JON

Die Stute wieherte, als Jon Schnee den Sattelgurt anzog. »Ruhig«, sagte er mit milder Stimme, besänftigte sie mit einem Klopfen. Wind flüsterte durch den Stall, ein kalter, toter Atem in seinem Gesicht, doch dem schenkte Jon keine Beachtung. Er schnürte seine Rolle an den Sattel, die narbigen Finger steif und unbeholfen. »Geist«, rief er leise, »zu mir.« Und der Wolf war da, die Augen wie glühende Kohle.

»Jon, bitte. Das darfst du nicht tun.«

Er stieg auf, die Zügel in der Hand, und riss das Pferd herum, um sich der Nacht zu stellen. Samwell Tarly stand in der Stalltür, und der Vollmond lugte über seine Schulter. Er warf den Schatten eines Riesen, gigantisch groß und schwarz. »Geh mir aus dem Weg, Sam.«

»Jon, das darfst du nicht«, sagte Sam. »Ich lasse es nicht zu.«

»Ich möchte dir eigentlich nicht wehtun«, erklärte Jon. »Geh zur Seite, Sam, sonst reite ich dich nieder.«

»Das tust du nicht. Du musst mir zuhören. Bitte …«

Jon rammte seine Sporen ins Pferdefleisch, und die Stute schoss auf die Tür zu. Einen Augenblick lang blieb Sam stehen, sein Gesicht so rund und blass wie der Mond in seinem Rücken, sein Mund ein wachsendes O der Überraschung. Im letzten Moment, als das Pferd fast bei ihm war, sprang er zur Seite, wie Jon es erwartet hatte, stolperte und fiel. Die Stute sprang über ihn hinweg in die Nacht hinaus.

Jon setzte die Kapuze an seinem schweren Umhang auf und ließ dem Pferd die Zügel schießen. Die Schwarze Festung lag still und leise da, als er hinausritt, Geist an seiner Seite. Männer standen auf der Mauer und hielten Wacht, das wusste er, doch waren ihre Augen gen Norden gewandt, nicht gen Süden. Niemand würde ihn sehen, niemand, bis auf Samwell Tarly, der im Staub der alten Ställe wieder auf die Beine kam. Er hoffte, dass Sam sich bei dem Sturz nichts getan hatte. Er war so schwer und unbeholfen, dass es ihm ähnlich sähe, sich dabei ein Handgelenk zu brechen oder den Knöchel zu verstauchen. »Ich habe ihn gewarnt«, sagte Jon laut vor sich hin. »Außerdem hatte es gar nichts mit ihm zu tun.« Er spannte seine verbrannte Hand im Reiten, öffnete und schloss die vernarbten Finger. Noch immer schmerzten sie, doch fühlte es sich gut an, keinen Verband mehr zu tragen.

Mondlicht färbte die Hügel silbern, als er dem gewundenen Band des Königswegs folgte. Er musste die Mauer so weit wie möglich hinter sich lassen, bevor sie merkten, dass er fort war. Am Morgen wollte er die Straße verlassen und querfeldein über Acker, Busch und Fluss reiten, um Verfolger abzuschütteln, im Augenblick hingegen war Geschwindigkeit wichtiger denn List. Es war ja nicht so, als könnten sie nicht erraten, welches Ziel er hatte.

Der Alte Bär war es gewohnt, beim ersten Tageslicht aufzustehen, sodass Jon bis zur Dämmerung so viel des Wegs wie möglich zwischen sich und die Mauer bringen musste … falls Sam Tarly ihn nicht verriet. Der dicke Junge war pflichteifrig und leicht zu ängstigen, aber er liebte Jon auch wie einen Bruder. Falls man ihn fragte, würde Sam ihnen zweifellos die Wahrheit sagen, doch konnte sich Jon nicht vorstellen, dass er den Wachen am Königsturm die Stirn bot, damit sie Mormont aus dem Schlaf holten.

Wenn Jon nicht kam, um das Frühstück des Alten Bären aus der Küche zu holen, würden sie in seiner Zelle nachsehen und Langklaue auf dem Bett vorfinden. Es war ihm schwergefallen, es dort zurückzulassen, indes mangelte es ihm nicht derart an Ehrgefühl, dass er es mitgenommen hätte. Nicht einmal Jorah Mormont hatte das getan, als er in Schande geflohen war. Ohne jeden Zweifel würde Lord Mormont jemanden finden, der dieser Klinge eher wert war. Jon fühlte sich schlecht, wenn er an den alten Mann dachte. Er wusste, dass seine Fahnenflucht Salz in den offenen Wunden des Bären wären. Es schien ihm ein kläglicher Lohn für das Vertrauen, nur konnte er es nicht ändern. Was er auch tat, stets fühlte sich Jon, als verriete er jemanden.

