7
Als ich in Gideons Hotelzimmer trat, war ich so kribbelig und nervös, als hätte ich den ganzen Tag über einen doppelten Espresso nach dem anderen getrunken. Thierry wäre außer sich, wenn er wüsste, dass ich wieder hier war. Dank meiner geschwätzigen Aufpasser in Gestalt von Quinn und dem Roten Teufel würde er es wahrscheinlich bald herausfinden.
Aber nun war ich hier.
Mit den Folgen würde ich mich später beschäftigen.
Gideon erwartete mich in demselben Sessel wie am Vorabend. Sein Aussehen hatte sich gut gehalten, ich konnte immer noch keine Narben auf seinem unbestreitbar hübschen Gesicht erkennen. Die Narben waren natürlich immer noch da, aber sie waren von dem Zauber überdeckt. Er war allerdings nicht gesellschaftsfähig gekleidet. Denn er trug lediglich eine lässige Pyjamahose, und seine muskulöse Brust war nackt.
Auf dem Tisch neben ihm lag deutlich sichtbar ein Dolch mit einer gebogenen Klinge.
Seit ich den Raum betreten hatte, hatte er kein Wort gesagt. Er starrte mich nur aus seinem Sessel an.
Ich fühlte mich deutlich schlechter als zu Anfang, und das sollte etwas heißen.
»Ist es schön draußen?«, erkundigte er sich nach einer ganzen Weile.
»Schön?«, wiederholte ich. »Was meinst du?«
»Ich habe vorhin gesehen, dass die Sonne schien. Ich war heute nicht vor der Tür.«
Ich plauderte mit dem gefährlichsten Mann, den ich kannte, über das Wetter. Klar. Wieso nicht? »Es war schön. Nicht zu kühl.«
»Macht dir die Sonne als Vampir gar nichts aus?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Sie blendet ein bisschen, so als würdest du der Sonne entgegenfahren und hättest deine Sonnenbrille vergessen. Und wenn ich mich zu lange in der Sonne aufhalte, werde ich ziemlich müde, aber das ist nicht schlimm.«
»Und als Nachtwandler?«
Ich schluckte. »Bin ich ein Exemplar der Bösesten Hexe des Westens und schmelze zu einer Pfütze zusammen.«
»Das klingt nicht sehr angenehm.«
Nein, wirklich nicht. Deshalb brauchte ich das Zauberbuch, von dem er gesprochen hatte. Unbedingt. Der jugendliche Hexenmeister hatte nicht den Eindruck gemacht, als würde er gern noch einmal versuchen, den Fluch auszurotten, selbst wenn ich bereit war, auf ein halbes Jahr meiner Erinnerungen zu verzichten. Er hatte irgendetwas von einer Lobotomie erzählt, wenn er es noch einmal versuchte. Aber wie sollte ich an das Zauberbuch kommen, ohne meinen derzeitigen mysteriösen Leibwächter auszuliefern? Man konnte darüber streiten, ob er meine Loyalität verdient hätte, aber es musste doch irgendeinen Weg geben, an dieses Zauberbuch zu kommen, ohne mich an einem Mord mitschuldig zu machen.
Diese Entscheidung würde allerdings unbemerkt fallen. Die bedrohliche Vorstellung, tot als Pfütze zu enden, war eine starke Motivation.
Ich sah den Anführer der Vampirjäger prüfend an. »Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, Gideon, aber selbst mit dem Schönheitsspruch siehst du grauenhaft aus.«
Er klammerte sich so fest an die Armlehnen, dass seine Muskeln hervortraten. Seine Haut war krankhaft weiß, und auf seiner Stirn glänzte eine feine Schweißschicht. »Das ist eine sehr zutreffende Beschreibung meines Zustands.«
»Hast du gerade Schmerzen?«
»Seit ich mit dem Höllenfeuer in Berührung gekommen bin, habe ich mehr oder weniger ständig Schmerzen. Heute sind sie schlimmer als je zuvor.«
Ich erschauderte, als ich Gideon so offensichtlich leiden sah. Wie Quinn mir vorhin klargemacht hatte, war ich ein Waschlappen in Vampirgestalt.
