Diesmal ging es schneller als das erste Mal.
Schneller und brutaler, aber vielleicht auch gnädiger, denn die
Zeit des Hoffens und Bangens dauerte nur gerade zwei Wochen.
Wieder funktionierte zu Anfang alles wie aus dem
Lehrbuch. Le Goff hatte mit Zustimmung Hélènes und ihres Mannes die
Dosierung etwas erhöht, sodass er fünf Eizellen entnehmen konnte,
von denen vier befruchtet und zwei eingesetzt, die verbliebenen
eingefroren wurden. Wieder teilten sich die befruchteten Zellen und
wurden zunächst zu Vier-, dann zu Achtzellern, dann zu
sechzehnzelligen Zellklumpen. Auch der erste Test aus dem Blut war
positiv.
In einer Nacht zwei Wochen nach dem Transfer wachte
Hélène dann mit stechenden Unterleibsschmerzen auf und wusste
sofort, woran sie war. Unnötig, ihren Mann zu wecken, der tief
schlief und ohnehin nichts hätte tun können. Sie spürte den Druck,
es war wie eine Kolik, wie Durchfall, sie hatte eben noch Zeit,
sich das Nachthemd bis unter die Brüste hochzuziehen und sich auf
die Klobrille zu setzen, dann kam es in einem platschenden,
klatschenden, warmen und heftig riechenden Schwall. Sie schaltete
das Licht an und wagte, einen Blick auf das blutbespritzte und
verschmierte Toilettenbecken zu werfen. Das Wasser im Abfluss war
hellrot, es gab dunkelrote
schlierige Klümpchen. Als sie das Wort Gewebe dachte, musste sie
sich übergeben und zog zugleich Wasser, weil sie den Geruch, die
Nase so nah über dem Becken, nicht ertrug. Sie schloss die
Augen.
Danach wischte sie mit einem feuchten Schwamm die
Spritzer auf und mit der Bürste das Klo sauber. Sie merkte, dass
durch den Blutverlust ihr Blutdruck abfiel und ihre Beine schwach
wurden, und ließ sich auf die Brille nieder. Eine der beiden Katzen
war wach geworden, strich schnurrend und buckelnd um sie und
wickelte ihren Schwanz um ihr nacktes Bein, ein sanfter, aber
kräftiger Druck. Obwohl sie mehrmals abgezogen hatte, war ihr Mann
nicht aufgewacht. Sie hörte sein leises Schnarchen aus dem
Schlafzimmer.
Es war so heiß, dass alle Fenster und Türen
offenstanden, um ein wenig Luftzug zu schaffen. Aber es gab keine
Luft. Durchs offene Fenster des Schlafzimmers, das auf einen
kleinen Innenhof ging, drang gedämpfte Rai-Musik, die ein
Schlafloser hörte. Vom Wohnzimmerfenster kamen in regelmäßigen
Abständen die Motorengeräusche an der Ampel anfahrender Autos. Sie
konnte duschen, ohne Angst haben zu müssen, ihren Mann zu wecken.
Sie hielt sich mit einer Hand fest, während das Wasser über sie
perlte, schloss die Augen, sah den Inhalt der Toilette vor sich,
und die Worte a bloody mess kamen ihr in den Sinn, die der
Amerikaner in einem anderen Zusammenhang benutzt hatte. Sie sagte
sich immer wieder, lautlos und wie ein Mantra: Das war ein
Zellklumpen, kein Baby, ein Zellklumpen, kein Baby.
Danach setzte sie sich ans offene Fenster des
Wohnzimmers, sah auf die Straße hinunter und rauchte. Die
andere Katze war auch wach geworden, und beide Tiere legten sich
auf die Fensterbank, um ihr nahe zu sein. Gegenüber strahlte hell
das grüne Neonkreuz der Apotheke von Madame Allouche. Aus der
Bäckerei unten im Haus roch es nach backenden Croissants.
