39 Slips

Ella und Fafnir hatten den ganzen Tag im Inneren des Höhlensystems verbracht. Gemeinsam waren sie deutlich tiefer vorgedrungen als am Vortag. Doch außer einigen Rußflecken, die auf feuerspeiende Wesen hindeuteten, hatten sie keine weiteren Drachenspuren finden können. Die Stimmung war trüb. Ella vermisste Baldur und ärgerte sich, dass sie grundlos aneinandergeraten waren und es ihnen nicht gelungen war, sich wieder zu versöhnen. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie nicht den ersten Schritt gemacht hatte. Schon am Vorabend hatte sie den Vorsatz gefasst am nächsten Morgen auf Baldur zuzugehen, doch er war bereits verschwunden, als sie aufgewacht war. Das hatte sie geärgert und nun wartete sie den ganzen Tag darauf, die Situation zu bereinigen. Fafnir bekam die dicke Luft von beiden Seiten mit. Er war kurz nach Baldurs Aufbruch von dessen schwermütigen Gedanken aus dem Schlaf gerissen worden nur um dann auch in Ellas Kopf den gleichen Trübsinn vorzufinden. Das konnte den weisesten Drachen verrückt machen. Und wenn schon nicht verrückt so reichte es allemal, die Stimmung zu verderben. So war es ein Tag in Missmut geworden, denn zusätzlich war Fafnir enttäuscht, dass sie keinerlei Spuren der überaus attraktiven Drachendame fanden und so malte er sich aus, dass sie vor vielen hundert Jahren gelebt hatte und er sich in ein Bild aus grauer Vorzeit auf den ersten Blick verliebt hatte. Gegen Abend erreichten Ella und Fafnir wieder die Höhle. Baldur war nicht dort.

“Fafnir, horch doch mal, hast du wieder Gedankenkontakt zu Baldur?” Der Drache konzentrierte sich. Er schloss die Augen, legte den Kopf leicht schief und begann ihn langsam hin und her zu wiegen.

“Und, hörst du ihn?” Der Drache machte die Augen wieder auf und drehte den Kopf zu Ella.

“Leider nein. Ich hab den Kontakt heute Morgen verloren, als wir tiefer in die Höhle gingen. Da hatte Baldur gerade einen Wegweiser zur nächsten Siedlung entdeckt. Ich denke, er ist bis zu diesem Ort gegangen und die ist einfach zu weit von der Höhle entfernt. Falls er auf dem Rückweg ist, ist er jedenfalls noch nicht bis zum Wegweiser gekommen.” Ella machte sich große Sorgen. Auch hier gab es sicherlich Dragon Slayer und die hatten ihn bestimmt in ihre Finger bekommen. Und sie war schuld. Weil sie die Situation nicht bereinigt hatte war Baldur alleine losgezogen und nun war er verschwunden.

“Fafnir, Irgendetwas Schreckliches ist geschehen. Wir müssen etwas tun. Wir müssen Baldur retten. Wir müssen da raus. Jetzt.” Ella kamen die Tränen. Fafnir war gerührt. Er hatte die beiden in sein Herz geschlossen und konnte es kaum ertragen zu hören, wie sehr Ella litt.

“Kleine, ich versteh dich ja, aber ich kann nicht einfach so raus, in einem fremden Land. Ich könnte dir viele schreckliche Geschichten von Drachen erzählen, die nachdem sie ein Portal durchschritten hatten, Opfer ihres Leichtsinns geworden sind. Erst müssen wir mehr über die Gegend wissen, in der wir gelandet sind.” Ella wusste, dass der Drache Recht hatte. Sie wusste aber auch, dass sie verrückt werden würde, wenn sie nur hier rumsitzen und auf Baldur warten würde.

“OK, du musst hier bleiben. Das verstehe ich. Aber ich werde ihn finden. Gleich morgen früh geh ich los.” Es wurde ein trostloser Abend, an dem Ella ihren trostlosen Gedanken nachhing und es Fafnir nicht gelang, sich diesen zu entziehen so dass er mitlitt, bis der Schlaf die beiden endlich erlöste.