Schleim dich ein, Waschlappen-Mädchen, sagte ich mir. Dieser Mann hat gedroht, alle umzubringen, die dir lieb sind, wenn du etwas Falsches tust oder sagst. Vergiss das nicht.
Okay. Ich vergesse es nicht.
»Ich brauche etwas von dir«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Was?«
»Komm her.«
Während ich vorsichtig auf ihn zuging, zuckte mein Blick erneut zu dem Dolch neben ihm. »Wozu brauchst du das? Um Pflöcke zu schnitzen? Ein Jäger hat mir erzählt, dass das sein Hobby wäre.«
»Ich brauche etwas von deinem Blut. Jetzt. Ich kann nicht länger warten.«
Das überraschte mich. »Aber das Ritual …«
Er holte zitternd Luft und sah aus seinen grünen Augen zu mir hoch. »Das Ritual findet wie geplant statt. Das ist … etwas anderes. Ich habe Recherchen über dein einzigartiges Blut angestellt und Anlass zu der Annahme, dass dein Blut meine Schmerzen lindern könnte. Wenn ich etwas davon bekomme, kann ich vielleicht wieder klar denken. Die Schmerzen … machen mich fertig. Bitte, Sarah … Hilf mir
In meinen Adern floss ein magisches Elixier, mit dem man jede Krankheit heilen konnte? Ich hatte doch nach einer neuen Arbeit gesucht. Jetzt hatte ich etwas gefunden. Wer von meinem Blut saugen wollte, musste teuer dafür bezahlen.
Gideon wollte, dass ich seine Schmerzen linderte. Er verließ sich auf mich. Damit konnte ich umgehen.
»Ich helfe dir«, erklärte ich. »Aber erst musst du mir versprechen, dass alle, die ich kenne, in Sicherheit sind. Keine Mörder und keine Spione mehr. Ich will, dass du alle zurückpfeifst.«
»Nein.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Einfach nein? Du handelst nicht einmal?«
»Bitte mich um etwas anderes. Irgendetwas.«
»Das Zauberbuch.«
Er schüttelte den Kopf. »Das Zauberbuch ist der Preis dafür, dass du mich zum Roten Teufel bringst. Bitte mich um Geld, Geschenke, Pelze, Diamanten, irgendetwas. Ich gebe dir, was immer du willst.«
»Ich will keine Geschenke.« Ich blieb standhaft. »Pfeif deine Attentäter zurück oder gib mir das Zauberbuch, dann helfe ich dir.«
Sein angespannter Ausdruck ließ nach. »Woher weiß ich dann, dass du das Ritual mit mir durchziehst?«
»Du hast mein Wort.«
Er starrte mich ein paar Sekunden stumm an. »Das kann ich nicht machen.«
»Vertraust du mir nicht?«
»Nein.«
»Das verletzt mich, Gideon. Ehrlich. Ich dachte, wir wären Freunde.«
Er brachte ein kleines Lächeln zustande. »Ja, klar.«
Ich verschränkte die Arme. »Okay, das habe ich nicht gedacht. Aber du hast dir echt Mühe gegeben, mich davon zu überzeugen, dass du ein netter Kerl bist.«
»Kaufst du mir das nicht ab?«
»Bei Chase kaufe ich überhaupt nichts. Mir gefällt die Umtauschpolitik nicht.«
Seine Lippen zuckten etwas. »Du bist die erste Frau der Welt, die mir widersteht.«
»Selbst wenn du leidest, bist du noch eingebildet.« Ich verdrehte die Augen. »Nein, ich bin in der Lage, dir zu widerstehen, weil ich weiß, was du bist. Und weil ich weiß, was ich bin. Jäger töten Vampire, falls du das kurzzeitig vergessen haben solltest.«
»Ich habe überhaupt nichts vergessen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wieso sollte ich dir helfen, wenn du nicht bereit bist, dafür im Gegenzug etwas für mich zu tun? Das hört sich nach keinem fairen Geschäft an.«
Er hob eine Braue. »Nun, da ist diese praktische Sache mit den Attentätern. Ich muss sie nur anrufen. Denkst du, ich würde meine Drohung nicht wahrmachen?«
Ich kniff die Augen zusammen. »Oh, glaub mir, ich unterschätze dich nicht. Ich weiß genau, wer du bist. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht.«
