David Cote war sehr viel besserer Dinge, als Hélène ihn Anfang August im amerikanischen Hospital wiedersah. Sie selbst war glücklich, ihn zu sehen, und dass er seine Uniform trug, störte sie nicht mehr. Sie begrüßten einander, und der Amerikaner machte kein Hehl aus seiner Freude über die Begegnung.
Auch wenn das ja wohl heißt, dass es bislang noch nicht geklappt hat. Aber Sie müssen es schaffen, und Sie werden es schaffen.
Hélène nickte. Und wie geht es Ihnen?
Sehr viel besser, danke. Wie lange haben Sie Zeit? Es gibt so viel zu erzählen.
Hélène lächelte. Den ganzen Nachmittag und Abend. Ich bleibe über Nacht.
Ich habe den Tag auch frei, sagte der Amerikaner. Ich komme noch einmal die Woche zur Analyse. Sie erinnern sich doch an Dr. Mehran. Ich nenne ihn The shrink of Araby, was ihn ärgert, da er Perser ist. Aber wenn man seinen Psychoanalytiker nicht ärgern darf, wen dann?, frage ich Sie.
Offenbar zu Scherzen aufgelegt, kam er auch noch einmal auf seine Uniform zurück und erinnerte Hélène daran, dass sie gesagt habe, ihr Land führe keine Kriege mehr. Und jetzt haben Sie viertausend Mann in Bosnien stehen.
Als neutrale UNO-Schutztruppe, widersprach Hélène.
Dabei wird es nicht bleiben, prophezeite der Amerikaner wieder ernst. Das ist ein schmutziger Krieg da drüben, und wir werden nicht lange einfach zwischen den Fronten stehen können und mit Palmzweigen wedeln. So funktionieren Kriege nicht.
Und wie funktionieren Kriege?, fragte Hélène.
Sie fangen an mit Angstschweiß, sagte der Amerikaner. Er erinnerte sich an den Morgen des 24. Februar, als die Marschorder für die 11. Armee kam. Das Wetter war schlecht. Sandstürme wechselten sich ab mit Regengüssen, sodass jedes Sichtfenster auf den Panzern, jedes Brillenglas binnen Minuten von einer dicken, schmierigen Dreckschicht bedeckt war. Der Rauch brennender Ölfelder verdunkelte den Himmel, auch nachdem die Sandstürme zur Ruhe gekommen waren und der Regen nachließ, und schuf eine unnatürliche und unheilvolle Dämmerung am hellichten Vormittag. Die Stimmung in der Division war extrem angespannt nach der kurzen Rede, die der Kommandant am Vorabend gehalten hatte.
Wissen Sie, sagte Cote zu Hélène, unser Kommandant, Big B, ist ein außergewöhnlicher Soldat. Ein Soldat für Soldaten. Einer, der absolute Loyalität einfordert und zugleich auf seine Männer achtet wie ein Schäfer auf seine Schafe. Wir waren alle stolz, unter seinem Kommando zu stehen. Und nicht nur stolz, wir fühlten uns auch - wie soll ich sagen? - behütet. Ich erinnere mich, was er sagte. Das wird kein Sonntagsspaziergang, sagte er. Diese Typen haben die viertgrößte Armee der Welt. Die werden nicht einfach zur Seite treten, wenn wir kommen. Und dann sagte er, dass wir in der ersten Woche voraussichtlich zehn Prozent Verluste haben würden. Die Divisionen waren alle überbelegt, weil ARCENT bis zu einem Drittel Verluste einkalkuliert hatte. Das heißt, du siehst nach links, du siehst nach rechts und weißt, einen von euch dreien wird es erwischen. Big B stand da unter seinem Zelt und sagte: Wenn Sie durch ein Dorf fahren, und jemand wirft einen Stein auf Sie, erschießen Sie ihn. Wenn jemand auf Sie schießt, halten Sie mit dem Panzerrohr drauf. Wenn die Kerle irgendein größeres Kaliber benutzen, fordern Sie Artillerieunterstützung an. So einfach ist das. Sie gehorchen den Regeln der Kriegsführung, aber Sie schützen sich zuerst selbst.
Und in diesem Geist und unter dieser Anspannung sind wir dann in die Wüste hineingerollt, nach Norden, in Richtung Euphrattal.
