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Vielleicht hätte ich die Diamantohrringe doch
annehmen sollen.
Nein. Ich schob den
Gedanken beiseite. Eigentlich versuchte ich alle Gedanken an Gideon
zu verdrängen, an seinen Schmerz, seine Pläne und sein neues
narbenfreies, aber nach wie vor böses Gesicht. Meine Gedanken
hatten allerdings andere Pläne und wirbelten in meinem müden
Schädel durcheinander.
Ich verließ das Hotel und lief mit fest
verschränkten Armen rasch den Bürgersteig hinunter. Ich wollte
Thierry anrufen und ihn sehen, aber ich konnte nicht. Das nervte.
Außerdem sollte er wirklich nicht erfahren, dass ich mich
regelmäßig hinter seinem Rücken mit Gideon traf.
Ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich heute
zum letzten Mal wie eine brave Pfadfinderin zu seinem Hotel
gekommen war, aber nun hatte er mir etwas eröffnet, das ich nicht
einfach vergessen konnte, selbst wenn ich wollte.
Das Zauberbuch. Besaß er
es tatsächlich, oder spielte er nur mit mir?
War der Rote Teufel wirklich so schlecht, wie
Gideon behauptete?
Ich hatte nicht angenommen, dass er herumlief
und den Leuten Modetipps gab oder Geschenkgutscheine verteilte.
Schließlich war er ein unsterblicher Held der Selbstjustiz.
Möglicherweise hatte er in seinem Leben etwas Schreckliches getan,
um seinen Ruf zu erlangen – etwas, das sogar ich als böse bezeichnen würde.
Aber reichte das, um ihm einen Apfel in den Mund
zu stecken und seinen Kopf auf einem Silbertablett zu servieren,
nur damit ich bekam, was ich wollte?
Bei dem Gedanken war mir nicht wohl. Ich
wünschte, ich wäre etwas herzloser. Nur ein bisschen. Nette Mädchen
bekommen schließlich nicht das Eckbüro. Auf ihnen trampelt man
herum. Und man … na ja, man verflucht
sie.
Apropos Kopf auf dem Silbertablett, ich hatte
ein ungutes Gefühl. Es war seltsam. Denn ich konnte weder Schritte
hören noch jemanden sehen, aber irgendwo sagten mir meine
Vampirsinne, dass ich verfolgt wurde. Das Gefühl, dass Ameisen auf
meinen Armen eine Polonaise aufführten, war ein eindeutiger
Hinweis.
Und ich hatte das komische Gefühl, dass ich
wusste, wer es war.
»Ich nehme an, du warst einmal besser im
Heranpirschen«, sagte ich mit etwas zitteriger Stimme in die Stille
hinein, während ich auf die nächste Bushaltestelle zuging. Es war
niemand da. »Du bist eindeutig kein Ninja, oder?«
»Ich bin wohl etwas eingerostet.« Die Stimme des
Roten Teufels klang irgendwie seltsam, als versuchte er, sie tiefer
und heiserer klingen zu lassen, als sie wirklich war. Vielleicht
war er erkältet.
Konnten sich Vampire erkälten? Ich nahm mir vor,
das später zu recherchieren, dem Internet sei Dank.
Ich drehte mich nicht zu ihm herum, denn ich
kämpfte mit meinen widerstreitenden Gefühlen. Durch das, was Gideon
mir erzählt hatte, war ich dem Roten Teufel gegenüber wachsam
geworden. Auf der anderen Seite schämte ich mich noch wegen des
Zwischenfalls mit dem Zögling.
Kurzum: Der Abend hatte mir klargemacht, wie
schrecklich dieser Fluch war und wie sehr ich mir wünschte, dass er
der Vergangenheit angehörte.
Wenn der Rote Teufel mich vorhin nicht
aufgehalten hätte …
Bei der Vorstellung schüttelte ich mich.
»Wen hast du gerade besucht?«, fragte er.
Oh, oh. Als ich lässig in das Versteck des
Vampirjägers geschlendert war, hatte ich überhaupt nicht an meinen
neuen Leibwächter gedacht.
»Meine Tante«, erwiderte ich schnell. »Sie ist
für ein paar Tage in der Stadt.«
»Du lügst. Sag mir, mit wem du dich getroffen
hast.«
Ich war noch unentschieden, ob ich diesen Kerl
für einen Segen oder eine Plage halten sollte, aber er machte
keinen guten zweiten Eindruck auf mich. »Das geht dich nichts
an.«
»Deine Sicherheit geht mich sehr wohl etwas
an.«
»Thierry muss dich ja gut bezahlen.«
Er schwieg einen Augenblick. »Wohnt Gideon hier?«
Erwischt. Der Rote
Teufel war rechthaberisch, aber klug. Das merkte ich mir.
Nervös befeuchtete ich meine Lippen. Ich wollte
immer noch nicht meinen Kopf herumdrehen und in sein maskiertes
Gesicht sehen. »Hör zu, ich weiß, dass ich nicht hier sein sollte.
Ich weiß, dass es gefährlich ist und so weiter. Aber es ist nicht
so schlimm, wie du denkst. Er wollte nur, dass ich etwas für ihn
abhole, und das habe ich gemacht. Das ist alles.«
»Hast du das schon einmal vorher getan?«
»Ein paar Mal.« Ich zögerte. »Aber du musst
Thierry nichts davon erzählen. Oder davon, was vorhin in der Gasse
passiert ist. Ich will ihn nicht beunruhigen.«
»Du hast eine Menge Geheimnisse vor ihm.« Seine
Stimme klang kühl.
Ich schluckte. »Das ist leider nötig.«
»Verstehe.«
»Nein, tust du nicht. Du kennst ihn nicht. Er
würde das vollkommen falsch verstehen.«
Er schwieg.
Ich riskierte einen Blick über meine Schulter.
Es war niemand mehr da.
Er war mitten in einer unangenehmen,
unerfreulichen Unterhaltung verschwunden? Das war aber sehr
unfreundlich.
Wer war dieser maskierte
Vampir überhaupt? Während ich an der Bushaltestelle wartete,
dachte ich darüber nach. Ich hatte vor, mit dem Bus zu dem kleinen
Haus zurückzufahren, das ich bis jetzt mit George teilen durfte,
ohne dass ich ihm dafür Miete zahlen musste.
