Bei der ersten Konsultation hatte Dr. Le
Goff ihnen eine Schwangerschafts-Wahrscheinlichkeit von zwanzig bis
fünfundzwanzig Prozent pro Embryo-Transfer in Aussicht gestellt und
hinzugefügt, dass von diesen zwanzig Prozent wiederum zwanzig
Prozent die Schwangerschaft verlieren. Das geschah Hélène.
Zunächst war alles den bestmöglichen Gang gegangen:
In den freigespülten Follikeln waren geeignete Eizellen gefunden,
sodann im Nährmedium mit den gewaschenen Spermien zusammengebracht
worden, und am nächsten Morgen wurde nachgeprüft, wie viele
befruchtet waren. Es waren zwei gewesen. Das hatte Le Goff Hélène
und ihrem Mann mitteilen lassen, bevor sie nach Hause fuhr, ebenso
wie die amüsierte Bemerkung der MTA, ihr sei beim Swim-up
aufgefallen, dass ihr Mann mit einem regelrechten sperme de course,
einem »Rennsperma«, gesegnet sei. Da die befruchteten Eier sich am
zweiten Tag zu Vierzellern entwickelt hatten, fand am frühen Abend
der Transfer statt. Die beiden befruchteten Zellklumpen wurden
Hélène mit dem Katheter eingesetzt, was nur wenige Sekunden
dauerte. Le Goff sagte: Bitte einmal husten. Und dann: Bitte noch
einmal husten. Dann war es geschehen.
Am zweiten und am vierten Tag nach der Punktion
setzte ihr Mann Hélène noch je eine intramuskuläre Injektion
Predalon, dann begann die Wartezeit.
Vierzehn Tage nach der Entnahme fand der erste
Schwangerschaftstest aus dem Blut statt, und da der positiv war,
folgte ein zweiter, um den HCG-Anstieg zu messen. Der HCG-Pegel
verdoppelte sich innerhalb von achtundvierzig Stunden von
einhundertfünfzig auf dreihundert i.u., sodass Hélène nach zwei
weiteren Wochen zur ersten Ultraschalluntersuchung bestellt wurde,
bei der Dr. Le Goff, wie erhofft, die Fruchthöhle und den Embryo
erkennen konnte, beides allerdings auf dem wolkigen grauen
Ultraschallbild unsichtbar für die Augen des Ehepaars.
Le Goff nickte und sagte lächelnd, so weit laufe
alles nach Plan und dass spätestens vier Wochen nach dem
Schwangerschaftstest eine Herzreaktion erkennbar sein müsse.
Zu diesem Termin fuhr Hélène schweigsam, und als
nicht einmal die Scherze ihres Mannes über sein Rennsperma sie
aufheitern konnten, und er sie fragte, was mit ihr sei, antwortete
sie, dass etwas sich anders anfühle und sie nicht sicher sei, ob
die Schwangerschaft noch bestehe.
Diese Befürchtungen wurden von Le Goff bestätigt,
der eine missed abortion diagnostizierte. Die Frucht war
abgestorben, aber im Bauch geblieben, sodass eine Curettage, eine
Ausschabung, notwendig war, um die Gefahr unkontrollierter
Blutungen, eines Blutsturzes zu vermeiden.
Da der Eingriff unter Vollnarkose ausgeführt werden
musste, blieb Hélène über Nacht im Krankenhaus.
Das Ganze war Ende Januar passiert, im Juli hatten
sie den nächsten Termin mit Le Goff, um den Zeitplan für
einen zweiten Versuch aufzustellen und sich die Rezepte für
Decapeptyl und Predalon ausstellen zu lassen.
