Im Juni bat der Amerikaner Hélène, die Spaziergänge von der Basis des Krankenhauses wegzuführen und ihm stattdessen Orte in Paris zu zeigen, die ihr etwas bedeuteten.
Sie trafen sich weiterhin in Neuilly im amerikanischen Hospital, der Erste wartete auf den anderen in dem kleinen Clubraum, vor dessen Tür sie einander zuerst begegnet waren. Dann bestiegen sie eines der immer unten auf dem Parkplatz wartenden Taxis, die der Amerikaner bezahlte.
Hélène hatte mit zusammengebissenen Zähnen, und ohne sich große Hoffnungen zu machen, ihre fünfte IVF begonnen und von Dr. Le Goff ihre Decapeptyl-Injektionen zur Down-Regulierung bekommen. Die täglichen Spritzen, die auf die Blutung folgen würden, waren zu einer Selbstverständlichkeit geworden wie Waschen und Zähneputzen. Den Reaktionen ihres Körpers darauf stand sie mittlerweile so fatalistisch gegenüber, wie sich ihre Großeltern in die nicht enden wollende graue Zeit der deutschen Besatzung ihrer Stadt und ihres Landes geschickt hatten.
Am Anfang hatte Hélène das Gefühl gehabt, ihrem Körper nur mit Hilfe verschiedener Stimulanzien über ein Hindernis hinweghelfen zu müssen wie einem scheuen Pferd, um den gemeinsamen Wunsch zu verwirklichen, den sie, wann immer sie wollte oder musste, in intensiven Bildern heraufbeschwören konnte: ein Baby auf ihrem Arm und die stolzen, sanften, glücklichen Augen ihres Mannes. Oder: Ihr Mann, der den Kinderwagen über die Wege der Buttes-Chaumont schiebt, sie eingehängt bei ihm, das Knirschen der Räder auf dem Kies, das Vogelgezwitscher in den Bäumen, die winzigen, runzligen Finger des Säuglings an den Rasselkugeln, die quer über den Wagen gespannt sind.
Sie hatte immer mit gelassener Selbstverständlichkeit im Rhythmus des Zyklus gelebt, des Kreises, des an- und abschwellenden Mondes und seiner Entsprechungen in ihrem Bauch, in ihren Brüsten. Es gab die schmerzhaften, zur Depression neigenden Tage vor der Menstruation, es gab die enthusiastische Phase, die darauf folgte. Im Rahmen der IVF war dieser Kreislauf, den sie in seinen angenehmen wie unangenehmen Momenten nie infrage gestellt hatte, zum ersten Mal von außen beeinflusst und verändert worden. Zu Anfang in Gleichklang und Harmonie mit ihrem Gefühl von sich selbst. Ob es bei ihrem ersten Versuch, der so weit gedieh, die Schwangerschaft oder das Gonadotropin gewesen war, das ihre Brüste wachsen und anschwellen und arbeiten und ziehen ließ - sie hatte sich sogar einen Push-up-BH angezogen, um den Effekt zu verstärken, und genoss den begehrlichen Blick ihres Mannes -, hatte keine Bedeutung gehabt.
Irgendwann war es ihr entglitten, und der Eindruck stellte sich ein, nicht mehr Herrin ihres Körpers zu sein, einen Rhythmus aufgezwungen zu bekommen, Spielball willkürlich in sie eindringender Stimmungen, Gefühle, Hormone und körperlicher Reaktionen zu sein - einen Kampf gegen sich selbst zu führen oder, besser gesagt, der hilflose Zeuge zu sein, wie Dr. Le Goff seinen Kampf gegen ihren sterilen und widerstrebenden und störrischen Leib führte.
Die Pergamentisierung ihrer Schleimhäute während der Endometriose-Behandlung, die trockene Haut, die leeren Brüste, die Hitzewallungen, die Schlaflosigkeit, die Kopfschmerzen und die plötzlichen Angstzustände, all das auch in geringerem Maße bei jeder Down-Regulierung - dieses Gefühl, wie in einem Horrorfilm im Zeitraffer zur alten Frau zu vertrocknen, oder die in ihrem Bauch fühlbar anschwellenden, drückenden, wachsenden Eierstöcke bei der Stimulation, die keinem normalen Erleben und Fühlen entsprachen, sondern zu wuchern schienen wie Geschwülste, all die Kniffe und Krankheiten und Funktionsstörungen, die sich ihr Körper auszudenken schien, um sich zu wehren gegen ihre tiefsten Wünsche und Hoffnungen und gegen seine Bestimmung. Dass ihre Eileiter verklebt waren, dass sie eine Endometriose hatte, dass sie an Hyperandrogenämie litt, was Le Goff gleich zu Anfang diagnostiziert hatte, einem leicht erhöhten Androgenspiegel, der, wie der Arzt sagte, Grund für die sehr unregelmäßigen und häufig schmerzhaften Monatsblutungen sei, mit denen sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr gelernt hatte zu leben, und gegen die er ihr im Vorfeld der Stimulationsphase jeweils zwei Monate lang die Pille verschrieb, deren Wirkung er durch Gaben von Prednisolon zu verstärken hoffte - und das, was sie in diesem Kampf, der gegen ihren und in ihrem Körper geführt wurde, als Stecken und Stab mit sich trug: jene Bilder, ihr Mann, das Baby, sie, ein Kinderwagen, ein Park, friedvolle Erfüllung in den Augen, diese Bilder beschlugen und verblassten und wurden stockfleckiger mit jedem Versuch und jedem Jahr wie alte Spiegel, in denen man kaum mehr etwas wahrnimmt.
