17
Ein Traum. Es war alles nur ein Traum. Gott sei Dank.
»Huhu, Sarah. Bist du wach?«, drang eine Stimme in mein Unterbewusstsein vor.
Ich öffnete die Augen.
George starrte auf mich hinunter. Bereits zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen presste er einen nassen kalten Lappen fest auf meine Stirn.
Doch kein Traum. Verdammt.
»W … was?«, stieß ich hervor.
Er wedelte mit der Hand vor seiner Nase herum. »Hoppla, dein Atem ist… na ja, wie Atem morgens halt so ist. Und dabei ist es noch nicht einmal mehr Morgen. Oder sogar Nachmittag.«
»Wie lange war ich bewusstlos?«
»Den ganzen Tag. Die Sonne ist schon untergegangen. Ich nehme an, dass unsere kleine Frau Nosferatu deshalb endlich aufgewacht ist.«
Als ich mich aufstützte, stellte ich fest, dass ich vollkommen angezogen auf dem Bett lag, man hatte mir nur meine Schuhe und meinen Mantel ausgezogen. »Wieso habt ihr mich nicht früher geweckt?«
»Wir haben es versucht. Du warst tot, und das meine ich wörtlich. Du atmest nicht, und dein Herz schlägt nicht. Du kannst von Glück sagen, dass wir dich nicht einbalsamiert haben.«
Ich ließ mich zurück auf mein Kopfkissen fallen. »Vielleicht hättet ihr das tun sollen. Es würde ein paar von meinen Problemen lösen.«
Er setzte eine besorgte Miene auf. »Fühlst du dich immer noch … normal, jetzt wo die Kette weg ist?«
»Normal ist ein sehr relativer Begriff.« Ich schwang die Beine aus dem Bett. Mein Zustand war zwar schwach und zitterig, aber ich verspürte nicht das dringende Bedürfnis, mich gleich wie ein brünetter Blutegel auf Georges Halsschlagader zu stürzen. »Wo ist Thierry?«
»Er war den ganzen Nachmittag über bei dir.«
»Ja?« Der Gedanke brachte meinen lauwarmen Körper ein bisschen zum Glühen.
George nickte. »Offensichtlich weiß er nichts von dem Morgenatem. Pfefferminz gefällig?« Er bot mir gleich mehrere davon an.
Ich konnte einen Tipp gebrauchen und nahm sie gern. »Danke.«
»Er telefoniert gerade mit Barry. Amy ist verschwunden.« Er runzelte die Brauen. »Hat sie dir gegenüber irgendetwas erwähnt, dass sie unseren Lieblings-Maître für einen anderen sitzenlassen will?«
Ich schluckte. »Gideon hat sie in seiner Gewalt.«
Er wurde bleich. »Mit jedem anderen Mann wäre ich einverstanden gewesen.«
»So will er sicherstellen, dass ich ihn heute Nacht zeuge.«
Er biss die Zähne zusammen. »Dieser Mistkerl.«
»George, lass mich bitte einen Augenblick mit Sarah allein.« Thierry stand im Türrahmen und sah herein.
George drehte sich zu ihm um. »Gideon hat Amy entführt.«
Thierry nickte ernst. »Ich habe zugehört.«
George wirkte außer sich. »Das ist ja schrecklich. Wenn ich hier weiter herumsitze und nur warte, was passiert, komme ich mir vollkommen nutzlos vor. Es muss doch irgendetwas geben, was ich tun kann.«
»Ich könnte einen Kaffee vertragen.«
Er nickte. »Gute Idee. Ich mache Kaffee.«
Er drehte sich um und ließ uns allein.