Selbst jetzt wusste er nicht, ob er das Ehrenhafte tat. Die Südländer hatten es leichter. Sie konnten mit ihrem Septon sprechen, der ihnen den Götterwillen erklärte und half, zu erkunden, was falsch war und was richtig. Die Starks huldigten den alten Göttern, den Namenlosen, und wenn die Herzbäume auch lauschten, so sprachen sie doch nicht.

Als die letzten Lichter der Schwarzen Festung hinter ihm vergingen, bremste Jon seine Stute. Er hatte eine lange Reise vor sich und nur dieses eine Pferd. Es gab Festungen und Bauerndörfer entlang der Straße in den Süden, wo er die Stute gegen ein frisches Pferd eintauschen konnte, wenn er eines brauchte, allerdings nicht, wenn sie zu Schanden geritten war.

Bald schon würde er sich neue Kleider besorgen müssen, höchstwahrscheinlich würde er sie stehlen müssen. Er war vom Scheitel bis zur Sohle schwarz gekleidet: hohe, lederne Reitstiefel, grobgewebte Hosen und Rock, ärmelloses Lederwams und ein schwerer Wollumhang. Langschwert und Dolch waren in schwarzes Hirschleder gehüllt und Ringkragen und Haube in seiner Satteltasche aus schwarzen Ketten. Jedes dieser Teile konnte seinen Tod bedeuten, wenn er gefangen wurde. Einen schwarz gekleideten Fremden betrachtete man in jedem Dorf und jeder Festung nördlich der Eng mit kaltem Argwohn, und bald schon würden die Männer nach ihm suchen. Waren Maester Aemons Raben erst einmal ausgeflogen, wusste Jon, dass er nirgendwo mehr sicher wäre. Nicht einmal auf Winterfell. Bran mochte ihn einlassen wollen, doch Maester Luwin war dafür zu klug. Er würde die Tore verriegeln und Jon fortschicken, wie es sein sollte. Besser wäre es, wenn er gar nicht erst dorthin ginge.

Er sah die Burg deutlich vor seinem inneren Auge, als hätte er sie erst gestern hinter sich gelassen, die hohen, granitenen Mauern, die Große Halle mit ihrem Geruch nach Rauch und Hund und Braten, das Solar seines Vaters, die Turmkammer, in der er geschlafen hatte. Etwas in ihm wollte nichts so sehr, wie Bran noch einmal lachen hören, einen von Gages Schinkenaufläufen verspeisen oder der Alten Nan bei ihren Geschichten von den Kindern des Waldes und dem Narren Florian lauschen.

Deshalb jedoch hatte er die Mauer nicht hinter sich gelassen. Er war fortgeritten, weil er schließlich seines Vaters Sohn und Robbs Bruder war. Ein geschenktes Schwert, selbst ein so wertvolles wie Langklaue machte ihn nicht zu einem Mormont. Ebenso wenig war er Aemon Targaryen. Dreimal hatte der alte Mann die Wahl gehabt, und dreimal hatte er die Ehre gewählt, aber er war ein anderer Mensch. Auch jetzt noch konnte Jon sich nicht entscheiden, ob der Maester geblieben war, weil er schwach und feige oder stark und treu war. Wohl verstand er, was der alte Mann gemeint hatte, die Qual der Wahl. Das alles verstand er nur allzu gut.

Tyrion Lennister hatte behauptet, dass die meisten Menschen eine schwere Wahrheit eher leugnen würden, als sich ihr zu stellen. Jon wollte nichts mehr leugnen. Er war, wer er war, Jon Schnee, Bastard und Eidbrecher, mutterlos, ohne Freunde, ja, und verdammt. Denn für den Rest seines Lebens – wie lange es auch dauern mochte – wäre er dazu verdammt, ein Ausgestoßener zu sein, der schweigende Mann im Schatten, der nicht wagt, seinen wahren Namen zu nennen. Wohin er in den Sieben Königslanden auch gehen mochte, würde er mit der Lüge leben müssen, damit nicht jedermann seine Hand gegen ihn erhob. Doch war es ihm egal, solange er seinen Platz an der Seite seines Bruders einnehmen und helfen konnte, seinen Vater zu rächen.