What a bloody mess, dachte sie noch einmal. Der
Amerikaner hatte zunächst nicht viel erzählen können, als sie ihn
an jenem Nachmittag gefragt hatte, auch nicht einige Tage später,
als sie nach der Ruhephase, die sich an den Transfer anschloss,
noch einmal mit ihm in der mittlerweile vertrauten Cafeteria
gesessen hatte. Er erklärte seine Schwierigkeiten mit dem Dilemma,
einerseits eine kohärente Geschichte erzählen zu wollen, sei es,
weil man beim Erzählen oder Berichten einen Anfang, eine Mitte und
ein Ende haben und bieten will, sei es, weil Erinnerungen erst dann
mitteilbar sind, wenn man sie von oben und außen, von fern und als
Ganzes wahrnimmt. Andererseits, sagte er, habe er eben nur
Einzelheiten, Fetzen, Eindrücke zu bieten, Erinnerungssplitter,
dazu noch aus der Maulwurfsperspektive gesehen, die sich zu nichts
Logischem zusammenfügten. Kamen noch die theoretischen, die selbst
nur gehörten oder gelesenen Informationen hinzu, die diesen Krieg
zu einem Aktenstück machten, aber eben wenig oder nichts mehr mit
dem Erlebnis des einzelnen Soldaten zu tun hatten. Das Problem,
erklärte er, sei, dass der wahre Krieg eben nicht das eine oder das
andere sei, sondern beides, sodass eine Erzählung vom Krieg
unmöglich von einem Einzelnen zu leisten sei.
Aber ich will doch gar keinen Heeresbericht hören,
entgegnete sie. Ich will nur hören, was Ihnen auf der
Seele brennt, vorausgesetzt, Sie können darüber sprechen.
Er sah sie erstaunt an: Brennt mir denn etwas auf
der Seele? Oder bin ich einfach nur ausgebrannt, weil ich zu
schwach oder zu müde bin, battle-fatigued eben?
Sie lächelte ihm zu und sagte: Das weiß ich
nicht.
Er griff unwillkürlich nach einer Zigarette und
sagte: Das Seltsamste war, dass dieser Krieg am Rande des
Paradieses stattfand, ohne dass jemals jemand ein Wort darüber
verloren hätte. Östlich des Gartens Eden. Wir waren die ganze Zeit
in der Wüste, und keine zwanzig Meilen von da liegt der Garten Eden
…
Hélène sah ihn verblüfft an.
Wissen Sie, sagte der Amerikaner, woran ein
Zivilist zu selten denkt, das ist, dass der Krieg nicht auf einem
Sportplatz stattfindet, sondern mitten in der Welt, die dafür nicht
gemacht ist. Da leben Menschen, Tiere, da gibt es eine Natur, und
plötzlich rollen Panzer darüber hinweg, explodieren Häuser, wird
die Erde umgepflügt und mit toten Menschen und Tieren gedüngt …
Unser Ziel war das Euphrattal. Wir bildeten die linke, nördliche
Flanke des Angriffs. Und zwischen Euphrat und Tigris, am Hammarsee,
nördlich von Basra, dort liegt das Marschenland, wo alle
Wissenschaftler und alle Träumer den Garten Eden vermuten. Ein
bisschen nördlich davon den Highway 8 entlang liegt Ur, wo unser
Urvater Abraham seine Wanderschaft begann, liegt Uruk, wo
Gilgamesch herrschte und mit Enkidu kämpfte und Freundschaft
schloss, wo Ischtar sich in ihn verliebte, wo der Himmelsstier
wütete und von den Waffenbrüdern zur Strecke gebracht wurde. Mitten
in den Marschen jedoch, da
lag das Paradies. Und an seiner Pforte haben wir Krieg geführt.
Aber es kam kein Erzengel Michael, der uns oder die anderen verjagt
hätte …
Cote war in Schweigen versunken, und Hélène wartete
wortlos, dass er weitersprach. Schließlich sagte er: Am dritten Tag
morgens waren wir auf einer Anhöhe über dem Euphrattal, es war der
erste sonnige Tag. Sonne und Hitze. Die Sonne war noch nicht lange
aufgegangen, brannte aber schon wie zur Mittagszeit. Unter uns
glitzerte ein riesiger schwarzer See im Licht, der auf keiner Karte
verzeichnet war. Und dann sah ich sie, oben von meinem Bradley aus.
Sieben Ibisse, die von Süden kamen. Majestätisch. Wahrscheinlich
hatte der dichte Rauch, der dort am Horizont stand und von
brennenden Ölquellen rührte, sie irritiert oder ihren Kurs wechseln
lassen. Die heiligen Ibisse überwintern ja in den Marschen. Sie
flogen hoch, in einem Keil, man konnte die langen, schwarzen,
sichelförmigen Schnäbel gut erkennen. Mächtige, breite Flügel, die
in der Sonne weiß leuchteten, und die Spitzen der großen
Schwungfedern schwarz, wie in Tinte getaucht. Sie sahen den See
auch von dort oben, drehten bei, kreisten und gingen dann nieder
mit gerefften Schwingen, und die roten dünnen Beine leicht nach
vorn gestreckt wie ein ausgefahrenes Fahrgestell. Fast alle zur
gleichen Zeit. Zwischen dem Moment, als der erste wasserte, und
dem, als der letzte aufkam, vergingen keine drei Sekunden. Aber
schon als der erste die Oberfläche des Sees erreichte, konnte man
sehen, dass etwas nicht stimmte. Aber da war es bereits zu spät.
