Diesmal ging es schneller als das erste Mal. Schneller und brutaler, aber vielleicht auch gnädiger, denn die Zeit des Hoffens und Bangens dauerte nur gerade zwei Wochen.
Wieder funktionierte zu Anfang alles wie aus dem Lehrbuch. Le Goff hatte mit Zustimmung Hélènes und ihres Mannes die Dosierung etwas erhöht, sodass er fünf Eizellen entnehmen konnte, von denen vier befruchtet und zwei eingesetzt, die verbliebenen eingefroren wurden. Wieder teilten sich die befruchteten Zellen und wurden zunächst zu Vier-, dann zu Achtzellern, dann zu sechzehnzelligen Zellklumpen. Auch der erste Test aus dem Blut war positiv.
In einer Nacht zwei Wochen nach dem Transfer wachte Hélène dann mit stechenden Unterleibsschmerzen auf und wusste sofort, woran sie war. Unnötig, ihren Mann zu wecken, der tief schlief und ohnehin nichts hätte tun können. Sie spürte den Druck, es war wie eine Kolik, wie Durchfall, sie hatte eben noch Zeit, sich das Nachthemd bis unter die Brüste hochzuziehen und sich auf die Klobrille zu setzen, dann kam es in einem platschenden, klatschenden, warmen und heftig riechenden Schwall. Sie schaltete das Licht an und wagte, einen Blick auf das blutbespritzte und verschmierte Toilettenbecken zu werfen. Das Wasser im Abfluss war hellrot, es gab dunkelrote schlierige Klümpchen. Als sie das Wort Gewebe dachte, musste sie sich übergeben und zog zugleich Wasser, weil sie den Geruch, die Nase so nah über dem Becken, nicht ertrug. Sie schloss die Augen.
Danach wischte sie mit einem feuchten Schwamm die Spritzer auf und mit der Bürste das Klo sauber. Sie merkte, dass durch den Blutverlust ihr Blutdruck abfiel und ihre Beine schwach wurden, und ließ sich auf die Brille nieder. Eine der beiden Katzen war wach geworden, strich schnurrend und buckelnd um sie und wickelte ihren Schwanz um ihr nacktes Bein, ein sanfter, aber kräftiger Druck. Obwohl sie mehrmals abgezogen hatte, war ihr Mann nicht aufgewacht. Sie hörte sein leises Schnarchen aus dem Schlafzimmer.
Es war so heiß, dass alle Fenster und Türen offenstanden, um ein wenig Luftzug zu schaffen. Aber es gab keine Luft. Durchs offene Fenster des Schlafzimmers, das auf einen kleinen Innenhof ging, drang gedämpfte Rai-Musik, die ein Schlafloser hörte. Vom Wohnzimmerfenster kamen in regelmäßigen Abständen die Motorengeräusche an der Ampel anfahrender Autos. Sie konnte duschen, ohne Angst haben zu müssen, ihren Mann zu wecken. Sie hielt sich mit einer Hand fest, während das Wasser über sie perlte, schloss die Augen, sah den Inhalt der Toilette vor sich, und die Worte a bloody mess kamen ihr in den Sinn, die der Amerikaner in einem anderen Zusammenhang benutzt hatte. Sie sagte sich immer wieder, lautlos und wie ein Mantra: Das war ein Zellklumpen, kein Baby, ein Zellklumpen, kein Baby.
Danach setzte sie sich ans offene Fenster des Wohnzimmers, sah auf die Straße hinunter und rauchte. Die andere Katze war auch wach geworden, und beide Tiere legten sich auf die Fensterbank, um ihr nahe zu sein. Gegenüber strahlte hell das grüne Neonkreuz der Apotheke von Madame Allouche. Aus der Bäckerei unten im Haus roch es nach backenden Croissants.
