10
Da war etwas Kaltes, Nasses auf meinem Kopf. Ich
öffnete langsam und unter großen Schmerzen die Augen und stellte
fest, dass George mir ein kühles Tuch an die Stirn hielt. Er wirkte
besorgt.
»Finsternis hat dich
bewusstlos geschlagen«, erklärte er, als ob ich das nicht
wüsste.
Ich blinzelte vor Schmerzen und bemerkte, dass
ich lang ausgestreckt auf dem Sofa lag. »Wo ist er hin?«
»Nachdem er dich ausgeschaltet hatte, hat er uns
wieder hereingelassen. Er schien vollkommen aufgelöst über die
ganze Situation. Er und seine geliebte Mommy sind sofort
verschwunden. Bist du okay?«
Ich vermutete, dass der Dämon wieder dorthin
gegangen war, wo er hergekommen war. So kryptisch seine Nachricht
auch war, man hatte sie mir erfolgreich übermittelt. Ich fragte
mich, ob ich George davon erzählen sollte, entschied mich aber,
vorerst nichts zu sagen. Ich wusste nicht, was es zu bedeuten
hatte. Außerdem musste ich dann weiter ausholen, um die Geschichte
mit Gideon zu erklären, und darauf war ich nicht vorbereitet.
George tupfte immer noch mit dem kalten Tuch
meine Stirn ab. Ich schob seine Hand weg. »Ich hatte einen
verwirrenden Traum. Du hast mich an meiner Hochzeit verraten, und
meine Nachtwandlerin hat Thierry umgebracht und stattdessen Gi…«,
ich biss mir auf die Zunge, »jemand anderen geheiratet. Ich konnte
sein Gesicht nicht erkennen.«
»Was hatte ich an?«, fragte er durchaus
ernsthaft.
Ich versuchte, mich auf sein Gesicht zu
konzentrieren. »Für einen Traum sahst du großartig aus. Du hattest
einen fabelhaften Anzug an. Ich glaube von Armani. Der Traum-George
hatte einen guten Geschmack.«
Er nickte. »Schön.«
Ich versuchte die Episode mit dem Dämon und den
anschließenden Albtraum loszuwerden. »Ich träume häufig, dass
Thierry stirbt. Obwohl er normalerweise nicht von mir umgebracht
wird. Ich hoffe, das war kein Hinweis auf die Zukunft.«
Er stand auf und warf den feuchten Lappen auf
eine alte Zeitung auf dem Kaffeetisch. »Da es in dem Traum um eure
Hochzeit ging, war das Ganze offensichtlich nur ein Produkt deiner
Fantasie. Schließlich seid ihr zwei ja Geschichte. Stimmt’s?«
Ich nickte. Er wusste ja nichts von Thierry und
mir, und
ich hielt es für besser, es ihm auch nicht zu sagen. Zu seinem
eigenen Vorteil.
»Übrigens«, fuhr er fort, »ich kann gar nicht
glauben, dass du wieder mit Quinn zusammen bist und mir nichts
gesagt hast. Amy hat mir ein Beweisfoto von eurer Zungengymnastik
gestern im Café geschickt. Wie kannst du so etwas vor mir
verheimlichen?«
»Tut mir leid.« Ich zuckte mit den Schultern.
»Es ist noch ziemlich frisch, und du warst so beschäftigt.«
»Ich vergebe dir. Aber nicht ganz.« Seine
Unterlippe bebte. »Und auch nur, weil du gerade an einer
Gehirnerschütterung leidest.«
Ich musterte ihn eine ganze Weile und versuchte
das Pochen in meinem Kopf zu ignorieren. »Bist du wirklich deswegen
außer dir, oder hast du nur einen emotionalen Tag?«
Er schniefte. »Mir geht es gut. Alles
bestens.«
»Du benimmst dich irgendwie komisch.«
»Komisch wie seltsam oder komisch wie
ha-ha?«
»Seltsam.« Ich berührte seinen Arm. »Es tut mir
leid, dass ich so mit meinen eigenen Problemen beschäftigt war,
aber wenn irgendetwas nicht stimmt, kannst du es mir ruhig sagen.
Wir sind schließlich Freunde.«
Er blickte mich an, dann stand er von der Couch
auf und trat ans Fenster. »Es gibt nichts, worüber du dir deinen
hübschen kleinen Kopf zerbrechen musst.«
Ich stützte mich auf den Ellenbogen. Eine
leichte Schwindelwelle überkam mich, ging aber schnell vorüber.
»Ich glaube, ich weiß, was es ist.«
»Ja?«
Ich nickte. »Es liegt daran, dass ich hier
wohne. Ich lungere hier schon viel zu lange herum, und das tut mir
leid. Ich muss mich nur noch um ein paar Angelegenheiten kümmern,
angefangen bei meiner brandneuen Kopfverletzung …«, bis zu meinem
Fluch, Thierrys geheimer Identität, der Zeugung von Gideon und
meinem neuen Einblick in die lustige und aufregende Welt der
Dämonen, »… und dann besorge ich mir eine eigene Wohnung. Ich weiß
es wirklich zu schätzen, was du mir in meiner kümmerlichen,
selbstmitleidigen, bedürftigen Phase für ein Freund gewesen
bist.«
»Sarah, das ist es nicht…«
Aber ich war während meiner Rede aufgestanden
und taumelte langsam, aber geradewegs durch das Wohnzimmer auf ihn
zu, um ihn fest in den Arm zu nehmen. »Du bist toll, weißt du
das?«
Er löste sich so gut er konnte aus meinem
Klammergriff, ging zum Kleiderständer in der Diele und griff seine
Jacke. Mit einem flüchtigen Kuss auf meine Wange verabschiedete er
sich. »Ich muss ein bisschen raus, aber du bleibst hier und ruhst
dich aus. Und entspann dich. Und versuch nicht in Schwierigkeiten
zu geraten, wenn dir das irgendwie möglich ist.«
»Da bin ich nicht so sicher.«
»Versuch es trotzdem. Schließlich habe ich eine
viel zu geringe Hausratversicherung.«
Ohne ein weiteres Wort verließ er das
Haus.