Ich fragte mich, wo sich der Rote Teufel
einhundert Jahre lang versteckt hatte. Wieso hatte er aufgehört,
Leuten zu helfen? Was hatte ihn bewogen zurückzukehren? Thierry
würde mir nichts verraten, aber ich brannte vor Neugier.
Würde er Thierry erzählen, dass er mich aus
Gideons Hotel hatte kommen sehen? Ich hoffte inständig, dass er es
nicht tat. Ich würde es Thierry erzählen, wenn ich ihn das nächste
Mal sah. Ich würde es freiheraus sagen und mit der Reaktion
fertigwerden.
Ich würde ihm auch von Gideons Tauschgeschäft
erzählen: Roter Teufel gegen Zauberbuch. Eigentlich wollte ich mich
erst um den Fluch kümmern, nachdem ich die Angelegenheit mit Gideon
geklärt hatte, aber anscheinend durfte ich keine Zeit verlieren.
Ich musste den Fluch loswerden, sonst würde ich jemanden verletzen.
Das war nur eine Frage der Zeit.
Aber war dieses widerliche Geschäft mit ihm die
einzige Möglichkeit, mich zu retten? Hatte ich mich in Bezug auf
meinen durstigen Nachtwandler in eine Sackgasse manövriert?
Mein Leben bestand nur noch aus Fragen und der
Auswahl des praktischsten Schuhwerks.
Als ich zu Hause ankam, war George zwar nicht da,
dafür aber jemand anders.
»Zweimal in einer Nacht?«, fragte ich. »Ich bin
wohl ein echter Glückspilz.«
Thierry wartete im Wohnzimmer des kleinen Hauses
auf mich. Schweigend. Im Dunkeln. Wie ein ganz normaler Freund
eben.
Ich ließ das Licht aus und ging auf ihn zu, um
ihn zu küssen, blieb jedoch stehen, als ich seinen Gesichtsausdruck
bemerkte. Er zeigte nur sehr selten Gefühle. Ich hatte einige Übung
darin, ihn dennoch zu durchschauen, aber selbst ich hatte so meine
Schwierigkeiten, wenn er eine vollkommen gleichgültige Miene
aufsetzte.
Derzeit wirkte er allerdings überhaupt nicht
gleichgültig. Er sah verärgert aus.
»Wieso hast du mir nichts davon erzählt?«,
fragte er.
Oh, verdammt. Der Rote
Teufel war offenbar ein Plappermaul.
Vielleicht unterhielt er einen Blog und hatte
eine Seite bei Facebook.
»Worüber?« Ich beschloss, unschuldig zu tun,
obwohl ich wusste, dass das nichts nutzte.
»Du hast dich mit Gideon getroffen, ohne mir
etwas davon zu erzählen. Ich dachte, du hättest ihn seit dieser
einen Nacht nicht mehr gesehen und müsstest ihn bis Vollmond auch
nicht mehr treffen.«
Ich warf meine Tasche und meinen Mantel auf das
Sofa und versuchte gelassen zu wirken, obwohl ich mich absolut
nicht so fühlte. »Ich muss ihn treffen. Wenn ich nicht tue, was er
sagt, bringt er alle um. Vielleicht erinnerst du dich noch an seine
Drohung?«
»Er zwingt dich also gegen deinen Willen zu
seinem Hotel zu kommen?«
»Nein, er zwingt mich nicht wirklich.« Verdammt,
war das kompliziert. Und das war meine Schuld. »Er bittet mich
höflich. Es ist keine große Sache.«
»Wenn es keine große Sache wäre, hättest du mir
davon erzählt.«
»In den paar Minuten, die wir uns gesehen
haben?«
»Der Grund, wieso wir uns momentan nicht sehen
können, ist seine Drohung. Oder hast du diese Kleinigkeit
vergessen?«
»Keine Sekunde.«
Er schüttelte den Kopf. »Gideon ist dafür
bekannt, andere um den Finger zu wickeln. Lass dir nicht
weismachen, dass er etwas anderes als ein Killer ist.«
»Das habe ich nicht vergessen.«
»Nicht?« Er zog die Brauen zusammen, und sein
harter Ausdruck wurde endlich etwas weicher. »Ich weiß, dass du
sehr mitfühlend bist, Sarah. Aber lass dich davon nicht so stark
beeinflussen.«
»Das tue ich nicht. Ich wünschte, der Rote
Teufel hätte dir nichts davon erzählt.«
»Ich bin froh, dass er es getan hat.« Er kam
näher und strich mit seiner kühlen Hand über meine heiße Wange. »Er
hat mir übrigens auch von dem Zwischenfall mit dem Zögling
erzählt.«
Ich zuckte zusammen. »Dass ich den Verstand
verloren habe und ihr beinahe den Hals aufgerissen hätte?«
Er schüttelte den Kopf. »Dass du versucht hast,
ihr zu helfen.«
»Und dann habe ich
versucht, ihr den Hals aufzureißen.« Ich umarmte ihn fest und
atmete den vertrauten Geruch seines würzigen Rasierwassers
ein.
»Du hast es aber nicht getan.«
»Nur dank des Roten Teufels. Wer auch immer er
ist.« Ich hob den Blick zu ihm hinauf. »Erzählst du mir mehr über
ihn?«
»Vielleicht ist das ebenso ein Geheimnis, wie es
deine Treffen mit Gideon Chase waren«, erwiderte er mit einem
seltsamen Unterton.
Ich hob erstaunt die Brauen. »Höre ich da etwa
Eifersucht?«
Er sah mich direkt aus seinen grauen Augen an.
»Ich weiß nur zu gut, dass du eine Schwäche für Jäger hast, von
denen du meinst, dass du sie bekehren könntest.«
Ich spannte mich in seinen Armen an. »Gideon ist
nicht zu bekehren.«
»Und das darfst du nie vergessen.« Er küsste
mich so leidenschaftlich, dass ich für eine Weile alle meine
Probleme vergaß.
»Kannst du heute Nacht hierbleiben?«, flüsterte
ich an Thierrys Lippen.