Es war Pech gewesen, aber kein Grund zu Defätismus,
eine verlorene Schlacht, aber kein verlorener Krieg. Im Grunde
hatte man nicht erwarten können, dass es bereits das erste Mal
klappte, und bei Licht besehen, war die Bilanz eigentlich eher
positiv: Sie bekamen funktionstüchtige Eizellen, sie hatten
Rennsperma zur Hand, die Befruchtung funktionierte, die Entwicklung
in der Gebärmutter ging voran - zumindest am Anfang. Das sei Grund
zur Hoffnung, meinte Le Goff, nun stelle sich die Frage, warum die
Frucht sich ab einem bestimmten Punkt nicht weiterentwickle. Dafür
könne es verschiedene Gründe geben, die werde man eingrenzen, die
entscheidenden herausfinden und versuchen, Gegenmaßnahmen zu
treffen. Ob Hélène es denn noch einmal versuchen wolle, sie wolle
es doch versuchen, oder? Ob er denn davon abrate? Dafür bestehe
kein Grund.
Die Curettage war entsetzlich.
Als Hélène an diesem heißen Hochsommertag an der
Endhaltestelle Pont de Levallois aus dem weißgekachelten
Metroschacht stieg und durch die engen kleinbürgerlichen Sträßchen
ging, wurde ihr bewusst, dass seit ihrem ersten Besuch hier bereits
ein ganzes Jahr vergangen war.
Die von den weißen Fassaden abstrahlende Hitze
staute sich in der Straßenschlucht, bis sie den grün und nobel
prangenden, von mächtigen Platanen und Kastanien gesäumten
Ortseingang von Neuilly erreichte, den breiten, von zwei ehemaligen
Wächterhäuschen gefassten Boulevard du Château, wo in den Geruch
staubiger Hitze
sich der aus den umfriedeten Grundstücken wehende, frische und
kühle Duft nach nasser Erde mischte, der von gesprengtem Rasen und
gewässerten Blumenrabatten kam, sodass der Eindruck entstand, in
dem großbürgerlichen komme im Vergleich zu dem kleinbürgerlichen
Vorort sogar eine andere, ergiebigere Art von Sauerstoff zum
Einsatz.
Hélène passierte die Grenze mit der
Selbstverständlichkeit einer Pendlerin. Ohne dass sie es bemerkten,
hatten die Krankenhausbesuche begonnen, ihr Leben zu strukturieren,
lebten sie im Takt von Down-Regulierung, Stimulation, Auslösung,
Follikelpunktion, Transfer, Wartezeit, Enttäuschung, Erholung und
Neubeginn.
Mit einem Anflug von Panik sagte sie sich, dass ein
Jahr ihres Lebens so vergangen war, in dem sie nur einen einzigen,
erfolglosen Versuch hatte machen können, ein Kind zu
bekommen.
Hélène bemühte sich, ihren Gedanken eine andere
Richtung zu geben, sich über den schönen Tag zu freuen, an die
bevorstehende Urlaubsreise zu denken, an die im Sonnenlicht auf der
Fensterbank sich räkelnden, putzenden, niesenden Katzen, dennoch
verstärkte sich mit jedem Schritt der Druck im Magen, etwas wie
Lampenfieber, wie Prüfungsangst. Dann bog sie in den Boulevard
Victor Hugo ein, betrat einige Hundert Meter weiter das
Krankenhausareal durch den alten, auch auf den Schwarzweißfotos aus
dem Ersten Weltkrieg gezeigten, weinumrankten Torbogen, stieg die
Rampe entlang des linken Seitenflügels hinauf und betrat das
Gebäude durch die gläserne Drehtür unter dem glänzenden
Aluminium-Schriftzug.
Sie ging am Empfangstresen vorbei in Richtung
Aufzug, da drehte sich ein dort stehender Uniformierter zu ihr
um.
Die beiden Ausrufe erklangen gleichzeitig: Sie sind
Soldat! - Sie sind wieder hier!
In ihrer Stimme mischte sich blanke Verblüffung, so
als stelle sich jemand, den man für eine Frau gehalten hat,
plötzlich als Mann heraus, mit empörtem Vorwurf, als sei die
Uniform der Beweis, dass alles, was der Amerikaner ihr erzählt
hatte, ja dass er selbst eine Lüge, eine Täuschung war.
Sein Ausruf begann als reine Freude, riss dann
abrupt ab und hallte nach einem kurzen Blick auf ihren vollkommen
flachen Bauch unter dem geblümten Sommerkleid als fast flehende
Frage nach.