Wir sind also losgerollt mit dieser Angst in der Magengrube und dem Adrenalin und den Finger am Abzug. Schießen, auf alles schießen, was sich bewegt, als Erster schießen, die Araber abschießen, damit sie uns nicht abschießen. Und dass diese aus der Angst kommende Aggressivität letztlich kein Ventil fand, weil die Iraker kaum gekämpft haben, das hat, meint Mehran, das Schuldgefühl bei mir bewirkt, das meine ganzen Beschwerden verursacht. Wissen Sie, spätestens ab dem dritten Tag fürchteten wir uns mehr vor dem fehlgeleiteten Feuer der eigenen Leute als vor dem Feind. Es gab einen gemeinen Witz, der durch die ganze Division lief, und der ging so: Irak ist ein erstaunlich patriotisches Land. Jeder wedelt andauernd mit der Landesflagge herum, die ganz in Weiß gehalten ist.
Schuldgefühle, weil Sie nicht genügend Iraker getötet haben?, fragte Hélène ungläubig.
Ja, meinem Vater gegenüber. Das ist zumindest Mehrans These, und ich will ihm gerne glauben. Wir haben ja weniger über den Krieg geredet als über meine Kindheit und Jugend. Und über seine. Wenn er also meine Biographie schreiben könnte, dann ich auch seine. Er redet fast mehr als ich. Es hat trotz allem etwas Unangenehmes, fremden Leuten, die keine Priester sind, aus dem eigenen Leben zu erzählen.
Er machte eine Pause und fingerte sich eine Zigarette aus der Brusttasche seiner Jacke. Er hatte jetzt selbst welche.
Und, wird Ihnen der Park langsam zu eng?, fragte Hélène.
Cote zwinkerte. Er ist noch immer eine ganz gute Rückzugsbasis.
Mehrans Theorie war die fehlende Katharsis nach all der Angst und Anspannung. Es hatte keine wirkliche Schlacht, keinen echten Kampf gegeben, um sie zu lösen.
Wissen Sie, wir fühlten uns gewissermaßen betrogen und schuldig zugleich. Ich hätte gewünscht, die Iraker hätten sich irgendwie als würdigere Gegner erwiesen. Sie haben keine Schlacht verloren, sie sind vor uns davongelaufen. Wir haben einen großen Sieg errungen, aber ohne große Opfer. Und das Opfer, sagt Mehran, ist das Lebensblut der Freiheit, der Preis aller Glorie, die Natur des Soldatendaseins.
Ihr Analytiker meint also, Sie seien frustriert darüber gewesen, dass Sie nicht genügend Tote und Verletzte hatten?
Die Ohren des Amerikaners röteten sich ein wenig, es war ihm peinlich, an die psychischen Entblößungen der Sitzungen zurückzudenken.
Mehran hat diese Frustration in Verbindung gebracht mit einem Schuldgefühl aus der Kindheit. Er hat mir diese Abschiedsszenen ins Gedächtnis zurückgerufen, als mein Vater nach Vietnam musste. Ich war damals ja noch klein und habe nicht viel verstanden, aber die Beklemmung jener Abschiede gespürt. Und dann wohl des Öfteren als der Ältere das Gefühl gehabt, ich müsse in seiner Abwesenheit die Familie beschützen, habe mich zugleich aber auch vor der Verantwortung gedrückt und in mir selbst verkrochen. Dass ich dann selbst Soldat geworden bin, erklärt sich Mehran als Kompensation, als den späten und permanenten Wunsch nach Wiedergutmachung. Und als ich endlich in einem Krieg die Chance habe, zwanzig Jahre später, diese Schuld, wenn Sie so wollen, abzutragen, da ist es ein Krieg, der nicht auf der Höhe ist, ein Krieg ohne Glorie. Trotz Bronze Star und Valor Device. Und das hängt mir nach.
Hélène sah wieder etwas von der Traurigkeit, die sie am Anfang wahrgenommen hatte, in seinen Augen, traute sich aber nicht, gegen diese Interpretation zu argumentieren. Sie war keine Ärztin.
Cote spürte ihr Zögern und fügte hinzu: Wissen Sie, die Hauptsache ist, ich funktioniere wieder, ich habe die Sache im Griff. Letztendlich ist es mir egal, ob es die Tabletten sind oder die Analyse oder eine Mischung aus beidem. Wichtig ist, dass ich kein Wrack mehr bin, das seine Zeit, das sein Leben in Krankenhäusern verbringt.
