel.«
Der Raum war ganz ähnlich dem, aus dem er gerade abtransportiert worden war. Ein Tisch, ein Aufnahmegerät, vier Stühle, eine unangenehm helle Neonleuchte an der Decke. Als Severin sich auf den Stuhl neben Schibbsie setzte, sah er, dass er Handschellen trug.
Seine hatten sie ihm abgenommen, als sie ihn in das Vernehmungszimmer verfrachtet hatten. Schibbsie hielten sie wohl für gefährlicher.
»Der Herr Schieb redet nicht mit uns«, sagte Schafmann freundlich. »Aber vielleicht können wir uns gemeinsam ein wenig unterhalten.«
Schibbsie zog angeekelt die Mundwinkel nach unten. Immer noch hatte er Severin nicht angeschaut.
»Der Herr Kindel ist ja allgemein als Chef bekannt«, sagte Schafmann. »Bekommen Sie von ihm Ihre Anweisungen?«
Darauf konnte Schibbsie seine Ungerührtheit nicht durchhalten. Ein höhnisches »Ha!« entfuhr ihm.
»I hab Eane doch gsagt –«
Schafmann unterbrach Severin mit einer Handbewegung.
»Ich weiß, was Sie gesagt haben. Jetzt interessiert mich seine Meinung.«
»Anweisungen! Mir gibt keiner Anweisungen«, zischte Schibbsie.
»Dann geben also Sie anderen Anweisungen?«
Schibbsie antwortete nicht.
Schafmann wartete. Severin meinte, in seinen Augenwinkeln ein zufriedenes Funkeln zu sehen.
»Herr Schieb, es geht um Mord. Wir spielen hier kein Spiel. Es könnte sehr teuer für Sie werden.«
Schibbsie starrte in die Ecke und reagierte nicht. Schafmann lehnte sich zurück und verschränkte entspannt die Hände hinter dem Kopf.
»Wissen Sie, was der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist? Wenn ich hier rumsitze, werde ich dafür bezahlt. Wir können das ziemlich lange durchziehen, Herr Schieb.«
Schibbsie blieb unverändert reglos und stumm und sah niemanden an. Nach einer Weile drehte Schafmann sich zu Severin.
»Was genau ist eigentlich Grindcore?«, fragte er.
* * *
Burgl sah ihn froh und erleichtert an, als er durch die Tür trat, und das tat ihm gut. Sie kam auf ihn zu, küsste ihn auf den Mund und nahm ihm dann die Jacke ab, etwas, das sonst eher selten passierte.
»Wie geht es dir?«, fragte sie ernst.
»Knapp vier minus, würd ich sagen.« Schwemmer rieb sich ausgiebig den Nacken.
»Hast du Hunger?«
»Nein. Ich hab überhaupt keinen Appetit. Ich hoffe, du hast nicht gekocht.«
»Ich hatt mir schon so was gedacht. Wenn du doch was möchtest, sag Bescheid, dann mach ich uns schnell ein paar Nudeln.«
»Vielleicht nachher …« Er setzte sich an den Küchentisch und merkte, wie die Anspannung des Tages abfiel, dabei aber leider Platz machte für das Gefühl, überhaupt nicht fit zu sein.
»Möchtst was trinken? Ich hab Tegernseer im Kühlschrank.«
Er horchte in seinen Körper hinein und erhielt die Auskunft, dass keinerlei Interesse an Alkohol bestand, in welcher Darreichungsform auch immer, auch nicht in kleinen Mengen.
»Ich glaub, ich möchte in die Wanne«, sagte er, und Burgl ging sofort die Treppe hinauf, um im Bad Wasser einlaufen zu lassen.
»Ich muss morgen früh nach Nürnberg«, sagte er, als sie wieder neben ihm saß.
»Warum das denn? Und wann?«
»Um halb neun da sein.«
»O Gott! Da musst du ja vor sechs los!«
Er nickte müde und fühlte sich von Minute zu Minute schlechter. Die Vorstellung, um fünf aufstehen zu müssen, hätte allein gereicht, dass er sich krank fühlte. Eigentlich bräuchte er als pathologischer Morgenmuffel ein Attest, das ihn von Terminen vor halb zehn freistellte. Aber krankschreiben lassen könnte er sich sowieso.
Der Konjunktiv bringt einen nirgendwohin, dachte er.
»Was machst du in Nürnberg?«, fragte Burgl.
»Ich treff mich mit einem vom BKA. Wegen deinem Freund Bredemaier. Schönen Gruß von Magdalena Meixner, übrigens. Wusstest du, dass die ein Kind kriegt?«
»Ja«, sagte Burgl. »Jetzt lenk nicht ab. Was ist mit Bredemaier?«
Er sah ihr in die Augen und hob den Zeigefinger an die Lippen.
»Ja, schon klar«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Jetzt erzähl schon.«
Natürlich wusste sie, dass er ihr nichts von alldem erzählen durfte, aber genauso wusste er, dass er sich auf ihre Verschwiegenheit verlassen konnte. Und oft genug hatte ein Rat von ihr ihn auf die richtige Spur oder zumindest den richtigen Weg gebracht.
»Allzu viel gibt es noch nicht«, sagte er. »Der Kollege vom BKA wollte am Telefon nicht drüber reden. Natürlich nicht. Die wissen, warum. Deshalb treffen wir uns morgen. Er wollte, dass ich nach Wiesbaden komme, aber ich hab Nürnberg rausgehandelt. Müsste ungefähr auf der Hälfte liegen.«
»Ja, aber irgendwas muss es doch geben.« Sie rückte zu ihm heran und massierte seinen Nacken. Er grunzte wohlig, obwohl er wusste, dass es ein Bestechungsversuch war.