»Soll ich?«
Ich schob meine Hand unter sein Hemd, um seine
warme Haut zu spüren. »Sehr gern.«
Er verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Na, dann
…«
Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt, und
sein Blick zuckte zur Tür.
»… das muss wohl leider noch warten.« Thierrys
Lächeln erlosch. »Bitte sei vorsichtig, Sarah. Und triff dich nicht
mehr allein mit Gideon Chase. Das ist einfach zu gefährlich.«
Im nächsten Moment hatte er sich aus meinen
Armen befreit und war verschwunden. Diesmal tatsächlich auf
Uralt-Vampirart, nämlich sehr plötzlich.
George trat ein und sah mich ganz allein im
Dunkeln stehen. »Oh, hallo. Geht es dir besser?«
Ich seufzte. »Es ging mir ganz gut. Bis ich
unterbrochen wurde.«
»Hast du dich mit dem mysteriösen Mister G
amüsiert?«, fragte er und hob und senkte anzüglich die
Brauen.
Ich zwang mich zu lächeln. »Man hätte mich
einsperren und den Schlüssel wegwerfen sollen.«
»Nun, ich würde ja gern Einzelheiten erfahren,
aber
ich bin einfach zu müde. Wie Scarlett sagt, morgen ist ein neuer
Tag.«
Ja. Und ich war nicht wirklich davon überzeugt,
dass das eine gute Sache war.
Am nächsten Morgen wurde ich unsanft aus einem
wunderbaren traumlosen Schlaf gerissen, weil jemand gegen meine
Schulter stieß. Ich liebte wunderbaren, traumlosen Schlaf. Wegen
meiner zahlreichen Albträume war er momentan eher eine Seltenheit.
Ich zog die Decke von meinem Gesicht und starrte den Eindringling
an.
George lächelte auf mich herunter. »Guten
Morgen, Sonnenschein.«
»Was ist los?«
Er hielt das schnurlose Telefon in der Hand. »Es
ist deine Freundin Claire. Sie sagt, es sei dringend.«
Ich war schlagartig wach und nahm ihm das
Telefon ab. »Claire? Was ist los?«
»Sarah, ich habe gute Nachrichten. Ich habe
jemanden gefunden, der dir helfen kann.«
Claire war eine alte Freundin aus der
Highschool, die dabei war, als ich auf dem Klassentreffen verflucht
worden war. Da sie selbst eine Hexe war, hatte sie ihr Bestes
getan, um mir zu helfen, jedoch leider ohne Erfolg. Sie war in ihr
Haus an den Niagarafällen heimgekehrt, hatte aber versprochen, sich
weiter um eine Lösung zu bemühen.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich
mich das macht.« Bei dem Gedanken, dass ich vielleicht nicht auf
Gideon angewiesen war, um den Fluch zu brechen, vollführte mein
Herz einen freudigen Hüpfer.
»Er ist ein Hexenmeister und hätte gleich heute
Zeit für dich. Er zieht demnächst irgendwo nach Europa. Also
solltest du deinen Hintern nach Mississauga bewegen, solange er
noch im Land ist.«
Sie nannte mir seine Telefonnummer und diktierte
eine Wegbeschreibung. Der Ort lag ungefähr zwanzig Minuten von
Toronto entfernt im Westen der Stadt. »Das ist ja fantastisch. Wie
bist du auf ihn gekommen?«
»Willst du die Wahrheit wissen? Durch eine
Anzeige. Aber er ist ganz seriös. Er hat sich auf Flüche
spezialisiert, und seine Referenzliste ist wirklich beeindruckend.
Das sagt er jedenfalls. Das Beste ist, dass er dafür nur
zweitausend Dollar nimmt.«
Ich riss die Augen auf. »Das ist aber eine Menge
Geld.«
»Solche Dinge sind normalerweise viel teurer.
Glaub mir.«
»Du kannst mir nicht zufällig zweitausend Dollar
leihen?«
Sie lachte. »Tut mir leid. Nein. Wieso bittest
du nicht deinen traumhaften Freund um das Geld? Er sah aus, als
wäre er gut betucht.«
Ich räusperte mich. »Wir haben uns
getrennt.«
Sie schnappte nach Luft. »Aber ihr schient doch
so perfekt zueinander zu passen.«
»Da bist du die Einzige, die das denkt.« Ich
blickte zu George, der mit neugierigem Gesicht neben mir stand.
»Wir sind nicht mehr zusammen. Ich bin wieder auf der Suche. Kennst
du nicht einen reichen Meistervampir, mit dem du mich verkuppeln
könntest?«
»Finster und unglücklich nicht zu vergessen«,
warf George ein.
»Damit kann ich leider nicht dienen«, erwiderte
Claire. »Aber vielleicht ist dieser Zauberer ja noch zu haben. In
seinen E-Mails machte er jedenfalls einen sehr netten
Eindruck.«
»Vielen Dank, Claire. Ich werde dir berichten,
wie sich alles entwickelt hat.« Als ich das Telefon aufgelegt
hatte, sah ich hoch zu George. »Hast du heute etwas vor?«
Er hob fragend die Brauen. »Soll ich dich
autolose Kreatur irgendwo hinbringen?«
Ich nickte. »Aber nur, wenn du Lust hast.
Schließlich hängt davon ja nur mein künftiges Glück ab.«
Er sah mich verschlagen an. »Ich habe später ein
Vorstellungsgespräch.«
»Der Stripclub?«
»Es ist ein Nachtclub mit männlichem
Unterhaltungsprogramm. ›Stripclub‹ hört sich so schmierig
an.«
»Ich bin schon dort gewesen. Der Club ist
schmierig.«
»Ich weiß, ist das nicht toll? Leider komme ich
nur für die Stelle als Kellner in Frage, nicht als Tänzer. Mir
fehlt anscheinend das Rhythmusgefühl.« Er seufzte. »Aber träumen
kann man ja.«
Ich sah auf meinen digitalen Wecker. Es war neun
Uhr morgens. »Bis heute Mittag sind wir zurück. Spätestens.«
»Versprochen?«
»Ich schwöre es bei meinem gebrochenen,
verfluchten Herzen.«
»Okay, zieh dich an. Wir starten in zehn
Minuten.«
Irgendetwas durchströmte mich. Ich glaube, es
war Glück. Ich wusste es nicht. Es war lange her, dass ich dieses
Gefühl so ganz rein und klar gespürt hatte. Irgendwie gefiel es
mir.