Vielleicht hatte es kürzlich eine Invasion von
George-Entführern gegeben. Ich sollte, trotz all meiner anderen
Dramen, ein Auge auf ihn haben. Es gab nichts Schlimmeres
als einen eventuell depressiven Vampir. Ich spreche aus
Erfahrung.
Ich stöhnte und rieb mir meine empfindliche
Kopfhaut. Der Dämonenjunge hatte eindeutig einen gemeinen linken
Haken.
George wollte, dass ich mich ruhig verhielt und
mich erholte, nachdem man auf mich wie auf einen Boxsack mit
Reißzähnen eingeschlagen hatte. Aber wie sollte ich mich
entspannen? Dieser Teenager war besessen
gewesen.
»Er hält einen Hinweis in
seiner Hand – einen flüchtigen Hinweis auf einen Betrug, den du
niemals erwartest.«
Ich war ziemlich sicher, dass er von Gideon
gesprochen hatte. Wenn ich betrogen wurde, wollte ich wirklich gern
alles darüber erfahren.
Was hielt er in der Hand? Eine Fernbedienung?
Ein Stück Obst? Meinen Hintern, als er mich gestern Abend geküsst
hatte?
Mir schoss ein anderer Gedanke durch den
Kopf.
Vielleicht hatte der Dämon von Gideons
BlackBerry gesprochen.
Das ergab tatsächlich einen Sinn. Ich hatte
bereits überlegt, welche Geheimnisse sich darin womöglich fanden –
Namen und Kontaktinformationen. Terminkalender. Treffpunkte.
Textnachrichten und E-Mails. Es schien eigentlich zu simpel, aber
womöglich war es hilfreich zu wissen, wer ihm dabei half, mich zu
erpressen.
Vielleicht musste niemand verletzt werden. Wenn
ich den BlackBerry in die Hände bekam, konnte ich die Informationen
gegen ihn verwenden. Ihm klarmachen, dass er nicht die ganze Macht
hatte.
Wenn ich ihn trotzdem zeugte, sah er, dass ich
es freiwillig tat. Ich würde ihm ein für alle Mal beweisen, dass
Vampire es nicht verdienten, erstochen zu werden. Dann konnte er
seinen Freunden von seinem neuen milden Blick auf die übersinnliche
Welt berichten und die Jäger vom Jagen abbringen. Es wäre eine
vollkommen neue Welt.
Mir kam das Disney-Lied mit demselben Titel in
den Kopf.
Okay, ich war ein absoluter Dummkopf. Ich
wusste, dass es nicht so einfach war. Aber es war ein Anfang. Etwas
Handfestes.
Dann würde er mir bedingungslos das Zauberbuch
geben. Denn so verhielten sich Freunde. Sie halfen sich
gegenseitig.
Gideon Chase war mein Freund.
Offensichtlich war meine Gehirnerschütterung
schlimmer als befürchtet. Gott sei Dank verfügte ich jetzt über
schnell heilende Vampirkräfte.
Ich würde ihm das Telefon wegnehmen und dann
weitersehen. Einen Schritt nach dem anderen. Morgen um Mitternacht
sollte ich ihn in einen Vampir verwandeln. Ich hoffte sehr, dass
dieser ultimative Termin nicht auch für mich Ultimo
bedeutete.
Ich nahm mein Telefon und suchte Gideons letzten
Anruf, holte tief Luft und drückte den Wiederwahlknopf. Er hob beim
zweiten Klingeln ab.
»Guten Tag, Sarah«, begrüßte er mich. »Geht es
dir heute besser?«
Wir hatten uns gestern Abend nicht im Guten
voneinander
verabschiedet, oder? Mir fiel ein, dass ich meine Zähne in seiner
Zunge versenkt hatte und er eine Drohung ausgestoßen hatte, als ich
das großzügige Angebot abgelehnt hatte, Sex mit ihm zu haben.
Beste Freunde. So etwas
kam vor.
»Ich will mit dir darüber sprechen, was gestern
Abend passiert ist.«
Es folgte eine lange Pause. »Dann sprich.«
Ich schluckte. »Nicht am Telefon. Ich will dich
sehen.«
»Ehrlich?« Er klang interessiert. »Ich hatte den
Eindruck, dass du nicht glücklich mit mir bist.«
»Ich habe noch einmal darüber geschlafen.
Vielleicht habe ich überreagiert.«
»Dann komm auf jeden Fall heute Abend vorbei.
Wir können da weitermachen, wo wir aufgehört haben.«
Das konnte so einiges bedeuten. »Kann ich dich
nicht jetzt sehen?«
»Nein.«
»Warum? Bist du nicht allein?«
»Bist du eifersüchtig?«
»Nein.« Mir wurde flau im Magen. Wer war bei
ihm? Seit er in die Stadt gekommen war, hatte ich ihn nie mit
jemandem gesehen. »Ich wollte mich heute auch noch mit Quinn
treffen, dann sehen wir uns später.«
»Ich rate dir dringend, ihm heute nichts von mir
zu erzählen. Kann ich dir vertrauen, Sarah?«
»Natürlich«, sagte ich schnell. Das war nicht
gelogen. Ich würde Quinn heute nichts erzählen, denn ich hatte
bereits gestern mit ihm über seinen alten Jägerkollegen
gesprochen.
»Wenn du herkommst, will ich, dass du mir alles
über den Roten Teufel erzählst, was du weißt.«
Ich verspannte mich. »Ich weiß nicht viel über
ihn.«
»Du hast ihn gestern Abend getroffen. Du weißt
genug. Bis später.«
Er unterbrach die Verbindung.
Jemand hatte mich und den Roten Teufel gestern
Abend gesehen? Mir lief ein Schauer über den Rücken. Wer wohl? Es
war eigentlich egal, denn es bewies mal wieder, wie genau ich
beobachtet wurde.