»Gideon hat nicht nur Amy«, berichtete ich ausdruckslos. »Er hat auch Veronique.«
Für den Bruchteil einer Sekunde riss Thierry die Augen auf. »Hat er sie ebenfalls entführt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie hat mehr auf dem Gebiet des Matratzentestens mit ihm zu tun und scheint überhaupt nichts dabei zu finden. Er ist ein mächtiger Mann und sie eine Überlebenskünstlerin. Ende der Geschichte.«
Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, aber er verfinsterte sich deutlich. »Das enttäuscht mich. Ich hätte etwas anderes von ihr erwartet.«
»Ich auch.«
»Ich weiß natürlich, wie egoistisch sie ist. Schließlich kenne ich sie lange genug. Aber das? Dass sie einem Mann wie Gideon hilft, dessen Familie seit Jahrhunderten Vampire umgebracht hat …« Er atmete geräuschvoll aus. »Ich bin wirklich enttäuscht.«
»Sie hat mir etwas von ihrem Blut gegeben. Gideon glaubt, dass ich ein noch mächtigerer Erzeuger werde, wenn ich das Blut von einem dritten Meistervampir wie Veronique getrunken habe.«
»Ich fürchte, damit hat er recht.«
Ich stand vom Bett auf und ging zu ihm, aber nicht zu nah. Ich schämte mich immer noch ziemlich wegen allem, was geschehen war. Die ganze Situation nervte. Das war noch milde ausgedrückt.
Sie nervte wirklich.
»Veroniques Blut war so stark, dass ich mich wieder unter Kontrolle habe. Zumindest für eine Weile. Ich bin immer noch durstig … es ist, als wäre ich jetzt pauenlos durstig, aber momentan kann ich es kontrollieren. Ich weiß nicht, wie lange das anhält.« Als ich einen dicken Kloß im Hals spürte, wandte ich mich von ihm ab. »Es tut mir so leid.«
Er legte eine Hand auf meinen Rücken, und meine kühle Haut nahm seine Wärme in sich auf. »Was tut dir leid?«
»Alles. Nichts ist einfacher geworden. Sondern alles nur noch schlimmer. Und schlimmer. Und das ist allein meine Schuld. Wahrscheinlich wünschst du dir, du wärst mir niemals begegnet.«
»Wenn ich dir nie begegnet wäre, hätte ich meinem Leben vor drei Monaten ein Ende gesetzt.«
O ja. Das hatte ich vorübergehend vergessen. Ich erinnerte mich kurz an eine hohe Brücke und einen Mann in einem langen dunklen Mantel, der das Gefühl hatte, schon zu lange gelebt zu haben. Er hatte in jener Nacht Frieden gesucht. Stattdessen war er mir begegnet.
Vielleicht hätte er lieber springen sollen, als er die Chance hatte.
»Es tut mir leid«, beteuerte ich noch einmal.
»Hör bitte auf, dich zu entschuldigen.« Er zog mich an sich und drückte mich fest an seine Brust. »Du hast mit vielem recht. Es ist nicht einfacher für uns geworden. Aber ich wünsche mir nicht, dass ich dir niemals begegnet wäre. Ich bin dankbar, dass du in mein Leben getreten bist.«
Ich schüttelte den Kopf und musste unwillkürlich ein bisschen lächeln. »Dann bist du noch verrückter, als ich dachte.«
»Vielleicht bin ich das.« Er nahm mein Gesicht in seine Hände und beugte sich vor, um mich sanft zu küssen. »Jetzt musst du damit aufhören, damit wir entscheiden können, was zu tun ist.«
»Das ist ganz einfach. Ich werde Gideon um Mitternacht zeugen, dann lässt er Amy frei.«
Thierry schwieg eine Weile. »Das darf nicht passieren.«
»Was?«
»Du hast mir letzte Nacht bewiesen, dass dein Blut stark genug war, um sogar meine tödliche Verletzung zu heilen. Jetzt bist du noch stärker. Was wird Gideon denn wohl für ein Vampir werden? Wie viel Macht verleihst du ihm? Das Risiko ist schlicht zu groß.«
Ich befeuchtete meine trockenen Lippen. »Ich hatte den Eindruck, dass er das Leben mit anderen Augen sieht. Dass er sich vielleicht ändert.«
»Und was glaubst du jetzt?«
»Ich glaube, dass er meine Kette kaputt gemacht hat und mein Zauberbuch verbrannt hat. Ich hasse ihn.«
»Und trotzdem willst du ihm heute Nacht helfen?« Er starrte mich an. »Seltsam.«
»Das hat nichts damit zu tun, dass ich auf seinen Körper scharf wäre oder so. Er hat Amy.«
Er hob eine dunkle Braue.