Er trug eine grüne Class-A-Uniform, die aus einem
hochgeschlossenen Jackett mit vier Aufsetztaschen, goldenen Knöpfen
und mehreren Reihen kleiner farbiger Aufnäher in Brusthöhe sowie
zwei silbernen Streifen auf den Schulterstücken bestand, einer
schwarzen Krawatte, einem langärmligen, blassgrünen Hemd, einer
Hose mit schwarzen Streifen und schwarzen polierten Schuhen. Das
grüne, wie ein krakeliges Herz aussehende, orangefarben eingefasste
Symbol in einem roten Kreis, das er auf den Schultern trug, war,
was Hélène nicht wissen konnte, ein Taroblatt, das
Erkennungszeichen der 38. motorisierten Infanteriedivision, das
rote Stoffrechteck mit dem blauen Längsstrich in der Mitte und
einem kleinen emaillierten V, das sich auf der linken Brustseite
inmitten der anderen flaggenartigen Streifen befand, war, ebenso
unentzifferbar für sie, ein Bronze Star mit Valor
Device, und die beiden silbernen Streifen wiesen ihn als Captain
aus.
Er fasste sich als Erster und fragte mit einer
Stimme, von der er hoffte, dass sie erwartungsfreudig klang: Ist es
schon da?
Nein.
Hat es nicht geklappt?
Nein.
Verzeihen Sie, habe ich etwas Falsches
gesagt?
Nein, sagte Hélène, aber ich habe nicht viel
Zeit.
Sind Sie mir böse wegen irgendetwas?
Nein.
Sie sind mir böse wegen der Uniform. Weil ich Ihnen
nicht gesagt habe, dass ich Soldat bin.
Sie sind ja nicht verpflichtet, mir Ihre
Lebensgeschichte zu erzählen.
Sie mögen keine Soldaten.
Nein.
Darf ich Sie trotzdem auf einen Kaffee
einladen?
Ich fürchte, ich habe wirklich keine Zeit.
Sie mögen Soldaten nur in Gedichten, stimmt’s?
Und ihr rotes Blut fließt, selbe Farbe, selbes Leuchten, bei
dem, der an den Himmel wie bei dem, der nicht an den Himmel
glaubte. Es fließt und fließt und vereint sich mit der Erde, die es
geliebt hat, damit im nächsten Jahr eine Muskateller-Traube aus ihr
wachse … Habe ich’s ungefähr richtig zitiert?
Ziemlich genau, sagte Hélène entwaffnet.
Sie kommen mir nicht aus, ohne meine Einladung
anzunehmen, sagte er.
Dann in einer halben Stunde in der Cafeteria,
antwortete sie.
Es stimmt schon, begann er, als sie sich ihm
gegenübergesetzt hatte, ich hätte Ihnen gleich sagen sollen, dass
ich Soldat bin.
Ja.
Man sollte das immer sofort sagen. So wie
Aussätzige früher eine Pestklingel getragen haben. Damit die
anständigen Menschen einen weiten Bogen schlagen konnten.
Tut mir leid, wenn ich kurz angebunden war, sagte
sie. Aber ich mag es nicht, angelogen zu werden, auch wenn das zu
einer interessanten Unterhaltung geführt hat. Warum haben Sie mir
erzählt, Sie hätten Literatur studiert, wenn Sie Soldat sind?
Er sah sie ungläubig an. Aber ich habe
Literatur studiert.
So, so, neben dem Gewehrputzen?
Ich meine es ernst, sagte er. Sie kennen sich
offenbar nicht aus. Es gibt an zahlreichen unserer Colleges, auch
am Boston College, wo ich war, ein sogenanntes ROTC-Programm, bei
dem man sich neben seinem Studium, ganz gleich welchem, zum
Offizier ausbilden lassen kann.
So schnell wollte Hélène nicht zugeben, dass sie
voreilig gewesen war. Wie darf man sich das vorstellen?, fragte sie
spöttisch. Vormittags Naturlyrik und nachmittags
Scheibenschießen?
Was haben Sie gegen Soldaten?