Ich wollte Thierry anrufen. Ich wollte mit ihm
sprechen. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen
sollte, ohne dass Gideon Verdacht schöpfte. Ich durfte ihn nicht
noch misstrauischer machen, bis ich zumindest diesen BlackBerry in
meinen kleinen heißen Händen hielt.
Der Plan war mir vor einigen Minuten so brillant
erschienen, doch jetzt hatte ich das Gefühl, mich bloß an einen
Strohhalm zu klammern.
Nachdem ich Gideon erklärt hatte, dass ich Quinn
am Nachmittag sehen würde, tat ich das auch. Ich traf ihn genau
eine Stunde später im Bodacious Bean, und
wir verbrachten den Rest des Tages miteinander. Wir plauderten über
unverfängliche Themen, so dass wir uns – sollten wir von Gideons
unsichtbaren Spionen belauscht werden – wie zwei Leute anhörten,
die sich mochten und ein bisschen Zeit miteinander
verbrachten.
Quinn und ich schlenderten durch die Stadt und
sahen uns die Schaufenster im Eaton Centre an, dem coolsten
Einkaufszentrum im gesamten Universum. Dann wanderten wir die
gefrorenen Straßen von Yorkville entlang,
meinem Lieblingsstadtteil von Toronto, in dem es hübsche Boutiquen
gab und wo man ab und an eine berühmte Person sichten konnte.
Eigentlich wäre es ein herrlicher Tag gewesen, aber ich war mit den
Gedanken woanders.
»He …« Quinn drückte meine Hand. »Hallo? Erde an
Sarah.«
»Entschuldige.« Ich schluckte schwer. »Ich bin
heute ein bisschen zerstreut.«
»Heute?«
»Ha, ha.« Ich funkelte ihn böse an. »Vermutlich
perfektioniere ich diese Gabe.«
»Alles wird gut. Das weißt du doch, oder?«
»Stimmt das?«
Er nickte nachdrücklich und grinste mich an.
»Wir werden beide bekommen, was wir uns immer gewünscht haben, und
das Glück finden, nach dem wir gesucht haben. Weißt du, wieso ich
das weiß?«
»Okay, würden Sie das bitte der Klasse erklären,
Herr Oberlehrer.«
Er lächelte breiter. »Weil wir es verdammt noch
mal verdient haben.«
Ich musterte ihn. »Rauchst du Crack?«
»Um das zu wissen, brauche ich keine Drogen.
Wieso glaubst du mir nicht?«
Ich stieß die Luft aus und beobachtete, wie die
Luft zu einer Wolke gefror. Wäre ich ein Nachtwandler, würde das
nicht passieren. Dann brauchte ich nicht zu atmen und wenn ich
draußen in der Kälte wäre, fiele meine Körpertemperatur ab. »Ich
weiß nicht, was ich noch glauben soll.«
»Dann glaube ich es für dich mit.«
»Seit wann bist du der Positive im Team?«
Er zuckte mit den Schultern. »Einer muss es ja
tun und heute bin ich wohl dran. Du hast irgendwie deinen
Optimismus verloren.«
»Ich glaube, ich habe ihn nur gerade verlegt.«
Ich kaute auf meiner Unterlippe. »Wenn du die Chance hättest,
wieder ein Mensch zu werden, dafür aber einen hohen Preis zahlen
müsstest, würdest du es dann tun?«
Er dachte einen Augenblick darüber nach. »Ich
habe lange genug nach einfachen Antworten auf schwierige Fragen
gesucht. Nichts ist so gekommen, wie ich es geplant hatte. Aber
wenn mir heute jemand eine spezielle Pille anbieten würde, durch
die ich wieder wie früher würde.« Er zog die Augen zusammen. »Ich
glaube nicht, dass ich sie nehmen würde. Ich fühle mich wohl, so
wie ich jetzt bin.«
Ich holte tief Luft und stieß sie langsam wieder
aus. »Was, wenn du verflucht wärst?«
»Nachdem ich gebissen worden bin, habe ich mich
eine Zeit lang genau so gefühlt. Jetzt weiß ich, dass es ein Segen
war.«
Ich verdrehte die Augen. »Ich glaube, du hast
mir besser gefallen, als du noch von Angst besessen warst.«
»Oh, glaub mir, das bin ich nach wie vor.« Er
lächelte und drückte meine Hand. »Das Leben bietet uns eine Fülle
von Möglichkeiten. Wir wissen immer erst hinterher, ob wir die
richtige Entscheidung getroffen haben, wenn wir sehen, wo der Weg
hinführt, den wir eingeschlagen haben.«
»Bitte hör auf.«
»Tut mir leid. Ich kann nicht anders.« Sein
Lächeln verschwand,
und seine Miene verfinsterte sich. »Ich glaube, wir werden
verfolgt.«
Ich verspannte mich. »Was sollen wir tun?«
»Wir verhalten uns ganz natürlich.«
Die Sonne war untergegangen. Es war beinahe
vollkommen dunkel, also dauerte es nicht mehr lange, bis ich zu
Gideon gehen konnte.
»Was haben wir für einen Spaß miteinander«,
sagte Quinn angespannt und so laut, dass jeder es hören
konnte.
»Absolut«, stimmte ich zu. »Wir sind so
entspannt und ruhig und haben Lust, unser wundervolles Leben zu
genießen. Gemeinsam. Quinn und ich. La la la.«
Er biss die Zähne zusammen. »Das klang nicht
sehr überzeugend.«
»Meine schauspielerischen Fähigkeiten sind auch
nicht mehr das, was sie einmal waren.«
Er zog mich an die Seite des Bürgersteigs an die
Wand einer schicken Modeboutique. »Nur zum Schein.«
»Was?«
»Das.« Er küsste mich. Ich war überrascht,
verstand aber, dass es jeden potentiellen Beobachter davon
überzeugen würde, dass Quinn und ich eine romantische Beziehung
hatten.
Ich hatte Quinn schon ein paarmal geküsst, denn
wir hatten uns einmal sehr voneinander angezogen gefühlt. Aber das
hier? Das war nur zur Show, und ich fühlte mich überhaupt nicht
mehr von ihm angezogen.