»Er hat Amy«, sagte ich mit mehr Nachdruck.
Mit angespannter Miene und zusammengezogenen Augen sagte er: »Woher willst du wissen, dass er Amy freilässt, wenn er bekommen hat, was er will?«
»Ich sehe keine andere Möglichkeit.« Meine Unterlippe zitterte, und seine abweisende Miene wurde deutlich milder.
»Entschuldige.« Er stieß die Luft aus. »Normalerweise komme ich mit unerfreulichen Situationen gut zurecht, aber bei der Sache mit Gideon und mit deinem Fluch habe ich irgendwie Schwierigkeiten.«
»Ich weiß.« Ich umarmte ihn, und er küsste mich erneut. Ich schluckte und sah in sein angespanntes Gesicht. »Wie spät ist es jetzt?«
»Es ist sieben Uhr.«
Wenn mein Herz noch schlagen würde, würde es jetzt schneller gehen. Ebenso mein Atem. »Uns bleiben noch fünf Stunden bis zum Beginn des Rituals.«
»Da ist noch etwas anderes, das du wissen solltest«, sagte er leise und mied meinen Blick.
»Bitte sag mir, dass ich im Lotto gewonnen habe. Ich könnte eine gute Nachricht vertragen.«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist… es ist der Ring. Sie haben mich angerufen.«
»Das Geplänkel in Barrys Haus neulich morgen?«
»Sie haben heute direkt bei mir angerufen. Es geht um deinen Fluch. Sie wissen davon. Sie kannten bereits deinen Ruf als Schlächterin der Schlächter …«
»Falschen Ruf«, korrigierte ich.
»Natürlich ist er falsch. Aber er hält sich hartnäckig, und die Spekulationen nehmen zu. Sie waren bereits vorher der Ansicht, dass du der Vampirgemeinde gefährlich werden könntest und jetzt mit dem Fluch …« Er sah auf und ließ den Blick suchend über mein Gesicht gleiten. »Sie verlangen deine Eliminierung.«
Mein Mund wurde trocken. »Aber du hast sie davon überzeugt, dass ich nicht böse bin und jetzt alles in Ordnung ist, oder?«
»Sie haben mir nicht zugehört. Sie meinen, ich würde dir zu nahe stehen, um die Situation objektiv beurteilen zu können.« Er wandte den Blick von mir ab und sah in die mannshohe Spiegelscherbe an der Wand. Dieser Spiegel war in der Lage, Vampire abzubilden und zeigte uns beide von Kopf bis Fuß.
Ich fühlte mich elend. »Was geschieht nun?«
»Wenn wir keinen Weg finden, den Fluch zu brechen …«, seine üblicherweise ruhige Stimme klang ziemlich angespannt, »…wirst du dich verändern. Ich hab deine Augen gesehen. In der Gasse, als du den Zögling angegriffen hast. Das warst nicht mehr du selbst.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Das stimmt.«
»Ohne die schützende Goldkette wird sich die Finsternis langsam über dein wahres Ich legen.«
Mich fröstelte. »Ich spüre bereits, dass es stärker wird.«
In seinen Augen las ich, dass er seine Angst nicht mehr kontrollieren konnte. »Wenn du für immer so wirst, weiß ich, was ich zu tun habe.«
»Klar«, sagte ich und war überrascht, wie ruhig ich mich anhörte. »Dann musst du mich umbringen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt eine andere Lösung. Ich kann dich an einem verlassenen Ort in Sicherheit bringen.«
»Du willst mich wie ein buckeliges Monster in ein Schloss sperren?«
»Nein, nicht so.«
Je mehr Thierry redete, je verzweifelter ihn das Problem namens Sarah Dearly machte, desto deutlicher sah ich die Lösung für unsere Situation vor mir – die einzige Lösung.