»Wir müssen zuerst bei Amy vorbeifahren«,
erklärte ich ihm. »Ich muss sie um etwas bitten.«
»Um was denn?«
»Um zweitausend Dollar. Es sei denn, du kannst
mir die Summe auslegen.«
»Frag lieber Amy«, erwiderte er geschockt.
Eine halbe Stunde später hielten wir auf der
anderen Straßenseite vor dem Haus meiner Freundin. Ich versuchte,
mich nicht zu sehr zu freuen, dass ich den Fluch jetzt loswurde,
aber es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben. Denn das war die Lösung.
Mir fehlte nur noch ein nicht unerheblicher Geldbetrag, um wieder
relativ normal zu werden.
Ich wollte keine Zeit verlieren, sprang zu ihrer
Eingangstür und klingelte. George wartete im Wagen auf mich.
Einen Augenblick später ging langsam die Tür
auf. Ich spähte in Amys kleines Stadthaus, dann nach unten.
Barry Jordan sah zu mir hoch.
Über Barry muss man nur wissen, dass er Amys
Mann wurde, nachdem sie sich ineinander verliebt hatten und er sie
bei ihrer ersten Verabredung gezeugt hatte. Er war klein. Sehr klein. Er trug gern ebenfalls kleine Smokings
und einen wütenden Gesichtsausdruck zur Schau, war im Moment jedoch
außer mit seinem wütenden Gesichtsausdruck in einen königsblauen
Bademantel gekleidet.
Er war Thierrys … ich glaube Diener traf es ganz
gut. Sie hatten sich vor dreihundert Jahren kennengelernt, als
Thierry Barry aus einem Wanderzirkus befreit hatte, in
dem man ihn zur Schau gestellt und misshandelt hatte. Seither war
ihm Barrys volle Loyalität sicher.
Oh, und Barry hasste mich leidenschaftlich und
aus tiefster Seele.
Er fand vom ersten Augenblick an, dass ich eine
Plage, ein Schmarotzer und ein Flittchen war. Nicht unbedingt in
dieser Reihenfolge.
Ich fragte mich, ob er wohl bereit wäre, mir
etwas Geld zu leihen.
»Du!« Das klang nicht
gerade vielversprechend.
»Ja. Hallo auch«, erwiderte ich und beschloss,
ihn lieber nicht zu provozieren. Es war zu wichtig, dass heute
alles glattlief. »Dürfte ich deine reizende Frau einen Augenblick
sprechen?«
»Sie ist nicht da. Sie lässt sich die Nägel
machen.« Er starrte mich voller Verachtung an. »Verschwinde.«
Sein Blick war so böse, dass er fast ein
bisschen brannte. Es war echt zu blöd, dass ich genau in dem
Moment, als er angefangen hatte zu glauben, ich würde Thierry
wirklich lieben, mit ihm »Schluss machen« musste und somit Barrys
ursprünglichen Eindruck von mir bestätigt hatte.
Man kann eben nicht alles haben.
»Wer ist das, Barry?«, fragte eine vertraute
Stimme, und Thierry trat in die Eingangshalle. Unsere Blicke
begegneten sich und lösten sich nicht mehr voneinander.
Barry ging davon aus, dass wir uns zum ersten
Mal sahen, seit wir unsere Beziehung offiziell beendet hatten.
Selbst Barry, der Thierry niemals hintergehen würde, durfte nicht
die Wahrheit erfahren. Es war einfach zu riskant.
Ich wäre am liebsten zu Thierry gelaufen, hätte
meine
Arme um seinen Hals geschlungen und fortgeführt, womit wir gestern
Abend kaum begonnen hatten. Ich wollte ihm von dem Zauberbuch und
der Verabredung mit dem Hexenmeister erzählen. Aber ich durfte
nichts davon laut aussprechen.
Zu dumm, wirklich. Er wäre eigentlich der
perfekte Kreditgeber gewesen.
Ich war kein Flittchen, wirklich nicht. Aber he!
Der Mann, den ich liebte, trug jeden Tag einen anderen schwarzen,
maßgeschneiderten Anzug von Hugo Boss. Das hatte doch etwas zu
bedeuten, oder? Und zwar mehr, als dass er einen exquisiten, wenn
auch etwas eindimensionalen Geschmack hatte.
»Niemand, Meister«, sagte Barry spitz. »Und
niemand wollte gerade gehen.«
Hach, wie subtil.
Als sich jemand anders in mein Blickfeld schob,
löste ich den Blick von Thierry. Jemand in einem roten Kleid mit
langen rabenschwarzen Haaren und einem perfekt geschminkten
makellosen Elfenbeinteint.
»Sarah, Liebes.« Auf Veroniques perfektem
Gesicht erstrahlte ein Lächeln. Sie blickte zu Thierry. »Ist das
nicht eine etwas unangenehme Situation?«
Wie bitte? Genau das ist es.
Danke der Nachfrage.
Thierry sah mich unverwandt an. Ȇberhaupt
nicht. Sarah und ich haben beschlossen, getrennte Wege zu gehen.
Daran ist nichts unangenehm.«
»Und sie wollte gerade gehen«, erklärte Barry
wieder. Ich widerstand dem Drang, ihn so heftig zu treten, dass er
umkippte.
»Ich bin überaus neugierig«, hob Veronique an.
»Wer hatte denn die Idee, eure Beziehung nach so kurzer Zeit zu
beenden?«
»Ich«, sagten Thierry und ich wie aus einem
Munde. Er hob eine dunkle Braue.
»Es war eine einmütige Entscheidung«, erklärte
ich hastig.
Veronique zog die makellos gebogenen Brauen
zusammen. »Das kommt mir sehr seltsam vor. In einem Augenblick«,
sie deutete mit dem Kopf auf Thierry, »bittest du mich um eine
Annullierung unserer Ehe. Und du«, sie sah mich an, »erklärst mir
deine tiefe und aufrichtige Liebe zu meinem Mann …«
Bei dem Wort zuckte ich jedes Mal
zusammen.