Das Taxi hatte sie an der Rue Caulaincourt abgesetzt, und sie stiegen die Avenue Junot aufwärts, bogen um die Ecke und erreichten an der Place Dalida Hélènes Ziel, die kleine, grüne, überwachsene, aquariumsdüstere und nur für Fußgänger begehbare Allée des Brouillards. In violetten Kaskaden fielen Glyzinien über die moosigen Treppenstufen, und sie mussten sie zur Seite streifen, um den Durchgang zu finden. Hohe Mauern links und rechts, flechtenübersät, gelb und grün schimmernd wie Reliefseekarten, strahlten die Wärme ab und formten zusammen mit den Bäumen dahinter einen lichtgesprenkelten Hohlweg. Der Amerikaner, dessen Stirn feucht war, bat Hélène verlegen, sich bei ihm unterzuhaken.
Mir wird sonst schwindlig, sagte er.
Die Allée des Brouillards sei das versteckte, verschwiegene Privatreich von Gérard de Nerval in Paris gewesen, erklärte Hélène ihre Wahl, oder vielleicht besser von Gérard de Nervals Geist, der hier gewiss noch umgehe. Hatte er hier in diesem schmalen Gässchen gelebt oder sich erhängt, in einer einsamen, kalten Novembernacht, sie wusste es nicht mehr, tendierte aber zur zweiten Hypothese.
Cotes Unterarm, auf dem Hélènes Hand lag, war unter dem Hemd hart wie ein Buchenast, er hatte große Hände mit langen Fingern und sehr großen, die Fingerkuppen vollständig überwölbenden, kurz geschnittenen Nägeln. Auch der Oberarm, gegen den Hélène leicht stieß, als der Amerikaner sich bückte, um unter dem Glyzinienvorhang hindurchzuschlüpfen, gab nicht nach, sondern schien aus Hartholz gewachsen. Er musste sich tief bücken, er war groß, Hélène schätzte ihn auf fast einsneunzig. Sein Knöchel war ein wenig rau. Die Armbanduhr mit dem elastischen Stahlband trug er am rechten Handgelenk. Der Handrücken war kaum behaart.
Hélène erzählte, es sei vor allem ihr Lieblingsgedicht Nervals, El Desdichado aus den Schimären, das sie diesen stillen und ein wenig unheimlichen Ort habe entdecken lassen, dessen Atmosphäre der des Gedichts entspreche.
Vielleicht, meinte sie lachend, beharre ich auch deshalb darauf, dass er sich hier erhängt hat.
Sie setzten sich auf eine Bank.
Gehen Sie aus diesem Grund mit mir hierher, fragte der Amerikaner, weil ich Ihnen erzählt habe, dass ich mich umbringen wollte?
Hélène sah ihn entsetzt an. Um Gottes willen, nein! Ich wusste nicht - ich gestehe, ich habe nicht nachgedacht … Entschuldigen Sie. Wollen wir wieder zurück?
Cote lächelte müde. Nein, nein, im Gegensatz zu Nerval ist es ja eben nicht mein Geist, ich bin ja noch in Fleisch und Blut gegenwärtig. Wissen Sie, diese Sache ist peinlich und dumm, aber mehr nicht. Ich glaube, diesen halbherzigen Versuch mit Whisky und Schlaftabletten hat ein kranker Mann gemacht, und er war ein Teil seiner Krankheit. Ich erinnere mich daran wie an einen Albtraum, aber nicht wie an einen bewussten Entschluss. Wenn ich mein Schulwissen noch im Kopf habe, dann kann man Desdichado mit der Unglückliche aber auch mit der Enterbte übersetzen. Können Sie den Anfang rezitieren?
Hélène runzelte angestrengt die Stirn: Ich bin der Düstere - der Witwer - der Untröstliche, der Prinz Aquitaniens vom zerborstenen Turm: Mein einziger Stern ist tot - und auf meiner bestirnten Laute lastet die schwarze Sonne der Melancholie. Ich kriege jedes Mal eine Gänsehaut davon.
Müsste es nicht der Dunkle heißen? Der schwarze Mann? Der Fürst der Finsternis? Oder der Dunkelmann, der Dunkelmann aus der Fremde?, sinnierte der Amerikaner, und im Weitergehen mussten sie vor der Helligkeit des Nachmittags die Augen zusammenkneifen, um dann unter dem Blätterdach einer Blutbuche schräg gegenüber dem verbarrikadierten Château des Brouillards fast in völliger Blindheit und Schwärze zu stehen.
Sie sprachen über den neuen Präsidenten, den »Wahlbetrüger« Chirac, wie Hélène sagte, der Präsident werden musste, um nicht als Bürgermeister von Paris vor Gericht gestellt zu werden, und über seinen »Handlanger«, den »arroganten und herzlosen Technokraten« Juppé, den frischgebackenen Premierminister. Sie sprachen über Sarajewo und die dreihundert festgeketteten und zur Schau gestellten Geiseln, und Cote zeigte Hélène seine bei der Evokation dieser Geschehnisse feucht gewordenen, rosigen Handflächen.