Eigentlich hätte es eine Gischtwolke geben müssen, tausend in der
Sonne funkelnde Tröpfchen. Aber als der Körper aufkam, ging
da nur eine schwarze, teerige Welle hoch, die die Vögel
bespritzte, und sie wurden ruckartig gebremst, als seien sie in
schlierigen Klebstoff getaucht. Es war kein See. Es war ein
Ölteich. Quadratkilometergroß. Wir hätten es wissen können. Die
flüchtenden Iraker öffneten überall die Ölquellen. Aber es war der
erste, den wir sahen. Und er sah von Weitem im Licht aus wie ein
See. Vielleicht war es wishful thinking nach so vielen Tagen in der
Wüste, einen See sehen zu wollen. Und die Ibisse hatten sich auch
täuschen lassen …
Cote unterbrach sich und starrte geradeaus. Hélène
zündete sich eine Zigarette an und blickte ihn im Profil an. Unter
der rechten Wange zuckte ein Nerv. Er streifte sich die Handflächen
an den Hosenbeinen ab.
Es war nicht mitanzusehen. Wir saßen gebannt da und
starrten trotzdem hinüber. Natürlich versuchten die Ibisse sofort
wieder hochzufliegen. Aber das ging nicht. Die Schwungfedern waren
schon verklebt. Der Bauch war verklebt. Sie kamen in der verdammten
Dreckbrühe nicht vorwärts. Sie waren viel zu weit vom Ufer. Dann
begannen sie die Hälse zu drehen und versuchten sich das Gefieder
zu putzen. Und nun hatten sie das Öl auch am Schnabel, am Kopf. Da
gerieten sie in Panik und schlugen mit ihren großen Flügeln auf das
Öl. Wir konnten es hören. Und bespritzten sich nur noch mehr damit.
Es war ja kein veröltes Wasser. Es war reines Rohöl. Sie trieben im
Kreis auf dem Ölteppich. Dann konnten wir sie hören. Ibisse geben
normalerweise keine Geräusche von sich. Aber jetzt reckten sie die
Hälse weit nach oben und die gebogenen Schnäbel zum Himmel empor
wie Versinkende und krächzten. Sie begannen langsam zu
ersticken. Es ging entsetzlich schnell, bis das Gefieder so
verklebt war, dass die Haut nicht mehr atmen konnte. Ich saß oben
auf meinem Bradley und sah zu, in die Sonne hinein, wie die sieben
Ibisse die Hälse reckten und die Schnäbel nach oben hielten, und
wie die Schnäbel sich öffneten, als bettelten sie die Sonne an. Um
uns herum nur Wüste und irgendwo am Horizont Hochspannungsleitungen
und Rauchwolken und unter uns die sterbenden Vögel in dem Ölteich.
Je schwächer sie wurden, desto höher reckten sie die Hälse und
desto weiter öffneten sich die Schnäbel. Dann kam über Funk unser
Abmarschbefehl. Wir mussten nach Süden zum Flugfeld von Jalibah.
Ich habe zweien meiner Männer befohlen, sie abzuschießen. Wir sind
die hundert Meter zu Fuß runter, und die Männer haben sich an den
Rand des Ölteichs gestellt und die armen Biester erschossen.
Hélène saß am offenen Fenster und erinnerte sich an
Cotes Erzählung von den Vögeln und an sein langes Schweigen danach
und wie er sich schließlich erhoben und gesagt hatte, er müsse zu
seinem Analysetermin bei Dr. Mehran, und dann dachte sie an den
Tonfall, in dem er bloody mess gesagt hatte.
Es wurde langsam Tag, die Autos, die an der Ampel
warteten, hatten bereits zum großen Teil die Scheinwerfer
ausgeschaltet. Die Rinnsteine wurden geflutet, und ein grauhaariger
Schwarzer in der grünen Kluft der Stadtreinigung platzierte seine
dämmenden Stoffetzen hinter dem Gullydeckel, aus dem das Wasser
quoll, und folgte dann mit langsamen Besenstrichen dem Wasserlauf
den Bordstein entlang, unter ihrem Fenster vorbei hinauf in
Richtung Rue de Charonne. Sie fühlte sich
ebenso hohl und leer wie der Morgen und entschloss sich dann
Kaffee aufzusetzen.
