35 weg

Der Drache flog nun tiefer und die drei Insassen des Jeeps hatten das Gefühl, als müssten die Räder jeden Moment die Baumkronen unter ihnen berühren. Plötzlich sackte der Wagen weiter ab und die Federn mussten ganze Arbeit leisten, als Fafnir sie zu Boden ließ. Sie befanden sich nun nahe des Eingangs der Höhle, die sie am Morgen verlassen hatten. Alle drei atmeten erleichtert aus und entspannten sich.

“So, Guys, nehmt mal jeder ne Dose und dann machen wir es uns hier in der super schönen Natur bequem, oder?” Der König zwang sich aus dem Auto, mit einen Plop ließ es ihn los. Um die Batterie zu schonen schaltete er sogar das Radio aus. Ohne Elvis im Hintergrund hatten sie ihn noch nicht erlebt, aber er war ganz offensichtlich auch ohne den King lebensfähig. Auch Ella und Baldur verließen den Wagen. Sie hockten sich auf drei Baumstämme, die um eine Feuerstelle lagen. Hier wurde wohl gegrillt, es lagen auch noch einige Bierflaschen herum.

“Und du bist also der Drache Fafnir? Ich finde das so super, endlich einen echten Drachen kennenzulernen. Magst du auch ne Rocket?” Aber Fafnir hatte fürs erste Genug von Nahrungsmittelexperimenten. Er hatte in Baldurs Rucksack die zahlreichen Raviolidosen gerochen und versuchte nun, eine davon mit seiner Zunge aus dem Rucksack zu stibitzen. Baldur sah ihm dabei mitleidig zu.

“Sag doch etwas Fafnir, so kriegst du das Ding nie auf.” Baldur löste die Patentverschlüsse und wenige Augenblicke später war die Dose mit einem blechernen Geräusch im Magen des Urtiers verschwunden.

“Ups, dann mach ich den Rucksack mal lieber wieder zu. Sonst überleben die restlichen Dosen den Abend nicht.” Fafnir schaute schuldbewusst in den Himmel. Hätte er pfeifen können, er hätte es jetzt wohl getan. So lenkte er auf andere Art vom Thema ab.

“Hey, ich freu mich auch total, dich zu sehen, König, hihi. Weißt du, es gibt ja eigentlich immer zwölf Drachenbrüder, die von den zwölf Familien des ersten Bundes abstammen. Aber in jeder Generation gibt es Brüder, die ihre Bestimmung nicht finden. Und es gibt einige, die sich zwar für uns Drachen einsetzen, aber trotzdem nie einen zu Gesicht bekommen. So wie Baldurs Großvater zum Beispiel. Selbst wir Drachen wissen nie, wer eigentlich alles das Zeug zum Drachenbruder hat.”

“Das ist krass, Mann. Dann stehst du manchmal ganz ohne Drachenbrüder da?”

“Das ist noch nie passiert. Aber die Frage ist ja auch, wie stark die Drachentöter gerade sind. Jetzt zum Beispiel sind es so viele wie noch nie zuvor. Da bin ich natürlich sooo dankbar für jeden Bruder, den ich kenne, hihi” Der König war ausgelassener Stimmung, knackte sein zweites Rocket und verschlang den Drachen mit seinen Augen. Der fuhr fort:

“Es gibt zwei Merkmale, an denen wir uns erkennen. Das Mal und das Amulett. Und du hast ja beide und wusstest auch um die Bruderschaft. Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr von uns, die die Bedeutung der Zeichen gar nicht kennen. Und ich fürchte, dass auch nicht alle Amulette die Jahrtausende überdauert haben.” Baldur hatte sich eingemischt.

“Und wir haben in der Höhle die Wappen der zwölf Familien gefunden.” Er zeigte dem König ein Foto von den Wappen und von dem riesigen Steindrachen.

“Wow, so was hab ich noch nie gesehen. Der sieht ja total super aus, so als würde er leben.” Baldur und Ella erzählten die Geschichte vom Atlas.