Wissen Sie, woran mich das erinnert, ich meine dieses Gefühl, eigentlich dort sein zu müssen, etwas tun zu müssen? Ich war, nachdem ich einige Jahre gerudert hatte und kräftiger geworden war, auch ins Footballteam unserer Schule gewählt worden, obwohl ich ein lausiger Spieler war. Aber ein guter Rammbock eben. Kurz vor dem entscheidenden Spiel gegen eine Mannschaft, die besser war als wir, musste ich mit Verdacht auf Blinddarmentzündung ins Krankenhaus. Ich weiß noch genau, wie ich halb erleichtert und halb schuldbewusst in meinem Zimmer lag und aus dem Fenster in den blauen Himmel hinaussah, während das Spiel lief. Verstehen Sie, ich hatte Angst davor gehabt, denn die anderen scheuten vor Verletzungen nicht zurück, und hatte nun eine bombensichere Entschuldigung wegen der Krankheit und schämte mich doch und war zugleich überglücklich, in Sicherheit zu sein. Und dennoch hatte ich mich immer in Verdacht, ich hätte diese Blinddarmentzündung auch vermeiden können, wenn ich wirklich und ehrlich hätte dabeisein wollen.
Aber noch greift die amerikanische Armee dort ja nicht ein. Keiner greift richtig ein, sagte Hélène. Sie sehen nur zu.
Er sah sie an, als erinnere er sich an etwas, und sagte: Sie alle wollen das Schwein essen, aber schlachten wollen Sie es nicht.
Nun sind wir doch wieder bei Krieg und Tod, sagte Hélène.
Das waren wir auch mit Nervals untröstlichem schwarzen Ritter -.
Der sich aber wenigstens zum schwarzen Orpheus wandelt.
Aber erst, meinte Cote, nachdem er den Acheron zweimal siegreich durchschwommen hat. Das ist der Preis.
Einige Wochen später war das Massaker von Srebrenica publik geworden, und sie kamen wieder auf das Thema zurück.
Das Schlimme ist, erklärte Cote, die Übergänge sind fließend im Krieg. Was ist noch Kriegshandlung, und was ist schon Massaker?
Das scheint mir aber doch sehr klar zu sein!, protestierte Hélène.
Nein, das ist es nicht. Ein Soldat im Gefechtsumfeld ist kein normal funktionierender Mensch, darf gar keiner sein, da andernfalls jede Ordnung sofort auseinanderbräche. Sie machen sich keine Vorstellung, Hélène. Die absolute Anspannung, die tierische, bloße, nackte Angst vor dem Tod! Die Wut zugleich, als wären Sie auf einem schlimmen, aggressiven Drogentrip. Und dazu kommt noch, dass Sie trainiert sind, Befehle auszuführen. Ohne Fragen zu stellen. Ohne irgendetwas infrage zu stellen. Ohne nach einem größeren Zusammenhang zu fragen. Das wäre tödlich in so einer Situation. Ich sitze in meinem Bradley. Und dann knistert es, und ein Frago kommt rein, und dann noch eines. Feind gesichtet, Planquadrat sowieso. Aktion! Wo sind Sie? Was sehen Sie? Sind das da vorne Soldaten, die angreifen wollen oder sich ergeben? Und wir haben eingeschärft bekommen, keiner weißen Fahne zu trauen. Sie halten die weiße Fahne hoch, und wenn ihr dann die Waffen runternehmt, schießen sie. Oder sie liegen scheinbar verletzt am Boden, und wenn du zwei Mann und einen Sanitäter rüberschickst, sprengen sie sich selbst und alles in die Luft. Also schießt man zuerst, schießt immer, schießt für unsere Sicherheit und unser Überleben …
Sie versuchen noch immer, mit jedem Satz, den Sie sagen, alles zu entschuldigen, alles zu rechtfertigen, sagte Hélène erbost. Sie sind hier ins Krankenhaus gekommen als ein Wrack, wie Sie gesagt haben, weil der Krieg Ihre Seele kaputtgemacht hat, und trotzdem ist alles richtig, was im Krieg passiert, jede Unmenschlichkeit!
