Bei der ersten Konsultation hatte Dr. Le Goff ihnen eine Schwangerschafts-Wahrscheinlichkeit von zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent pro Embryo-Transfer in Aussicht gestellt und hinzugefügt, dass von diesen zwanzig Prozent wiederum zwanzig Prozent die Schwangerschaft verlieren. Das geschah Hélène.
Zunächst war alles den bestmöglichen Gang gegangen: In den freigespülten Follikeln waren geeignete Eizellen gefunden, sodann im Nährmedium mit den gewaschenen Spermien zusammengebracht worden, und am nächsten Morgen wurde nachgeprüft, wie viele befruchtet waren. Es waren zwei gewesen. Das hatte Le Goff Hélène und ihrem Mann mitteilen lassen, bevor sie nach Hause fuhr, ebenso wie die amüsierte Bemerkung der MTA, ihr sei beim Swim-up aufgefallen, dass ihr Mann mit einem regelrechten sperme de course, einem »Rennsperma«, gesegnet sei. Da die befruchteten Eier sich am zweiten Tag zu Vierzellern entwickelt hatten, fand am frühen Abend der Transfer statt. Die beiden befruchteten Zellklumpen wurden Hélène mit dem Katheter eingesetzt, was nur wenige Sekunden dauerte. Le Goff sagte: Bitte einmal husten. Und dann: Bitte noch einmal husten. Dann war es geschehen.
Am zweiten und am vierten Tag nach der Punktion setzte ihr Mann Hélène noch je eine intramuskuläre Injektion Predalon, dann begann die Wartezeit.
Vierzehn Tage nach der Entnahme fand der erste Schwangerschaftstest aus dem Blut statt, und da der positiv war, folgte ein zweiter, um den HCG-Anstieg zu messen. Der HCG-Pegel verdoppelte sich innerhalb von achtundvierzig Stunden von einhundertfünfzig auf dreihundert i.u., sodass Hélène nach zwei weiteren Wochen zur ersten Ultraschalluntersuchung bestellt wurde, bei der Dr. Le Goff, wie erhofft, die Fruchthöhle und den Embryo erkennen konnte, beides allerdings auf dem wolkigen grauen Ultraschallbild unsichtbar für die Augen des Ehepaars.
Le Goff nickte und sagte lächelnd, so weit laufe alles nach Plan und dass spätestens vier Wochen nach dem Schwangerschaftstest eine Herzreaktion erkennbar sein müsse.
Zu diesem Termin fuhr Hélène schweigsam, und als nicht einmal die Scherze ihres Mannes über sein Rennsperma sie aufheitern konnten, und er sie fragte, was mit ihr sei, antwortete sie, dass etwas sich anders anfühle und sie nicht sicher sei, ob die Schwangerschaft noch bestehe.
Diese Befürchtungen wurden von Le Goff bestätigt, der eine missed abortion diagnostizierte. Die Frucht war abgestorben, aber im Bauch geblieben, sodass eine Curettage, eine Ausschabung, notwendig war, um die Gefahr unkontrollierter Blutungen, eines Blutsturzes zu vermeiden.
Da der Eingriff unter Vollnarkose ausgeführt werden musste, blieb Hélène über Nacht im Krankenhaus.
Das Ganze war Ende Januar passiert, im Juli hatten sie den nächsten Termin mit Le Goff, um den Zeitplan für einen zweiten Versuch aufzustellen und sich die Rezepte für Decapeptyl und Predalon ausstellen zu lassen.