War es denn so in Ihrer Kindheit, wenn Ihr Vater fortgegangen ist?, fragte Hélène.
Wir sind danach immer in die Kirche. Cote schloss die Augen, um sich zu erinnern. Unsere Kirche, Notre-Dame-des-Canadiens, sie hat übrigens etwas von einer Moschee. Ein riesiger, in fünf zurückweichende Säulen unterteilter Rundbogen über dem Portal, fast so hoch wie das Gebäude selbst, darin eine Rosette, und links und rechts ein Türmchen, dünn wie Minarette und irgendwie byzantinisch. Davor, rechts, die Gottesmutter, goldglänzend. Notre Dame, priez pour nous. Es stimmt schon, dass ich das Gefühl hatte, ihm nie genügen zu können. Wir wohnten im West End, und wenn uns etwas das Recht gab, dort zwischen all den Stoddards und Fletchers zu wohnen und St. Johns zu besuchen, dann waren das die militärischen Ehren meines Vaters und meines Großvaters. Und ich habe lieber gelesen und bin mit meiner Großmutter in den Wald.
Und haben heimlich Elizabeth Bishop gelauscht …
Ja, aber da wusste ich bereits, dass ich Soldat werden würde. Andernfalls hätte ich mich nie getraut. Verstehen Sie, als zukünftiger Soldat …
Ja, ich verstehe, sagte Hélène.
Sie haben wieder dasselbe Kleid an wie das erste Mal, als wir uns gesehen haben, sagte der Amerikaner.
Hélène sah schuldbewusst an sich herunter. Sie hätte sich nicht mehr erinnert, hätte sie nicht die handgestopfte Naht auf ihren Rippen gespürt. Es missfiel ihr, dass sie dasselbe Kleid wie vor zwei Jahren trug.
Mir gehen die armen Vögel nicht aus dem Kopf, von denen Sie erzählt haben, sagte sie. Die Ibisse …
Er schwieg.
Sie müssen - ich meine, auch wenn Sie sagen, die Iraker hätten kaum gekämpft - viele solcher schrecklichen Sachen gesehen haben …
Er sagte nichts, rauchte. Schließlich: Ich habe vieles vergessen, zum Glück.
Im Fernsehen sah es aus wie ein Computerspiel. Die Bomben, die Rauchwölkchen über der Wüste, die mit grünen und roten Leuchtkreisen eingerahmten Ziele … Ich habe nie geglaubt, dass ein Krieg wirklich so aussieht.
Am zweiten Tag, irgendwo in der Wüste, hatten wir unsere erste Feindberührung, sagte Cote langsam. Widerwillig tauchte er in die Erinnerung hinab und versuchte sich zunächst in die Atmosphäre zurückzuversetzen, in die Gerüche, Geräusche, Bilder. Der Lärm im Bradley, der Gestank nach Diesel und Schmieröl, die brutale Hitze, die ewig knarzenden Funk- und GPS-Geräte, der saure Schweiß.
Ich war ganz vorne. Als Captain war ich verantwortlich für eine Kompanie, hundertzehn Mann, dreizehn Bradleys, zwei Scout-Platoons. Das vorderste meldet Feindkontakt. Das übliche Bild: Hochspannungsleitungen quer durch die Wüste, Pisten, kleine befestigte Straßen, die kubusförmigen, einstöckigen Baracken aus zugemauertem Betongerippe, mit den Armierungsdrähten, die oben auf dem Flachdach aus den Pfeilern ragen. Selbstgebastelte Stromanschlüsse, Rattenkönige von Drähten, Leitungen, Kabeln. Kurze Schatten. Wir eröffneten das Feuer auf das vorderste Haus. Die Wand explodiert. Einige staubbedeckte Iraker rennen raus. Wir haben sie mit der MP abgeschossen. Dann kamen weitere mit einer weißen Fahne, die wir entwaffnen und gefangen nehmen wollten. Du mein Gott. Es waren Kinder und alte Männer. Zerlumpte Uniformen. Uralte Waffen. Wenn das die viertstärkste Armee der Welt sein soll …
Er schüttelte den Kopf.