Der Amerikaner schüttelte den Kopf. Nein, glauben Sie mir, Hélène, ich will gar nichts rechtfertigen. Ich versuche nur, meine Haut zu retten. Ich versuche, aus diesem Inferno herauszukommen, und Woods zwingt mich, den ganzen Weg über die Augen offenzuhalten. Ich muss an allen meinen Toten noch einmal mit offenen Augen vorbeigehen, wenn ich jemals wieder hinauf ans Licht will …
Und was für ein Mensch bin ich?, fügte er hinzu. Man erkennt sich selbst ja immer erst an seinen Taten, nicht an den hunderttausend Möglichkeiten, die es zuvor gab …
Hélène schwieg. Diesmal führte der Spazierweg sie durch die Buttes-Chaumont. Es war ein kühler, wolkiger Sommertag unter der Woche. Der Amerikaner sah sich, während sie langsam die Rundwege abschritten, in den Gesprächspausen sorgfältig um. Sah junge Leute, die auf einer steilen Wiese lagen, manche mit einem Buch, andere hatten die Augen geschlossen und hörten Musik über Kopfhörer. Ein schönes junges Mädchen mit einer verspiegelten Sonnenbrille, in der die treibenden Wolken schwammen. Einen Angestellten in kurzärmligem Hemd und Krawatte, der auf der Kante einer Bank hockte und einen Hamburger aß. Der Pappkarton mit Papierservietten darin stand auf einem schwarzen Aktenköfferchen mit goldenem Zahlenschloss. In den Bäumen und Büschen sah er Amseln, Zaunkönige, Meisen, Spottdrosseln. Die Tauben auf den oberen Ästen eines Ahorns ließen ihr regelmäßiges Gruugruu hören. Ihr Gefieder glänzte blaugrau, und sie waren auch weniger struppig als ihre Vettern in der Stadt. Um den nackten Stamm einer Buche, der türkis schimmerte wie ein von Grünspan bedeckter kupferner Kirchturm, lief in Spiralen ein Kleiber. Ein Eichelhäher schickte seinen grellen Warnruf. Beim Teich saßen zwei ältere Damen, sehr gepflegt und stark geschminkt und manikürt, mehrere Ringe an den Fingern, und diskutierten laut und gestenreich, wobei die Armreife der einen leise klirrten und die andere immer wieder ihre riesige Brille, die an einem goldenen Gliederkettchen um ihren Hals hing, aufsetzte und wieder abnahm. Oben auf der Selbstmörderbrücke standen zwei kleine Jungen, das schmiedeeiserne Gitter mit einer Faust umklammernd, und schossen mit dem hochgereckten Daumen und ausgestreckten Zeigefinger der freien Hand auf die Passanten herab. Der kleine Tempel oben auf dem Fels erinnerte an die Beschwörungen arkadischer Landschaften auf manchen manieristischen Gemälden des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Von fern war ein Zug zu hören, der aus einem Tunnel kam. Cote betrachtete das alte, handbemalte Holzschild Guignol, das über dem Eingang des von Hecken umsäumten Kasperletheaters hing. Aus einem Beet buttergelber englischer Rosen duftete es betäubend. Ein Mann im Anzug und mit langen, grauen Locken blieb, sein Mobiltelefon am Ohr, abrupt mitten auf dem Weg stehen, begann, laut und von hilflosen Gesten der freien Hand unterstützt, zu sprechen. Von Weitem musste er wirken wie ein Irrer, der glaubt, ein Orchester zu dirigieren. Ein junger Araber im Muskelshirt schritt stolz eineinhalb Meter vor seiner Freundin einher, der die Monoprix-Tüte, die sie trug, den Arm langzog.
Weshalb mögen Sie diesen Ort hier?, fragte der Amerikaner Hélène. Wie im Falle von Moret-sur-Loing wollte er von ihr hören, was er wahrnahm, als sei er blind und brauche ihre Beschreibung als Ersatz für sein Augenlicht. Hélène dachte lange nach und wandte dabei den Kopf nach links und rechts, als könne die Antwort irgendwo in der Parklandschaft abzulesen sein.
Schließlich sagte sie zögernd: Es gibt doch sogenannte Phantomschmerzen, bei Amputierten zum Beispiel, denen ein Glied wehtut, das sie gar nicht mehr haben … Nun, vielleicht gibt es dann auch so etwas wie eine Phantomfreude, ein Phantomglück.
Er sah sie verwundert an und lächelte, ohne dass sie es in ihrer Konzentration bemerkte.
Ein Glück, das man empfindet, obwohl in einem selbst gar kein Grund dafür vorhanden ist. Etwas, das im Betrachten entsteht. Dessen was ist und was war. Vielleicht ist ja an solchen Orten wie hier die Zeit träger, und die Bilder halten sich länger, und wenn ich hier bin, kann ich noch lange Zeit später ihren Duft riechen.
Sie unterbrach sich und fügte dann noch hinzu: Es sind Bilder, die wir sagen, nicht ich, und das Glück sagt »einst« und muss es nicht genauer wissen …
Ich danke Ihnen dafür, mit Ihnen hier sein zu dürfen, Hélène, sagte der Amerikaner. Wissen Sie, ich bin fremd hier. Nicht nur, weil ich Paris nicht kenne. Ich bin fremd hier wie Ethan Edwards in den Searchers, kennen Sie den Film?, der von draußen, von der Wüste her kommt und das Haus seiner Schwägerin betritt, die Zivilisation, und sich nicht mehr in ihr zurechtfindet. Und ich komme ja tatsächlich aus der Wüste, und jetzt muss ich noch einmal durch sie hindurch …
Wie war sie eigentlich, die Wüste?, fragte Hélène. Ich meine die Wüste als Wüste. Jenseits des Kriegs. Wenn man das denn trennen kann.
Jetzt war es der Amerikaner, der nachdachte.