What a bloody mess, dachte sie noch einmal. Der Amerikaner hatte zunächst nicht viel erzählen können, als sie ihn an jenem Nachmittag gefragt hatte, auch nicht einige Tage später, als sie nach der Ruhephase, die sich an den Transfer anschloss, noch einmal mit ihm in der mittlerweile vertrauten Cafeteria gesessen hatte. Er erklärte seine Schwierigkeiten mit dem Dilemma, einerseits eine kohärente Geschichte erzählen zu wollen, sei es, weil man beim Erzählen oder Berichten einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben und bieten will, sei es, weil Erinnerungen erst dann mitteilbar sind, wenn man sie von oben und außen, von fern und als Ganzes wahrnimmt. Andererseits, sagte er, habe er eben nur Einzelheiten, Fetzen, Eindrücke zu bieten, Erinnerungssplitter, dazu noch aus der Maulwurfsperspektive gesehen, die sich zu nichts Logischem zusammenfügten. Kamen noch die theoretischen, die selbst nur gehörten oder gelesenen Informationen hinzu, die diesen Krieg zu einem Aktenstück machten, aber eben wenig oder nichts mehr mit dem Erlebnis des einzelnen Soldaten zu tun hatten. Das Problem, erklärte er, sei, dass der wahre Krieg eben nicht das eine oder das andere sei, sondern beides, sodass eine Erzählung vom Krieg unmöglich von einem Einzelnen zu leisten sei.
Aber ich will doch gar keinen Heeresbericht hören, entgegnete sie. Ich will nur hören, was Ihnen auf der Seele brennt, vorausgesetzt, Sie können darüber sprechen.
Er sah sie erstaunt an: Brennt mir denn etwas auf der Seele? Oder bin ich einfach nur ausgebrannt, weil ich zu schwach oder zu müde bin, battle-fatigued eben?
Sie lächelte ihm zu und sagte: Das weiß ich nicht.
Er griff unwillkürlich nach einer Zigarette und sagte: Das Seltsamste war, dass dieser Krieg am Rande des Paradieses stattfand, ohne dass jemals jemand ein Wort darüber verloren hätte. Östlich des Gartens Eden. Wir waren die ganze Zeit in der Wüste, und keine zwanzig Meilen von da liegt der Garten Eden …
Hélène sah ihn verblüfft an.
Wissen Sie, sagte der Amerikaner, woran ein Zivilist zu selten denkt, das ist, dass der Krieg nicht auf einem Sportplatz stattfindet, sondern mitten in der Welt, die dafür nicht gemacht ist. Da leben Menschen, Tiere, da gibt es eine Natur, und plötzlich rollen Panzer darüber hinweg, explodieren Häuser, wird die Erde umgepflügt und mit toten Menschen und Tieren gedüngt … Unser Ziel war das Euphrattal. Wir bildeten die linke, nördliche Flanke des Angriffs. Und zwischen Euphrat und Tigris, am Hammarsee, nördlich von Basra, dort liegt das Marschenland, wo alle Wissenschaftler und alle Träumer den Garten Eden vermuten. Ein bisschen nördlich davon den Highway 8 entlang liegt Ur, wo unser Urvater Abraham seine Wanderschaft begann, liegt Uruk, wo Gilgamesch herrschte und mit Enkidu kämpfte und Freundschaft schloss, wo Ischtar sich in ihn verliebte, wo der Himmelsstier wütete und von den Waffenbrüdern zur Strecke gebracht wurde. Mitten in den Marschen jedoch, da lag das Paradies. Und an seiner Pforte haben wir Krieg geführt. Aber es kam kein Erzengel Michael, der uns oder die anderen verjagt hätte …
Cote war in Schweigen versunken, und Hélène wartete wortlos, dass er weitersprach. Schließlich sagte er: Am dritten Tag morgens waren wir auf einer Anhöhe über dem Euphrattal, es war der erste sonnige Tag. Sonne und Hitze. Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, brannte aber schon wie zur Mittagszeit. Unter uns glitzerte ein riesiger schwarzer See im Licht, der auf keiner Karte verzeichnet war. Und dann sah ich sie, oben von meinem Bradley aus. Sieben Ibisse, die von Süden kamen. Majestätisch. Wahrscheinlich hatte der dichte Rauch, der dort am Horizont stand und von brennenden Ölquellen rührte, sie irritiert oder ihren Kurs wechseln lassen. Die heiligen Ibisse überwintern ja in den Marschen. Sie flogen hoch, in einem Keil, man konnte die langen, schwarzen, sichelförmigen Schnäbel gut erkennen. Mächtige, breite Flügel, die in der Sonne weiß leuchteten, und die Spitzen