Während der Kessel auf der Gasflamme stand,
schlüpfte sie mit bloßen Füßen in die marokkanischen bestickten
Mules mit den Schnabelspitzen, die ihr als Hausschuhe dienten, und
ging die Treppe hinunter, aus der Haustür und nebenan in die
duftende Höhle der Bäckerei, um Croissants zu kaufen. Als sie
wieder oben war und der Kaffee fertig, schlief ihr Mann noch
immer.
Nach diesem erneuten Fehlschlag änderte sich
einiges. Hélènes Mann buchte noch für die letzten Oktobertage eine
Reise nach Prag. Er hatte eine Ferienwohnung in einem Viertel
gemietet, das vom die Stadt überrennenden Tourismus noch nicht
betroffen war, in den Weinbergen in der Nähe des Fernsehturms. Es
gab dort eine amerikanische Buchhandlung mit Teestube, und
verschiedene Wege führten hinunter in die Altstadt. Von dem durch
Žižkov, der der kürzeste war, hatte ihnen der Vermieter, ein
polyglotter Tscheche, abgeraten, dort seien unter dem Kommunismus
die Zigeuner aus der Slowakei angesiedelt worden, die das ganze
Viertel zu einer Kloake machten und zu einer gefährlichen noch
dazu.
Aber wenn sie durch Žižkov hinuntergingen, sahen
sie nie irgendetwas Auffälliges und wurden auch nie Opfer
irgendeiner Aggression oder auch nur eines Taschendiebes, vor denen
man sich auf der Karlsbrücke im Menschengewimmel oder auf dem
Krönungsweg viel mehr zu hüten hatte. Um die Brücke wenigstens
einmal ungestört zu erleben, stellten sie sich einen Morgen den
Wecker früh und waren vor Sonnenaufgang dort. Vom Ufer betrachtet,
sah sie aus wie ein Scherenschnitt oder
wie eine Szene aus der Laterna magica. Erste Souvenirhändler und
Maler bauten ihre Stände auf.
Es war sogar in Žižkov, wo sie ein preiswertes und
gutes Restaurant fanden. Dort glich die Wahl der Gerichte einer
Lotterie, da die Speisekarte nur auf Tschechisch vorlag und auch
die Serviererin keine andere Sprache beherrschte. Nach Mitternacht
traten regelmäßig Jazzmusiker auf, und unter Jazzliebhabern schien
die Kneipe bekannt zu sein, denn gegen zehn füllte sich der
Gastraum mit Menschen, die nicht mehr zum Essen hierherkamen,
sondern bei einem Bier auf den Beginn des Jams warteten.
Hélène und ihr Mann waren verunsichert, was sich
darin äußerte, dass er sehr zuvorkommend zu ihr war, fast so wie zu
einer Kranken oder Rekonvaleszentin, die noch nicht über genügend
Kräfte verfügt, weite Wege zu gehen oder Türen selbst zu öffnen.
Hélènes Zuversicht, ihre Gewissheit, dass die Behandlung im
amerikanischen Hospital früher oder später, aber mit absoluter
Sicherheit, Erfolg haben werde, war nicht zerstört, aber
erschüttert. Es war beiden plötzlich bewusst, dass der Ausgang
ihrer Bemühungen völlig offen war, dass es kein Lebensgesetz gab,
das ans Ende ihrer Anstrengungen und der akribischen Befolgung
aller ihnen gegebenen Anweisungen zur Belohnung auch automatisch
die Geburt eines Kindes stellte.
Aber nicht nur ging ihr Mann behutsamer mit ihr um,
so wie mit einem zerbrechlichen Kleinod, das der Besitzer, aus
Angst, es zu zerstören, trotz seiner Schönheit gar nicht mehr aus
seinem samtüberzogenen Kästchen holt, es kam auch öfter als zuvor
zu Streitereien zwischen
ihnen, die meistens damit begannen, dass er ihr anlässlich
irgendeines banalen Vorfalls Vorwürfe machte, nicht positiv genug
zu denken, nicht selbstsicher genug zu wollen, zu fatalistisch, zu
defätistisch, zu willenlos zu sein - er selbst neigte wieder, wie
vor dem Beginn ihrer IVF und trotz der damaligen Niederlage dazu,
an die alle Realitäten bezwingende Kraft des Willens zu
glauben.