»Und wer bin ich?«
»Du bist ein Mörder. Wieso sollte ich aus reiner Freundlichkeit jemandem wie dir helfen? Du musst mir drohen, sonst würdest du nie bekommen, was du willst.«
»Da hast du vollkommen recht.«
»Ich bin in den vergangenen drei Monaten einigen Jägern begegnet, und ich muss sagen, die meisten sind dumm wie Brot. Aber du bist nicht dumm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du davon überzeugt bist, dass alle Vampire den Tod verdienen. Es sind Leute. Sie können denken, sie können weinen, Witze machen, Liebe machen; sie haben Leben und Arbeit und führen Ehen und nur, weil sie ein bisschen anders sind, fühlst du dich berechtigt, sie umzubringen. Du weißt, dass du das Falsche tust, aber du machst es trotzdem.«
Als er nichts erwiderte, lief ich einmal im Raum auf und ab und baute mich vor ihm auf. »Bist du denn trotz deiner ganzen Frauen, deinem Geld und deiner Macht innerlich so tot, Gideon? Das muss es sein. Vergiss das Höllenfeuer. Du bist sowieso schon tot, und wahrscheinlich fühlst du dich nur noch lebendig, wenn du Vampire umbringst.«
Okay, so lange hatte ich nicht sprechen wollen. Vielleicht sollte ich in die Politik gehen. Aber es kam schließlich nicht jeden Tag vor, dass ein simpler Zögling sich mit dem Anführer der Jäger anlegte und ihm die Meinung geigte.
Das halbe Semester Psychologie an der Universität zahlte sich irgendwie doch aus. Gideon war vielleicht überaus gutaussehend und bei den Mädchen beliebt; vielleicht hatte er jede Menge Macht, und überall auf der Welt sahen die Jäger zu ihm auf, wie schon zu seinem Vater und seinem Großvater vor ihm. Aber er war bloß eine hübsche Verpackung, die rein zufällig wie ein Mann aussah. Komischerweise hatte ich auf einmal Mitleid mit ihm.
Gideon starrte mich schweigend an. Nur an seinen vor Schmerz flackernden Augen erkannte ich, dass er noch lebte.
Ich wartete auf eine Antwort und hatte Angst, dass ich zu weit gegangen war. Doch ich war so wütend, dass es mir eigentlich auch egal war.
»Du bist nicht der erste weibliche Vampir, mit dem ich Zeit verbringe«, sagte er. »Vor einer Weile bin ich schon einer anderen begegnet. Sie war schön und stark und tödlich. Ich wollte sie umbringen, aber stattdessen hat sie mich verführt. Es war der beste Sex, den ich je hatte, aber ich wusste, dass sie es nur tat, um ihre Haut zu retten. Sie war eine Opportunistin. Ganz und gar egozentrisch. Sie war bereit, alles zu tun, um ihr Leben zu retten. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war sie gegangen.«
Ich befeuchtete meine trockenen Lippen. »Du solltest die Geschichte aufschreiben und es der Literaturredaktion von Penthouse schicken. Denen würde das sicher gefallen.«
Er sah mich unverwandt an. »Einen Moment während unseres Stelldicheins habe ich mehr als nur einen Vampir in ihr gesehen, mehr als das Monster. Ich habe auf einmal die Frau in ihr gesehen. Wäre sie am nächsten Morgen noch da gewesen, hätte ich sie nicht umgebracht. Etwas in mir war passiert. Irgendetwas war anders. Aber als sie weg war, habe ich das Gefühl schnell wieder vergessen. Seither gibt es jedoch einen Teil in mir, der deinem Urteil über mich vollkommen zustimmt. Dass ich das Monster bin. Nicht sie. Nicht du
»Wow, sie muss echt gut im Bett gewesen sein«, sagte ich leichthin, hatte jedoch einen Kloß im Hals, als ich hörte, dass er seine böse Haltung etwas geändert hatte. »Trotzdem hast du weitergemacht wie bisher, oder?«