der großen Schwungfedern schwarz, wie in Tinte getaucht. Sie sahen den See auch von dort oben, drehten bei, kreisten und gingen dann nieder mit gerefften Schwingen, und die roten dünnen Beine leicht nach vorn gestreckt wie ein ausgefahrenes Fahrgestell. Fast alle zur gleichen Zeit. Zwischen dem Moment, als der erste wasserte, und dem, als der letzte aufkam, vergingen keine drei Sekunden. Aber schon als der erste die Oberfläche des Sees erreichte, konnte man sehen, dass etwas nicht stimmte. Aber da war es bereits zu spät. Eigentlich hätte es eine Gischtwolke geben müssen, tausend in der Sonne funkelnde Tröpfchen. Aber als der Körper aufkam, ging da nur eine schwarze, teerige Welle hoch, die die Vögel bespritzte, und sie wurden ruckartig gebremst, als seien sie in schlierigen Klebstoff getaucht. Es war kein See. Es war ein Ölteich. Quadratkilometergroß. Wir hätten es wissen können. Die flüchtenden Iraker öffneten überall die Ölquellen. Aber es war der erste, den wir sahen. Und er sah von Weitem im Licht aus wie ein See. Vielleicht war es wishful thinking nach so vielen Tagen in der Wüste, einen See sehen zu wollen. Und die Ibisse hatten sich auch täuschen lassen …
Cote unterbrach sich und starrte geradeaus. Hélène zündete sich eine Zigarette an und blickte ihn im Profil an. Unter der rechten Wange zuckte ein Nerv. Er streifte sich die Handflächen an den Hosenbeinen ab.
Es war nicht mitanzusehen. Wir saßen gebannt da und starrten trotzdem hinüber. Natürlich versuchten die Ibisse sofort wieder hochzufliegen. Aber das ging nicht. Die Schwungfedern waren schon verklebt. Der Bauch war verklebt. Sie kamen in der verdammten Dreckbrühe nicht vorwärts. Sie waren viel zu weit vom Ufer. Dann begannen sie die Hälse zu drehen und versuchten sich das Gefieder zu putzen. Und nun hatten sie das Öl auch am Schnabel, am Kopf. Da gerieten sie in Panik und schlugen mit ihren großen Flügeln auf das Öl. Wir konnten es hören. Und bespritzten sich nur noch mehr damit. Es war ja kein veröltes Wasser. Es war reines Rohöl. Sie trieben im Kreis auf dem Ölteppich. Dann konnten wir sie hören. Ibisse geben normalerweise keine Geräusche von sich. Aber jetzt reckten sie die Hälse weit nach oben und die gebogenen Schnäbel zum Himmel empor wie Versinkende und krächzten. Sie begannen langsam zu ersticken. Es ging entsetzlich schnell, bis das Gefieder so verklebt war, dass die Haut nicht mehr atmen konnte. Ich saß oben auf meinem Bradley und sah zu, in die Sonne hinein, wie die sieben Ibisse die Hälse reckten und die Schnäbel nach oben hielten, und wie die Schnäbel sich öffneten, als bettelten sie die Sonne an. Um uns herum nur Wüste und irgendwo am Horizont Hochspannungsleitungen und Rauchwolken und unter uns die sterbenden Vögel in dem Ölteich. Je schwächer sie wurden, desto höher reckten sie die Hälse und desto weiter öffneten sich die Schnäbel. Dann kam über Funk unser Abmarschbefehl. Wir mussten nach Süden zum Flugfeld von Jalibah. Ich habe zweien meiner Männer befohlen, sie abzuschießen. Wir sind die hundert Meter zu Fuß runter, und die Männer haben sich an den Rand des Ölteichs gestellt und die armen Biester erschossen.
Hélène saß am offenen Fenster und erinnerte sich an Cotes Erzählung von den Vögeln und an sein langes Schweigen danach und wie er sich schließlich erhoben und gesagt hatte, er müsse zu seinem Analysetermin bei Dr. Mehran, und dann dachte sie an den Tonfall, in dem er bloody mess gesagt hatte.
Es wurde langsam Tag, die Autos, die an der Ampel warteten, hatten bereits zum großen Teil die Scheinwerfer ausgeschaltet. Die Rinnsteine wurden geflutet, und ein grauhaariger Schwarzer in der grünen Kluft der Stadtreinigung platzierte seine dämmenden Stoffetzen hinter dem Gullydeckel, aus dem das Wasser quoll, und folgte dann mit langsamen Besenstrichen dem Wasserlauf den Bordstein entlang, unter ihrem Fenster vorbei hinauf in Richtung Rue de Charonne. Sie fühlte sich ebenso hohl und leer wie der Morgen und entschloss sich dann Kaffee aufzusetzen.