Es war Pech gewesen, aber kein Grund zu Defätismus, eine verlorene Schlacht, aber kein verlorener Krieg. Im Grunde hatte man nicht erwarten können, dass es bereits das erste Mal klappte, und bei Licht besehen, war die Bilanz eigentlich eher positiv: Sie bekamen funktionstüchtige Eizellen, sie hatten Rennsperma zur Hand, die Befruchtung funktionierte, die Entwicklung in der Gebärmutter ging voran - zumindest am Anfang. Das sei Grund zur Hoffnung, meinte Le Goff, nun stelle sich die Frage, warum die Frucht sich ab einem bestimmten Punkt nicht weiterentwickle. Dafür könne es verschiedene Gründe geben, die werde man eingrenzen, die entscheidenden herausfinden und versuchen, Gegenmaßnahmen zu treffen. Ob Hélène es denn noch einmal versuchen wolle, sie wolle es doch versuchen, oder? Ob er denn davon abrate? Dafür bestehe kein Grund.
Die Curettage war entsetzlich.
Als Hélène an diesem heißen Hochsommertag an der Endhaltestelle Pont de Levallois aus dem weißgekachelten Metroschacht stieg und durch die engen kleinbürgerlichen Sträßchen ging, wurde ihr bewusst, dass seit ihrem ersten Besuch hier bereits ein ganzes Jahr vergangen war.
Die von den weißen Fassaden abstrahlende Hitze staute sich in der Straßenschlucht, bis sie den grün und nobel prangenden, von mächtigen Platanen und Kastanien gesäumten Ortseingang von Neuilly erreichte, den breiten, von zwei ehemaligen Wächterhäuschen gefassten Boulevard du Château, wo in den Geruch staubiger Hitze sich der aus den umfriedeten Grundstücken wehende, frische und kühle Duft nach nasser Erde mischte, der von gesprengtem Rasen und gewässerten Blumenrabatten kam, sodass der Eindruck entstand, in dem großbürgerlichen komme im Vergleich zu dem kleinbürgerlichen Vorort sogar eine andere, ergiebigere Art von Sauerstoff zum Einsatz.
Hélène passierte die Grenze mit der Selbstverständlichkeit einer Pendlerin. Ohne dass sie es bemerkten, hatten die Krankenhausbesuche begonnen, ihr Leben zu strukturieren, lebten sie im Takt von Down-Regulierung, Stimulation, Auslösung, Follikelpunktion, Transfer, Wartezeit, Enttäuschung, Erholung und Neubeginn.
Mit einem Anflug von Panik sagte sie sich, dass ein Jahr ihres Lebens so vergangen war, in dem sie nur einen einzigen, erfolglosen Versuch hatte machen können, ein Kind zu bekommen.
Hélène bemühte sich, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben, sich über den schönen Tag zu freuen, an die bevorstehende Urlaubsreise zu denken, an die im Sonnenlicht auf der Fensterbank sich räkelnden, putzenden, niesenden Katzen, dennoch verstärkte sich mit jedem Schritt der Druck im Magen, etwas wie Lampenfieber, wie Prüfungsangst. Dann bog sie in den Boulevard Victor Hugo ein, betrat einige Hundert Meter weiter das Krankenhausareal durch den alten, auch auf den Schwarzweißfotos aus dem Ersten Weltkrieg gezeigten, weinumrankten Torbogen, stieg die Rampe entlang des linken Seitenflügels hinauf und betrat das Gebäude durch die gläserne Drehtür unter dem glänzenden Aluminium-Schriftzug.
Sie ging am Empfangstresen vorbei in Richtung Aufzug, da drehte sich ein dort stehender Uniformierter zu ihr um.
Die beiden Ausrufe erklangen gleichzeitig: Sie sind Soldat! - Sie sind wieder hier!
In ihrer Stimme mischte sich blanke Verblüffung, so als stelle sich jemand, den man für eine Frau gehalten hat, plötzlich als Mann heraus, mit empörtem Vorwurf, als sei die Uniform der Beweis, dass alles, was der Amerikaner ihr erzählt hatte, ja dass er selbst eine Lüge, eine Täuschung war.
Sein Ausruf begann als reine Freude, riss dann abrupt ab und hallte nach einem kurzen Blick auf ihren vollkommen flachen Bauch unter dem geblümten Sommerkleid als fast flehende Frage nach.