Er blickte auf und sah Hélène an: Ich beaufsichtige das Ganze und sehe einen der alten Männer, der fragt: Sind wir jetzt Kriegsgefangene? Allah sei Dank …
Er schüttelte wieder den Kopf. Keine fünf Meilen weiter meldet mein Scout-Platoon ein weiteres Zielobjekt. Ein gutes Dutzend Männer im Schatten eines zerschossenen Militärlastwagens. Mein Leutnant lässt das Feuer eröffnen, aber sie schießen nicht zurück. Sie schießen nicht zurück, aber sie flüchten auch nicht. Sie bleiben einfach da liegen, flach auf der Erde, man konnte es durchs Fernglas sehen. Mein Leutnant fragt an, ob er sie plattmachen soll, drüberfahren soll. Ich sage Nein. Wir stellten das Feuer ein und fuhren bis dorthin. Hélène, es war -.
Er unterbrach sich und steckte sich kopfschüttelnd eine Zigarette an. Es tut nicht gut, davon zu erzählen. Es tut niemandem gut. Lassen Sie uns wieder über Gedichte sprechen.
Was war?, fragte Hélène.
Ein Dutzend Jungs. Sie lagen ganz flach da, auf dem welligen Boden, deshalb hatten die meisten überlebt. Der ausgebrannte Mannschaftstransporter rauchte noch. Sie rührten sich einfach nicht. Als ich direkt über ihnen stand und roch, dass sie sich in die Hosen geschissen hatten, verstand ich nichts. Erst als einer begann wegzukriechen. Ich sah zuerst nur die Augen, die schreckgeweiteten Kinderaugen, nur Weiß. Hélène, das waren Vierzehnjährige. Dann erst sah ich, dass sie keine Stiefel trugen. Sie waren alle barfuß. Und dann sah ich, wie unnatürlich geschwollen die Füße waren. Hinten an der Ferse, am Knöchel. Alle diese Jungs lagen da, alle ohne Stiefel und alle mit diesen geschwollenen Fersen, manche blutverkrustet. Unser Arzt kniet sich nieder, und dann spuckt er aus und steht auf und sagt mir: Sie haben ihnen die Achillessehnen durchgeschnitten. Einer konnte ein paar Brocken Englisch und sagte, es seien ihre Vorgesetzten gewesen von der Nationalgarde. Sie hatten ihnen die Achillessehnen durchgeschnitten, damit sie nicht desertieren, nicht fliehen konnten, ihnen ein paar Karabiner in die Hand gedrückt und sie dort zurückgelassen. Da lagen sie, ein Dutzend Jungs, ausgesetzt in der Wüste, und hatten nicht einmal ein sauberes Unterhemd, das sie hätten schwenken können. Keiner dachte daran fortzukriechen, als sie uns sahen. Nur der eine, als wir schon über ihm standen. Er zog sich mit den Fingernägeln über die Erde, aus Angst, wir würden ihn umbringen.
Hélène legte die Hand auf seinen Unterarm. Und das alles vor den Toren des Gartens Eden.
Nicht direkt. Eden lag zu dem Zeitpunkt noch hundert Meilen östlich. Wir erreichten das Euphrattal in der Nacht, einen Tag schneller, als ARCENT geplant hatte. Die größte Kavallerieattacke seit den Indianerkriegen, nannte das irgendwer im Stab, vielleicht sogar Big B selbst.
Ich weiß nicht, ob ich noch mehr hören will, sagte Hélène.
Er sah sie an und schien zu erwachen. Nein, das wollen Sie nicht, und ich bin ein verdammter Idiot, dass ich Ihnen, gerade Ihnen, diese widerlichen Geschichten erzähle, anstatt -. Er unterbrach sich und fügte dann hinzu: Ja, aber das waren die Bilder der ersten zwei Tage, diese kriechenden Kinder mit durchschnittenen Sehnen und diese langsam sterbenden Vögel … Ich habe das noch nie erzählt.
Auch nicht Ihrem Analytiker?, fragte Hélène verblüfft.
Cote schüttelte den Kopf. Nein, den interessiert mehr meine Jugend in Worcester. Krieg kenne ich selbst, Captain Cote, hat er mir gesagt. Der Krieg ist immer entsetzlich, darüber müssen Sie mir nichts erzählen. Was interessant ist, das ist, was vorher war. Mit welchen Dispositionen kommt man in so einen Krieg?