Dennoch. Der Exjäger hatte wundervolle
Lippen.
Schließlich löste er sich von mir und flüsterte
mir ins Ohr: »Tut mir leid.«
»Leid?«, stieß ich hervor. »Das muss dir nicht
leidtun.«
»Ich frage mich, ob der Rote Teufel das auch
gesehen hat.« Ich spürte an meiner Wange, dass er grinste. »Ich
weiß, dass er auf dich aufpasst. Da hat er ja jetzt eine Menge
gesehen.«
Nun, das war möglich.
Ich wusste, dass der Kuss nicht nur von einem
von Gideons Aufpassern beobachtet worden war, sondern auch von
Thierry. Meine Vampir-Erzeuger-Verbindung sagte mir, dass er in der
Nähe war.
Er war von Anfang an eifersüchtig auf Quinn
gewesen. Das hier geschah ihm ganz recht.
»Ich muss gehen«, erklärte ich Quinn. »Ich habe
eine Verabredung.«
»Willst du, dass ich dich begleite?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich melde mich später,
okay?«
Es kostete mich noch einige Überzeugungsarbeit,
aber schließlich gelang es mir, mich von Quinn zu verabschieden,
und ich erreichte um kurz vor sieben das Madison Manor. Je näher
ich auf Gideons Hotel zukam, desto langsamer ging ich, während ich
versuchte, mich zu beruhigen.
Alles wird gut,
versuchte ich mir einzureden.
Ich kam gut mit Gideon Chase zurecht. Er war
Wachs in meinen Händen.
Na, klar.
Auf einmal vernahm ich aus der Dunkelheit eine
Stimme.
»Triffst du dich wieder mit Gideon?«, fragte
Thierry de Bennicoeur in der Rolle des Roten Teufels. »Was für eine
Überraschung.«
Ich legte eine Hand auf meine Hüfte. »Er ist so
charmant, dass ich nicht widerstehen kann.«
»Verstehe. Glaubst du, man sollte Versuchungen
stets nachgeben?«
Ich hatte an der Uni einen Kurs in englischer
Literatur belegt und verstand, wenn man mir mit sarkastischem
Unterton ein Zitat von Oscar Wilde an den Kopf warf.
Oder meinte er es ernst? Ich versuchte, die
Situation mit seinen Augen zu sehen. Thierry wollte vermeiden, dass
ich mich durch ein Treffen mit Gideon in Gefahr brachte. So viel
hatte er mir direkt gesagt. Und dennoch stolzierte ich hier
fröhlich erneut in Gideons Hotelzimmer.
Ich glaube, ich hatte dem »Roten Teufel«
gegenüber gestern Abend auch zugegeben, dass Gideon mich nicht nur
geküsst hatte, sondern dass es mir vielleicht sogar gefallen hatte.
Oh-oh.
»Glaubst du, ich habe eine Affäre mit Gideon?«,
fragte ich.
Es folgte langes Schweigen. »Hast du?«
»Ich kann nicht glauben, dass du das
fragst.«
»Das war keine eindeutige Antwort.« Seine Stimme
klang angespannt. »Aber es geht mich sowieso nichts an,
oder?«
»Jetzt, wo du es sagst.« Ich unterdrückte meine
Gereiztheit, drehte mich um und entdeckte ihn ein Stück rechts von
mir im Schatten des Hotels. »Wieso sagst du mir nicht einfach, wer
du bist? Abgesehen von Twister oder Flaschen drehen habe ich noch
nie gern Spiele gespielt.«
Ich hatte ihm eine Chance gegeben. Das war die
Gelegenheit, mir reinen Wein einzuschenken.
»Es wäre besser, wenn du dich von Gideon
fernhieltest«, sagte er ruhig, ohne überhaupt zu versuchen, meine
Frage zu beantworten. »Ich muss dir nicht erst sagen, dass er ein
gefährlicher Mann ist.«
»So wie du. Gideon hat mir erzählt, dass du im
Grunde ein massenvernichtender Vampir bist.«
»Das hat er gesagt, ja?«
»Das sind meine Worte, aber das hat er
gemeint.«
Es folgte eine Pause. »Und was denkst du über
mich?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, dass ich
von Gideon das Zauberbuch bekomme, mit dem ich den Fluch brechen
kann, wenn ich dich ihm ausliefere. An deiner Stelle wäre ich also
vorsichtig.«
»Willst du ihm helfen? Kannst du dich deshalb
nicht von ihm fernhalten?«
»Ich weiß noch nicht, was ich mache.« In der
Dunkelheit konnte ich nur die Umrisse seines Körpers erkennen und
in seinen Augen, die hinter der Maske im Schatten lagen, ein
schwaches Funkeln. »Für mich steht momentan ziemlich viel auf dem
Spiel, und ich habe das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu
sein.«
»Du bist nicht allein.«
»Es fühlt sich aber so an.«
»Heute Nachmittag mit Quinn hast du nicht sehr
einsam gewirkt. Vielleicht kommt ihr zwei ja zusammen, wenn du das
willst.«
Er sprach Quinns Namen mit einem altbekannten
unfreundlichen Unterton aus. Offenbar war der Kuss nicht unbemerkt
geblieben. Ich hatte zwar die Nase voll von diesen
Eifersüchteleien, aber ich hatte dennoch ein schlechtes
Gewissen. Mehr als das. Ich hatte das Gefühl, in der ganzen Stadt
herumgeflirtet und mich jedem an den Hals geworfen zu haben.
Thierry zweifelte vollkommen zu Recht, ob meine Lippen oder der
Rest meines Körpers ihm treu waren.