Er trug eine grüne Class-A-Uniform, die aus einem hochgeschlossenen Jackett mit vier Aufsetztaschen, goldenen Knöpfen und mehreren Reihen kleiner farbiger Aufnäher in Brusthöhe sowie zwei silbernen Streifen auf den Schulterstücken bestand, einer schwarzen Krawatte, einem langärmligen, blassgrünen Hemd, einer Hose mit schwarzen Streifen und schwarzen polierten Schuhen. Das grüne, wie ein krakeliges Herz aussehende, orangefarben eingefasste Symbol in einem roten Kreis, das er auf den Schultern trug, war, was Hélène nicht wissen konnte, ein Taroblatt, das Erkennungszeichen der 38. motorisierten Infanteriedivision, das rote Stoffrechteck mit dem blauen Längsstrich in der Mitte und einem kleinen emaillierten V, das sich auf der linken Brustseite inmitten der anderen flaggenartigen Streifen befand, war, ebenso unentzifferbar für sie, ein Bronze Star mit Valor Device, und die beiden silbernen Streifen wiesen ihn als Captain aus.
Er fasste sich als Erster und fragte mit einer Stimme, von der er hoffte, dass sie erwartungsfreudig klang: Ist es schon da?
Nein.
Hat es nicht geklappt?
Nein.
Verzeihen Sie, habe ich etwas Falsches gesagt?
Nein, sagte Hélène, aber ich habe nicht viel Zeit.
Sind Sie mir böse wegen irgendetwas?
Nein.
Sie sind mir böse wegen der Uniform. Weil ich Ihnen nicht gesagt habe, dass ich Soldat bin.
Sie sind ja nicht verpflichtet, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen.
Sie mögen keine Soldaten.
Nein.
Darf ich Sie trotzdem auf einen Kaffee einladen?
Ich fürchte, ich habe wirklich keine Zeit.
Sie mögen Soldaten nur in Gedichten, stimmt’s? Und ihr rotes Blut fließt, selbe Farbe, selbes Leuchten, bei dem, der an den Himmel wie bei dem, der nicht an den Himmel glaubte. Es fließt und fließt und vereint sich mit der Erde, die es geliebt hat, damit im nächsten Jahr eine Muskateller-Traube aus ihr wachse … Habe ich’s ungefähr richtig zitiert?
Ziemlich genau, sagte Hélène entwaffnet.
Sie kommen mir nicht aus, ohne meine Einladung anzunehmen, sagte er.
Dann in einer halben Stunde in der Cafeteria, antwortete sie.
Es stimmt schon, begann er, als sie sich ihm gegenübergesetzt hatte, ich hätte Ihnen gleich sagen sollen, dass ich Soldat bin.
Ja.
Man sollte das immer sofort sagen. So wie Aussätzige früher eine Pestklingel getragen haben. Damit die anständigen Menschen einen weiten Bogen schlagen konnten.
Tut mir leid, wenn ich kurz angebunden war, sagte sie. Aber ich mag es nicht, angelogen zu werden, auch wenn das zu einer interessanten Unterhaltung geführt hat. Warum haben Sie mir erzählt, Sie hätten Literatur studiert, wenn Sie Soldat sind?
Er sah sie ungläubig an. Aber ich habe Literatur studiert.
So, so, neben dem Gewehrputzen?
Ich meine es ernst, sagte er. Sie kennen sich offenbar nicht aus. Es gibt an zahlreichen unserer Colleges, auch am Boston College, wo ich war, ein sogenanntes ROTC-Programm, bei dem man sich neben seinem Studium, ganz gleich welchem, zum Offizier ausbilden lassen kann.
So schnell wollte Hélène nicht zugeben, dass sie voreilig gewesen war. Wie darf man sich das vorstellen?, fragte sie spöttisch. Vormittags Naturlyrik und nachmittags Scheibenschießen?
Was haben Sie gegen Soldaten?
Ich habe nichts gegen Soldaten, aber alles gegen Krieg. Und vielleicht auch gegen das, was er aus den Soldaten macht. Und ohne Soldaten kein Krieg.