Ella war früh auf den Beinen. Fafnir hatte ihr so gut es ging erklärt, welchen Weg Baldur gewählt hatte. So gelangte auch sie zum Hinweisschild in Richtung Banff und freute sich, dass sie in einer so gastfreundlichen und schönen Gegend der Welt gelandet waren. Nicht auszudenken, es hätte sie in die Antarktis oder die Sahara verschlagen. Umso seltsamer erschien es ihr, dass ausgerechnet hier Baldur etwas zugestoßen war. Das konnten nur die Dragon Slayer gewesen sein. Sie hatte keinen Blick für die Schönheit der Landschaft. Alles was sie wollte war ankommen und Baldur finden. Nur an einer Wegkreuzung blieb sie verwundert stehen. Dort stand ein großes Holzschild mit einer schönen Schnitzarbeit, die einen Drachen zeigte und der Warnung “Beware of the Dragon.” War das ein Gimmick für die Touristen oder ein ernstzunehmender Hinweis darauf, dass Fafnirs Herzdame doch in der Gegenwart lebte? Dem würden sie nachgehen müssen, sobald sie Baldur gefunden hätte. Ihr Herz pochte als sie den Ort endlich erreicht hatte. Aber so früh am Morgen waren die Straßen leer und sie wusste nicht recht, wo sie Baldur suchen sollte. Schwarze Gestalten mit seltsamen Drachenbildern sah sie jedenfalls nirgendwo. Ratlos stand sie vor einem kleinen Laden mitten auf der Hauptstraße, als ein Polizeiwagen vorfuhr. Ein Sheriff stieg aus, wohl mit der Absicht, sich einen Kaffee zu besorgen, er hielt einen dieser skurrilen amerikanischen Thermobecher in der Hand, den ein lustiges Elchgesicht zierte.

“Sheriff, excuse me, you are my last hope.”, flötete Ella und setzte die Mittel ein, die einer bildhübschen Frau zur Verfügung stehen, die seit Tagen durch die Wildnis gezogen war, fern von Dusche und Makeup. Der Officer rümpfte die Nase und musterte das Mädchen.

“So früh schon auf den Beinen? Hast du eine längere Wanderung vor oder hinter dir? Was fehlt denn?”

“Genau. Das ist das Problem. Ich wollte mich hier mit meinem Freund treffen. Wir wollten tatsächlich heute Morgen einen langen Trail machen, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt. Wo kann er nur sein?” Der Officer hatte noch nicht gefrühstückt und heute Morgen noch keinen Schluck Kaffee gehabt. Er war strenggenommen noch gar nicht wach und würde sich hier ohne Kaffee keinesfalls wegbewegen. Und dass der Freund diesen übelriechenden Schmutzfink verlassen hatte erschien ihm nur zu verständlich. Aber bei Ausländern wusste man ja nie. Jedenfalls, er hatte eine Idee:

“Frag doch am besten bei Martha nach. Die leitet das Hotel gleich hier nebenan. Soweit ich weiß ist es um diese Zeit des Jahres eh der einzige Ort, wo man noch ein Zimmer bekommt. Alles andere ist ausgebucht, es ist Hauptsaison. Aber Martha mag diese Vorbuchungen nicht und hält immer ein paar Zimmer frei. Wenn er hier ist, ist er bestimmt bei Martha. Und wenn nicht, vielleicht lässt sie dich mal Duschen?” Wie in einem schlechten Film tippte er mit dem Zeigefinger an seine Hutkrempe und verschwand so schnell er konnte in dem Laden, immer dem Duft des Kaffees nach. Ella wusste nicht recht, ob der Polizist sie nur abgewimmelt hatte, ergriff aber den Strohhalm und betrat das weiße Haus mit dem großen, alten Schild über der Tür, das sinnigerweise den Schriftzug ”Marthas Hotel” trug. Und es saß tatsächlich eine Frau hinter dem Tresen.

Good Morning, sind sie Martha?” Die Frau, Ella schätzte sie auf um die vierzig, lachte herzhaft.