»Ich bin nicht in Quinn verliebt. Das war ich
nie und werde es auch nie sein. Außerdem würde mir seine Verlobte
mit ihren neuen Reißzähnen den Kopf abreißen. Du weißt ganz genau,
wen ich liebe.«
»Ja?«
Ich seufzte vernehmlich. »Wieso nimmst du dir
nicht den Rest der Nacht frei? Ich brauche jetzt keinen Schutz,
insbesondere nicht von jemandem, der sich hinter einer albernen
Maske versteckt.«
»Vielleicht beschütze ich ja gar nicht so sehr
dich als vielmehr andere vor dir.«
Ich versuchte, nicht zusammenzuzucken. »Stimmt
das?«
»Du bist derzeit eine gefährliche Frau und hast
dich kaum im Griff. Du tust so, als wärst du normal, aber du bist
alles andere als das.«
»Ja, gut.« Ich schluckte den Knoten in meinem
Hals herunter und berührte gedankenverloren meine Goldkette. »Das
will ich ja gerade wieder in Ordnung bringen. Wenn du mich jetzt
bitte entschuldigst.«
Ich wollte gerade gehen, da griff er nach meiner
Hand.
»Sarah …«
»Was?« Als ich mich zu ihm umdrehte, ließ er
mich sofort los und zog sich wieder in die Dunkelheit zurück.
Schweigen breitete sich zwischen uns aus.
»Versprich, dass du vorsichtig bist.«
»Ich tue mein Bestes.«
Wieder stieg Verzweiflung in mir auf. Wieso
erzählte mir Gideon alles über sich und Thierry so gut wie gar
nichts? Irgendwie schien das nicht richtig zu sein.
Er hatte ausreichend Gelegenheit gehabt, mir die
Wahrheit zu sagen. Glaubte er ernsthaft, dass ich es nicht wusste?
Dass ich nicht an einer dünnen Maske vorbeisehen konnte?
Aber natürlich dachte er das. Wenn ihn seit Gott
weiß wie langer Zeit niemand erkannt hatte, wieso sollte er dann
bei mir damit rechnen? Aber ich hatte ihn erkannt. Trotz all
unserer Differenzen wusste ich als Einzige, wer Thierry wirklich
war.
Ich war sicher, dass das eine Metapher
war.
Gideon erwartete mich im vierten Stock des
Hotels. Als er mich hereinließ, ließ ich schnell den Blick durch
den Raum schweifen und sah, dass das Bett nicht gemacht und die
Laken in Unordnung waren.
»Hattest du einen unterhaltsamen Nachmittag mit
deinem Besuch?«, erkundigte ich mich trocken.
Er verzog die Lippen. »Nur ein erholsames
Nachmittagsschläfchen.«
»Ach so.«
»Wärst du sauer, wenn ich mich mit jemand anders
amüsiert hätte? Du hast mich schließlich gestern Abend in einem
gewissen Zustand zurückgelassen.«
»Ja. Einem Zustand der Ablehnung.« Ich musste
daran denken, dass ich nicht hier war, um ihn zu beleidigen oder
ihn rasend zu machen. Ich war hier, um an sein berühmtes Telefon zu
kommen. Zucker, nicht Essig bildete den
Hauptbestandteil des Abends. »Tut mir leid. Ich glaube, ich bin
nur müde.«
»Ist schon okay. Mach es dir bequem.«
Ich wählte den Armsessel am Fenster und setzte
mich ungelenk hinein.
Er nahm auf der Kante seines unordentlichen
Bettes Platz. Er war in einen Designeranzug gekleidet, um den ihn
selbst Thierry beneidet hätte. Das weiße Hemd war zur Hälfte
aufgeknöpft, so dass ich einen Blick auf seine muskulöse Brust
erhaschen konnte, die dank seiner Zauberarmbanduhr immer noch frei
von Narben war. Bestimmt befand sich der besagte BlackBerry in der
Tasche seiner Anzugj acke.
»Du hattest heute Besuch von deinem jungen
Hexenmeister«, sagte er nach einem Augenblick. Das war keine
Frage.
Mein Mund wurde trocken. Wieso überraschte mich
das? Offenbar hatte er einen seiner Spione vor Georges Haus
postiert. Ich machte mir so schon genug Sorgen um George, ohne dass
er wusste, dass jeder seiner Schritte überwacht wurde. Ich hatte
das Gefühl, dass Gideons Spione nie nah genug waren, um Gespräche
mit anzuhören, aber nah genug, um zu sehen, mit wem ich meine Zeit
verbrachte. Zumindest bis jetzt.
»Er hat mir das Geld von gestern wiedergegeben.
Keine große Sache.« Außerdem war er von einem Dämon besessen. Aber
diese Information wollte ich Gideon momentan nicht geben.
»Er wirkt sehr mächtig für sein Alter.«
Ich erinnerte mich an den Würgegriff um meinen
Hals
und die Wucht, mit der er mich bewusstlos geschlagen hatte. »Das
kann man wohl sagen.«
»Eine talentierte Hexe oder ein Hexenmeister ist
eine Seltenheit. Es gibt wenige, die mit den dunklen Mächten so
arbeiten können, wie sie wollen. Dein … Steven, oder? … könnte sich
als gefährlich erweisen. Du solltest vorsichtig sein.«
»Danke für deine Fürsorge.« Ich versuchte
entspannt zu wirken und merkte, dass ich komplett versagte. »Fühlst
du dich besser als gestern?«
Er nickte und schenkte mir ein strahlendes
Lächeln. »Dein Blut wirkt Wunder. Es hat mir nur bestätigt, was ich
schon wusste. Morgen um Mitternacht wird alles anders, und das
Ritual wird ganz nach Plan laufen.«
»Bist du sicher, dass du dir das immer noch
antun willst?«, fragte ich mit trockenem Mund. »Ich meine, du hast
deine wunderbare neue Schönheitsuhr und keine Schmerzen mehr. Wieso
machst du den Schritt in ein Leben mit Reißzähnen und Bluttrinken,
wenn du nicht musst?«
»Weil all das …« Er wedelte mit der Hand über
sein Gesicht, »… nur eine Illusion ist. Wunden vom Höllenfeuer sind
nicht mit einer anderen Verletzung zu vergleichen. Ich suche nach
einer dauerhaften Lösung.«
»Dauerhafter als die Unsterblichkeit geht wohl
kaum. Sie ist fast so dauerhaft wie eine Tätowierung.«
»Genau.« Er lächelte breiter. »Sarah, ich möchte
mich für mein gestriges Benehmen entschuldigen. Es war nicht
richtig, dass ich mich dir aufgedrängt habe.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe
überreagiert.«
Er hob überrascht eine Braue. »Hast du?«
»Ich glaube, das war alles ein bisschen viel –
du, der Fluch und alles. Als du mich geküsst hast …« Ich räusperte
mich. »Nun, da war ich etwas verwirrt. Offensichtlich.«
Er erhob sich von dem Bett und war mit wenigen
Schritten bei mir. Er hielt mir seine Hand entgegen, und ich
ergriff sie vorsichtig. »Ich will dir etwas zeigen.«
Ich beherrschte mich und riss mich nicht von ihm
los. Honig, nicht Essig!, rief ich mir in
Erinnerung.