Ohne Soldaten auch kein Frieden, sagte er.
Das wäre zu diskutieren. Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Ich bringe das nicht zusammen. Warum wird ein kultivierter Mensch, ein Mensch, der Gedichte liebt, die Suche nach einem Ausdruck für Schönheit und Wahrheit, warum wird der Berufssoldat? Das ist so widersprüchlich, so absurd, so …
So?
So -, Hélène zögerte, ich weiß nicht. Ich dachte immer, Soldat wird man nur, wenn man gezogen wird oder weil man anders tickt als andere Menschen …
Vielleicht tue ich das ja, sagte der Amerikaner und dachte nach. Wissen Sie, es ist ein altes Gewerbe, und wenn nicht das ehrbarste, dann eines der traditionsreichsten. Und manchmal ist der Soldat so weit nicht vom Dichter entfernt, wie Sie glauben. Denken Sie an Laclos, denken Sie an Churchill.
Aber was sind Sie dann, ein Krieger mit einer Schwäche für die Literatur oder ein Literaturwissenschaftler in Uniform?
Ich bin Captain der US-Army und habe einen MA in Literatur. Das eine aus Tradition, das andere aus Neigung.
Aus Tradition? Der kriegerischen Tradition der USA, meinen Sie?
Familientradition. Bei uns wird man Soldat vom Vater zum Sohn.
Und was machen Sie dann in Paris? Wollen Sie uns besetzen? Wir sind nicht in der Nato, und wir führen keinen Krieg.
Darf ich Ihrem Gedächtnis ein wenig aufhelfen: Sie haben vor nicht langer Zeit noch einen geführt. Mit der Nato und mit uns.
Sie meinen den Kuwait-Krieg? Desert Storm? Mit diesem Schwarzkopf? Diese total undurchsichtige, total abgeschottete, total verlogene Intervention fürs kuwaitische Öl?
Und für die Freiheit Kuwaits und seine Selbstbestimmung, jawohl. Sie meinen, das war ein unnützer Krieg?
Ich meine, man hätte auch verhandeln können. Vor Kurzem war Saddam doch, wenn ich mich recht entsinne, noch Ihr guter Freund.
Aber letztes Jahr hat er eine rote Linie überschritten.
Die wer gezogen hat? Die USA? Wie immer?
Die USA kämpfen für die Freiheit. Zumindest versuchen sie es.
Sie lachte und sagte, damit es nicht klang, als wolle sie ihn auslachen: Da erlauben Sie mir aber doch zu lachen. Wer gibt Ihrem Land eigentlich immer den Befehl, alle möglichen Leute zu befreien, die vielleicht gar nicht befreit werden wollen, indem man sie in Schutt und Asche legt?
Sie meinen, so wie Frankreich 1944? Unsere Vergangenheit gibt uns den Befehl, unsere Verfassung, unser Selbstverständnis. Es ist unsere Mission.
Ihre Vergangenheit? Die Indianerkriege?
Kommen Sie mal nach Concord auf die Old North Bridge. Da könnte ich es Ihnen verständlich machen, unser Freiheitspathos. Hier standen einst die Farmer aufgereiht und feuerten den Schuss, der rund um die Welt gehört wurde.
Entschuldigen Sie, aber wenn Sie einem von uns Europäern vom Freiheitspathos der USA erzählen, fällt uns immer nur Vietnam ein.
Ich sage nicht, dass die USA keine Fehler machen. Sie machen oft Fehler, zugegeben. Aber wer überhaupt etwas tut, wird immer Fehler machen.
Ah, la liberté, elle a bon dos, sagte Hélène. Die Freiheit hat einen breiten Rücken.
Für die, die für sie gekämpft haben, entgegnete der Amerikaner steif, hat die Freiheit einen Geschmack, den die Beschützten nie kennen werden.