Am ehesten wie das Meer. Ja, ziemlich genauso wie das Meer. Endlos, ohne Horizont. Auf den ersten Blick leer, aber nur auf den ersten. Auf den ersten Blick eintönig, aber nur auf den ersten. Zugleich auch beängstigend. Wenn man in die Hitze tritt, ist das, als würde ein Mensch mit Fäusten auf einen losgehen. Ein fürchterlicher Angriff, der einen bis ins Mark erschreckt und lähmt. Die Hitze presst dich zusammen wie eine Schraubzwinge, es ist, als würdest du Flammen einatmen. Es ist feindliches Gebiet, und genauso wie auf dem Meer weißt du, dass du alleine rettungslos verloren bist, du verschwindest einfach, als hätte es dich nie gegeben …
Er sah sie an. Aber ich kann es nicht trennen. Die Wüste, das ist die, durch die wir mit dem Panzer gerast sind, in der wir geschossen haben, durch die die Kinder mit durchtrennten Sehnen gekrochen sind, in der ich diese wunderschönen, elend sterbenden Vögel erlöst habe, wo wir am dritten Tag das Flugfeld von Jalibah zu Klump geschossen und überrollt haben und wo die Toten auf dem Highway 8 lagen, die uns beim Auftanken in die Quere gekommen waren. Ich erinnere mich an einen toten irakischen Soldaten, der in seiner halb verkohlten Uniform auf dem Rücken lag, der Reißverschluss seiner Jacke am Hals offen, als wäre ihm heiß gewesen. Schwarzes Haar, schwarzer Schnurrbart, schwarz verkohlte Haut. Nur um die geschlossenen Augen herum ganz hell. Und sein Mund stand weit offen unter dem schwarzen Schnurrbart. Er sah aus, als hätte er sich totgelacht. Als wäre er mitten in einem wilden Lachanfall hinübergegangen. Oder in einem untröstlichen Schluchzen. Es konnte beides sein. Auch die Hand, leicht gekrümmt, als wolle er den Sand, auf dem sie lag, nehmen und durch die Finger rieseln lassen, verkohlt. Nur der Ehering glänzte. Ein schöner, schlichter, breiter Goldreif. Deswegen bin ich nähergetreten. Wegen des Glanzes. Die Zähne glänzten, und der Ehering glänzte. Aber wenigstens war er in einem Stück … Und da stand dieser Lazarettbus. Ausgebrannt. Man konnte den grünen Halbmond noch erkennen. Aber was heißt das im Gefecht. Ausgebrannt, der Bus. Die Scheiben zerplatzt, und alle saßen sie noch drin und schienen aus den Fenstern zu blicken. Starr und mit diesen ungeheuer weißen, gebleckten Gebissen, so weiß, weil die Gesichter verkohlt waren und die Lippen weggeschmort und die Nasen. So blickten sie da aus dem Lazarettbus hinaus, reglos. Aber wenigstens in einem Stück. Anders als der Rest Mensch, der plattgedrückt war, nur nicht sein Arm. Der Unterarm ragte hoch, und die in der Todesstarre steifen Finger waren gekrümmt, im Schmerzenskrampf erstarrt, und das Kinn ragte steil nach oben, als hätte er nach Luft geschnappt und -.
Genug!, rief Hélène.
Er sah sie verwirrt an.
Genug! Bitte! Lassen Sie es genug sein! Ich kann es nicht mehr ertragen.
Der Amerikaner schreckte auf wie aus dem Schlaf gerissen und blieb ruckartig stehen. Verzeihen Sie, stotterte er, verzeihen Sie … Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als müsse er sich den Schlaf aus den Augen reiben, und sagte dann: Warum tun Sie sich das an? Hélène, ich bin ein kranker Egomane! Ich mache Sie hier fertig mit diesen widerwärtigen - mit diesen -. Er wusste nicht weiter und sagte schließlich: mit diesen Sachen, dabei tragen Sie ein Kind aus! Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn.
Es ist schon gut. Hélène legte ihm flüchtig die Hand auf den Unterarm, um seine Selbstbezichtigungen zu stoppen. Dabei hatte er recht. Seit der Punktion hatte sie sich alle Hoffnung verboten, aber diesmal entwickelte sich etwas in ihrem Bauch. Sie wollte noch immer nicht daran glauben, um nicht ein weiteres Mal enttäuscht zu werden, und wusste doch zugleich, dass man sich selbst nicht überlisten kann. Jeden Tag hörte sie zitternd in sich hinein, und jeden Abend hakte sie einen weiteren Tag ab, ohne an das Glück des nächsten glauben zu wollen.
Ich weiß nicht, ob ich etwas austrage, sagte sie. Aber das war gar nicht der Grund. Nein, ich gestehe Ihnen, ich mache mir keine Hoffnungen mehr. Dazu ist es zu oft schiefgegangen. Dann lächelte sie beschämt und errötete ein wenig. Das stimmt natürlich so nicht. Leider hoffe ich gegen meinen Willen trotzdem weiter.
Aber Hélène. Hoffnung darf einem doch nicht peinlich sein! Für sein Hoffen darf man sich nicht schämen. Ich hoffe auch. Ich hoffe bis zum letzten Atemzug. Das ist ein Instinkt. Er zögerte, sagte dann: Und ein ungleich edlerer als der Überlebensinstinkt …
Und wenn die Hoffnung dann enttäuscht wird …
Ist es doch nicht Ihre Schuld!, rief er beschwörend. Wer zu hoffen aufhört, der ist in der Hölle.
Vielleicht ist er auch nur einfach in der Welt angekommen, sagte sie.
Sie gingen weiter. Es war früher Nachmittag, und die Sonne hatte die Wolken vertrieben. Hinter der Hecke des Puppentheaters war die krähende Stimme des Kaspers zu hören, dann hastige, klatschende Schlaggeräusche, ein ebenso rhythmisches Au-Au-Au und Kaskaden von Kindergelächter.
Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Hélène?, sagte der Amerikaner.
Sie nickte.