Zweimal zu scheitern war immer noch vollkommen
normal, und es gab keinen Grund, Hoffnung und Zuversicht
aufzugeben, aber eine leise Anspannung entwickelte sich, und
Hélène, die jetzt fast zwei Jahre lang die seltsame Erfahrung
machte, in ihrem Körper Veränderungen zu spüren, die von außen
bewirkt wurden - sie fühlte Ausdehnungen und Verkrampfungen, sie
fühlte die Schwellung der Eierstöcke, sie fühlte die Sekretionen
und Hormone in ihrem Innern, auf ihrer Haut, in ihrer Seele agieren
-, Hélène begann sich als ein Gefäß zu sehen, in dem alle möglichen
chemischen Reaktionen herbeigeführt werden und das ab und zu
ausgewaschen werden muss, um für neue Experimente bereit zu
sein.
Natürlich bestand Gesprächsbedarf. Anne-Laure
empfing sie wie alte Bekannte, und auch Le Goffs Sprechzimmer mit
den Seglerfotos, die ihm eine bretonisch-heimelige Atmosphäre
verliehen, kam ihnen wie die Wohnung eines alten Freundes vor.
Hélènes Mann bat gleich nach der einführenden Unterhaltung um eine
schonungslose Analyse und eine ehrliche Einschätzung ihrer Chancen
angesichts der zwei nach so vielversprechendem Beginn überraschend
abgebrochenen Schwangerschaften. Le Goff, den weißen Kittel, in
dessen Brusttasche mehrere Einwegkugelschreiber und ein
Montblanc-Füller steckten,
wie üblich geöffnet, darunter trug er ein feingestreiftes graues
Hemd und eine dunkelrote Seidenkrawatte, lauschte melancholisch
lächelnd, so wie sie ihn kannten, faltete dann die Hände und
erklärte, es sei normal, zwei Fehlschläge zu erleiden. Bei manchen
Paaren klappte es das erste Mal, bei anderen das dritte, vierte,
fünfte Mal, bei anderen klappte es nie.
Es gibt keine Regel, nur Einzelfälle, und das Beste
und Einzige, was Sie tun können, ist, soweit es geht, entspannt zu
bleiben und Ihre Zuversicht zu behalten. Ein gescheiterter Versuch
macht einen Erfolg beim nächsten Mal nicht unwahrscheinlicher. Sie
fangen jedes Mal wieder bei null an, mit allen Chancen.
Dann aber erklärte er, er wolle angesichts des
parallelen Verlaufs der beiden gescheiterten Protokolle einige
weitere Untersuchungen durchführen. Die Morphologie der
befruchteten Eizellen habe keine sichtbaren Probleme aufgezeigt,
die auf eine Entwicklungsstörung schließen ließen. Er habe auch
darüber nachgedacht, beim nächsten Versuch (er blickte auf und
lächelte ihnen über den Goldrand seiner Brille hinweg zu: Es gibt
doch einen nächsten Versuch?!) den Transfer erst im
Blastozystenstadium, also am fünften oder sechsten Tag nach der
Punktion, zu machen, um die Eizellenentwicklung länger beobachten
zu können, und weil die Gebärmutterschleimhaut zu diesem späteren
Zeitpunkt optimal auf die Aufnahme des Embryos vorbereitet sei.
Aber das behalte er sich noch vor.
Erschrecken Sie jetzt nicht, was ich Ihnen sage,
sind pure Spekulationen ohne große Wahrscheinlichkeit, und es ist
nur, um uns nicht vorwerfen zu müssen, wir hätten
irgendeinen noch so unwahrscheinlichen Weg nicht beschritten. Ich
möchte also eine Genetik mit Ihnen machen, eine Blutuntersuchung
auf Ihre Chromosomen. Es gibt zum Beispiel Mutationen in den
Gerinnungsfaktoren V und II, dem Prothrombin, die zu einem erhöhten
Risiko für Thrombosen und Embolien führen und ein Grund für Aborte
sein können.
Ob man dagegen etwas tun könne, falls es sich so
verhalte.