Haben Sie etwa auch für die »Freiheit« gekämpft in Kuwait? Sie wünschte sich eine Antwort, in der sie den Mann wiedererkennen konnte, der die Schule geschwänzt hatte, um Elizabeth Bishop zu hören, und wusste doch zugleich, dass sie Dinge von ihm erwartete, die er nicht geben konnte. Was sollte er ihr sagen? Mein Leben ist ein Irrtum?
Bis Kuwait sind wir gar nicht gekommen, letztes Jahr. Ich war im Südirak.
Man hätte dieses Problem auch ohne Krieg lösen können, sagte Hélène, bewusst zurückrudernd und die Frage vermeidend, die sich aufzudrängen schien. Wenn man denn hätte verhandeln wollen. Aber das wollten die USA ja nicht. Geben Sie das wenigstens zu. Ich frage mich wirklich, was dieses Land sich anmaßt.
Ich will Ihnen etwas sagen, Hélène, meine Meinung dazu. Wenn ein Staat die Mittel hat, die Kenntnisse und die Macht, dann hat er auch die moralische Verpflichtung einzuschreiten, selbst wenn das heißt, Krieg in andere Länder tragen zu müssen, um den Frieden möglich zu machen.
Davon abgesehen, sagte Hélène bissig, dass ich zumindest das mit den Kenntnissen bezweifeln möchte, ist das eine vollkommen reaktionäre, imperialistische Maxime.
Eine angreifbare, aber damit müssen wir leben.
The white man’s burden, hm?, spottete Hélène.
Ich kenne diesen Spott. Sagen wir, dass das Exempel, das mir dabei in den Sinn kommt, München heißt. Peace in our time. Jubel, Dankbarkeit, Erleichterung. Friede für genau zwölf Monate. Nur nicht für die Tschechen oder eben die Kuwaitis. Die Dankbarkeit und die Erleichterung der Kurzsichtigen.
Und was haben Sie, der Sie nicht zu uns Kurzsichtigen gehören, im Irak getan? Den Arabern Gedichte von Elizabeth Bishop oder Ralph Waldo Emerson vorgelesen?
Zum ersten Mal antwortete der Amerikaner nicht mehr. Es entstand eine Stille, in der sie die Fliegen summen hörten und auf ihren kalt gewordenen Kaffee blickten.
Und was machen Sie dann jetzt hier in Frankreich?, fragte Hélène als Friedensangebot. Aber der Amerikaner ging erstaunlicherweise nicht darauf ein.
Sie wollen wissen, ob ich getötet habe? Ob ich viele Araber abgeknallt habe? Ob ich sie mit den Panzerketten zu Mus gequetscht habe? Die Siebzehnjährigen. Sie wollen wissen, ob Sie einem Mörder gegenübersitzen. Und dann entscheiden, ob das erregend oder degoutant ist.
Hélène erschrak vor dem Ernst in seiner Stimme.
Weder das eine noch das andere. Es wäre eher beängstigend und verstörend. Aber ich will mir nicht anmaßen, Ihr Leben zu beurteilen. Es gibt ja auch Menschen, die zur Armee gehen, um ein Dach über dem Kopf zu haben.
Das ist nicht mein Fall.
Auch wenn Sie mir zehnmal strategisch und historisch nachweisen können, welche Kriege sinnvoll und nützlich gewesen sind, ich glaube nicht an den Krieg. Ich glaube nicht an den Tod, ich glaube ans Leben. Und mir weismachen zu wollen, dass aus irgendeinem Krieg Leben wächst statt Tod, das wäre ein dialektisches Kunststück. Ich glaube an die Würde jedes einzelnen Lebens. Und deshalb halte ich es mehr mit Leuten wie Gandhi und wie Jesus als mit Laclos oder Churchill.
Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert, zitierte der Amerikaner. Ich bin gekommen, um den Sohn mit dem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter zu entzweien. Irgendwo bei Matthäus. Es sind genau Leute wie Sie, Hélène, für die wir unsere Kriege führen. Damit Leute wie Sie weiter ans Leben glauben können. Oder von Neuem.