Haben Sie schon einmal mit dem Gedanken an eine Adoption gespielt?
Sie gingen weiter, und sie schwieg, als habe sie die Frage nicht gehört.
Ich meine …, sagte er vorsichtig.
Doch, sagte sie schließlich. Doch, natürlich.
Aber?
Aber es ist sehr schwierig. Ein ungeheurer administrativer Aufwand. Anfragen, Kontrollen, Kosten. Sehr viel Frustration. Im Krankenhaus hat man uns auch davon abgeraten.
Aber, sagte er zögernd, was Sie jetzt tun, ist doch auch nicht ganz einfach.
Sie nickte. Sie waren am Ausgang des Parks angekommen. Wir haben Angst, dass wir ein adoptiertes Kind vielleicht nicht so lieb haben könnten wie ein eigenes, sagte sie schließlich und blickte auf die Uhr. Deshalb. Ich meine, deshalb wollen wir keine Adoption.
Cote nickte, aber sagte nichts.
In der darauffolgenden Woche musste Hélène auf den Amerikaner warten. Sie war bei Le Goff gewesen, der bei der Ultraschalluntersuchung Herztöne festgestellt hatte, das erste Mal seit ihrem ersten Versuch, dass sie wieder so weit kam. Muss ich irgendetwas tun, irgendetwas beachten?, hatte sie gegen ihren Willen gefragt. Le Goff zuckte die Achseln. Madame, wenn alles so geht, wie die Natur es eingerichtet hat, dann dürfen Sie alles tun, was Sie wollen, und das Kind wird sich festkrallen, weil es leben will. Und wenn es das nicht soll, dann können Sie sich behandeln wie ein rohes Ei, und es wird nichts nutzen. Ich drücke Ihnen alle Daumen. Wenn Sie einen Schutzengel haben, dann bitten Sie ihn um Beistand.
Cote hatte eine Therapiesitzung bei Dr. Woods, die sich hinzog.
Als sie schließlich mit dem Taxi vor dem Haupteingang der Buttes-Chaumont an der Place Armand-Carrel hielten, wo Cote des schönen Wetters wegen noch einmal hatte spazieren gehen wollen, war er in Gedanken noch in der Sitzung mit Woods.
Der hatte von Anfang an versucht, die traumatischen Kriegstage in vivo zu beschwören, das heißt unter Zuhilfenahme allen verfügbaren Bild- und Filmmaterials, das er finden konnte, anstatt es ausschließlich dem Amerikaner zu überlassen, aus der Erinnerung zu schildern. Sie rekonstruierten quasi jede Minute jedes Tages minutiös. Sie saßen nebeneinander vor dem Fernseher wie ein altes Ehepaar, auch wenn er gerade nicht lief, vor sich einen viereckigen Beistelltisch, auf dem aber keine Erdnüsse standen, sondern Stapel von Fotos lagen, und Cote redete, den Blick wie auf einen Teleprompter auf den blinden Bildschirm gerichtet.
So gehen wir in jeder Sitzung die Tage durch, als würden wir uns gemeinsam einen Film ansehen und wie in einem Cineastenclub darüber diskutieren. Nur ist es der Film meines Lebens. Woods zeigt Fotos und Filmaufnahmen und CNN-Berichte, sofern er welche hat. Ich erkläre sie ihm. Das ist in Kuwait, sage ich. Da waren wir gar nicht. Wenn er meint, ich müsse noch tiefer hinein in eine Erinnerung, spult er zurück, spult sozusagen mich zurück. Und versucht dann das, was mich fertigmacht, von einer anderen Warte aus zu beleuchten.
Von welcher?, fragte Hélène.
Von einer außerhalb meiner Eingeweide. Heute waren wir beim 2. März. An den 1. erinnere ich mich nicht. Der Waffenstillstand ist uns ja schon am 28. bekanntgegeben worden, als wir bei Jalibah waren, und danach sind wir einfach weiter vorgerückt. Frago vom Stab. Highway 8 runter Richtung Basra bis zu der Kreuzung, wo die Straße zum Damm abbiegt. Diese Verbindungsstraße und der Damm, hieß es, sind jetzt bis auf Weiteres unsere Stellung. Kontrolle des Abzugs der Iraker, die mehrere Korridore bekommen hatten, um nach Hause zu fahren. Der 2. März. Am 1. kann dementsprechend nicht viel los gewesen sein.
Fangen wir am Morgen an, hatte Woods gesagt. Wie begann der Tag?