“Ne, my Dear, Martha ist so früh noch nicht auf den Beinen. Wenn ich ein Hotel hätte würde ich ganz sicher auch nicht grad die Früh-, Spät-, oder Nachtschicht machen. Die gute Martha träumt also sicher noch oder hat sich gerade den Speck in die Pfanne gehauen.” Bei dem Gedanken leckte sie sich über die Lippen.

“Und das werd ich auch bald machen. In einer Stunde ist meine Schicht endlich zu Ende. Hab nämlich heute auch noch die Nachtschicht gemacht, weil Carl, die alte Rübennase, dazu zu betrunken war.” Ella hörte sich höflich die Ausführungen an.

“Ich bin übrigens Lassy.”

“Wie der Hund?”

“Nein, das ist die Kurzform von Lassiter, Sarah Lassiter, aber ich werde seit meiner Kindheit von allen Lassy genannt. Wurde auch mein Vater. Ist halt sone Familiensache. Wie heißt denn du?”

“Oh, sorry, ich bin Ella.”

“Was kann ich denn für dich tun, brauchst du ein Zimmer? Ne Dusche?” Oh je, wie musste sie aussehen. Noch vor ein paar Wochen wäre sie in diesem Zustand vor Scham im Boden versunken. Heute machte ihr das überhaupt nichts aus. Sie ging auf die Bemerkung nicht einmal ein.

“Nein, ich suche meinen Freund.” Ella beschrieb Baldur und schaute Lassy fragend an. Deren Miene verfinsterte sich zusehends. Und in gleichem Masse stieg Ellas Nervosität, der das nicht entgangen war.

“Ich brauch erstmal nochn Kaffee, kann ich dich zu einem einladen?” Ella hatte schon oft von der Gastfreundschaft in Nordamerika gehört, fand das aber in Verbindung mit dem seltsamen Gesichtsausdruck von Lassy eher verdächtig. Ella fragte nochmal nach:

“Hast du Baldur gesehen?” Lassy wurde ernst.

“Pass mal auf, ich bin mir nicht sicher, aber gestern Nacht ist so ein Typ hier bei uns reingekommen. War schon spät. Er war auch nicht mehr ganz nüchtern..” Ellas Gesicht hellte sich auf.

“.. und er war nicht allein.” Ella fühlte sich, als hätte ihr gerade jemand die Tür vor der Nase zugeschlagen.

“Er war nicht allein? Wer war denn bei ihm?”

“Eine Frau, ein Gast von uns. Pass mal auf. Du bist ne Nette und der Typ ist ein fucking Bastard. Ich geb dir mal den Zweitschlüssel und dann kannst du das gleich hier und jetzt klären. Ich hab nur eine Bedingung.” Ella sah sie fragend an.

“Keine Knarren. Wenn du ne Waffe dabei hast, gib sie jetzt mir.”

Lassy, ich komm aus Deutschland, da tragen wir keine Waffen mit uns rum. Und wir schießen auch nicht sofort wenn wir ein Problem haben.” Lassy atmete auf.

Okidoki, dann viel Erfolg.”

Ella nahm den Schlüssel mit einigem Bauchgrummeln in Empfang. Im Grunde wusste sie ja, was sie erwartete, aber sie musste auf Nummer sicher gehen, dass es wirklich Baldur war, der da im Zimmer mit dieser anderen lag. Sie nahm die Treppe in den ersten Stock als wäre es der Weg zum Schafott. Sie entriegelte die Tür von Zimmer 11, öffnete die Tür und stand direkt vor dem King Size Doppelbett. Es war genauso schlimm, wie sie es befürchtet hatte. Ein gutaussehendes Mädchen, nur mit Slip bekleidet schreckte hoch und stieß einen spitzen Schrei aus. Neben ihr lag Baldur, in Unterhose, auf dem Bauch und schnarchte wie ein einheimischer Holzfäller. Der Schrei hatte ihn geweckt, wie in Zeitlupe drehte er sich um, rollte seine Augenlieder hoch und sagte “Ella”. Die drehte sich um und lief die Treppe hinunter, warf Lassy die Zimmerschlüssel zu ohne abzubremsen und verschwand durch die Tür.