Hélène dachte an ihren Vater. Sie glaubte nicht, dass er mit irgendwelchen Dispositionen nach Algerien gegangen war, die erklärten, dass er nach dieser Zeit trank und seinen Lebensmut verloren hatte. Sie glaubte, dass es das war, was immer er dort gesehen, getan und erlebt hatte, was ihm einen Knacks versetzte. Er hatte nie von Algerien erzählt.
Woran denken Sie?, fragte der Amerikaner.
An meinen Vater, sagte Hélène. Und dass er nie über seine Kriegserfahrungen gesprochen hat.
Er wird schon gewusst haben warum. Das sind nicht Geschichten, die man Kindern erzählen kann. Man kann sie eigentlich überhaupt niemandem erzählen. Außer denen, die dabei waren, und denen auch nicht, denn sie kennen sie selbst. Das erklärt, warum Soldaten einsame Menschen sind und ihr Leben lang nicht mehr loskommen von der Armee.
Ich habe nichts dagegen, dass Sie mir davon erzählen, wenn Sie mögen, sagte Hélène. Es macht mir nichts aus, wenn es nicht zu viel Unerträgliches auf einmal ist.
Der Amerikaner sah sie an. Ja, ich habe auch den Eindruck, dass Sie eine ungewöhnliche Befähigung zum Zuhören haben. Wo stecken Sie das alles hin, damit es Sie nicht kaputtmacht?
Hélène zuckte die Achseln. Ich habe es Ihnen doch schon gesagt. Ich habe mein Antidot. Ich glaube ans Leben. An die Sonne, die Natur, die Tiere und nicht zuletzt die Menschen. An den Kreislauf, der alles weitergehen und wieder neu werden lässt. Ich habe Vertrauen …
Ja, sagte der Amerikaner schlicht.
Sie schwiegen eine Weile, dann setzte er hinzu: Trotzdem belaste ich Sie zu viel mit meinen Problemen. Ich möchte nicht alles bei Ihnen abladen wie bei -. Es fiel ihm kein passender Vergleich ein, und er schwieg.
Ende des Jahres, sagte er nach einer Weile, läuft meine MPEP-Zeit hier ab, und ich werde zurückgehen müssen.
Hélène griff nach einer der Zigaretten Cotes, die neben ihr auf der Bank lagen. Sie fixierten das teure Apartmenthaus mit den dunkelbraunen Rauchglas-Balkonverkleidungen hinter den Bäumen.
Wo ist denn Ihr Zurück?, fragte sie, durch den Rauch hindurchblickend.
Zunächst einmal Fort Leavenworth, das Command and General Staff College. Ich werde voraussichtlich zum Major befördert. Es wurde aber auch Zeit. Ich bin Soldat seit zwölf Jahren.
Für wie lange haben Sie sich eigentlich verpflichtet?
Wenn ich volle zwanzig Jahre mache, dann habe ich auch volle Pensionsansprüche. Das lohnt sich. Früher aufzuhören, das kostet eine Menge Geld.
Und wenn Sie aufhören würden?
Er sah sie an. Was wären denn die Alternativen? Literatur lehren an irgendeiner Highschool oder einem kleinen College? Wenn mich überhaupt ein College nähme … Und außerdem …
Außerdem?
Seit ich … seit ich nicht mehr verheiratet bin, ist die Armee sowieso meine, meine Heimat.
Hélène sah ihn an. Was sagt die Armee eigentlich zu Ihrer Krankheit?
Er blickte auf und sah sie kalt an, öffnete den Mund, besann sich dann aber eines Besseren und sagte: Sie versucht sie, so gut es geht, zu ignorieren. Es ist so etwas wie ein peinlicher Vorfall in der Familie. Jeder bemüht sich, ihn nicht zu erwähnen oder drumherum zu reden oder vorsichtige Scherze zu machen. Ich auch. Ich benutze auch im Gespräch oder in meinen Rapporten nie das Wort Krankheit, sondern Beschwerden. Und nur das Wort Arzt. Höchstens einmal das Wort Psychologe. Aber nie Analytiker.
Das wäre zu peinlich?