»… und in derselben Nacht beendet ihr eure
Liebesaffäre?« Sie legte ihren Kopf auf eine Seite. »Sehr seltsam,
findet ihr nicht?«
Na, toll. Das hatte uns gerade noch gefehlt.
Veronique zweifelte an unserer Geschichte. Das war der Anfang vom
Ende. Wenn ich jemand zutraute, dass er nicht dichthielt, dann sie.
»Seltsam, aber wahr. Was soll ich sagen? Ich kann ihn nicht mehr
ausstehen. Ich bin sehr sprunghaft.«
Es folgte ein langer, quälender Moment, in dem
sie mich musterte wie ein schleimiges, aber interessantes Objekt
unter einem Mikroskop.
»Stimmt es, dass du kürzlich dem Roten Teufel
begegnet bist?«, fragte sie.
Ich wurde rot. Vermutlich war es unmöglich, das
Geschehene geheim zu halten. Erneut schämte ich mich, dass ich
nicht in der Lage gewesen war, mich zu beherrschen.
Deshalb musste das heute klappen. Dieser
Fluch musste verschwinden. Selbst jetzt, wo ich die Goldkette fest
um den Hals trug, spürte ich, dass er wie ein schwarzes Gift in
meinem Kopf lauerte und geduldig auf eine Gelegenheit wartete,
erneut die Kontrolle zu übernehmen.
Ich räusperte mich. »Ich bin ihm nur kurz
begegnet. Es war keine große Sache.«
»Bist du dir da sicher?«, fragte Thierry.
»Jawohl. Er ist wieder in der Stadt und wollte
nur hallo sagen.«
Und mich davon abhalten, Leute zu ermorden. Und
mein Leibwächter sein. Und so weiter …
Ich lenkte meinen Blick wieder zu Thierry. Er
hatte mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. In seinem
ausdruckslosen Blick las ich einen Hauch von Sorge.
Ob Veronique und Barry es wohl merken würden,
wenn ich einfach zu ihm ging und ihn küsste? Meine Arme um ihn
schlang und ihm sagte, wie sehr ich ihn vermisste und dass ich es
überhaupt nicht erwarten konnte, dass alles vorbei war?
Ja, wahrscheinlich würde es ihnen auffallen. Sie
waren sehr aufmerksam.
»Was ist denn heute Morgen hier los?«, fragte
ich, denn ich wollte unbedingt das Thema wechseln. »Eine
Vampirversion von Der
Frühstücksclub?«
»Das geht dich nichts an«, erwiderte Barry
scharf. »Wie schon gesagt, Amy ist nicht da. Deshalb hast du keinen
Grund, dich noch länger hier rumzudrücken.«
Wieder arbeitete ich machtvoll gegen den Drang,
ihn kräftig zu treten. »Du hast recht.«
Keine Amy. Kein Geld. Keine Erlösung von dem
Fluch.
»Ich muss auch gehen.« Veronique gab Thierry
einen Luftkuss auf beide Wangen und tat dann das Gleiche bei
Barry.
»Auf Wiedersehen, Sarah«, sagte Thierry
gleichgültig.
Nachdem er mich ein letztes Mal durchdringend
und forschend ansah, so durchdringend, dass ich das Gefühl hatte,
er würde mich küssen – ich hatte eine starke Vorstellungskraft -,
drehte ich mich um und ging.
Ich hörte, wie die Tür hinter Veronique und mir
ins Schloss fiel und blitzartig abgeschlossen wurde. Barry wollte
nicht riskieren, dass ich mich wieder hineinschlich.
Veronique musterte mich aufmerksam. »Eines
meiner vielen Talente ist, dass ich Leute durchschauen kann. Und
ich sehe, dass du in meinen Mann verliebt bist. Selbst jetzt hast
du noch diesen Ausdruck von Verlangen und Bedauern in den
Augen.«
Zumindest behandelte sie mich nicht wie ein
widerliches Stück Abfall wie Barry. Ihr Verhalten mir gegenüber war
so wie immer, herablassend, aber irgendwie neugierig.
Ich zwang mich zu einem lässigen Schulterzucken.
»Was soll ich sagen? Der Mann sieht gut aus. Aber das ändert
nichts.« Ich zögerte. »Außerdem sind doch früher bestimmt
tonnenweise Frauen in Thierry verliebt gewesen, oder?«
Kaum dass ich sie ausgesprochen hatte, bedauerte
ich meine Frage und spürte bei der Vorstellung, dass es andere
Frauen in Thierrys Leben gegeben hatte, eine stechende Eifersucht.
Es war schon schwer genug zu ertragen, dass er verheiratet
war.
»Natürlich«, erwiderte Veronique schlicht.
Ich schluckte. »Oh.«
»Allerdings«, fuhr sie fort, »hat er ihretwegen
nie von diesem Annullierungsunsinn gesprochen. Ich frage mich immer
noch, was eigentlich in ihn gefahren ist, dieses Thema nach so
langer Zeit anzusprechen. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte
ich gedacht, dass er eine Zukunft mit dir plant.« Sie sah mich
einen Augenblick an. »Ist alles in Ordnung, Liebes? Du bist auf
einmal so blass.«
Immer wenn jemand von meiner Zukunft mit Thierry
sprach, wurde mir ein bisschen schwindelig. Genau das wünschte ich
mir. Trotz unserer zahlreichen Probleme wollte ich mit ihm zusammen
sein, aber alles, was gerade passierte, schien wie dafür gemacht,
uns auseinanderzubringen. Es war, als kämpfte ich gegen das
Schicksal persönlich. Ich habe nie wirklich an das Schicksal
geglaubt, aber in jüngster Zeit musste ich lernen, dass es eine
gemeine Zicke war.
»Es geht mir gut. Ich bin heute nur ein bisschen
in Gedanken.« Ich schielte zu Georges Wagen. Er war auf dem Sitz
heruntergerutscht, so dass über dem Rand des Fahrerfensters nur
seine sandfarbenen Haare und seine Sonnenbrille hervorlugten. Er
fühlte sich von Veronique eingeschüchtert und mied es deshalb
tunlichst, ihr über den Weg zu laufen.
»In Gedanken wegen… deines kleinen Fluches
vielleicht?«, fragte sie.