Es war einfach. Wirklich. Kristallklar.
»Hör zu, Thierry.« Ich legte meine Hände auf seine Wangen und zwang ihn, mich anstelle des Fußbodens anzusehen. »Du musst mir etwas versprechen. Wenn ich zur vollkommen finsteren Sarah mutiere und zur Gefahr für alle werde, will ich, dass du mich mit dem Pflock erstichst.«
»Sarah …«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich kein langes, gesundes, glückliches, unsterbliches Leben mit dir leben kann, dann will ich überhaupt nicht mehr leben. Und ich will nicht wie ein tollwütiger Hund von den Mördern des Rings gejagt werden. Wenn ich ganz und gar zur Nachtwandlerin werde, bin ich nicht mehr ich selbst. Mein eigentliches Ich ist dann längst gestorben. Du musst mich umbringen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das mache ich nicht.«
»Thierry«, sagte ich schärfer, als ich seinen Namen je zuvor ausgesprochen hatte. »Ich meine es ernst. Ich weiß, dass das schrecklich ist. Ich bitte dich hier nicht gerade um Blumen und Diamanten. Oder um einen vorübergehenden Kredit, den ich momentan wirklich gut gebrauchen könnte.« Ich versuchte vergeblich zu lächeln. »Ich weiß, dass du das schnell erledigen wirst. Es wird nicht wehtun.«
Er schwieg eine ganze Weile. »Wir werden eine andere Lösung finden.«
»Hör auf, so verdammt stur zu sein und versprich es mir. Bitte.«
»Verdammt, Sarah.«
Ich hob eine Braue. »Wenn du es nicht tust, kann ich immer noch Barry fragen. Der hätte bestimmt kein Problem damit.«
Er musterte mich eine ganze Minute hart aus seinen funkelnden Silberaugen. »Wenn du das wirklich willst …«
»Ja.«
»Dann verspreche ich es. Aber nur, wenn es keine andere Möglichkeit gibt.«
Er drückte mich so heftig an sich, dass mir die Luft wegblieb. Das heißt, das hätte er, wenn ich noch atmen würde. Sein Körper wärmte mich ein bisschen, und ich ließ mich an ihn sinken, schlang meine Arme um seinen Hals und küsste ihn zärtlich.
Ich hatte gerade meinen Freund gebeten, mich zu erstechen. Und er hatte ja gesagt.
Keine Ahnung, wieso ich mich deshalb gut fühlte.
Aber ich wusste, dass es das Richtige war. Von allen Entscheidungen, die ich in letzter Zeit getroffen hatte – seien es die guten oder die zweifelhaften -, wusste ich, dass diese richtig war.
Zu sterben war nicht gerade meine erste Wahl. Auch nicht meine zweite. Teufel, nein. Ein Teil von mir wehrte sich gegen den Gedanken und wollte ihn bitten, alles zu vergessen, was ich gerade gesagt hatte, aber ich stieß diesen feigen Teil dahin zurück, wo er hingehörte.
Wenn ich eine Nachtwandlerin war, wollte ich nicht mehr leben. Meine Nachtwandlerin war eine vollkommen andere Person. Böses, gemeines, schwarzes Gift floss direkt unter meiner Haut. Dort lag ein Monster auf der Lauer, bereit, mein Leben zu übernehmen.
Es musste sterben.
Natürlich bemühte ich mich wie verrückt, eine andere Lösung für dieses Megaproblem zu finden, aber ein Mädchen sollte für alle Fälle immer einen Plan B haben.