Das sagen nicht Sie, das ist Propaganda, sagte sie. Die USA haben diesen Krieg für die Kontrolle übers Öl geführt, und weil sie ihr Waffenarsenal verbrauchen müssen, um es erneuern zu können, und seine Qualität demonstrieren müssen, um es verkaufen zu können. Natürlich haben Sie einen ganzen Stab von gewitzten Rhetorikern, um das schönzureden.
Ich will nicht mit Ihnen streiten, Hélène. Sie sind der einzige Mensch -.
Nein!, rief sie unwillkürlich und hob abwehrend die Hand. Nein. Nein. Ich will das nicht hören, was immer es ist. Ich will nicht der einzige Mensch sein, ganz gleich wofür.
In Ordnung, sagte der Amerikaner und nickte, als erkenne er eine Niederlage an.
Hélène blickte ihn an und bereute den ganzen Disput. Ich führe selbst Stellvertreterkriege, dachte sie.
Aber was tun Sie denn jetzt wirklich hier in Paris?, fragte sie dann.
Ich nehme an einem Austauschprogramm namens MPEP teil, bei dem man für drei Jahre zu einer ausländischen Armee wechseln kann. Eine Art kultureller Erfahrungsaustausch. Ist ein Privileg, dafür vorgeschlagen zu werden. Und so bin ich jetzt beim 4. Husarenregiment in Fontainebleau.
Husarenregiment?, meinte Hélène amüsiert.
Ein abgehalfterter Husar, sagte der Amerikaner bitter. Vor mir als apokalyptischem Reiter brauchen Sie keine Angst mehr zu haben. Ich bin ein Wrack, ein Dreck. Ich kann nicht einmal bei meiner französischen Einheit dienen.
Er sah sie an wie ein in die Ecke gedrängter Boxer.
Aber was -?, Hélène, völlig verblüfft angesichts der Wendung der Dinge, wollte ihn fragen, da schlug ein Luftzug die Tür zu, die hinaus in den Garten ging. Es knallte und klirrte zugleich. Hélène zuckte zusammen und fuhr herum. Als sie sich zurückdrehte, sah sie den Amerikaner zunächst nicht. Dann entdeckte sie ihn unterm Tisch. Das sah komisch aus, und sie sagte unwillkürlich: Der Husar unter dem Tisch? Duck and cover? Aber dann hörte sie, dass er mit den Zähnen knirschte, und das war ein derart fürchterliches Geräusch, dass sie begriff: Etwas konnte ganz und gar nicht in Ordnung sein mit ihm.
Dann hockten sie mehrere Minuten lang gemeinsam unter dem Tisch, bis das Zähneknirschen und Augenrollen nachließ. Sie hockten unter dem Tisch und hielten einander die Hände.
Sie sahen aus wie Kinder, die etwas aushecken, Kinder, die spielen, sie seien in einer Höhle, unerreichbar für die Erwachsenen und ihre Welt. Von den übrigen Gästen der Cafeteria näherte sich ihnen keiner mit einer Frage - dies war schließlich ein Krankenhaus, in dem merkwürdiges oder krankhaftes Verhalten an der rechten Stelle war -, wohin hätte man sie verweisen sollen, wo sie sich nicht ohnehin schon befanden?
Es geht nicht … Es kann nicht sein. Was ist bloß? Warum hört es nicht auf? Es wird bloß immer schlimmer … Entschuldigen Sie, es ist so erniedrigend, so abgrundtief erniedrigend. Ich wollte, mir wären stattdessen die Beine weggeschossen worden …
Als sie wieder am Tisch saßen, sah der Amerikaner aus, als sei er bekleidet in der Sauna gewesen. Da sehen Sie’s, sagte er verzweifelt. Da haben Sie’s, und er wischte sich angewidert mit dem Handrücken über die Stirn.
Was, um Himmels willen, fehlt Ihnen?, fragte Hélène mit Autorität.