»Ja. Das kann ich nicht leugnen. Es stimmt, was du sagst. Erst durch das Jagen fühle ich mich als ganzer Mensch. Es war eine Herausforderung, die ich ansonsten vermisst habe. Aber …« Er runzelte die Braue. »… jetzt, wo ich kurz davorstehe, ebenfalls zum Vampir zu werden. Aus freien Stücken …«
»Nicht, dass dir viel anderes übrig bliebe.«
»Nein, aber der Gedanke, zu dem zu werden, was ich immer gejagt habe, macht mir weder Angst noch Sorgen. Es gibt mir Hoffnung. Ich will nicht wieder so werden, wie ich war. Ich will anders werden. Ich will mich ändern. Vielleicht kann ich sogar andere Jäger überzeugen, Vampire mit anderen Augen zu sehen.«
Mir lief ein Schauder über die Arme. Ich schüttelte den Kopf und wollte ihm nicht glauben. »Du lügst mich doch an, oder?«
»Nein.« Er blinzelte. »Hilf mir, Sarah. Bitte gib mir etwas von deinem Blut. Vielleicht funktioniert es ja gar nicht, aber du bist die Einzige, die meine Schmerzen lindern könnte.«
Ich hatte noch nicht verarbeitet, was er gesagt hatte. Es war zu unglaublich. Gideon wollte sich ändern? Er wollte andere überzeugen?«
»Verdammt«, flüsterte ich, als ich sah, wie er erneut vor Schmerz zitterte. Seine Brust zuckte.
Gut. Sarahs Happy Hour hatte offiziell begonnen, selbst wenn er mir nichts als leere Versprechungen gegeben hatte.
Als ich mit der Klinge über meinen Unterarm strich, spürte ich es noch nicht einmal. Okay, das war gelogen. Es brannte höllisch, aber es war hilfreich, dass ich gerade ganz benommen von Gideons Märchen war.
Ich hielt ihm den Arm hin. »Prost.«
Er musterte ihn einen Moment, als wäre er überrascht, dass ich seinen Schlummertrunk genehmigt hatte. Dort, wo ich den Schnitt gemacht hatte, quoll das Blut hervor. Schließlich führte er meinen Arm an seinen Mund.
Da er immer noch ein Mensch war und kein natürliches Verlangen nach Blut empfand, schlürfte er nicht gierig an der Wunde wie ein durstiger Vampir. Stattdessen spürte ich, wie er mich vorsichtig mit seinem warmen Mund berührte, als wollte er von mir kosten.
Es war mir peinlich, und als er stärker von mir trank, ängstigte mich unsere Nähe. Er ließ mich nicht los. Stattdessen wurde sein Griff fester.
Nach einer Minute sah er überrascht zu mir auf. »Ich glaube, es funktioniert. Der Schmerz lässt nach.«
»Ich bin ein wandelndes Allheilmittel gegen alle dämonischen Verletzungen.«
»Das bist du.« Er lächelte und senkte seinen Mund wieder zu meinem Arm.
Ich spürte, wie sich tief in mir etwas regte, als er mit seiner Zunge über meine Haut strich. Das störte mich mehr als alles andere an diesem Abend.
Gideon ist nicht Quinn, erinnerte ich mich streng. Er ist böse. Egal, was er dir einzureden versucht. Es sind nur Worte.
Er war auch nicht Thierry. Ich liebte Thierry. Egal wie verzweifelt ich über seine sture und geheimniskrämerische Art war, das änderte nichts an der Tatsache, dass ich mit ihm zusammen sein wollte. Deshalb tat ich, was Gideon wollte. Damit alles glattlief. Damit am Ende alles gut wurde.
Gideon hielt meinen Arm so fest, dass ich mich an dem Sessel abstützen musste, als er weitertrank.
Er machte ein eigenartiges Geräusch, es klang wie ein Seufzer der Erleichterung. »Das erste Mal seit dem Unfall bin ich vollkommen frei von Schmerzen.«
Mit neuer Kraft stand er auf und stellte sich vor mich. Er legte seine Hände auf meinen Rücken und zog mich an sich. Ich stemmte mich mit der Hand gegen seine Brust.
»Ich glaube, die Bar ist geschlossen«, sagte ich.