Er erinnerte sich an den Moment, als er Robb zuletzt gesehen hatte, wie er auf dem Hof stand, mit Schnee in seinem kastanienbraunen Haar. Jon würde im Geheimen zu ihm gehen müssen, verkleidet. Er versuchte, sich Robbs Miene vorzustellen, wenn er sich ihm offenbarte. Sein Bruder würde den Kopf schütteln und lächeln, und er würde sagen … er würde sagen …

Er konnte das Lächeln nicht sehen. Sosehr er sich bemühte, er konnte es nicht sehen. Er merkte, wie er an den Deserteur dachte, den sein Vater an jenem Tag enthauptet hatte, als sie die Schattenwölfe fanden. »Du hast den Eid gesprochen«, hatte Lord Eddard zu ihm gesagt. »Du hast einen Schwur geleistet, vor deinen Brüdern, vor den alten und den neuen Göttern.« Desmond und der dicke Tom hatten den Mann zum Baumstumpf gezerrt. Brans Augen waren groß wie Untertassen geworden, und Jon hatte ihn ermahnt, die Zügel seines Ponys festzuhalten. Er erinnerte sich an den Blick auf Vaters Gesicht, als Theon Graufreud Eis herantrug, den Blutregen im Schnee, wie Theon nach dem Kopf getreten hatte, als der vor seinen Füßen liegen blieb.

Er fragte sich, was Lord Eddard getan hätte, wenn der Fahnenflüchtige statt dieses zerlumpten Fremden sein Bruder Ben gewesen wäre. Hätte es einen Unterschied gemacht? Das musste er doch, sicher, sicher … und Robb würde ihn willkommen heißen, ganz gewiss. Das musste er, sonst …

Es wäre nicht auszudenken. Schmerz pulsierte tief in seinen Fingern, als er die Zügel hielt. Jon drückte seine Fersen in das Pferd und ließ es galoppieren, stürmte den Königsweg hinab, als wollte er seinen Zweifeln entkommen. Jon fürchtete sich nicht vor dem Tod, doch auf diese Weise wollte er nicht sterben, gefesselt und verschnürt und enthauptet wie ein gemeiner Soldat. Wenn er sterben musste, dann mit einem Schwert in der Hand im Kampf gegen die Mörder seines Vaters. Er war kein echter Stark, war nie einer gewesen … trotzdem konnte er wie einer sterben. Sie sollten sagen, dass Eddard Stark vier Söhne hatte, nicht drei.

Geist hielt fast eine halbe Meile mit ihnen Schritt, die rote Zunge hing ihm aus dem Maul. Der Wolf wurde langsamer, beobachtete sie, die Augen glühend rot im Mondlicht. Er blieb zurück, doch wusste Jon, dass er ihm folgen würde, in seiner eigenen Geschwindigkeit.

Vor ihm flackerten verstreute Lichter durch die Bäume, zu beiden Seiten der Straße: Mulwarft. Ein Hund bellte, als er hindurchritt, und er hörte den heiseren Schrei eines Esels aus dem Stall, ansonsten blieb das Dorf ganz still. Hier und dort leuchteten Kaminfeuer hinter verriegelten Fenstern, drangen durch hölzerne Schlitze, doch nur wenige.

Mulwarft war größer, als es den Anschein hatte, denn drei Viertel davon lagen unter der Erde, in tiefen, warmen Kellern, die durch ein Labyrinth von Tunneln miteinander verbunden waren. Selbst das Hurenhaus befand sich dort unten, an der Oberfläche nichts weiter als eine Holzhütte, kaum größer als ein Abort, mit einer roten Laterne über der Tür. Auf der Mauer hatte er gehört, wie Männer die Huren »vergrabene Schätze« nannten. Er fragte sich, ob von seinen Brüdern heute Abend welche dort unten waren und gruben. Auch das war Eidbruch, allerdings schien sich daran niemand zu stören.

Erst als er weit hinter dem Dorf war, wurde Jon wieder langsamer. Inzwischen war er, wie auch sein Pferd, schweißnass. Zitternd stieg er ab, und seine verbrannte Hand schmerzte. Unter den Bäumen schmolz der Schnee, erstrahlte hell im Mondlicht, Wasser tropfte und bildete kleine, flache Teiche. Jon hockte sich hin und machte seine Hände hohl, fing die Tropfen auf. Der geschmolzene Schnee war eisig kalt. Er trank und warf sich von dem Wasser ins Gesicht, bis seine Wangen brannten. In seinen Fingern pochte der Schmerz schlimmer als seit Tagen, und auch in seinem Kopf hämmerte es. Ich tue das Richtige, sagte er sich, warum also fühle ich mich so elend?