Wenn ich es selbst genau wüsste. Es ist kein Kummer, keine Traurigkeit, kein Gram. Es ist einfach gar nichts. Nur Antriebsschwäche. Wenn ich morgens Durst habe, und ein Glas Wasser steht vor mir, dann brauche ich eine halbe Stunde, um mich dazu durchzuringen, es in die Hand zu nehmen und zum Mund zu führen … Ich bin jetzt wie lange hier? Wann haben wir uns das erste Mal getroffen? Im Oktober letztes Jahr? Sie haben mich fünf Monate lang durchgecheckt. Belastungs-EKG, Kernspin-Tomographie, Blutdruck, Blutzucker, Darmspiegelung, Koronarangiogramm, Borreliosetest - you name it. Nein, was das betrifft, bin ich kerngesund. Auch kein Guillain-Barré-Syndrom. Keine multiple Sklerose. Und dennoch ändert sich an den Symptomen nichts. Ich kann nicht schlafen, ich habe Albträume, Panikattacken, Schweißausbrüche für ein Nichts. Ich kann mich auf keine Arbeit richtig konzentrieren, ich habe Anfälle, bei denen sich das Herz zusammenkrampft, dass ich denke, ich kriege einen Infarkt. Ich kann, Hélène, ich kann mich nicht freuen. Ich lese die Gedichte Elizabeth Bishops, und ich habe keine Gefühlsregung. Ich bin in Paris, wo ich immer hinwollte, und es ist, als wäre die Farbe aus dem Film gewaschen. Ich weiß, welche Emotion jetzt kommen müsste, aber sie kommt nicht. Ich erinnere mich an Gefühle, aber ich empfinde sie nicht. Wie herausoperiert. Im Februar hat die innere Medizin aufgegeben und mich an die Psychiatrie weitergereicht. Da haben die Tests wieder angefangen. Mittlerweile sind sie so weit, eine Angststörung zu vermuten, eine Agoraphobie vielleicht, und seit ein paar Wochen muss ich Medikamente nehmen, Paroxetin.
Was ist das?
Ein Antidepressivum. So was wie Prozac. Technisch gesprochen ein SSRI, ein sogenannter selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Fragen Sie bitte nicht, wie das funktioniert, ich weiß es auch nicht. Und währenddessen geht die Befragung weiter, um herauszubekommen, ob es tatsächlich eine Angststörung ist, und wenn ja, woher sie rührt.
Und, haben Sie denn Angst vor etwas?
Ja, aber ich weiß nicht wovor und warum. Ich habe die beste Ausbildung der Welt bekommen, um alle konkreten und gerechtfertigten Ängste unter Kontrolle zu halten, und jetzt hocke ich bibbernd unterm Tisch, wenn eine Glastür zufällt.
Er schüttelte angewidert den Kopf.
Und was ist mit den ungerechtfertigten Ängsten?, fragte Hélène und setzte hinzu: Es ist das Natürlichste von der Welt, Angst zu haben. Vor allem als Soldat.
Er sah sie an. Ja, das mag sein. Aber es ist auch das Unerträglichste. Ich hoffe, der Arzt wird die Gründe herausfinden. Ironischerweise ist es ein Iraner, Dr. Mehran. Trägt nicht gerade zu meiner Redseligkeit bei.
Sie können zu den Ärzten hier Vertrauen haben. Es sind die besten, die es gibt, sagte Hélène.
Warum hat es bei Ihnen nicht geklappt?, fragte der Amerikaner brüsk.
Hélène zuckte die Achseln. Kein Glück gehabt.
Aber was war der Grund?
Es gab keinen Grund.
Es gibt immer einen Grund.
Ich kenne ihn jedenfalls nicht.
Aber was hat der Arzt gesagt?