Wenn, dann kann man mit einer antikoagulativen
Behandlung einer Fehlgeburt vorbeugen. Dann gibt es noch einen
weiteren Faktor, der für häufige Aborte prädisponiert, das sind
Mutationen im Gen der Methylentetrahydrofolat-Reduktase, das ist
ein Enzym, das den Folatstoffwechsel reguliert. Auch so ein
niedriger Folatspiegel kann etwas mit einer erhöhten
Fehlgeburtsrate zu tun haben. Und lässt sich, kam er ihrer Frage
zuvor, mit Dosen von Folsäure behandeln. Dann werden wir noch eine
immunologische Untersuchung durchführen, um sicherzustellen, dass
Sie keine Autoantikörper gegen Phospholipide bilden, und eine
Hysteroskopie machen, aber damit warten wir bis Anfang des Jahres,
damit Sie ein bisschen Ruhe vor uns bekommen. Machen Sie was
Schönes zu zweit!
Betäubt von all den Fachausdrücken und unsicher, ob
die Konsultation mehr zum Bangen oder zum Hoffen Anlass gab,
verließen Hélène und ihr Mann das amerikanische Hospital.
Wie um Le Goffs Ermunterung umzusetzen, fuhren sie
Anfang März auf ein langes Wochenende nach Montigny am Loing und
kehrten zum ersten Mal seit langer
Zeit wieder in der Auberge de la Vanne Rouge ein. Das Wasser am
Wehr rauschte noch immer vor dem offenen Fenster in der Nacht, aber
es regnete häufig, der Papagei war verstorben, und das Haus hatte
einen neuen Koch, der nicht so gut war wie der alte oder keinen
guten Tag erwischt hatte. Sie saßen abends im Kaminzimmer vor dem
Fernseher und sahen der Kinopreisverleihung zu, und der Preis für
den besten Film des Jahres ging an Wilde Nächte, das höchst
verstörende Werk eines homosexuellen und aidskranken Regisseurs und
Hauptdarstellers, dessen Tage gezählt waren und der in seinem Film
das Leben als ein Abbrennen der Kerze von beiden Seiten feierte,
als ein frenetisches Verhöhnen aller bürgerlichen Konventionen und
Sehnsüchte, sodass sie, erinnerte Hélène sich, als sie den Film ein
halbes Jahr vorher im Kino gesehen hatten, den Saal in gedämpfter
Stimmung verlassen und ihr Leben den ganzen Nachhauseweg und den
Rest des Abends über für langweilig und verlogen gehalten hatten,
ohne es sich oder dem anderen eingestehen zu wollen.
Ende April feierten sie in der kleinen
Eisenbahnerwohnung in der Rue des Batignolles den achtzigsten
Geburtstag von Hélènes Großmutter mit einem mehrstündigen
Mittagessen, das direkt in eine Kaffeetafel überging, zu der auch
Lucette, die übergewichtige und streng riechende Concierge des
Hauses geladen war, für die die Treppe in den dritten Stock hinauf
einen Kreuzweg darstellte, den sie nur dank der Aussicht auf ein
Gigot mit weißen, von ihr péteuses genannten Bohnen und mehrere
Stücke Torte auf sich nahm.
Nach dem schweren Essen erhoben sich alle von dem
mit Gien-Porzellan vollgestellten Eichentisch, der den
größten Teil des kleinen Wohnzimmers einnahm, und schoben sich
hintereinander an der Fenster- und der Büfettseite um ihn herum zur
Tür hinaus. Um sich die Beine zu vertreten und weil es Fliederzeit
war, hatten sie Hélènes Großmutter einen Ausflug nach dem Bois de
Boulogne versprochen. Sie wollten jenseits der Rennbahn von Auteuil
einen Spaziergang durch den Jardin de Bagatelle unternehmen.
Hélène ging langsam, ihre Großmutter untergehakt,
über die Kieswege, während die anderen, ein wenig voraus oder
zurückbleibend, ein anderes Tempo anschlugen. Beim Anblick des
blühenden und duftenden Fliedermassivs hinter dem und oberhalb des
Rosengartens, den es als undurchdringliche, fünf Meter hohe Hecke
zu zwei Seiten abschloss, traten der alten Frau Tränen in die
Augen, und sie bedankte sich bei ihrer Enkelin.
Mehr als dreißig Jahre war ich nicht mehr hier!
Zuletzt mit meinem armen Gus, da haben wir dich im Kinderwagen hier
durchgeschoben. Wie schön ist es hier doch! Sie schneuzte sich in
ein Stofftaschentuch und wiederholte im Weiterhumpeln, schwer und
leicht zugleich an Hélènes Arm: Wie wunderschön ist es hier!
Es schien eine flache Frühlingssonne, und eine
milde Brise verbreitete den Duft der nickenden, schweren
Blütendolden, die in allen Farben von Weiß über Blassviolett bis
hin zu dunklem, fast purpurnem Lila leuchteten, über den ganzen
Rosengarten.