»Dann sollte ich wohl meine Rechnung begleichen.«
Er beugte sich hinunter, strich mit seinem Mund über meinen Hals und ließ die Hände über meine Taille und meine Hüften hinuntergleiten.
»Gideon, halt …«
Und plötzlich küsste er mich.
Gideon Chase küsste mich.
Das war gar nicht gut.
Noch schlimmer war die Tatsache, dass ich seinen Kuss erwiderte.
Wenn auch nur eine Sekunde.
Dann stieß ich ihn mit meiner gesamten Vampirkraft zurück, was locker reichte, um ihn loszuwerden.
Ich wischte mir mit dem Handrücken über den Mund. »Das stand nicht auf der Speisekarte.«
»Ich habe mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. Ich konnte nicht anders.« Er lächelte mich breit an und zeigte seine strahlend weißen Zähne. »Ich wusste, dass du mich trotz allem magst. Das kannst du nicht länger abstreiten, oder? Ich denke, wenn du es zulässt, könnten wir wirklich gute Freunde sein.«
»Träum weiter.«
»Bald bin ich ein Vampir und du mein Erzeuger. Dadurch sind wir besonders eng aneinander gebunden, stimmt’s?«
Meine Wangen brannten, als stünden sie in Flammen. »Nicht die Art Bindung, an die du denkst. Ich glaube, dieses kleine Treffen ist jetzt vorbei. Ich gehe.« Ich drehte mich zur Tür.
Er stellte sich mir in den Weg und versperrte den Ausgang. »Bleib bei mir.«
Er packte mein Handgelenk, an dem die Wunde bereits verheilte. »Ich weiß, dass du und Quinn wieder zusammen seid. Man hat euch heute zusammen gesehen.«
Neuigkeiten verbreiteten sich schnell. Es musste der Mann in dem Café gewesen sein, der mit dem verdächtig aussehenden Blindenhund. Ich hatte es gewusst. »Und wenn?«
Er löste seinen Griff, um meine Hand in seine zu nehmen, und verschränkte seine Finger mit meinen. »Vergiss ihn.« Er beugte sich vor und flüsterte an meinen Lippen. »Und vergiss Thierry. Bleib heute Nacht bei mir. Ich will dich.«
Er küsste mich wieder. Aber er hatte es geschafft, mich an Thierry zu erinnern, und eine Welle von Schuld durchfuhr mich. Was machte ich noch hier?
Ich versuchte, ihn wegzustoßen, aber er küsste mich nur noch leidenschaftlicher und ließ seine Zunge in meinen Mund gleiten. Da biss ich hinein. Ein kleiner Biss reichte nicht, um ihn mit meinem Vampirvirus zu infizieren, aber er brachte ihn dazu zurückzuzucken. Er fasste sich an den Mund.
»Versuch das nicht noch einmal«, sagte ich finster.
Er zog die Augen zusammen und griff meinen Arm so fest, dass es wehtat. »Für gewöhnlich nehme ich mir, was ich will und wann ich es will.«
»Ich denke daran, wenn ich einen Polizeibericht ausfüllen muss.« Ich schüttelte den Kopf. »Siehst du? Ich wusste doch, dass sich irgendwo hinter diesem sonnigen Gemüt der wahre Gideon versteckt.«
Er hob eine Braue. »Und dennoch kommst du nicht von mir los, oder? Du hast mich vorhin freiwillig geküsst. Das kannst du nicht abstreiten.«
Mir sank der Magen in die Kniekehlen. »Das bestreite ich nicht. Aber hör mir zu, Gideon. Es ist mir egal, was du mir erzählst oder wovon du mich zu überzeugen versuchst. Es gibt nur einen einzigen Grund, weshalb ich tue, was du von mir verlangst, und zwar, dass du mich dazu zwingst. Du hast meine Freunde bedroht, und du verwendest das Zauberbuch als Pfand gegen mich.«
»Ich bedauere, dass ich zu diesen extremen Maßnahmen greifen muss, aber ich war unbedingt darauf angewiesen, dass du mir gibst, was ich von dir brauche. Ich verspreche, dass ich es eines Tages gutmache. Überleg noch einmal, ob du nicht die Nacht mit mir verbringen willst. Wir könnten herausfinden, ob es abgesehen von unseren ganzen Differenzen nicht doch mehr zwischen uns gibt.« Er ließ seine Hand meinen Rücken hinuntergleiten.