Während der Kessel auf der Gasflamme stand, schlüpfte sie mit bloßen Füßen in die marokkanischen bestickten Mules mit den Schnabelspitzen, die ihr als Hausschuhe dienten, und ging die Treppe hinunter, aus der Haustür und nebenan in die duftende Höhle der Bäckerei, um Croissants zu kaufen. Als sie wieder oben war und der Kaffee fertig, schlief ihr Mann noch immer.
Nach diesem erneuten Fehlschlag änderte sich einiges. Hélènes Mann buchte noch für die letzten Oktobertage eine Reise nach Prag. Er hatte eine Ferienwohnung in einem Viertel gemietet, das vom die Stadt überrennenden Tourismus noch nicht betroffen war, in den Weinbergen in der Nähe des Fernsehturms. Es gab dort eine amerikanische Buchhandlung mit Teestube, und verschiedene Wege führten hinunter in die Altstadt. Von dem durch Žižkov, der der kürzeste war, hatte ihnen der Vermieter, ein polyglotter Tscheche, abgeraten, dort seien unter dem Kommunismus die Zigeuner aus der Slowakei angesiedelt worden, die das ganze Viertel zu einer Kloake machten und zu einer gefährlichen noch dazu.
Aber wenn sie durch Žižkov hinuntergingen, sahen sie nie irgendetwas Auffälliges und wurden auch nie Opfer irgendeiner Aggression oder auch nur eines Taschendiebes, vor denen man sich auf der Karlsbrücke im Menschengewimmel oder auf dem Krönungsweg viel mehr zu hüten hatte. Um die Brücke wenigstens einmal ungestört zu erleben, stellten sie sich einen Morgen den Wecker früh und waren vor Sonnenaufgang dort. Vom Ufer betrachtet, sah sie aus wie ein Scherenschnitt oder wie eine Szene aus der Laterna magica. Erste Souvenirhändler und Maler bauten ihre Stände auf.
Es war sogar in Žižkov, wo sie ein preiswertes und gutes Restaurant fanden. Dort glich die Wahl der Gerichte einer Lotterie, da die Speisekarte nur auf Tschechisch vorlag und auch die Serviererin keine andere Sprache beherrschte. Nach Mitternacht traten regelmäßig Jazzmusiker auf, und unter Jazzliebhabern schien die Kneipe bekannt zu sein, denn gegen zehn füllte sich der Gastraum mit Menschen, die nicht mehr zum Essen hierherkamen, sondern bei einem Bier auf den Beginn des Jams warteten.
Hélène und ihr Mann waren verunsichert, was sich darin äußerte, dass er sehr zuvorkommend zu ihr war, fast so wie zu einer Kranken oder Rekonvaleszentin, die noch nicht über genügend Kräfte verfügt, weite Wege zu gehen oder Türen selbst zu öffnen. Hélènes Zuversicht, ihre Gewissheit, dass die Behandlung im amerikanischen Hospital früher oder später, aber mit absoluter Sicherheit, Erfolg haben werde, war nicht zerstört, aber erschüttert. Es war beiden plötzlich bewusst, dass der Ausgang ihrer Bemühungen völlig offen war, dass es kein Lebensgesetz gab, das ans Ende ihrer Anstrengungen und der akribischen Befolgung aller ihnen gegebenen Anweisungen zur Belohnung auch automatisch die Geburt eines Kindes stellte.
Aber nicht nur ging ihr Mann behutsamer mit ihr um, so wie mit einem zerbrechlichen Kleinod, das der Besitzer, aus Angst, es zu zerstören, trotz seiner Schönheit gar nicht mehr aus seinem samtüberzogenen Kästchen holt, es kam auch öfter als zuvor zu Streitereien zwischen ihnen, die meistens damit begannen, dass er ihr anlässlich irgendeines banalen Vorfalls Vorwürfe machte, nicht positiv genug zu denken, nicht selbstsicher genug zu wollen, zu fatalistisch, zu defätistisch, zu willenlos zu sein - er selbst neigte wieder, wie vor dem Beginn ihrer IVF und trotz der damaligen Niederlage dazu, an die alle Realitäten bezwingende Kraft des Willens zu glauben.