Er führte mich in eine Ecke der Suite, in der
ein Schreibtisch stand, zog die oberste Schublade heraus und holte
ein verschlissenes, in schwarzes Leder gebundenes Buch mit goldenen
Ecken hervor. Er blätterte durch die handgeschriebenen Seiten, die
ebenso Diagramme sowie Zeichnungen enthielten.
Ich traute meinen Augen kaum. »Das Zauberbuch
der Hexe?«
»Das ist es.« Er schlug eine Seite in der Mitte
auf. »Alle bösen Flüche, mit denen sie das Leben von irgendwelchen
Leuten ruiniert hat, sind hier drin. Hier ist der, den sie bei dir
angewandt haben muss.«
Mit großen Augen starrte ich hinunter auf die
kleine korrekte Handschrift der verrückten Hexe, die mich verflucht
hatte. Dort stand:
NACHTWANDLER (BÖSER VAMPIR) FLUCH
Die Schrift sah aus wie Latein, aber das
vermutete ich nur, nachdem ich eine Menge Fernsehsendungen über
Übernatürliches gesehen hatte. Sie hatte einen lächelnden Smiley
mit spitzen Reißzähnen gemalt und mit blauer Tinte eine kleine
Bemerkung daneben geschrieben. »Perfekt für Sarah Dearly.«
Sie hatte offensichtlich weit
vorausgeplant.
»Das ist ja unglaublich«, stieß ich
hervor.
Er blätterte eine Seite weiter. »Und hier ist
die Zauberformel, mit der man dich von dem Fluch erlösen
kann.«
Ja, dort stand:
NACHTWANDLER (BÖSER VAMPIR) FLUCH **ERLÖSUNG
**
Hier hatte sie einen unglücklichen Smiley
gemalt. Mit Reißzähnen.
Die Hexe mochte vielleicht verrückt gewesen
sein, aber sie war eindeutig gut organisiert.
Ich streckte die Hand nach dem Buch aus, aber
Gideon schlug es zu, so dass meine Hand darin gefangen war.
»Autsch.« Ich zog meine Hand zurück.
»Tut mir leid. Aber ich kann meine Geheimnisse
nicht so einfach preisgeben.« Er grinste. »Erst wenn du mir
geholfen hast, den Roten Teufel zu finden.«
Ich sog scharf die Luft ein. »Richtig. Was das
anbelangt.«
»Du willst mir nicht alles über ihn erzählen,
stimmt’s? Selbst wenn das Zauberbuch als Belohnung winkt.«
»Nicht, dass ich …« Ich schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht.«
»Ich verstehe«, sagte er.
Ich sah ihn überrascht an. »Ja?«
»Natürlich. Du willst niemandem wehtun. Ich
bewundere das, Sarah.«
»Ja?«, fragte ich wieder.
»Ja. Es ändert allerdings nichts. Der Rote
Teufel muss sterben. Und solange er in der Stadt ist, bist du meine
Verbindung zu ihm.«
»Wenn ich ihn nicht verrate, gibst du mir nicht
das Zauberbuch.«
»Ich kann dir so vieles geben.« Er strich mir
die Haare aus dem Gesicht. »Alles, was du willst. Ich bin ein sehr
reicher Mann, auch wenn alle denken, ich wäre tot.«
»Ich will dein Geld nicht. Oder irgendwelche
Geschenke. Ich will nur das Zauberbuch.«
»Und ich will den Roten Teufel.«
»Ich bin sicher, er fühlt sich
geschmeichelt.«
Er ließ die Hand über meine Wange zu meinem Hals
hinuntergleiten und strich mit dem Zeigefinger an meiner Goldkette
entlang. »Ich finde, du solltest deinen Fluch nicht brechen. Weißt
du eigentlich, was es heißt, ein Nachtwandler zu sein?«
Gideon kam mir deutlich zu nahe, unsere Körper
berührten sich beinahe. Ich spürte, wie die Hitze in Wellen von ihm
abstrahlte, und nahm den Geruch seiner Haut wahr. Wenn sie ihnen zu
nah kamen, rochen Menschen für Vampire wie Essen, warm, köstlich
und schmackhaft. Ich war froh, dass ich dank meiner Kette meinen
Durst unter Kontrolle hatte. Seit ich gezeugt worden war, hatte ich
mich überwiegend von Menschen ferngehalten und meine lockeren
Bekannt- sowie Freundschaften aus dem alten Büro durch neue
Vampirfreunde ersetzt. Es war etwas enttäuschend, wie leicht sie
sich damit abgefunden hatten, dass ich mich einer neuen Gruppe
angeschlossen hatte, aber es war sicherer so.
Gideon kam mir allerdings etwas zu nah.
So nah, dass ich die harten Umrisse seines
BlackBerry in seiner Hosentasche spürte.
Zumindest … hielt ich es für seinen BlackBerry.
Vielleicht freute er sich auch nur, mich zu sehen.
Oder beides.
Verdammt.
Vielleicht sollte ich lieber
seine Frage beantworten, anstatt darauf zu
achten, was er in der Hose hat.