Ich schüttelte den Kopf. »Gute Nacht, Gideon. Unser Treffen ist zu Ende.«
Sein Blick verfinsterte sich, und sein Griff wurde kurz noch einmal fester. »Bis zum nächsten Mal.«
Ich öffnete die Tür, verließ seine Suite, ohne mich noch einmal umzudrehen, und war total erschüttert.
Ich steckte voll in der Klemme.
Bis zum Hals.
Was zum Teufel war da gerade passiert? Als ich dort hingegangen war, hatte ich alles unter Kontrolle gehabt. Vollkommen. Dann hatte er mit den Schmerzen gekämpft, wir hatten eine Weile darüber gesprochen, was er für ein Psychopath gewesen war, seine Geschichte hatte mich überzeugt, dass er ganz tief in seinem Inneren vielleicht doch etwas bereute, ich hatte ihm von meinem Blut gegeben … und dann hatte ich ihn geküsst.
Oder eher, er hatte mich geküsst.
Wortklaubereien. Es hatte sich ein Kuss ergeben.
Ich hasste ihn. Wirklich.
Oder zumindest versuchte ich, mir das einzureden.
War das eine Form des Stockholm-Syndroms? Wenn das Opfer anfing, Gefühle für seinen Entführer zu entwickeln? Glaubte ich tatsächlich, dass er sich nach all den Jahren ändern wollte?
Ich musste zu einem Seelenklempner. Vielleicht sollte ich mich in eine Gummizelle einweisen lassen. Je eher, desto besser.
Zumindest wusste ich ganz sicher, dass ich mich unmöglich in ihn verlieben konnte. Schließlich war ich schon in Thierry verliebt.
Für Gideon empfand ich … etwas anderes. Es waren finstere und deutlich gruseligere Gefühle. Ich hatte nur keine Ahnung, wie ich sie benennen sollte.
Ich ging die Bloor Street hinunter und versuchte an nichts zu denken. Denken war derzeit sehr schmerzhaft.
Auch ohne zu denken spürte ich, dass mich jemand verfolgte. Wenn ich ihn spüren konnte, war es mein treuer, maskierter Leibwächter, den ich mit meinen übernatürlichen Sinnen bemerkte, sobald er sich mir auf zwanzig Schritte näherte.
Vielleicht strahlte er irgendwie eine besondere Vampirenergie aus, weil er schon so uralt war. Zwischen Thierry und mir gab es manchmal eine solche Verbindung. Ich machte nicht oft davon Gebrauch, weil es als »albernes Freundinnengehabe« gedeutet werden könnte, wenn man unentwegt wissen wollte, wo der andere sich gerade aufhielt. Aber wenn ich wirklich wissen musste, wo er war, konnte ich mit einer Tonne an Konzentration wie mit einem eingebauten Navigationsgerät seinen Aufenthaltsort lokalisieren. Zurzeit hatte ich allerdings nicht viel Konzentration übrig.
Ich blieb stehen und drehte mich um, konnte ihn jedoch nicht sehen. Ich stieß zitternd die Luft aus. Nach meiner Begegnung mit Gideon fühlte ich mich immer noch ganz wackelig. Er hatte nicht viel Blut getrunken, dennoch fühlte ich mich etwas schwach.
Das hatte nichts mit dem Blut zu tun.
Schmidtchen Schleicher fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Er könnte sich wenigstens bemerkbar machen. »Hi« sagen oder so etwas. Ein freundliches Nicken wäre mir am liebsten.
»Ich will mit dir reden!«, sagte ich laut genug, dass der Rote Teufel mich hören konnte. Eine vorbeikommende Frau sah mich etwas befremdet an. »Dich meine ich nicht. Verschwinde.«
Was sollte ich ihm sagen? Ich wusste es wirklich nicht. Aber ich wusste, dass ich ein paar Antworten hören wollte. Wenn Thierry sich weigerte, mir etwas über den scheuen Vampirhelden zu verraten, war der fragliche Mann mit der Maske ja vielleicht selbst etwas auskunftsfreudiger.