Zweimal zu scheitern war immer noch vollkommen normal, und es gab keinen Grund, Hoffnung und Zuversicht aufzugeben, aber eine leise Anspannung entwickelte sich, und Hélène, die jetzt fast zwei Jahre lang die seltsame Erfahrung machte, in ihrem Körper Veränderungen zu spüren, die von außen bewirkt wurden - sie fühlte Ausdehnungen und Verkrampfungen, sie fühlte die Schwellung der Eierstöcke, sie fühlte die Sekretionen und Hormone in ihrem Innern, auf ihrer Haut, in ihrer Seele agieren -, Hélène begann sich als ein Gefäß zu sehen, in dem alle möglichen chemischen Reaktionen herbeigeführt werden und das ab und zu ausgewaschen werden muss, um für neue Experimente bereit zu sein.
Natürlich bestand Gesprächsbedarf. Anne-Laure empfing sie wie alte Bekannte, und auch Le Goffs Sprechzimmer mit den Seglerfotos, die ihm eine bretonisch-heimelige Atmosphäre verliehen, kam ihnen wie die Wohnung eines alten Freundes vor. Hélènes Mann bat gleich nach der einführenden Unterhaltung um eine schonungslose Analyse und eine ehrliche Einschätzung ihrer Chancen angesichts der zwei nach so vielversprechendem Beginn überraschend abgebrochenen Schwangerschaften. Le Goff, den weißen Kittel, in dessen Brusttasche mehrere Einwegkugelschreiber und ein Montblanc-Füller steckten, wie üblich geöffnet, darunter trug er ein feingestreiftes graues Hemd und eine dunkelrote Seidenkrawatte, lauschte melancholisch lächelnd, so wie sie ihn kannten, faltete dann die Hände und erklärte, es sei normal, zwei Fehlschläge zu erleiden. Bei manchen Paaren klappte es das erste Mal, bei anderen das dritte, vierte, fünfte Mal, bei anderen klappte es nie.
Es gibt keine Regel, nur Einzelfälle, und das Beste und Einzige, was Sie tun können, ist, soweit es geht, entspannt zu bleiben und Ihre Zuversicht zu behalten. Ein gescheiterter Versuch macht einen Erfolg beim nächsten Mal nicht unwahrscheinlicher. Sie fangen jedes Mal wieder bei null an, mit allen Chancen.
Dann aber erklärte er, er wolle angesichts des parallelen Verlaufs der beiden gescheiterten Protokolle einige weitere Untersuchungen durchführen. Die Morphologie der befruchteten Eizellen habe keine sichtbaren Probleme aufgezeigt, die auf eine Entwicklungsstörung schließen ließen. Er habe auch darüber nachgedacht, beim nächsten Versuch (er blickte auf und lächelte ihnen über den Goldrand seiner Brille hinweg zu: Es gibt doch einen nächsten Versuch?!) den Transfer erst im Blastozystenstadium, also am fünften oder sechsten Tag nach der Punktion, zu machen, um die Eizellenentwicklung länger beobachten zu können, und weil die Gebärmutterschleimhaut zu diesem späteren Zeitpunkt optimal auf die Aufnahme des Embryos vorbereitet sei. Aber das behalte er sich noch vor.
Erschrecken Sie jetzt nicht, was ich Ihnen sage, sind pure Spekulationen ohne große Wahrscheinlichkeit, und es ist nur, um uns nicht vorwerfen zu müssen, wir hätten irgendeinen noch so unwahrscheinlichen Weg nicht beschritten. Ich möchte also eine Genetik mit Ihnen machen, eine Blutuntersuchung auf Ihre Chromosomen. Es gibt zum Beispiel Mutationen in den Gerinnungsfaktoren V und II, dem Prothrombin, die zu einem erhöhten Risiko für Thrombosen und Embolien führen und ein Grund für Aborte sein können.
Ob man dagegen etwas tun könne, falls es sich so verhalte.