Gar nichts. Er weiß es auch nicht. Er muss es auch erst einmal analysieren. Und auf seinen Blick hin: Ich meine, das funktioniert ja nicht wie die Fließbandproduktion von Autos. Es muss eben alles Mögliche zusammenkommen und funktionieren. Und irgendein Detail hat nicht funktioniert. Aber ich bleibe zuversichtlich.
Der Amerikaner nickte.
Haben Sie eigentlich eine Familie?, fragte Hélène.
Nicht mehr.
Hélène wartete, aber er redete nicht weiter. Da sie das Gefühl hatte, das Reden tue ihm gut, hakte sie nach: Nicht mehr?, halb schon in der Furcht, eine weitere Katastrophe zu hören, für die sie, das spürte sie deutlich, nicht stark genug sein würde.
Das Übliche. Geschieden.
Oh, das tut mir leid. Haben Sie Kinder?
Hatte welche, sagte er, und als er sah, wie ihre Augen sich weiteten, fügte er hinzu: Natürlich sind sie noch da, aber da sie fort sind, ist es ganz so, als würden sie nicht existieren.
Ganz so wohl doch nicht.
Nein, vielleicht schlimmer, meinte er gedankenlos, und dann, nach kurzem Überlegen: Obwohl, dramatisieren wir nichts. Ich habe sie auch vorher kaum gesehen. Es geht ihnen gut, sie haben eine neue Familie, und soweit ich weiß, auch ein neues Halbgeschwister. Wir haben’83 geheiratet, gleich nach dem College, dann kam Antony,’84 bin ich nach Deutschland versetzt worden, da ist sie nicht mit, wegen der Versorgung des Babys, da ist sie bei ihren Eltern geblieben, das war wahrscheinlich ein Fehler.’85 kam Catherine.’86 schickt ihr Anwalt mir die Scheidungsklage. Wie Sie sehen, ich erinnere mich kaum noch, sie waren noch klein. Meine Frau hat wieder geheiratet, in die Gegend von Chicago. Nehme an, sie sind glücklich.
Aber sehen Sie Ihre Kinder denn nicht regelmäßig?
Nein, sagte der Amerikaner abschließend, sodass Hélène sich nicht traute nachzufragen.
Sie verfiel in Schweigen. Dann sagte er: Gehen Sie ruhig, wenn Sie noch Termine haben. Ich bin soweit o. k. und muss ohnehin gleich zu meiner Sitzung.
Hélène wollte irgendetwas Ermutigendes sagen, aber es fiel ihr nichts ein. Schließlich meinte sie: Wie kommen Sie eigentlich wieder zurück zu Ihren Husaren?
Momentan gar nicht. Ich bin hier für ein paar Wochen stationär, sagte er.
Verstehe.
Ich habe mir die alten Fotos aus dem Ersten Weltkrieg angesehen unten, nachts, wenn ich nicht schlafen kann.
Hélène lächelte mitfühlend.
Es war übrigens noch ein berühmter Schriftsteller hier damals.
Ach ja, und wer?
Scott Fitzgerald oder, besser gesagt, seine Frau Zelda. 1925. Angeblich wegen einer Eierstock-Entzündung und einer drohenden Peritonitis. Aber das Gerücht will, dass es in Wirklichkeit eine Abtreibung war.
Hélène lächelte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Krankenhaus Abtreibungen gemacht hat. Dafür gab es in Paris Frauen …
Sie müssen mir irgendwann einmal von den Frauen von Paris erzählen, sagte der Amerikaner.
Ich bin demnächst ja noch ein paar Mal hier, sagte Hélène. Wo kann ich Sie denn finden?
Wenn Sie hier durchs Café und durchs Restaurant in die andere Richtung gehen in den Neubau und dann hoch in den zweiten Stock, Sektion 5, da gibt es einen Empfangstresen, die wissen, wo ich gerade bin.
Hélène nickte. Alles Gute. Auf bald.
Was ich Ihnen vorhin sagen wollte, war nur: Sie sind der einzige Mensch, den ich hier kenne.
Hélène nickte und hob die Hand zum Abschied.
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