Ich lief weiter bis zum nächsten Block. An der Ecke war ein italienisches Restaurant mit einem halbleeren Parkplatz. Ich bog um die Ecke, ging auf die Rückseite und wartete an die Mauer gelehnt. Es dauerte nicht lange, bis ein dunkler Schatten auftauchte und der Rote Teufel erschien. Er blieb ungefähr zwölf Fuß von mir entfernt stehen, so dass er nicht von dem Licht der Sicherheitslampe, unter der ich stand, angestrahlt wurde. Sein Gesicht lag im Schatten, und ich konnte kaum mehr als die Maske, dunkle Haare und einen langen dunklen Mantel erkennen.
Er musterte mich schweigend.
»Wer bist du?«, fragte ich schlicht.
»Jemand, der dir helfen will.« Er flüsterte mit rauer Stimme, und ich musste mich anstrengen, um ihn überhaupt zu verstehen.
Ich musterte ihn skeptisch. »Wo bist du die letzten hundert Jahre gewesen?«
»In der Nähe.«
Sehr aufschlussreich. Die Informationsflut war überwältigend. »Tolle Antwort. Echt.«
Er schwieg einen Moment. »Ich weiß, dass du dich wieder mit Gideon getroffen hast. Ich habe vor dem Hotel auf dich gewartet.«
»Du lungerst im Schatten herum.«
»Ja.«
»Quinn hat mir erzählt, dass ihr vorhabt, Gideon umzubringen.«
Er bekam schmale Lippen. »Hast du ein Problem mit dieser Entscheidung?«
Meine Unterlippe bebte. »Vielleicht ist mir nicht wohl bei der Vorstellung, jemanden umzubringen.«
»Du wirkst aufgebracht.«
»Ach ja?«
»Ja. Ist etwas passiert?«
»Abgesehen davon, dass ich mit einem maskierten Kerl hinter einem Restaurant herumhänge, der sich weigert, meine Fragen zu beantworten?«
»Was ist mit Gideon passiert?« Seine Stimme klang angespannt. »Hat er dir wehgetan?«
»Das ist seltsam. Er hat mich noch nie angerührt. Nun, jedenfalls nicht so, wie du vielleicht denkst.«
»Was soll das heißen?«
»Heute Abend wollte er von meinem Blut trinken. Er dachte, dass es seine Schmerzen lindern könnte, und da habe ich ihm etwas gegeben.«
Er kniff die Augen zusammen. »Hat es funktioniert?«
»Überraschenderweise ja.«
»Und was hat er dann getan? Dich weiterhin bedroht? Dich daran erinnert, welche Macht er über dich hat?«
»Eher nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn du es unbedingt wissen willst, er hat mich geküsst.«
»Er hat was
Sein scharfer Ton überraschte mich, und ich blickte den Mann scharf an, der dort im Verborgenen stand. Ich hatte keine Ahnung, wieso ich ihm das alles erzählte. Vielleicht war es eine billige Form der Therapie. »Was soll ich sagen? Ich glaube, ich bin unwiderstehlich, wenn ich blute.«
Er fluchte leise vor sich hin. »Vielleicht bringe ich ihn gleich auf der Stelle um.«
Ich sah ihn erstaunt an: »Was kümmert dich das? Er hat mir doch nicht wehgetan.«
»Du …« Er brach ab. »Es klingt, als wolltest du sein Handeln noch verteidigen. Ich dachte, es hätte dich verstört, aber jetzt merke ich, dass du gar nichts gegen seine Aufmerksamkeit hattest.«
»Das merkst du, ja?«, erwiderte ich trocken.
»Vielleicht hast du es sogar genossen.«
Ich starrte ihn an. »Vielleicht. Und vielleicht bin ich deshalb aufgewühlt.«
»Interessant.« Das klang sehr kühl.