»Ich will dich nicht verlieren«, murmelte Thierry in meine Haare. »Ich habe dich doch eben erst gefunden.«
Ich lag in seinen Armen, und sein warmer Geruch umarmte mich ebenfalls. Er roch immer so gut. Dahinter konnte ich ihn riechen, die Wärme seiner Haut. Ich konnte sogar riechen, wie sehr er gerade litt. Ich strich durch seine dunklen Haare und stellte mich auf die Zehenspitzen, so dass ich ihm direkt in die Augen sah. Dann küsste ich ihn, zunächst zärtlich, dann immer leidenschaftlicher, bis er willig die Lippen öffnete und ich meine Zunge in seinen Mund gleiten ließ, mit seiner spielte und ihn noch mehr begehrte.
Ich dankte im Stillen George, dass er mir genau zur rechten Zeit die Pfefferminzbonbons gegeben hatte.
Als würden sich die Wolken teilen, um der Sonne Platz zu machen, fiel die Angst von mir ab. Ich genoss ihn, seinen Geruch, seinen Geschmack, das Gefühl seines Körpers. Seine starken Arme, die feste Brust, sein Herz, das an meinem stillen schlug. Ich konzentrierte mich auf seinen Herzschlag und genoss ihn ebenso, wie ich ihn genoss, und spürte ein starkes Begehren.
»Ich will dich, Thierry«, flüsterte ich.
»Das ist nicht der richtige Zeitpunkt«, erwiderte er, doch sein Körper schien damit ganz und gar nicht einverstanden zu sein. Er wollte mich ebenfalls. Das konnte er nur schwer verbergen.
Ich lächelte in mich hinein und erstickte jeglichen weiteren Protest mit einem weiteren Kuss, gegen den er sich ganz und gar nicht wehrte. Er ließ die Hände zu dem unteren Teil meines Rückens gleiten und zog mich fester an sich.
Er zuckte allerdings ein bisschen zusammen, als ich in seine Zunge biss und sein Blut schmeckte. Die Welt um mich herum existierte nicht mehr, sie verblasste, versank im Nebel und wurde mit jedem Augenblick wärmer. Ich sog an seiner Zunge, und tief aus seiner Kehle drang ein Stöhnen der Lust.
Ich biss mir in die eigene Zunge, so dass auch er mein Blut schmecken konnte, und sein Atem ging schneller.
Gestern Nacht, als er von meinem Blut getrunken hatte, hatte er sich beherrschen können. Er hatte trainiert, sich zu kontrollieren, dennoch befand ich mich in einer gefährlichen Situation. Ich spielte mit dem Feuer.
Das war absolut tabu.
Wenn dem so war, was zum Teufel tat ich dann da?
Ach, genau das war das Problem. Ich war das gar nicht. Meine Nachtwandlerin war so raffiniert, dass ich noch nicht einmal gemerkt hatte, dass sie in mein Unterbewusstsein vorgedrungen war, um die Kontrolle über mich zu übernehmen. Sie hieß Thierrys Abhängigkeit willkommen, sie nährte sie, sie wollte sie füttern, hätscheln und pflegen. Sie trieb ihn gern an die Grenze. Sie fand ihn deutlich interessanter, wenn er die Beherrschung verlor.
Ich arbeitete mich mit meinen kühlen Händen sein schwarzes Hemd hinauf, um seine heiße Haut zu berühren und seinen schnellen Herzschlag zu spüren. Ich ließ die Hände zu seinem Bauch hinuntergleiten.
»Bitte«, stöhnte er, und ich wusste nicht, ob es »bitte hör auf« oder »bitte hör nicht auf« heißen sollte.
Vermutlich war es eine Mischung aus beidem.
Nett.
»Willst du mich?«, fragte ich mit tiefer, heiserer Stimme, die sich überhaupt nicht mehr nach mir anhörte.
»Ja«, keuchte er.
Er lehnte sich so weit zurück, dass ich seine vollkommen schwarzen Augen sehen konnte. Genau wie meine, wie ein kurzer Blick in die Spiegelscherbe bestätigte. Ich strich meine Haare zur Seite und entblößte meinen Hals für ihn. Er senkte seinen Mund und strich mit der Zunge an meinem Hals entlang. Die feuchte warme Spur ließ mich erschaudern und weckte meine Lust.