Wenn, dann kann man mit einer antikoagulativen Behandlung einer Fehlgeburt vorbeugen. Dann gibt es noch einen weiteren Faktor, der für häufige Aborte prädisponiert, das sind Mutationen im Gen der Methylentetrahydrofolat-Reduktase, das ist ein Enzym, das den Folatstoffwechsel reguliert. Auch so ein niedriger Folatspiegel kann etwas mit einer erhöhten Fehlgeburtsrate zu tun haben. Und lässt sich, kam er ihrer Frage zuvor, mit Dosen von Folsäure behandeln. Dann werden wir noch eine immunologische Untersuchung durchführen, um sicherzustellen, dass Sie keine Autoantikörper gegen Phospholipide bilden, und eine Hysteroskopie machen, aber damit warten wir bis Anfang des Jahres, damit Sie ein bisschen Ruhe vor uns bekommen. Machen Sie was Schönes zu zweit!
Betäubt von all den Fachausdrücken und unsicher, ob die Konsultation mehr zum Bangen oder zum Hoffen Anlass gab, verließen Hélène und ihr Mann das amerikanische Hospital.
Wie um Le Goffs Ermunterung umzusetzen, fuhren sie Anfang März auf ein langes Wochenende nach Montigny am Loing und kehrten zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in der Auberge de la Vanne Rouge ein. Das Wasser am Wehr rauschte noch immer vor dem offenen Fenster in der Nacht, aber es regnete häufig, der Papagei war verstorben, und das Haus hatte einen neuen Koch, der nicht so gut war wie der alte oder keinen guten Tag erwischt hatte. Sie saßen abends im Kaminzimmer vor dem Fernseher und sahen der Kinopreisverleihung zu, und der Preis für den besten Film des Jahres ging an Wilde Nächte, das höchst verstörende Werk eines homosexuellen und aidskranken Regisseurs und Hauptdarstellers, dessen Tage gezählt waren und der in seinem Film das Leben als ein Abbrennen der Kerze von beiden Seiten feierte, als ein frenetisches Verhöhnen aller bürgerlichen Konventionen und Sehnsüchte, sodass sie, erinnerte Hélène sich, als sie den Film ein halbes Jahr vorher im Kino gesehen hatten, den Saal in gedämpfter Stimmung verlassen und ihr Leben den ganzen Nachhauseweg und den Rest des Abends über für langweilig und verlogen gehalten hatten, ohne es sich oder dem anderen eingestehen zu wollen.
Ende April feierten sie in der kleinen Eisenbahnerwohnung in der Rue des Batignolles den achtzigsten Geburtstag von Hélènes Großmutter mit einem mehrstündigen Mittagessen, das direkt in eine Kaffeetafel überging, zu der auch Lucette, die übergewichtige und streng riechende Concierge des Hauses geladen war, für die die Treppe in den dritten Stock hinauf einen Kreuzweg darstellte, den sie nur dank der Aussicht auf ein Gigot mit weißen, von ihr péteuses genannten Bohnen und mehrere Stücke Torte auf sich nahm.
Nach dem schweren Essen erhoben sich alle von dem mit Gien-Porzellan vollgestellten Eichentisch, der den größten Teil des kleinen Wohnzimmers einnahm, und schoben sich hintereinander an der Fenster- und der Büfettseite um ihn herum zur Tür hinaus. Um sich die Beine zu vertreten und weil es Fliederzeit war, hatten sie Hélènes Großmutter einen Ausflug nach dem Bois de Boulogne versprochen. Sie wollten jenseits der Rennbahn von Auteuil einen Spaziergang durch den Jardin de Bagatelle unternehmen.
Hélène ging langsam, ihre Großmutter untergehakt, über die Kieswege, während die anderen, ein wenig voraus oder zurückbleibend, ein anderes Tempo anschlugen. Beim Anblick des blühenden und duftenden Fliedermassivs hinter dem und oberhalb des Rosengartens, den es als undurchdringliche, fünf Meter hohe Hecke zu zwei Seiten abschloss, traten der alten Frau Tränen in die Augen, und sie bedankte sich bei ihrer Enkelin.
Mehr als dreißig Jahre war ich nicht mehr hier! Zuletzt mit meinem armen Gus, da haben wir dich im Kinderwagen hier durchgeschoben. Wie schön ist es hier doch! Sie schneuzte sich in ein Stofftaschentuch und wiederholte im Weiterhumpeln, schwer und leicht zugleich an Hélènes Arm: Wie wunderschön ist es hier!
Es schien eine flache Frühlingssonne, und eine milde Brise verbreitete den Duft der nickenden, schweren Blütendolden, die in allen Farben von Weiß über Blassviolett bis hin zu dunklem, fast purpurnem Lila leuchteten, über den ganzen Rosengarten.
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