Es war von Anfang an ein komischer Tag gewesen. Was machen wir hier? Wo genau sind wir? Es gab nämlich, sagte Cote zu Hélène, weil wir so weit östlich von unserem vorgesehenen Operationsgebiet standen, keine Generalstabskarten mehr. Mit dem Sonnenaufgang direkt über den Marschen war von einem Moment zum andern die Hitze da. Vorher in der Nacht Eiseskälte. Meine Kompanie war auf einer Anhöhe, etwa eine Meile diesseits der Verbindungsstraße. Ich konnte im Dunst die Marschen erahnen, den Hammarsee, durchs Fernglas, nördlich des Damms. Im Süden, etwa zwanzig Meilen entfernt, die Rauchschwaden von den brennenden Ölquellen bei Rumailah. Der Funkverkehr war chaotisch. Sollen wir den Damm blockieren, oder sollen wir sie durchfahren lassen? Negativ, hören Sie mich? Was negativ? Blockieren oder durchfahren? Wir standen da und wussten nicht, was tun. Es wird Tag und unter uns ein steter Strom von Fahrzeugen, eine fast geschlossene Kolonne. Einer meiner Platoon-Leader steht neben mir und deutet sich an den Kopf. Da fahren sie gemütlich nach Hause. Panzer, Lafetten, Munition, alles hübsch sauber aufgeladen. Haben wir uns dafür den Arsch aufgerissen? Und immer wieder der hektische Austausch über Funk. Lassen wir sie über den Damm? Was sollen wir tun? Wozu sind wir hier, wenn wir sie jetzt durchlassen? Irgendwann, nein, nicht irgendwann, um kurz nach acht Uhr morgens ist Stau. Es geht nicht mehr weiter. Die Fahrzeuge in zwei Reihen auf der Straße. Das Morgenlicht glitzert in Fensterscheiben und Rückspiegeln. Ein Anblick wie die morgendliche Mass. Turnpike während der Rushhour. Aber in den Sechzigern. Wegen der alten Autos und Lastwagen, meine ich. Erstaunlich viele Chevys. Tieflader, darauf die T-72, brav mit nach hinten gedrehtem Rohr. Irakische Soldaten mit freiem Oberkörper, die sich auf dem Turm sonnen. Mannschaftswagen, Autobusse, Laster mit Planen, Taxis aus Kuwait, alte Mercedesse mit dem gelben Schild auf dem Dach. Und dazwischen und auf der linken Spur Personenwagen, Chevys, Mercedesse, Peugeots. Dann geht das Hupen los. Warum geht’s nicht weiter? Wir erfahren, dass es einen Befehl gegeben hat, die Überfahrt über den Damm zu verweigern. Warum? Keine Ahnung. Eine halbe Stunde lang steht alles still. Die Luft summt vor Hitze, der Lack der Autos flimmert, die Konturen der Fahrzeuge werden unscharf, die Dieselmotoren sind zu hören, wie sie im Leerlauf brummen. Wir stehen oben auf der Anhöhe und warten auf Befehle. Irgendwann wurde es den ersten Irakern zu blöd, und sie versuchten umzukehren. Ein paar Tieflader kommen vom Deich her zurück und können nicht durch, weil beide Spuren dicht sind. Lastwagen versuchen zu wenden und graben ihre Räder heulend in den weichen Untergrund seitlich des Asphalts. Die Leute steigen aus den Fahrzeugen, gestikulieren, schreien einander an, deuten hierhin, deuten dorthin. Das totale Chaos. Ich meine, wo sollten sie hin? Wieder zurück zum Highway? Aber bei Jalibah stand die ganze 11. Armee und blockierte den Weg nach Norden!
Und dann war es passiert, so überraschend, unerwartet und schockierend, wie Katastrophen immer ausbrechen. Gegen neun. Das Unwetter, das aus elektrisch geladener Stille heraus zuschlägt.
Eine gigantische Explosion im Norden, eine weißglühende Stichflamme in den Himmel, eine wütend eruptiv anschwellende Qualmwolke, die sich durch den Himmel fraß wie im Zeitraffer, als hätte Gott die Plagen losgelassen. Das Herz blieb mir fast stehen. Und es explodierte wieder und weiter, eine Explosion schien aus der anderen zu erblühen wie ein Feuerwerk.
Ein Munitionstransporter oben am Damm. Und dann überschlugen sich die Meldungen und Befehle aus dem GPS: Wir sind angegriffen worden! Wie? Wo? Wann? Aus dem Konvoi. Sie versuchen einen Angriff. Sofortige Gegenwehr. Ich meine, die hockten da unten auf ihren Pritschen, stritten sich übers Durchkommen, sonnten sich mit freiem Oberkörper oder in ärmellosen Unterhemden auf den Tiefladern, und jetzt standen alle und starrten auf die Rauchsäule und die Feuerwerksraketen, die dort hochzugehen schienen, und die Ersten, die mit Instinkt, rannten wie besessen los in die Wüste hinein, in Richtung der Marschen. Was machen wir, Captain?
Was haben Sie befohlen?, hatte Woods gefragt.
Es war wie die zehn Plagen, sagte der Amerikaner kopfschüttelnd zu Hélène. Recke deine Hand gen Himmel, dass eine solche Finsternis werde, dass man sie greifen kann. Und dann kamen die Heuschrecken. Plötzlich standen sie über uns brüllend und reglos am Himmel, der sich immer mehr verfinsterte vom Qualm des brennenden und noch immer weiter explodierenden Munitionstransporters, und feuerten ihre Raketen auf den Konvoi. Ja, um Mitternacht will ich durch Ägyptenland gehen, und alle Erstgeburt soll sterben von Mensch und von Vieh. Und mein Gott, so geschah es, aber es waren nicht nur die Erstgeburten. Wir haben uns alle flach hingeworfen, wir hatten seit dem ersten Kriegstag mehr Angst vor friendly fire als vor den Irakern.
Und die steckten fest, sie konnten nicht vor noch zurück. Ein paar Autos und Laster versuchten seitlich in die Wüste zu entkommen. Sie haben sie alle erwischt … Es ist keiner davongekommen.