Jeder wusste von meinem
Problem. Wahrscheinlich war das ganz natürlich, wenn man bedenkt,
dass das Problem vollkommen schwarze Augen hatte und verdammt
gruselig war.
Ich nickte. »Es hat eigentlich alles mit meinem
Fluch zu tun. Aber mich beschäftigt noch etwas anderes.«
»Zum Beispiel der Rote Teufel? Hast du ihn
wirklich gesehen?«
»Im richtigen Leben.« Ich nickte. »Und mit
Maske.«
Als ich wieder zum Wagen blickte, machte George
eine Geste, dass ich mit Veronique zum Schluss kommen sollte. Zeit
war schließlich Geld. Geld, das ich leider nicht hatte. Hatte der
Hexenmeister nur heute Zeit für mich? Wann würde er genau das Land
verlassen? Wieso war eigentlich nichts unkompliziert?
Veroniques Miene hellte sich auf. »Der Rote
Teufel ist wundervoll, nicht wahr? Ich frage mich, ob er noch
genauso ist wie damals, als er mir vor so langer Zeit das Leben
gerettet hat – so stark und mutig und gut aussehend.«
»Und gefährlich?«, fragte ich und dachte an
Gideons Einschätzung. »Und tödlich?«
»Alles.« Sie stieß einen seltsamen kleinen
befriedigten Seufzer aus. »Ich schätze, er ist dazu ein guter
Liebhaber, denkst du nicht?«
Oh, Junge. Ich blickte
auf mein nacktes Handgelenk. »Wow, wie die Zeit vergeht. Ich muss
los.«
»Es ist schon so lange her«, fuhr sie unbeirrt
fort. »Ich frage mich, ob er sich noch an mich erinnert? Doch,
bestimmt. Vielleicht könnten wir wieder
dort weitermachen, wo wir damals aufgehört haben.«
»Ich wüsste nicht, wieso nicht.« Ich machte
einen entschiedenen Schritt in Richtung Wagen. Wenn Veronique erst
einmal auf ihr Lieblingsthema gekommen war, nämlich
sie selbst, war von ihr nur noch schwer loszukommen. »Es gibt noch
eine Neuigkeit, die nichts mit dem Roten Teufel zu tun hat. Ich
habe jemanden gefunden, der mich von meinem Fluch erlösen
kann.«
Sie nahm meine Hand und drückte sie. »Wie
wunderbar, Liebes. Flüche sind etwas so Unerfreuliches. Ich kann
sie wirklich nicht empfehlen.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung.«
Sie runzelte die Stirn. »Für eine so gute
Nachricht wirkst du aber ziemlich unglücklich. Gibt es ein
Problem?«
Ich kaute auf meiner Unterlippe. »Eigentlich
schon. Mit dem Entfernen des Fluches sind gewisse Kosten verbunden.
Der Hexenmeister zieht bald um, und wenn ich ihn nicht bezahlen
kann, habe ich Pech gehabt. Dann bin ich erledigt. Ich weiß einfach
nicht, was ich tun soll.«
»Um wie viel Geld geht es?«
»Zweitausend Dollar.«
»Das ist angemessen.« Sie griff in ihre
Pradatasche. »Sind Hundertdollarscheine okay?«
Meine Augen weiteten sich, und ich wollte
protestieren, aber meine Hand schoss nach vorn, als hätte sie ein
Eigenleben. Sie zählte zwanzig Hundertdollarnoten von der Banque de Veronique in meine Hand.
»Ich … ich kann dein Geld eigentlich nicht
annehmen«, stotterte ich.
Sie schloss meine Hand um das Geldbündel.
»Natürlich kannst du das. Und das wirst du auch. Und du wirst dich
ein für alle Mal von dieser schrecklichen Last befreien.«
Ich spürte, wie mir die Tränen kamen. Ich nehme
jedes böse Wort zurück, das ich je über Veronique gesagt oder
gedacht habe, sie war unglaublich warm, selbstlos und großzügig
…
»Zum Dank organisierst du ein Treffen zwischen
mir und dem Roten Teufel«, sagte sie. »Damit wir wieder ein
Liebespaar werden können.«
… und ziemlich scharf,
wie es aussah.
Ich sah von ihr auf das Geld und wieder zurück
zu ihr. Dann schob ich die Scheine in meine Handtasche. »Ich bin
sicher, ihr werdet ein hinreißendes Paar abgeben.«
»Du solltest dir lieber ebenfalls einen neuen
Liebhaber suchen. Das Leben eines Vampirs kann sehr lang und einsam
sein.« Einen Augenblick presste sie wehmütig ihre vollen roten
Lippen aufeinander. »Am besten teilt man es mit jemand
Besonderem.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung.« Ich blickte
zurück zu Barrys Haus und stellte mir Thierry darin vor. So nah und
doch so fern. »Leider ist die Liebe manchmal ganz schön
kompliziert.«
Ich bemerkte, dass Barry am vorderen Fenster
stand. Er zeigte mir den Stinkefinger.
Eine halbe Stunde später klingelte ich bei der
Adresse, die Claire mir genannt hatte.
»Das ist großartig«, sagte George, als ich ihn
nervös anblickte. »Dann muss ich endlich nicht mehr ständig diese
Betäubungspistole mit mir herumschleppen, um mich notfalls vor
deiner dunklen Seite schützen zu können.«
»Sehr witzig.«
»Das ist… kein Witz.«
Ich tastete nach meiner Goldkette. Ich war alles
andere
als entspannt. Beruhigen würde ich mich erst, wenn alles vorbei
war. Aber wenigstens hatte ich das Geld. Ich würde den Roten Teufel
und Veronique verkuppeln, auch wenn ich nicht ganz sicher war, ob
ich dem Kerl trauen konnte. Aber wenn das hier funktionierte, war
es das allemal wert.
Ein paar Sekunden später ging die Tür auf, und
ein Junge von etwa vierzehn Jahren stand vor uns. Er hatte lange,
strähnige dunkle Haare und einen mürrischen Gesichtsausdruck. Auf
seinem schwarzen T-Shirt war das Bild einer mürrisch aussehenden
Rockband mit strähnigen Haaren abgebildet.