Mir wäre das zu peinlich. Wissen Sie, sie erkennen es ja implizit an, indem sie die Kosten tragen, und die müssen gewaltig sein. Das heißt, jeder weiß, dass es existiert, jeder weiß, dass einige Soldaten battle fatigued oder shell shocked sind, und diejenigen, die noch im Dienst sind und ausfallen, werden auch behandelt. Ohne viele Worte darum zu machen. Aber es ist nicht so, dass die Armee das an die große Glocke hängt und einen Aufruf an alle ihre Veteranen richtet, sich doch bitte zu melden, wenn sie Albträume haben.
Haben Sie denn noch Albträume?
Sein Lachen ging in ein Husten über. Er räusperte sich und sagte: Nur noch einen, aber der bleibt mir treu. Kommt immer mal wieder.
Er überlegte, ob er davon erzählen sollte. Erzählt hörte es sich womöglich lächerlich an. Es war jedes Mal eigentlich nur ein Donnerschlag, der ihn aus dem Schlaf riss, allerdings ein infernalischer Donnerschlag, eine brutale, erschütternde Attacke von Lärm, von explodierendem Brüllen, aus einem Rachen kommend, das war der Eindruck. Er erschrak jedes Mal gleichsam zu Tode, der Puls raste, und über den gesamten Körper jagten Gänsehautschauer, die eine ganze Zeit lang, auch als er schon wach und aufrecht im Bett saß, nicht nachließen. Sie kamen von dem entsetzlichen Eindruck einer Berührung im Moment des Donners. Zwei Dinge nur enthielt dieser Traum, keine Bilder, keine Handlung, keine Fratze, nur den Donnerschlag und die Berührung, die die Gänsehaut verursachte. Sprachloses Entsetzen.
Ich träume, dass mich der Teufel holt. Oder beinahe holt. Eine Art Vorgeschmack auf die ewige Verdammnis … Er grinste schief.
Hélène wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.
Werden Sie denn … wieder zurechtkommen zu Hause?, fragte sie schließlich.
Ich werde mich zusammenreißen. Aber ich bleibe nicht lange, ich sehe zu, dass ich wieder hierherkomme.
Ach …, sagte Hélène. Wie denn?
Irgendetwas werden sie schon für mich haben. Vielleicht an der Botschaft …
Hélène nickte.
So viele haben sie nicht, die die Sprache hier sprechen. Und ich will wieder hierher. Ich habe ja nicht viel gesehen beim ersten Mal …
Dann machen Sie es gut, sagte Hélène.
Wir verabschieden uns immer, als würden wir uns nicht wiedersehen, sagte der Amerikaner. Und dann …
Und dann, antwortete Hélène. Aber nun fahren Sie ja wirklich nach Hause.
Nach Hause, wie Sie das sagen, bemerkte Cote. Und ich habe nicht einmal Ihre Adresse, nicht einmal Ihre Telefonnummer, und wir kennen uns schon seit fast zwei Jahren, wir sind schon seit fast zwei Jahren miteinander befreundet - darf ich das so sagen?
Hélène sah plötzlich müde aus, aber sie lächelte und sagte: Ja, das dürfen Sie so sagen. Unsere Telefonnummer kann ich Ihnen gerne geben. Die ist kein Geheimnis. Sie steht auch im Telefonbuch.
Sie holte einen Zettel und einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche und schrieb ihre Adresse auf. Er steckte sie in die Brusttasche seiner Jacke und knöpfte wieder zu.
Wenn ich wiederkomme, sagte er, dann haben Sie einen runden, kleinen, kräftigen Sohn mit roten Backen. Und als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: Oder ein süßes kleines Mädchen. Oder beides. Kann es bei diesen künstlichen Befruchtungen nicht passieren, dass man Zwillinge bekommt oder sogar Drillinge?
Das kann passieren, sagte Hélène.
Sie werden ein Kind haben, sagte er. Ich weiß es. Und hoffentlich werden Sie es mir dann zeigen.
Hélène nickte lächelnd.
Es muss passieren, und es wird passieren, ganz einfach weil es das ist, wofür wir da sind, sagte er, und als er sah, wie Hélène die Stirn runzelte: Wenn Sie alles andere abziehen, Geld und Besitz und Religion und Kriege und Macht und Reisen, dann haben Sie eine Mutter und ihr Kind, ich kann es nicht richtig ausdrücken, was ich meine, aber es ist etwas Heiliges, und Sie, Hélène, werden hier auch ein Kind bekommen.