»Als Nachtwandler bin ich ein unkontrolliertes
Monster, das man mit dem Pflock erstechen muss, bevor ich jemand
verletze«, erklärte ich schließlich.
Er zuckte mit den Schultern und rückte noch
näher an mich heran, so dass ich mit dem Rücken gegen die Wand
gedrückt wurde. »Oder es bedeutet, dass du unendlich viel Macht
besitzt. Zusammen mit deinem besonderen Blut könntest du deinen
Fluch zu deinem Vorteil nutzen. Vielleicht solltest du nicht
versuchen, das Unausweichliche aufzuhalten. Glaubst du nicht an das
Schicksal?«
»Ich glaube daran, dass man Menschen nicht als
Beißspielzeug missbrauchen sollte. Das ist so eine Art Prinzip von
mir.«
»Für einen Vampir bist du äußerst wohlerzogen.«
Er senkte den Kopf, so dass wir uns Auge in Auge gegenüberstanden
und ließ seine Hand meinen Rücken hinuntergleiten. »Hast du dir
jemals vorgestellt, einfach loszulassen? Ich wette, es würde dir
gefallen.«
»So wie dir dein Nachmittags … schläfchen?«, fragte ich scharf.
»Eifersucht steht dir nicht, Sarah.«
Ich stemmte mich mit den Händen gegen seine
Brust. »Ich bin nicht eifersüchtig.«
»Du kannst es ruhig zugeben. Obwohl ich es bin.
Obwohl
du es bist. Du magst mich.« Er verzog den
Mund zu einem Lächeln und konzentrierte sich einen Augenblick
länger auf meinen Mund, als es sich gehörte. »Ich wette, deine
Nachtwandlerin mag mich auch, oder?« Er berührte meine Kette und
ließ seinen Finger lüstern an mir hinuntergleiten. »Der Teil von
dir, der frei und wild und ungebunden sein will?«
Etwas in mir regte sich und drängte heraus. Es
war eine gesunde Portion Lust, die Gideons Worten voll und ganz
zustimmte.
Er hatte recht. Die Nachtwandlerin in mir
begehrte Gideon so sehr, dass ich trotz der Goldkette um meine
Selbstbeherrschung rang. Sie wollte sein Bett unbedingt noch mehr
durcheinanderbringen.
Ich dachte an das, was Veronique heute Morgen
über die vorübergehende Kraft der Carastrand gesagt hatte.
Wenn das stimmte, hatte ich keine Zeit zu
verlieren.
»Du hast recht«, gab ich zu. »Ich mag
dich.«
Er hob erstaunt eine Braue.
Ich war so nah. Ich hätte am liebsten meine Hand
in seine Tasche geschoben, den BlackBerry gegriffen und wäre so
weit wie möglich weggelaufen. Er wurde mir auf verschiedenen
Gebieten viel zu gefährlich.
»Das stimmt«, flüsterte er zustimmend in mein
Ohr, während meine Hände an seinem Körper hinunterglitten. »Ich
wusste doch, dass du mich willst.«
Er presste seinen Mund auf meine Lippen und
küsste mich. Ich erwiderte seinen Kuss und versuchte währenddessen
in seine Tasche zu gelangen, um mir das zu besorgen, weshalb ich
überhaupt hier war.
Leider war Gideon trotz seiner gesunden Libido
nicht dumm. Das hätte es so viel leichter gemacht. Er wusste,
worauf ich es abgesehen hatte. Als ich gerade das kühle Metall des
Telefons spürte, packte er mein Handgelenk.
»Da hat jemand wandernde Hände«, sagte er.
»Ich dachte, du hättest nichts dagegen.«
»Das habe ich aber.« Er trat von mir zurück und
musterte mich mit plötzlichem Misstrauen. »Ich bin enttäuscht von
dir, Sarah.«
Ich erstarrte und fühlte mich ausgeliefert und
ein bisschen schmutzig.
»Ich … ich weiß nicht, was …«
»Geh, bevor ich wütend werde und etwas tue, das
ich hinterher bereue.« Seine Augen funkelten, und er hatte die
Fäuste fest in die Seiten gestemmt. »Ich rufe dich wegen des
Rituals morgen an.«
Beschämt und niedergeschlagen schlich ich ohne
ein weiteres Wort aus seinem Hotelzimmer.
Großartiger Plan. Jetzt
vertraut er mir noch weniger, als er es sowieso schon getan
hat.
Eine Pleite auf der ganzen Linie.
Was gab es sonst Neues?
Ich lief die Spadina Avenue hinunter. Ich
brauchte einen klaren Kopf und musste alles durchdenken, selbst
wenn ich wusste, dass das nichts änderte. Der Rote Teufel alias
Thierry tauchte nicht wieder aus der Versenkung auf. Wahrscheinlich
war der auch sauer auf mich.
He, warum stellt ihr euch
nicht gleich in einer Reihe an?
Eigentlich wollte ich, dass alles besser wurde,
und stattdessen machte ich alles nur noch schlimmer. Das war ein
gewisses Talent. Ich sollte an der Volkshochschule
unterrichten.
Nachdem ich zehn Minuten mit meinen zermürbenden
Gedanken durch die kühle Nachtluft gewandert war, kam ich am
Eingang des Darkside vorbei. Wie jeder
geheime Vampirclub, der etwas auf sich hielt, war er von außen
völlig unscheinbar. Es sah aus wie ein mit Brettern vernagelter
alter Buchladen mit einem Verkaufsschild im Fenster. Wenn ich mich
konzentrierte, konnte ich mit Hilfe meiner empfindlichen
Vampirsinne die Tanzmusik von innen hören, aber die Isolierung war
ziemlich gut. Keine Menschen, inklusive Jäger, würden davon etwas
merken.
Der Türsteher von neulich Abend stand mit dem
Rücken zum Club vor der Tür. Für jeden, der es nicht besser wusste,
wirkte er wie irgendein herumlungernder Kerl, von dem man sich
besser fernhielt. Er rauchte eine Zigarre und musterte mich, als
ich vorbeiging. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, hatte er
mich allein dem Zögling hinterherrennen lassen, weil er nicht gut
genug bezahlt wurde, um sich der Gefahr auszusetzen.