“Lass mich nochmal das Bild sehen. Oh, das ist sehr cool.” Der König holte das Amulett unter seinem Hemd hervor. Oben auf dem Stein lag ein Siegelring, durch den die Kette gezogen war.

“Look here, diesen Ring hab ich von meiner Mutter zusammen mit dem Amulett geerbt. Ich wusste nicht, dass das Amulett mit den Drachen zu tun hat, bis es heute anfing zu leuchten. Aber ich habe es als Erinnerung an meine Mutter getragen. Und dieses Siegel”, er zeigte den Ring herum, “trägt das gleiche Wappen wie das hier.” Dabei zeigte er auf das Bild im Smartphone. Auch Baldur hatte sein Familienwappen, das der Hohensteins, auf der Wand wiedergefunden. Ella hatte nicht gewusst, dass ihre Familie ein Wappen hatte, aber sie hatte ja auch den Stein nicht geerbt. In ihrer Historie war wohl in einer Generation die Kette der Überlieferung gerissen.

“Sag mal König, woher weißt du denn überhaupt von der Drachenbruderschaft?”

“Du, das ist eine total unglaubliche Geschichte. Das war damals in Dubai. Aber die Geschichte ist zu lang, ich erzähl sie dir ein andermal.” Es war ein langer Tag gewesen, es begann schon wieder zu dämmern und sie hatten noch viel vor.

“Ich muss meinen Wagen hier aus dem Wald rauskriegen.”

“Wie, du bleibst nicht bei uns?” Ella hatte eigentlich erwartet, dass sie das Abenteuer zu viert fortsetzen würden.

“Oh no, ich habe einen Job zu tun. Und ich kann euch mit meinem Jeep mehr helfen, als wenn ich auch bei dem Drachen bleiben würde. Zwei Brüder sind dafür genug, gell?” Er lachte breit.

“König, du kommst hier ganz leicht raus, hihi.”

“Na, du Kindskopf, du willst mir doch nicht noch mehr Dellen in meinen schönen Lack machen und mich nochmal irgendwo hinfliegen?” Der König tat ängstlich.

“Nein, nein, das ist um diese Zeit viel zu gefährlich. Die sind bestimmt schon auf der Suche nach uns. Nein, ist viel einfacher. Fahr einfach diesem Wanderweg nach. Der ist breit genug und dann kommst du automatisch auf die große Straße.

“Na, das klingt ja echt super einfach. Fafnir, jetzt weiß ich ja, wo du bist. Ich werd einfach mal gelegentlich hier vorbeifahren, dann hör ich ja, ob du da bist. Vielen Dank jedenfalls und ich hoffe wir sehen uns bald mal wieder.” Der König zwängte sich wieder in seinen Jeep. Trotz geschlossener Türen erkannten sie “There is nothing but a hound dog” und dann gab er Gas und war nach kurzer Zeit im dichten Wald verschwunden. Ella fröstelte.

“Ja, es ist Zeit in die Höhle zu gehen und das Feuer anzumachen”, schlug Baldur vor.

Wenig später saßen sie am behaglichen Lagerfeuer.

“Fafnir, du bist genau im richtigen Moment gekommen. Danke.” Der Drache legte seinen großen Kopf schief und blickte Ella fröhlich an.

“Woher wusstest du eigentlich, dass wir in Not waren?”

“Kindchen, ihr seid doch immer in Not, sobald ich euch alleine loslaufen lasse, hihi.” Baldur ärgerte sich, musste dem Drachen aber faktisch recht geben.

“Ne, es ist folgendermaßen: Damit ihr meine Gedanken hören könnt, müsst ihr recht nah bei mir sein. Ich aber kann eure Gedanken auch über größere Entfernungen hören. Somit war ich über die Lage im Supermarkt teilweise im Bilde. Und, mal ehrlich, die Idee war von Anfang an dumm. Aber Menschen machen ja immer was sie wollen. Wie oft hab ich schon Menschen angekokelt um sie zu überzeugen, etwas nicht zu tun. Aber das klappt eh nie.” Der kindische Drache schien Menschen für noch größere Kinder zu halten. Baldur fand das nicht wirklich angemessen.