»Was?«, fragte er und schaffte es, dieses eine
Wort möglichst unhöflich klingen zu lassen.
Ich runzelte die Stirn und blickte auf die
Adresse, die ich auf einen gelben Klebezettel gekritzelt hatte.
»Ich suche Steven Kendall.«
»Wieso?«
Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich zu
lächeln. »Es ist geschäftlich. Ist das dein Vater? Kannst du ihn
für mich holen? Es ist ziemlich dringend.«
Er musterte mich mit zusammengezogenen Augen.
»Bist du der Vampir?«
Mein Blick zuckte zu George, dann wieder zu dem
Jungen. »Vampir?«
Er rollte mit den Augen. »Nun, bist du’s oder
bist du’s nicht?«
Ich schluckte. »Ich bin’s. Aber ich bin nett.
Versprochen.«
»Das kommt ganz auf die Tagesform an«, sagte
George
neben mir, was ihm einen deftigen Ellbogencheck in die Rippen
einbrachte.
Der Kerl öffnete die Tür ein Stück weiter.
»Kommt herein, aber wir müssen schnell machen. Meine Mutter ist
gerade einkaufen und ist bald wieder da.«
»Und dein Vater?«
»Das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, war
er tot«, erklärte der Junge vollkommen emotionslos. »Und wenn er
weiß, was gut für ihn ist, bleibt er das auch.«
»Okay.« Ich blinzelte träge. »Dann musst du
Steven sein.«
»Ich benutze den Namen nicht. Nennt mich
Finsternis.«
»Finsternis«,
wiederholte ich.
»Genau.«
»Vielleicht warte ich lieber im Wagen«, sagte
George, aber ich hakte mich bei ihm unter und zerrte ihn mit in den
Bungalow. Ich würde mich »Finsternis« nicht allein stellen.
Der Hexenmeister, den Claire ausfindig gemacht
hatte, war ein Teenager. Ein offensichtlich hasserfüllter
gruftimäßiger Harry Potter.
Damit konnte ich leben. Alles würde gut.
Schließlich hatte ich in dieser Angelegenheit keine große Wahl. Es
musste funktionieren. Wenn nicht, konnte ich den Fluch nur dadurch
brechen, dass ich den Roten Teufel an Gideon auslieferte und dafür
das Zauberbuch erhielt. Aber da ich bereits eingewilligt hatte, ihn
Veronique zu überlassen, war sein Terminkalender schon voll.
»Hast du das Geld?«, fragte der Junge.
Ich nickte.
»Dann folge mir.« Er führte uns eine
quietschende Treppe hinunter in einen holzgetäfelten Keller mit
einem Hirschgeweih an der einen Wand. An der gegenüberliegenden
Wand stand eine orangefarbene Vinylcouch und auf einem weißen
altmodisch zotteligen Teppich stand ein zerschrammter Plastiktisch
in Holzimitat. Überall waren Umzugskisten gestapelt, ein Zeichen,
dass Finsternis bald umziehen würde.
Darüber hinaus waren hundert brennende Kerzen – von der Feuergefahr
will ich gar nicht sprechen – so aufgestellt, dass sie auf einen
Schreibtisch mit einem Computerturm und einem Bildschirm
zuführten.
»Erst die Mäuse«, meinte Finsternis und hielt die Hand auf.
Ich klammerte mich an Georges Arm. »Ich will
ganz ehrlich mit dir sein. Ich habe eine ältere Person erwartet.
Ich lasse mich nicht übers Ohr hauen.«
»Du bist mit einem Fluch belegt.« Er setzte sich
vor den Computer und tippte kurz auf der Tastatur herum. »Ich kann
ihn auslöschen. Dich vollkommen von ihm erlösen.«
Ich sah zu George, der unruhig von einem Fuß auf
den anderen trat, dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem
Teenager zu, der uns über seine Schulter hinweg ansah. »Ist das so
eine Art Aufhebungszauberspruch?«
»Nicht ganz.«
Mir rutschte der Magen in die Kniekehlen. »Was
machen wir dann hier?«
Er verdrehte wieder die Augen.
»Aufhebungszaubersprüche sind unsicher, und das ist nicht mein
Ding. Wenn
ich es mit Zaubersprüchen oder Flüchen von anderen Hexen zu tun
habe, muss ich mit meiner Magie tiefer gehen.«
»Was heißt das genau?«, fragte George.
Der Junge lehnte sich auf dem Stuhl zurück,
schwang herum und musterte mich von meinen Füßen, über meine Jeans
bis zu meiner dunkelroten Bluse. Er hielt inne und starrte für
ungefähr zehn Sekunden unverhohlen auf meine Brüste. Ich
verschränkte die Arme über der Brust.
»Hallo?«, drängte ich. »Erde an Finsternis, bitte kommen.«
»Die Hälfte des Geldes bekomme ich sofort«,
erklärte er. »Die andere Hälfte, wenn es funktioniert hat. Aber du
musst das Geld deinem Freund geben, damit ich sicher bin, dass ich
es bekomme.«
»Wie meinst du das, sichergehen, dass du es
bekommst? Wenn der Zauberspruch funktioniert, werde ich dich
bezahlen. Glaub mir, wenn es nach mir geht, hast du jeden Penny
verdient.«
Er schüttelte den Kopf und strich sich durch die
fettigen Haare. »Ich habe dir schon erklärt, dass es kein
Zauberspruch ist, sondern dass es sich um eine Ausrottung handelt. Ich muss schwarze Magie
anwenden, deshalb ist die Sache ja auch nicht billig.«
»Wieso ist eine Ausrottung etwas anderes als ein
Zauberspruch?«, fragte George.
Der Junge blickte wieder auf seinen
Computermonitor. Selbst die Webseite, auf die er seinen Browser
eingestellt hatte, sah gruselig aus – Schädel, Särge, schwarzer
Hintergrund und dunkelrote Schrift. Offenbar erwartete ihn in
nächster Zeit eine Augenlaseroperation.
»Ich habe das noch nie bei einem Vampir gemacht.