»Was machst du mit mir?«, fragte er. »Ich verliere die Kontrolle. Lass nicht zu, dass ich dir das antue.«
Das war ich nicht. Ich hatte keine Kontrolle über andere Vampire wie ein Nachtwandler, was Amy als meine »Herrschaft« über Menschen mit schwachem Willen bezeichnete.
Amy.
Ich schob den fernen Gedanken an meine bedürftige Freundin fort und konzentrierte mich ganz auf das Gefühl von Thierrys Mund, der von mir kostete. Seine Reißzähne kratzten an meinem Hals, durchbohrten aber noch nicht die Haut. Er kämpfte um seine Beherrschung. Wahrscheinlich war die Erinnerung an die Nacht, als er mich beinahe ausgetrunken hätte, noch ziemlich lebendig. Es war halt noch nicht lange her.
In dem Augenblick wollte ich nur, dass er mich noch einmal biss. Wieso musste ich allein sein? Ich konnte doch immer noch mit Thierry zusammen sein. Wenn er sein Monster willkommen hieß wie ich meins …
Dann war alles andere egal.
Meine Nachtwandlerin war von der Vorstellung begeistert, aber ein kleiner Teil von mir war nicht einverstanden. Der zusehends schwächer werdende Teil von Sarah Dearly wollte dem Ganzen eine Ende machen, bevor es zu spät war.
»Thierry …« Jetzt klang etwas anderes in meiner Stimme an, etwas anderes als Begehren und Lust. Es war aufkommende Panik. Es veranlasste ihn, sich von mir zu lösen, um mir in die tiefdunklen Augen zu sehen. In seinen Augen sah ich, dass er langsam begriff.
Meine Hände strichen immer noch ungehemmt über seinen wunderschönen Körper. Mein Mund sehnte sich immer noch nach seinen Lippen und einem weiteren Kuss. Ach was, die Lippen, ich stieß meine Nase gegen seinen Hals und suchte seine Haut nach der besten Stelle ab, in die ich meine Zähne versenken konnte. Aber ich zwang mich, die Zähne zusammenzubeißen, und versuchte, die Kontrolle zu behalten, die mir ständig zu entgleiten drohte.
»Du musst mich schlagen«, erklärte ich ihm nach einem Moment. »So hat Veronique mich davon abgehalten, sie zu beißen.«
Er schluckte heftig. »Das kann ich nicht.«
»Kannst du oder willst du nicht?«
»Ich werde dich nicht schlagen«, erklärte er fest.
»Sag nicht, dass ich es dir nicht angeboten hätte.« Ich versenkte meine scharfen Reißzähne in seinen Hals, und sein Blut floss in meinen Mund. Es war so unglaublich köstlich und lecker, es machte süchtig. Ich nahm ihn in mich auf, im übertragenen Sinn, und spürte, wie meine ungenutzte Kraft nur noch stärker wurde, als würde in mir ein heller Kern immer stärker leuchten – eine Sonne, die mir nichts anhaben konnte, die mich nur noch stärker machte.
Thierry wehrte sich. Obwohl er mir schon ein paarmal bewiesen hatte, dass es ihm nichts ausmachte, von mir gebissen zu werden, versuchte er jetzt, mich abzuhalten.
»Schlag mich«, flehte ich wieder. »Bevor es zu spät ist.«
Dann spürte ich irgendwelche Hände auf meinem Rücken und wurde von Thierry weggerissen, den ich auf meinem Bett festgehalten hatte. Als ich das bemerkte, riss ich die Augen auf. Wann waren wir auf dem Bett gelandet? Unwillig über die unerwartete Unterbrechung drehte ich mich mit einem Zischen um.
Hinter mir stand Janie Parker. »Hallo. Wie geht’s?«
Dann holte sie aus und ohrfeigte mich so heftig, dass meine Ohren klingelten.