Ganz reizend.
»Die Schlächterin der Schlächter«, sagte er mit
einem Grinsen.
Ich zwang ein Lächeln auf mein Gesicht. »Ich
dachte, ich hätte dir schon gesagt, dass ich das nicht bin.«
»Das hast du mir zwar gesagt, aber ich glaube
dir nicht. Ich weiß, wer du bist. Ehrlich, du solltest stolz auf
einen solchen Ruf sein. Ich bin beeindruckt.«
»Dann ist meine Arbeit hier getan.« Ich sah zu
dem Gebäude
hoch. »Ich habe gehört, dass der Laden verkauft werden soll. Bitte
sag, dass er nicht zugemacht wird.«
Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was
als Nächstes passiert. Mir sagt ja niemand was.«
Es wäre schade, wenn die neuen Besitzer ihn
schließen würden. Toronto ohne einen einzigen Vampirclub wäre ein
Jammer. Vielleicht würde ich dann stricken lernen.
»Hat mich gefreut, dich zu sehen.« Ich wollte
mich auf den Weg in mein gemütliches Bett machen und versuchen zu
vergessen, was heute Abend geschehen war. Als ob das nur annähernd
möglich wäre.
»Ja, mich auch.« Er starrte mich an, und ich
fühlte mich derart unwohl, dass ich schnell weiterlief.
Gruselige Kerle schien es mit und ohne Reißzähne
zu geben.
Nach einer Minute kam ich zu der Gasse, in der
ich beinahe einen Zögling als Mitternachtsmahl verspeist hätte, und
ich unterdrückte einen Schauder. Hätte ich ihr wirklich etwas
angetan? Ich hätte sie zweifellos gebissen, aber hätte ich nicht
aufgehört, bevor es zu spät gewesen wäre?
»He«, sagte der Türsteher. Ich erstarrte und sah
mich über meine Schulter zu ihm um. Er war mir vom Club aus
gefolgt. »Darf ich dich etwas fragen?«
Ich schluckte und fühlte mich mehr als nur ein
bisschen unwohl. »Klar.«
»Wie viele Schlächter hast du umgebracht?«
»Das ist schwer zu sagen.«
»So viele, ja?« Er blickte mich mit
unverhohlener Bewunderung an. »Das ist echt scharf.«
»Ach, ich weiß nicht. Blut und Eingeweide nerven
höllisch bei der Maniküre.«
»Glaubst du, du könntest mich in einem Kampf
besiegen?«, fragte er.
Ich musterte ihn. Er war groß und kräftig und
wirkte stark genug, um sich Bierkrüge gegen die Stirn zu donnern,
wenn er Lust dazu hatte. »Lass uns das nie ausprobieren, ja?«
Er schien verärgert. »Du bist aber nicht
besonders freundlich.«
»Die unfreundlichste Person, die ich
kenne.«
»Ich gebe normalerweise nichts auf Frauen. Meine
Exfrau hat mich einen Haufen Alimente gekostet. Sie war eine totale
Schlampe.«
»War?«, fragte ich
vorsichtig.
»Ja. War.«
»Hör zu, ich will heute Abend keinen Ärger
haben.«
»Sehe ich wie jemand aus, der jemandem wie dir
Ärger macht?«
»Ehrlich gesagt, ja.« Mein Herz schlug merklich
schneller. »Sogar großen Ärger, und das regelmäßig. Ich bin nicht
in der Stimmung, mir noch zusätzliche Probleme einzuhandeln. Wenn
du mich also bitte allein lässt, damit ich nach Hause in meinen
Schlächterin-der-Schlächter-Unterschlupf komme.«
»Du hast meine Frage von vorhin noch nicht
beantwortet«, bemerkte er.
»Welche Frage?«
»Glaubst du, du könntest mich in einem Kampf
besiegen?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte ich ehrlich, wobei
mir
ein Schauder den Rücken hinunterlief. »Wieso gehst du nicht
einfach, damit ich mir nicht die Kehle aus dem Hals schreien muss,
damit mir jemand hilft?«
»Dir wird niemand helfen«, erklärte er. »Heute
hilft keiner keinem mehr. Jeder muss irgendwie sehen, wie er allein
klarkommt. Hunde fressen andere Hunde. Es heißt einfach nur, töten
oder getötet werden.«
»Wenn du vorhast, mich auszurauben, ich glaube,
ich habe noch fünf Dollar in der Tasche. Das lohnt sich wohl
kaum.«
Er lachte. »Ich überfalle keine Frauen. Hältst
du mich für ein Monster?«
Ich stieß die Luft aus, die ich die ganze Zeit
über angehalten hatte. »Du hast mir ernsthaft Angst gemacht. Wieso
benimmst du dich so?«
»Wie?«
»Wie jemand, der gleich jemanden
überfällt.«
»Ich schlage Zeit heraus.«
Ich runzelte die Stirn. »Du … schlägst Zeit
heraus?«
»Ja. Du gehst ziemlich schnell. Ich musste
meinen Freunden Zeit geben, uns einzuholen.«
»Freunden«, wiederholte
ich und spürte, wie sich ein Brennen von meinem Magen ausgehend in
meinem gesamten Körper ausbreitete.
Er nickte. »Ich glaube, jetzt sind sie
da.«
Ich hörte aus unterschiedlichen Richtungen
Schritte nahen und machte in der Dunkelheit die Umrisse
verschiedener Männer aus.
»Gute Arbeit«, sagte einer der Männer zu dem
Türsteher. »Du hast dir deinen Finderlohn wirklich verdient.«
Der Türsteher wandte mir seinen Blick zu. »Wer
sagt denn, dass Schlächter und Vampire keine Freunde sein
können?«
Ich sah zu den zwei anderen Jägern, die bereits
ihren Pflock bereithielten.
Drei Jäger. Ein Ich.
Das waren keine guten Voraussetzungen,
oder?