Das
finde ich ziemlich aufregend.« Aufgeregt hin oder her, sein
Gesichtsausdruck wirkte unverändert mürrisch. »Für eine Ausrottung
braucht man eine Portion schwarze Magie, die man in die Seele des
Subjektes gibt, um anschließend den Fluch herauszuschöpfen.«
Ich erschauderte. »Das klingt nach einer
makaberen Reise zu Baskin-Robbins.«
»Es treten natürlich Nebenwirkungen auf.«
Claire hatte nichts dergleichen erwähnt. »Was
für Nebenwirkungen?«
»Setz dich.«
»Ich bin nicht ganz sicher, ob …«
»Willst du diesen Fluch nun loswerden oder
nicht?« Er wirkte genervt von meinen ganzen Fragen. »Wie gesagt,
meine Mutter kommt jede Minute zurück, und wenn sie mich bei einer
weiteren Ausrottung erwischt, bekomme ich Hausarrest.« Er zog an
seinem T-Shirt mit der Rockband. »Und wenn ich das Konzert von
Death Suck diese Woche verpasse, bringe ich mich um.«
Ich setzte mich auf die Vinylcouch, die unter
Protest quietschte. Dann gab ich George das Geld. Er faltete es
auseinander und steckte es in seine Tasche.
»Wenn irgendetwas schiefläuft«, sagte er, »lasse
ich davon ein fantastisches Blumenarrangement für deine Beerdigung
anfertigen. Versprochen.«
»Sehr witzig.«
»Das war … wieder kein Witz. Hoffen wir das
Beste, was?«
Finsternis kam mit einer
schwarzen Kerze zu mir herüber und bewegte sie langsam vor meinem
Gesicht hin und
her, so nah, dass ich einen Augenblick glaubte, er würde meine
Wimpern versengen. Ich zuckte zurück. Dann zog er einen Stuhl
heran, so dass sich sein Gesicht direkt vor meinem befand.
»Ich muss mich konzentrieren«, verkündete
er.
»Sagst du mir jetzt, welche Nebenwirkungen
auftreten können, oder was?«
»Ja«, schnappte er. »Herrgott, etwas geduldiger
bitte, ja? Alte Leute sind echt nervig.«
Ich biss die Zähne zusammen. Okay. Ich würde
Geduld mit diesem provokanten Knirps haben. Jawohl. Ich konnte
meinen Fluch loswerden, ich konnte die geduldigste Person des
ganzen Universums sein. Ich spürte jedoch, wie die Anspannung in
mir wuchs und ich kurz davor war zu explodieren. Ich brauchte meine
ganze Konzentration, um ruhig zu bleiben.
Konnte er es? Konnte er meinen Fluch
»ausrotten«? Mir lief der Schweiß das Rückgrat hinunter wie auf
einer Wasserrutsche im Vergnügungspark.
Entspann dich, befahl
ich mir. Versuch, ruhig zu bleiben, und denk
positiv.
Ich strengte meinen Kopf an und konzentrierte
mich auf ein Bild von Thierry im Smoking. Und mir in einem großen,
weißen, teuren Kleid. Wie wir in einer großen, schönen Kirche
heirateten. Das war eine meiner liebsten
Beruhigungsfantasien.
Ommmm.
»Die Hälfte des Geldes.« Er streckte George eine
Hand entgegen, der daraufhin eintausend Dollar abzählte und sie dem
Jungen gab.
»Okay.« Finsternis
schloss die Augen und atmete durch den Mund aus. Der Geruch von
Mama Miraculi stieg mir in die Nase. »Ich muss mich konzentrieren.
Ich muss der schwarzen Magie gestatten, in mich
einzudringen.«
Es folgte eine lange Weile voller Enttäuschung.
Ich hatte starke Zweifel, dass dieser Junge irgendetwas anderes als
ein Betrüger im Teenageralter war. Es war einen Versuch wert, aber
ich ahnte, dass nichts dabei herauskommen würde. Es war zu einfach.
Ich wusste Claires Versuch zu schätzen, aber das war zu schön, um
wahr zu sein. Ich war drauf und dran aufzustehen, Veroniques Geld
zu nehmen und das Haus zu verlassen, anstatt noch mehr Zeit zu
vergeuden.
Was würde Thierry wohl zu dieser kleinen
Eskapade sagen? Es war das Beste, wenn er es niemals herausfand. Es
sei denn, es funktionierte. In dem Fall würde ich das mit einer
kleinen Party feiern.
Die Flamme der Kerze flackerte und färbte sich
blau. Als sich die Temperatur im Raum in fünf Sekunden um ungefähr
zwanzig Grad absenkte, sog ich scharf die Luft ein.
Finsternis nickte
bedächtig. »Jetzt weiß ich, welchen Preis du für die Ausrottung
zahlen musst. Abgesehen von dem Geld. Sie löscht ein halbes Jahr
deines Lebens.«
Mir fröstelte. »Was heißt das?«
»Das Ergebnis hängt vom Subjekt ab; in diesem
Fall von dir. Es werden die letzten sechs
Monate aus deinem Leben gelöscht und mit ihnen alles, was in dieser
Zeit geschehen ist. Verletzungen oder Krankheiten, egal was. Alles
wird vollkommen aus deinem Körper verschwinden. Es ist dann
immer noch heute, aber du wirst wieder sein, wie du damals
warst.«
Mit klopfendem Herzen sah ich zu George. Ich
hatte die Augen so weit aufgerissen, dass ich spürte, wie sie
austrockneten. »Bedeutet das etwa, was ich denke, dass es
bedeutet?«
Er hatte die Augen ebenso weit aufgerissen wie
ich. »Ich weiß nicht.«
Ich streckte die Hand vor und bohrte Finsternis meinen Zeigefinger in die Brust. »Bei mir
ist in den letzten Monaten eine ganze Menge passiert.«
Er nickte, ohne die Augen zu öffnen. »Das spüre
ich. Der Fluch ist nicht das Einzige, das gelöscht wird. Du hast
auch noch den frischen Vampirvirus in dir.«
Meinte der Junge etwa, dass ich kein Vampir mehr
war, wenn er den Fluch löschte?
Die Flamme der Kerze flackerte vor seinem
Gesicht. »Wenn ich den Fluch ausrotte, wirst du kein Vampir mehr
sein.«
Okay. Ich glaube, genau das hatte er gerade
gesagt.