“Na, jedenfalls war ich euch im Schutze des Waldes gefolgt und dann hab ich plötzlich die Gedanken vom König gehört. Das war natürlich super. Dann wusste ich auch, dass er einer von uns ist und sich um euch kümmern wollte. Also blieb ich in meinem Versteck, bis die Lage ernst wurde und dann war ich zur Stelle, trara, hihi, wie Superdrache, höhö.”

Jetzt war es aber an der Zeit, die neuen Vorräte zu testen. Nachdem sie den Kocher eingeweiht hatten, genoss Baldur zum ersten Mal nach längerer Zeit wieder eine Tafel Schokolade. Er schloss die Augen und kaute die ganzen Haselnüsse genüsslich durch. Dann bot er Ella ein Stück an. Zaghaft brach sie die Hälfte eines kleinen Stückes ab.

“Schokolade enthält ja total viel Zucker.” Sie hielt das Stück mit Daumen und Zeigefinger und knabberte genussvoll und mäusegleich daran herum. Baldur konnte es nicht mitansehen und vertilgte mit einem Bissen ein weiteres Drittel der Tafel. Und nun kam auch Fafnir zu seinem Recht. Nachdem sein formidabler Heißhunger gestillt war, aß er nun seine erste Dose in Ruhe und mit Genuss. Das war nicht schön für Ella und Baldur. Beim Langsamessen schmatzte Fafnir so laut wie ein LKW. Er war den Verzehr von Flüssigem und Breiigem nach jahrhundertelanger Golddiät einfach nicht gewöhnt. Neben den Schmatzlauten spritzte auch immer wieder Tomatensaft durch die Höhle. Einige Spritzer erwischten Baldur im Gesicht, der sich angewidert mit seinem Ärmel die Sauce von der Nase wischte.

“Oh, tschuldigung, hihi” Fafnir ließ sich von solchen Kleinigkeiten nicht aus dem Konzept bringen.

Am nächsten Morgen packten sie früh ihre Rucksäcke und machten sich auf zur ersten Pforte. Dank des Buchs war es leicht, den richtigen Weg zu finden. Fafnir war hier in seinem Revier und nach kurzem Marsch kamen sie in eine weitere Kaverne.

“So, da wärn wir.” Baldur und Ella schauten sich an. Hier war nichts. Selbst jetzt, da sie wussten, dass hier etwas sein musste, sahen sie nichts. Ohne die Karte hätten sie diesen Ort nie als Pforte wahrgenommen.

“Und jetzt?” Baldur schaute den Drachen fragend an.

“Kinder, ihr wisst doch schon alles. Jetzt müssen wir nur noch den Mechanismus auslösen. Und wie das geht, steht doch auch im Buch, höhö.” Baldur und Ella sahen sich die Karte noch einmal genau an. Tatsächlich waren hier einige seltsame Zeichen angebracht. Das mussten Punkte an Wand und Boden sein, die man berühren musste. Ein Kreis zeigte wahrscheinlich die Fläche an, in der man sich aufhalten musste um transportiert zu werden.

“Wie sagt euer schönes Sprichwort. Versuch macht kluch, höhö.” Jetzt kalauerte der Drache auch noch. Baldur versuchte die Zeichen der Karte auf die Höhle zu übertragen. Zu seiner Überraschung erkannte er in der Höhlenwand, die er eben noch vollkommen gleichförmig, trist und monoton gesehen hatte nun, mit geschärften Augen, einige Vertiefungen, die genau der Zeichnung entsprachen.

“Na also, geht doch, hihi. Dann stellt euch mal direkt neben mich und dann geht es los.” In einer einzigen Bewegung verrenkte Fafnir seinen Kopf und berührte die Wand vor ihnen an der bezeichneten Stelle. Seine beiden Vorderpranken tapsten an die Seitenwand während die beiden Pranken, mit denen er auf dem Boden stand, einen Tanzschritt vollführten. Und dann waren die drei verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Ohne Donner und ohne Rauch, einfach so weg.