Ich habe nichts gegen Soldaten, aber alles gegen
Krieg. Und vielleicht auch gegen das, was er aus den Soldaten
macht. Und ohne Soldaten kein Krieg.
Ohne Soldaten auch kein Frieden, sagte er.
Das wäre zu diskutieren. Sie sah ihn mit
gerunzelter Stirn an. Ich bringe das nicht zusammen. Warum wird ein
kultivierter Mensch, ein Mensch, der Gedichte liebt, die Suche nach
einem Ausdruck für Schönheit und Wahrheit, warum wird der
Berufssoldat? Das ist so widersprüchlich, so absurd, so …
So?
So -, Hélène zögerte, ich weiß nicht. Ich dachte
immer, Soldat wird man nur, wenn man gezogen wird oder weil man
anders tickt als andere Menschen …
Vielleicht tue ich das ja, sagte der Amerikaner und
dachte nach. Wissen Sie, es ist ein altes Gewerbe, und wenn nicht
das ehrbarste, dann eines der traditionsreichsten. Und manchmal ist
der Soldat so weit nicht vom Dichter entfernt, wie Sie glauben.
Denken Sie an Laclos, denken Sie an Churchill.
Aber was sind Sie dann, ein Krieger mit einer
Schwäche für die Literatur oder ein Literaturwissenschaftler in
Uniform?
Ich bin Captain der US-Army und habe einen MA in
Literatur. Das eine aus Tradition, das andere aus Neigung.
Aus Tradition? Der kriegerischen Tradition der USA,
meinen Sie?
Familientradition. Bei uns wird man Soldat vom
Vater zum Sohn.
Und was machen Sie dann in Paris? Wollen Sie uns
besetzen? Wir sind nicht in der Nato, und wir führen keinen
Krieg.
Darf ich Ihrem Gedächtnis ein wenig aufhelfen: Sie
haben vor nicht langer Zeit noch einen geführt. Mit der Nato und
mit uns.
Sie meinen den Kuwait-Krieg? Desert Storm? Mit
diesem Schwarzkopf? Diese total undurchsichtige, total
abgeschottete, total verlogene Intervention fürs kuwaitische
Öl?
Und für die Freiheit Kuwaits und seine
Selbstbestimmung, jawohl. Sie meinen, das war ein unnützer
Krieg?
Ich meine, man hätte auch verhandeln können. Vor
Kurzem war Saddam doch, wenn ich mich recht entsinne, noch Ihr
guter Freund.
Aber letztes Jahr hat er eine rote Linie
überschritten.
Die wer gezogen hat? Die USA? Wie immer?
Die USA kämpfen für die Freiheit. Zumindest
versuchen sie es.
Sie lachte und sagte, damit es nicht klang, als
wolle sie ihn auslachen: Da erlauben Sie mir aber doch zu lachen.
Wer gibt Ihrem Land eigentlich immer den Befehl, alle möglichen
Leute zu befreien, die vielleicht gar nicht befreit werden wollen,
indem man sie in Schutt und Asche legt?
Sie meinen, so wie Frankreich 1944? Unsere
Vergangenheit gibt uns den Befehl, unsere Verfassung, unser
Selbstverständnis. Es ist unsere Mission.
Ihre Vergangenheit? Die Indianerkriege?
Kommen Sie mal nach Concord auf die Old North
Bridge. Da könnte ich es Ihnen verständlich machen, unser
Freiheitspathos. Hier standen einst die Farmer aufgereiht und
feuerten den Schuss, der rund um die Welt gehört wurde.
Entschuldigen Sie, aber wenn Sie einem von uns
Europäern vom Freiheitspathos der USA erzählen, fällt uns immer nur
Vietnam ein.
Ich sage nicht, dass die USA keine Fehler machen.
Sie machen oft Fehler, zugegeben. Aber wer überhaupt etwas tut,
wird immer Fehler machen.
Ah, la liberté, elle a bon dos, sagte Hélène. Die
Freiheit hat einen breiten Rücken.
Für die, die für sie gekämpft haben, entgegnete der
Amerikaner steif, hat die Freiheit einen Geschmack, den die
Beschützten nie kennen werden.