Einen Augenblick lang hatte sie den paradoxen Eindruck, er habe sich mit ihrem Mann abgesprochen. Fast dieselben Worte, dieselbe quasireligiöse, insistierende Inbrunst. Einerseits tat es gut, sich von seinen Wünschen und Hoffnungen unterstützt zu fühlen. Zugleich hatte sein Beharren auch etwas Übertriebenes und Lächerliches und etwas von einem Übergriff, einer Anmaßung.
Als sie schon stand, um sich zu verabschieden, sagte er: Ach übrigens, ich habe den Ausflug gemacht.
Welchen Ausflug?, fragte sie perplex.
Den nach Moret-sur-Loing, den Sie mir empfohlen hatten.
Ach ja?, fragte sie verblüfft und zugleich erfreut.
Ja, ich habe eines Tages, als ich vom Regiment einen Fahrer hatte, einfach angeordnet, dort runterzufahren. Es ist ja wirklich nur ein Katzensprung von Fontainebleau aus.
Er erzählte, dass er den Fahrer am Stadttor hatte anhalten lassen und dann durch die Gassen des unscheinbaren Dorfes bis zu jener Kirche gegangen war, die Sisley gemalt hatte, von dort zu der Brücke, die er gemalt hatte, und, da ihm ein Passant dazu geraten hatte, die Ausfallstraße hinunter und dann rechts bis zum Anwesen Clemenceaus. Es war ein ruhiger Tag, und wären die donnernden Lastwagen auf der Ausfallstraße nicht gewesen, hätte man glauben können, es habe sich seit den Zeiten der Impressionisten kaum etwas verändert.
Ich hatte eine Monographie Sisleys mitgenommen, aber das soll man nicht tun. Entweder wirkt dann die Realität banal, oder die Bilder scheinen ungelenk. Es war das erste Mal, dass ich wirklich das Gefühl hatte, in Frankreich zu sein.
Und ging es?, fragte Hélène.
Er verstand, was sie meinte, und antwortete: Ja, es ging so. Vor einem Jahr wäre es noch nicht gegangen.
Es freut mich, wenn es Ihnen gefallen hat.
Er sah sie an. Ich war auch in der Auberge de la Vanne Rouge. Am Wehr. Aber es gibt keinen Papagei mehr, oder er hat sich vor mir versteckt.
Wann waren Sie da?
Warten Sie. Irgendwann Anfang März, glaube ich. Warum?
Wegen der Jahreszeit, sagte sie. Es ist ja in jeder Jahreszeit ein anderer Eindruck.
Ja, es war Vorfrühling. Grüne Spitzen an den Weiden und Pappeln am Ufer des Flusses, sagte er.
Auf dem Rückweg in der Metro am nächsten Tag saß sie auf einem der Klappsitze bei den Türen und blickte auf den Aufkleber mit dem erschreckten Häschen, das davor warnt, sich die Finger in den öffnenden und schließenden Türen einzuklemmen. An jeder Haltestelle sah sie das große Schlussverkaufsplakat von Tati mit dem charakteristischen rosa Pepitamuster als Hintergrund. Sie las die mit blauen Kacheln in die weißen gefügten Namen der Stationen: Wagram, Malesherbes, Saint-Lazare, Quatre-Septembre, Sentier. An der Place de la République stieg sie um in die Linie nach Créteil, und bei sich zu Hause angekommen, betrat sie zunächst den Monoprix an der Ecke des Faubourg und kaufte eine Flasche Chiroubles, Chicorée, Schinken, den Fromage blanc battu, den ihr Mann gerne gezuckert zum Nachtisch aß, und Brot. In der Wohnung fütterte sie die Katzen und wandte sich dann den Stoffen zu, die sie letztens bei Seymoun am Marché Saint-Pierre gekauft hatte. Besonders der seelenvolle Chenillestoff hatte es ihr angetan, aus dem sie einen Patchwork-Quilt machen wollte, aber auch der Posten alter Seidenbrokat, um den sie, obwohl sie noch nicht wusste, wozu sie die kleine, teure Bahn verwenden sollte, eine halbe Stunde lang mit Seymoun gefeilscht hatte.
Sie stellte sich vor, der Amerikaner hätte dort am Wehr gestanden, während sie oben im Hotelzimmer lag. Sie stellte sich vor, dort zu liegen und zu wissen, dass er unten am Ufer stand, nahe dem rauschenden Wasser am Wehr.
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