»Bredemaier arbeitet mit jemandem zusammen, den wir nicht kennen. Man kann ihm also nicht trauen. Dieser Ansicht ist das BKA auch. Und zwar so massiv, dass sie ihn observieren.«
Er berichtete von dem Blonden, der allem Augenschein nach von Bredemaier vor den Kollegen gewarnt worden war und sich dann einer Überprüfung durch Flucht entzogen hatte. Und zwar durch eine Flucht, die durch ihre Chuzpe ziemlich beeindruckt hatte. Die Kollegin Würzbach war natürlich nicht die allerdurchtrainierteste – aber dass ein Verdächtiger klaren Kopfes einfach davonrannte, ohne Anzeichen von Hektik oder Nervosität, sondern einfach immer weiterlief, weil er sich sicher war, nicht eingeholt zu werden – das hatte Schwemmer schon imponiert.
»Vielleicht war das ja auch ein Profi«, sagte Burgl.
* * *
»Nein«, sagte Schafmann ins Telefon. »Dann muss der Elternabend eben mal ohne uns stattfinden … Ich weiß … Ja. Aber ich bin eben kein Finanzbeamter, ich muss auch mal länger … Schatz, wenn es dich tröstet: Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass wir in Garmisch noch mal drei Tote in einer Woche haben, geht gegen null, also … Genau … ja, ich dich auch.«
Er legte auf und seufzte.
»Mein Sohn singt im Tölzer Knabenchor. Und heut ist Elternabend. Aber …« Er machte eine entschuldigende Geste zu Severin. Er sprach seit einiger Zeit ausschließlich mit Severin. Schibbsie saß auf seinem Stuhl und starrte die Wand an. Schafmann hatte ihnen Kaffee angeboten. Severin hatte angenommen, aber Schibbsie hatte gar nicht reagiert. Schafmann hatte ihm einfach einen Becher hingestellt. Severin hatte den Eindruck, dass es Schibbsie nicht leichtfiel, den Becher zu ignorieren.
Während Severin Schafmann den Unterschied zwischen Grindcore, Crustcore und Hardcore erklärt und die klare Abgrenzung der »Rattenbrigade« gegen Black- und Death-Metal erläutert hatte, war Schibbsie leicht unruhig auf seinem Stuhl herumgerutscht. Severin wusste, dass Schibbsie ein Thrasher war, der viel Wert auf rasend schnelle Blastbeats legte, und nicht auf Texte. Aber musikalisch war Severin eben doch der Chef der »Rattenbrigade«.
»Ist ja nicht mein Ding, was die in Tölz die Buben so singen lassen«, sagte Schafmann. »Aber der Große kriegt eine wirklich amtliche Ausbildung da. Gehör, vom Blatt singen und so weiter. Wird ihm nicht schaden, auch wenn er nach dem Stimmbruch was anderes machen will.«
»Wahrscheinlich ned«, sagte Severin und wünschte sich, Girgl wüsste auch nur den Unterschied zwischen Dur und Moll.
Von Spacko ganz zu schweigen, dachte er, und zuckte zusammen.
Schafmann schien es nicht bemerkt zu haben. »Wenn ich mich damals mehr um so was bemüht hätte, hätt ich vielleicht weitergemacht. Dann säß jetzt hier wer anders. Und ich wär Ex-Popstar und würd von meinen Tantiemen leben.« Er lachte.
»Sie habn in einer Band gspuilt?« Severin sah ihn zweifelnd an.
»Ja. Anfang der Achtziger. Gitarre. Aber mehr Rhythmus. Für Solo war mein Bruder zuständig.«
»Und was für a Musik?«
»Wir nannten das Punk, damals.«
»Sie habn Punk gspuilt?« Severin musste lachen. Ein Bulle, der mal Punk war. Das war zu albern.
»Was gibt’s denn da zu lachen?«, fragte Schafmann, aber er musste selber grinsen. »Na ja, eigentlich war das mehr so NDW mit Gitarren.«
»Deutsche Texte?«
»Ja, freilich … Hat schon Spaß gemacht. Ich hatt auch ‘ne schöne Klampfe. Fender Telecaster von neunzehneinundsechzig. Lake-Placid-Blue. Könnt ich eigentlich mal wieder aus dem Schrank holen.«
Severin traute seinen Ohren nicht. »Die habens noch? An einsechzger Tele?« Nun hob auch Schibbsie den Kopf. Severin wunderte es nicht. Wenn es irgendwas gab, das Schibbsie wirklich interessierte, waren es Vintage-Gitarren – je älter, je besser.
»Gibt man ja nicht weg so was, ohne Not«, sagte Schafmann. »Obwohl … im Moment wär’s eigentlich gar nicht schlecht. Ist grad ‘ne Menge Zeug zu bezahlen. Wie immer, wenn man Nachwuchs hat.«
»Mit orginal Teilen?«, fragte Severin.
»Ja, logisch …«, sagte Schafmann. »Die Waschmaschine ist auch hin«, murmelte er dann.
Jetzt setzte Schibbsie sich auf und starrte Schafmann unverhohlen an.
»Ich hab nix dran geändert«, sagte Schafmann, »obwohl das mit diesen doppelten Bridges doch grenzwertig ist. Aber die ist komplett original. Mit Tweedcase. Und immer gehegt und gepflegt. Sieht aus, als wär sie zwei, drei Jahre alt. Kennen Sie vielleicht jemanden, der an so was Interesse hätte?«
Schibbsie räusperte sich.
»Lake-Placid-Blue?«, fragte er.