Haben Sie etwa auch für die »Freiheit« gekämpft in
Kuwait? Sie wünschte sich eine Antwort, in der sie den Mann
wiedererkennen konnte, der die Schule geschwänzt hatte, um
Elizabeth Bishop zu hören, und wusste doch zugleich, dass sie Dinge
von ihm erwartete, die er nicht geben konnte. Was sollte er ihr
sagen? Mein Leben ist ein Irrtum?
Bis Kuwait sind wir gar nicht gekommen, letztes
Jahr. Ich war im Südirak.
Man hätte dieses Problem auch ohne Krieg lösen
können, sagte Hélène, bewusst zurückrudernd und die Frage
vermeidend, die sich aufzudrängen schien. Wenn man denn hätte
verhandeln wollen. Aber das wollten die USA ja nicht. Geben Sie das
wenigstens zu. Ich frage mich wirklich, was dieses Land sich
anmaßt.
Ich will Ihnen etwas sagen, Hélène, meine Meinung
dazu. Wenn ein Staat die Mittel hat, die Kenntnisse und die Macht,
dann hat er auch die moralische Verpflichtung einzuschreiten,
selbst wenn das heißt, Krieg in andere Länder tragen zu müssen, um
den Frieden möglich zu machen.
Davon abgesehen, sagte Hélène bissig, dass ich
zumindest das mit den Kenntnissen bezweifeln möchte,
ist das eine vollkommen reaktionäre, imperialistische
Maxime.
Eine angreifbare, aber damit müssen wir
leben.
The white man’s burden, hm?, spottete Hélène.
Ich kenne diesen Spott. Sagen wir, dass das
Exempel, das mir dabei in den Sinn kommt, München heißt. Peace in
our time. Jubel, Dankbarkeit, Erleichterung. Friede für genau zwölf
Monate. Nur nicht für die Tschechen oder eben die Kuwaitis. Die
Dankbarkeit und die Erleichterung der Kurzsichtigen.
Und was haben Sie, der Sie nicht zu uns
Kurzsichtigen gehören, im Irak getan? Den Arabern Gedichte von
Elizabeth Bishop oder Ralph Waldo Emerson vorgelesen?
Zum ersten Mal antwortete der Amerikaner nicht
mehr. Es entstand eine Stille, in der sie die Fliegen summen hörten
und auf ihren kalt gewordenen Kaffee blickten.
Und was machen Sie dann jetzt hier in Frankreich?,
fragte Hélène als Friedensangebot. Aber der Amerikaner ging
erstaunlicherweise nicht darauf ein.
Sie wollen wissen, ob ich getötet habe? Ob ich
viele Araber abgeknallt habe? Ob ich sie mit den Panzerketten zu
Mus gequetscht habe? Die Siebzehnjährigen. Sie wollen wissen, ob
Sie einem Mörder gegenübersitzen. Und dann entscheiden, ob das
erregend oder degoutant ist.
Hélène erschrak vor dem Ernst in seiner
Stimme.
Weder das eine noch das andere. Es wäre eher
beängstigend und verstörend. Aber ich will mir nicht anmaßen, Ihr
Leben zu beurteilen. Es gibt ja auch Menschen, die zur Armee gehen,
um ein Dach über dem Kopf zu haben.
Das ist nicht mein Fall.
Auch wenn Sie mir zehnmal strategisch und
historisch
nachweisen können, welche Kriege sinnvoll und nützlich gewesen
sind, ich glaube nicht an den Krieg. Ich glaube nicht an den Tod,
ich glaube ans Leben. Und mir weismachen zu wollen, dass aus
irgendeinem Krieg Leben wächst statt Tod, das wäre ein
dialektisches Kunststück. Ich glaube an die Würde jedes einzelnen
Lebens. Und deshalb halte ich es mehr mit Leuten wie Gandhi und wie
Jesus als mit Laclos oder Churchill.
Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen,
sondern das Schwert, zitierte der Amerikaner. Ich bin gekommen, um
den Sohn mit dem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter zu
entzweien. Irgendwo bei Matthäus. Es sind genau Leute wie Sie,
Hélène, für die wir unsere Kriege führen. Damit Leute wie Sie
weiter ans Leben glauben können. Oder von Neuem.
Das sagen nicht Sie, das ist Propaganda, sagte sie.
Die USA haben diesen Krieg für die Kontrolle übers Öl geführt, und
weil sie ihr Waffenarsenal verbrauchen müssen, um es erneuern zu
können, und seine Qualität demonstrieren müssen, um es verkaufen zu
können. Natürlich haben Sie einen ganzen Stab von gewitzten
Rhetorikern, um das schönzureden.
Ich will nicht mit Ihnen streiten, Hélène. Sie sind
der einzige Mensch -.
Nein!, rief sie unwillkürlich und hob abwehrend die
Hand. Nein. Nein. Ich will das nicht hören, was immer es ist. Ich
will nicht der einzige Mensch sein, ganz gleich wofür.
In Ordnung, sagte der Amerikaner und nickte, als
erkenne er eine Niederlage an.
Hélène blickte ihn an und bereute den ganzen
Disput. Ich führe selbst Stellvertreterkriege, dachte sie.
Aber was tun Sie denn jetzt wirklich hier in
Paris?, fragte sie dann.
Ich nehme an einem Austauschprogramm namens MPEP
teil, bei dem man für drei Jahre zu einer ausländischen Armee
wechseln kann. Eine Art kultureller Erfahrungsaustausch. Ist ein
Privileg, dafür vorgeschlagen zu werden. Und so bin ich jetzt beim
4. Husarenregiment in Fontainebleau.
Husarenregiment?, meinte Hélène amüsiert.
Ein abgehalfterter Husar, sagte der Amerikaner
bitter. Vor mir als apokalyptischem Reiter brauchen Sie keine Angst
mehr zu haben. Ich bin ein Wrack, ein Dreck. Ich kann nicht einmal
bei meiner französischen Einheit dienen.
Er sah sie an wie ein in die Ecke gedrängter
Boxer.
Aber was -?, Hélène, völlig verblüfft angesichts
der Wendung der Dinge, wollte ihn fragen, da schlug ein Luftzug die
Tür zu, die hinaus in den Garten ging. Es knallte und klirrte
zugleich. Hélène zuckte zusammen und fuhr herum. Als sie sich
zurückdrehte, sah sie den Amerikaner zunächst nicht. Dann entdeckte
sie ihn unterm Tisch. Das sah komisch aus, und sie sagte
unwillkürlich: Der Husar unter dem Tisch? Duck and cover? Aber dann
hörte sie, dass er mit den Zähnen knirschte, und das war ein derart
fürchterliches Geräusch, dass sie begriff: Etwas konnte ganz und
gar nicht in Ordnung sein mit ihm.
Dann hockten sie mehrere Minuten lang gemeinsam
unter dem Tisch, bis das Zähneknirschen und Augenrollen nachließ.
Sie hockten unter dem Tisch und hielten einander die Hände.
Sie sahen aus wie Kinder, die etwas aushecken,
Kinder, die spielen, sie seien in einer Höhle, unerreichbar für die
Erwachsenen und ihre Welt. Von den übrigen Gästen der Cafeteria
näherte sich ihnen keiner mit einer Frage - dies war schließlich
ein Krankenhaus, in dem merkwürdiges oder krankhaftes Verhalten an
der rechten Stelle war -, wohin hätte man sie verweisen sollen, wo
sie sich nicht ohnehin schon befanden?
Es geht nicht … Es kann nicht sein. Was ist bloß?
Warum hört es nicht auf? Es wird bloß immer schlimmer …
Entschuldigen Sie, es ist so erniedrigend, so abgrundtief
erniedrigend. Ich wollte, mir wären stattdessen die Beine
weggeschossen worden …
Als sie wieder am Tisch saßen, sah der Amerikaner
aus, als sei er bekleidet in der Sauna gewesen. Da sehen Sie’s,
sagte er verzweifelt. Da haben Sie’s, und er wischte sich
angewidert mit dem Handrücken über die Stirn.