Hélène, Sie machen sich keine Vorstellung davon, was passiert, wenn so eine Hellfire-Rakete aus einem Apache-Hubschrauber einen T-72 trifft. Der Turm fetzt ab wie ein Sektkorken, fliegt fünfzig Meter steil in die Luft wie ein startendes Raumschiff, und hundert Meter weiter schlägt er wieder auf. Es war ein infernalischer Lärm. Es war ein Lärm, in dem keine menschliche Stimme mehr hörbar war.
Und was haben Sie gemacht?, fragte Hélène.
Die Befehle befolgt. Wir sind runtergerollt, bis auf eine halbe Meile an die Straße ran, und haben gefeuert. Einer unserer Bradleys blieb stecken und wäre ein leichtes Ziel gewesen, hätte denn jemand auf ihn gezielt. Aber die Iraker haben keinen einzigen Schuss abgegeben.
Aber warum?
Angeblich ist irgendeine Einheit der Division von irakischen Bimps mit Sagger-Raketen beschossen worden. Ich weiß nicht, wo die Iraker angegriffen haben und warum. Es war purer Selbstmord. In meinem Sektor jedenfalls hat keiner auf uns geschossen. Und dann kamen von Süden her Panzer, unsere Panzer, eine aufgefächerte Phalanx, die Rohre im Sechzig-Grad-Winkel zur Fahrtrichtung, und schossen im Fahren, schossen in die rauchenden Trümmer, die die Helikopter übriggelassen hatten. Warum bringt ihr uns alle um? Warum bringt ihr uns denn alle um?, hat uns ein irakischer Panzerkommandant gefragt, den wir verarzteten, weil ihm der Unterarm weggeschossen worden war. Wir sind doch nur nach Hause gefahren! Ja, aber das konnten wir uns nicht gefallen lassen. Das konnten wir nicht mitansehen nach all der Angst und Anspannung.
Verbrannter Metallschrott, Feuer und Rauch, verkohlte Leichen, Autos und Lastwagen und Panzer kreuz und quer, wie von einem irrsinnigen, tobsüchtigen Kind, das sein ganzes Spielzeug aufgebaut hat, um es zu zerstören, hochgeworfen, zertrampelt, auseinandergerissen. Zwei Stunden lang hatte der Beschuss gedauert.
Am Nachmittag waren sie zu Fuß das Trümmer- und Leichenfeld entlanggegangen, es stank nach Öl und Rauch und Gummi, und dann, aber das erzählte er Hélène nicht, das hatte er Woods erzählt, dieser vertraute Geruch: Barbecue an einem Sommernachmittag. Nach angebranntem Steak. Über der ganzen Dammstraße hing in der Hitze des Nachmittags der Geruch von verbranntem, verbrutzeltem Menschenfleisch.
Als ich beim fünfundsechzigsten Geburtstag meines Vaters war und schon einmal einen Anfall bekommen hatte und dann im Garten gegrillt wurde, Massen von Steaks, und ich den Geruch in die Nase bekam, da …
Ja?, hatte Woods gesagt.
Der Amerikaner hatte sich zusammengerissen. Nun ja, da war mir der ganze Nachmittag wieder gegenwärtig.
Irgendwo zwischen den Trümmern stand umgekippt ein Schulbus voller toter, verkohlter Kinder. Sollte er Hélène davon erzählen? Auf keinen Fall. Tote, verbrannte Kinder, in der Totenstarre waren ihre schwarzen Ärmchen hochgereckt und ihre schwarzen Finger zu Krallen gekrümmt, als hätten sie sich wehren wollen gegen etwas.
Mein Bataillonskommandeur, erzählte er stattdessen Hélène, mit dem ich am Abend diese Straße des Todes entlanggegangen bin, sagte zu mir: Cote, heute habe ich als Infanteriemann mehr Panzer geknackt als mein Daddy, der Panzerkommandeur war, im gesamten Zweiten Weltkrieg. Diese ganze Operation war eine praktische Demonstration, was passiert, wenn man die Dinge richtig macht. Und einen Krieg ohne Jane Fondas führt.
Wie wollen Sie mir verübeln, wenn Sie mir so etwas erzählen, dass ich alle Soldaten für Mörder halte?, sagte Hélène.
Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt, gegenüber der ein Leierkastenmann stand und spielte. Auf dem Kasten hockte ein Rhesusäffchen in einer blauen Jacke, blinzelte heftig und hielt eine Tasche für das Geld. Die Lochkarte, die sich aus der Seite des Kastens schob, fältelte sich sorgfältig zusammen. Der Leierkastenmann, einen verbeulten Zylinder auf dem Kopf, sang mit:
Au temps des roses rouges
Mon cœur sera glacé
Car mon œuil offensé
Taira les infortunes
Um dann in den Refrain zu fallen: Et la roue tournera, comme tourne la vie. Mon couteau s’en ira, faire de la poésie.
Ein Mädchen, das an der Hand seiner Mutter vorüberkam, bat sie um eine Münze, bekam sie und steckte sie, ängstlich Abstand wahrend, in die aufgehaltene Tasche des Äffchens.
Vom Eingang des Parks her näherte sich ein schwarzer Luftballonverkäufer, der einen Strauß wild bedruckter Ballons ums Handgelenk gebunden hatte.
Und der bocksfüßige Ballonverkäufer, zitierte der Amerikaner, pfeift fern und weh -.
Nein, sagte Hélène. Keine Poesie jetzt.
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