»Schön, dass du das so siehst.«
»Ich habe gehört, dass du empfänglich für romantische Avancen von attraktiven Vampirjägern bist.«
Mein Gesicht brannte. »Ach was? Das hast du gehört, ja? Ich frage mich, von wem?«
»Auf mich wirkt das ein bisschen … wie heißt das?«
»Dumm?«, beendete ich den Satz für ihn. »Ich glaube, das hast du gestern Abend in der Gasse gesagt. Du hattest recht und hast wahrscheinlich auch jetzt recht.«
Er lächelte. »Ich glaube, ›naiv‹ finde ich passender.«
»Danke für deine Meinung.«
Er musterte mich so aufmerksam, dass er mich geradezu mit seinem Blick durchbohrte. »Glaubst du, Gideon wäre ein weiterer Jäger, den du bekehren kannst?«
»Man weiß ja nie.«
Er schüttelte den Kopf. »Wie gesagt … naiv. Und vollkommen von sich eingenommen. Es fällt dir schwer, die Situation objektiv zu betrachten.«
Ich glotzte den maskierten Mann an, meine Angst von vorhin wich einem Anfall von Wut. »Nur zu deiner Information, Gideon will dich umbringen, nachdem du nach einem Jahrhundert, in dem du irgendwo warst, wieder aufgetaucht bist. Er will, dass ich ihn zu dir bringe, und will mir dafür ein Zauberbuch geben, mit dessen Hilfe ich den Fluch brechen kann. Aber ich habe ihm nichts über dich verraten.«
»Du weißt nichts über mich, abgesehen davon, dass ich hier bin, um jemanden zu beschützen, der anscheinend jedem Schutz ausweicht.«
Ich beruhigte mich etwas. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass du nur versuchst, mir zu helfen. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich diesen Zögling gestern Abend verletzt – sie vielleicht sogar umgebracht.«
»Es ist nichts passiert.«
»Dank deiner Hilfe.« Ich verschränkte die Arme über der Brust, denn ich fühlte mich aufgrund meiner Schwäche und meiner zahlreichen Fehler irgendwie bloßgestellt. Es war Zeit für mich, nach Hause zu George zu gehen und diesen Tag als weiteren Misttag im Kalender abzuhaken. Ich tastete nach meiner Goldkette. »Ich mache mir Sorgen, dass ich diesen Fluch nicht loswerde. Und dass ich eines Tages die Kontrolle verliere und wirklich jemanden verletzte, weil niemand da ist, der mich aufhält. Gideon scheint im Besitz der einzigen Lösung zu sein.«
Er schwieg einen Augenblick. »Mit ausreichend Kraft ist es möglich, den Durst zu unterdrücken.«
Ich hob meine Brauen. »Das hört sich an, als würdest du aus Erfahrung sprechen.«
Er wandte sich ab, und ich dachte schon, dass er einfach in der Dunkelheit verschwinden würde. Aber er blieb stehen. »Ich glaube, dass du große Kraft besitzt, Sarah. Du musst nur fest daran glauben.«
Etwas in der Art, wie er meinen Namen sagte – etwas an seiner leisen heiseren Stimme kam mir seltsam bekannt vor.
Ich ging auf ihn zu, als er gerade weggehen wollte, und packte seinen Arm. »He, warte eine Minute …«
Er drehte sich etwas zu mir um. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich sein Gesicht aus der Nähe, abgesehen von der Maske natürlich. Sein Mund, die Linie seines Kinns und seines Kiefers und seine Augen. Ich war ihm auch nah genug, um flüchtig den seltsam vertrauten Geruch seines würzigen Rasierwassers wahrzunehmen.
»Geh nach Hause«, sagte er grob und ließ mich dann stehen.
Als ich ihm die letzten beiden Male begegnet war, musste ich mit Scheuklappen herumgelaufen sein. Auch heute Abend war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, was mit Gideon geschehen war, als dass ich irgendetwas anderes wahrgenommen hätte. Er versuchte, meinem Blickfeld fernzubleiben. Er versuchte, seine Stimme vor mir zu verstellen.
Ich hatte angenommen, dass das zu dem Auftritt des mysteriösen Roten Teufels gehörte. Aber das stimmte nicht. Jedenfalls nicht ganz. Er tat das, damit ich nicht herausfand, wer er wirklich war.
Aber ich wusste es. Die Wahrheit erfasste mich wie eine Flutwelle. Ich wusste, wer der Rote Teufel war.
Es war niemand anderes als Thierry.