Was, um Himmels willen, fehlt Ihnen?, fragte Hélène
mit Autorität.
Wenn ich es selbst genau wüsste. Es ist kein
Kummer, keine Traurigkeit, kein Gram. Es ist einfach gar nichts.
Nur Antriebsschwäche. Wenn ich morgens Durst habe, und ein Glas
Wasser steht vor mir, dann brauche ich eine halbe Stunde, um mich
dazu durchzuringen, es in die Hand zu nehmen und zum Mund zu führen
… Ich bin jetzt wie lange hier? Wann haben wir uns das erste Mal
getroffen? Im Oktober letztes Jahr? Sie haben mich fünf Monate lang
durchgecheckt. Belastungs-EKG, Kernspin-Tomographie, Blutdruck,
Blutzucker, Darmspiegelung, Koronarangiogramm, Borreliosetest - you
name it. Nein, was das betrifft, bin ich kerngesund. Auch kein
Guillain-Barré-Syndrom. Keine multiple Sklerose. Und dennoch ändert
sich an den Symptomen nichts. Ich kann nicht
schlafen, ich habe Albträume, Panikattacken, Schweißausbrüche für
ein Nichts. Ich kann mich auf keine Arbeit richtig konzentrieren,
ich habe Anfälle, bei denen sich das Herz zusammenkrampft, dass ich
denke, ich kriege einen Infarkt. Ich kann, Hélène, ich kann mich
nicht freuen. Ich lese die Gedichte Elizabeth Bishops, und ich habe
keine Gefühlsregung. Ich bin in Paris, wo ich immer hinwollte, und
es ist, als wäre die Farbe aus dem Film gewaschen. Ich weiß, welche
Emotion jetzt kommen müsste, aber sie kommt nicht. Ich erinnere
mich an Gefühle, aber ich empfinde sie nicht. Wie herausoperiert.
Im Februar hat die innere Medizin aufgegeben und mich an die
Psychiatrie weitergereicht. Da haben die Tests wieder angefangen.
Mittlerweile sind sie so weit, eine Angststörung zu vermuten, eine
Agoraphobie vielleicht, und seit ein paar Wochen muss ich
Medikamente nehmen, Paroxetin.
Was ist das?
Ein Antidepressivum. So was wie Prozac. Technisch
gesprochen ein SSRI, ein sogenannter selektiver
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Fragen Sie bitte nicht, wie das
funktioniert, ich weiß es auch nicht. Und währenddessen geht die
Befragung weiter, um herauszubekommen, ob es tatsächlich eine
Angststörung ist, und wenn ja, woher sie rührt.
Und, haben Sie denn Angst vor etwas?
Ja, aber ich weiß nicht wovor und warum. Ich habe
die beste Ausbildung der Welt bekommen, um alle konkreten und
gerechtfertigten Ängste unter Kontrolle zu halten, und jetzt hocke
ich bibbernd unterm Tisch, wenn eine Glastür zufällt.
Er schüttelte angewidert den Kopf.
Und was ist mit den ungerechtfertigten Ängsten?,
fragte Hélène und setzte hinzu: Es ist das Natürlichste von der
Welt, Angst zu haben. Vor allem als Soldat.
Er sah sie an. Ja, das mag sein. Aber es ist auch
das Unerträglichste. Ich hoffe, der Arzt wird die Gründe
herausfinden. Ironischerweise ist es ein Iraner, Dr. Mehran. Trägt
nicht gerade zu meiner Redseligkeit bei.
Sie können zu den Ärzten hier Vertrauen haben. Es
sind die besten, die es gibt, sagte Hélène.
Warum hat es bei Ihnen nicht geklappt?, fragte der
Amerikaner brüsk.
Hélène zuckte die Achseln. Kein Glück gehabt.
Aber was war der Grund?
Es gab keinen Grund.
Es gibt immer einen Grund.
Ich kenne ihn jedenfalls nicht.
Aber was hat der Arzt gesagt?
Gar nichts. Er weiß es auch nicht. Er muss es auch
erst einmal analysieren. Und auf seinen Blick hin: Ich meine, das
funktioniert ja nicht wie die Fließbandproduktion von Autos. Es
muss eben alles Mögliche zusammenkommen und funktionieren. Und
irgendein Detail hat nicht funktioniert. Aber ich bleibe
zuversichtlich.
Der Amerikaner nickte.
Haben Sie eigentlich eine Familie?, fragte
Hélène.
Nicht mehr.
Hélène wartete, aber er redete nicht weiter. Da sie
das Gefühl hatte, das Reden tue ihm gut, hakte sie nach: Nicht
mehr?, halb schon in der Furcht, eine weitere Katastrophe zu hören,
für die sie, das spürte sie deutlich, nicht stark genug sein
würde.
Das Übliche. Geschieden.
Oh, das tut mir leid. Haben Sie Kinder?
Hatte welche, sagte er, und als er sah, wie ihre
Augen sich weiteten, fügte er hinzu: Natürlich sind sie noch da,
aber da sie fort sind, ist es ganz so, als würden sie nicht
existieren.
Ganz so wohl doch nicht.
Nein, vielleicht schlimmer, meinte er gedankenlos,
und dann, nach kurzem Überlegen: Obwohl, dramatisieren wir nichts.
Ich habe sie auch vorher kaum gesehen. Es geht ihnen gut, sie haben
eine neue Familie, und soweit ich weiß, auch ein neues
Halbgeschwister. Wir haben’83 geheiratet, gleich nach dem College,
dann kam Antony,’84 bin ich nach Deutschland versetzt worden, da
ist sie nicht mit, wegen der Versorgung des Babys, da ist sie bei
ihren Eltern geblieben, das war wahrscheinlich ein Fehler.’85 kam
Catherine.’86 schickt ihr Anwalt mir die Scheidungsklage. Wie Sie
sehen, ich erinnere mich kaum noch, sie waren noch klein. Meine
Frau hat wieder geheiratet, in die Gegend von Chicago. Nehme an,
sie sind glücklich.
Aber sehen Sie Ihre Kinder denn nicht
regelmäßig?
Nein, sagte der Amerikaner abschließend, sodass
Hélène sich nicht traute nachzufragen.
Sie verfiel in Schweigen. Dann sagte er: Gehen Sie
ruhig, wenn Sie noch Termine haben. Ich bin soweit o. k. und muss
ohnehin gleich zu meiner Sitzung.
Hélène wollte irgendetwas Ermutigendes sagen, aber
es fiel ihr nichts ein. Schließlich meinte sie: Wie kommen Sie
eigentlich wieder zurück zu Ihren Husaren?
Momentan gar nicht. Ich bin hier für ein paar
Wochen stationär, sagte er.
Verstehe.
Ich habe mir die alten Fotos aus dem Ersten
Weltkrieg angesehen unten, nachts, wenn ich nicht schlafen
kann.
Hélène lächelte mitfühlend.
Es war übrigens noch ein berühmter Schriftsteller
hier damals.
Ach ja, und wer?
Scott Fitzgerald oder, besser gesagt, seine Frau
Zelda. 1925. Angeblich wegen einer Eierstock-Entzündung und einer
drohenden Peritonitis. Aber das Gerücht will, dass es in
Wirklichkeit eine Abtreibung war.
Hélène lächelte. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass das Krankenhaus Abtreibungen gemacht hat. Dafür gab es in
Paris Frauen …
Sie müssen mir irgendwann einmal von den Frauen von
Paris erzählen, sagte der Amerikaner.
Ich bin demnächst ja noch ein paar Mal hier, sagte
Hélène. Wo kann ich Sie denn finden?
Wenn Sie hier durchs Café und durchs Restaurant in
die andere Richtung gehen in den Neubau und dann hoch in den
zweiten Stock, Sektion 5, da gibt es einen Empfangstresen, die
wissen, wo ich gerade bin.
Hélène nickte. Alles Gute. Auf bald.
Was ich Ihnen vorhin sagen wollte, war nur: Sie
sind der einzige Mensch, den ich hier kenne.
Hélène nickte und hob die Hand zum Abschied.