Die Stute war verschwitzt, daher nahm Jon die Zügel und führte sie ein Stück. Die Straße war kaum breit genug, dass zwei Reiter einander passieren konnten, die Oberfläche von kleinen Bächen durchzogen und von Steinen übersät. Die wilde Jagd war wirklich dumm gewesen, eine Einladung zum Genickbruch. Jon fragte sich, was in ihn gefahren war. Hatte er es mit dem Sterben so eilig?

Der verschreckte Schrei eines Tieres von drüben, zwischen den Bäumen, ließ ihn aufblicken. Seine Stute wieherte nervös. Hatte sein Wolf Beute gefunden? Er hielt seine Hände an den Mund. »Geist!«, rief er. »Geist, zu mir.« Als Antwort folgte nur das Rauschen von Flügeln hinter ihm, als sich eine Eule in die Lüfte schwang.

Stirnrunzelnd setzte Jon seinen Weg fort. Er führte die Stute eine halbe Stunde, bis sie trocken war. Geist tauchte nicht wieder auf. Jon wollte gern aufsteigen und weiterreiten, doch sorgte er sich um seinen Wolf. »Geist«, rief er noch einmal. »Wo bist du? Zu mir! Geist!« In diesen Wäldern konnte einem Schattenwolf nichts zustoßen, nicht mal einem halb ausgewachsenen Schattenwolf, es sei denn … nein, Geist war zu schlau, einen Bären anzugreifen, und falls irgendwo ein Wolfsrudel in der Nähe wäre, hätte Jon das Heulen sicher längst gehört.

Er sollte essen, beschloss er. Das würde seinen Magen beruhigen und Geist Gelegenheit geben, aufzuholen. Noch drohte keine Gefahr. Noch schlief die Schwarze Festung. In seiner Satteltasche fand er Brot, ein Stück Käse und einen kleinen, vertrockneten Apfel. Er hatte auch Pökelfleisch mitgebracht und ein Stück Schinkenspeck aus der Küche, doch wollte er das für den nächsten Morgen aufbewahren. Wenn es aufgegessen wäre, würde er jagen müssen, und dann käme er viel langsamer voran.

Jon saß unter den Bäumen und aß sein Brot mit Käse, während seine Stute neben dem Königsweg graste. Den Apfel hob er sich bis zuletzt auf. Er war etwas weich geworden, aber ansonsten noch sauer und saftig. Jon war beim Gehäuse angekommen, als er etwas hörte: Pferde, und zwar von Norden her. Eilig sprang er auf und ging zu seiner Stute. Konnte er ihnen entkommen? Nein, sie waren zu nah, sicher würden sie ihn hören, und wenn sie von der Schwarzen Festung kamen …

Er führte die Stute von der Straße, hinter einen dichten Hain graugrüner Wachbäume. »Still jetzt«, sagte er mit leiser Stimme und hockte sich nieder, um durch die Äste zu spähen. Wenn die Götter ihm wohlgesonnen waren, würden die Reiter weiterziehen. Wahrscheinlich waren es nur Leute aus Mulwarft, Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern, obwohl … was machten sie hier mitten in der Nacht …

Er lauschte, wie der Hufschlag stetig lauter wurde, da sie rasch den Königsweg hinuntertrabten. Es schien, als wären es mindestens fünf oder sechs. Ihre Stimmen wehten durch die Bäume heran.

»… sicher, dass er hier entlanggekommen ist?«

»Wir können nicht sicher sein.«

»Schließlich könnte er auch östlich geritten sein. Oder er hat die Straße verlassen, um durch den Wald zu reiten. Das würde ich tun.«

»Im Dunkeln? Dumm. Wenn du nicht vom Pferd fällst und dir das Genick brichst, verirrst du dich, und wenn die Sonne aufgeht, wärst du wieder an der Mauer.«

»Wär ich nicht.« Grenn klang eingeschnappt. »Ich würde nach Süden reiten. Süden sieht man an den Sternen.«

»Was ist, wenn Wolken am Himmel sind?«, fragte Pyp.

»Dann würde ich nicht reiten.«

Eine andere Stimme unterbrach ihn. »Weißt du, wo ich wäre? Ich wäre in Mulwarft und würde nach vergrabenen Schätzen suchen.« Krötes schrilles Lachen gellte durch den Wald. Jons Stute schnaubte.

»Seid still«, sagte Halder. »Ich glaube, ich hab was gehört. «

»Wo? Ich hab nichts gehört.« Die Pferde hielten an.

»Du kannst dich doch nicht mal selbst furzen hören.«

»Kann ich wohl«, hielt Grenn dagegen.

»Still!«

Sie alle schwiegen, lauschten. Jon merkte, dass er die Luft anhielt. Sam, dachte er. Er war nicht zum Alten Bären gegangen, aber auch nicht ins Bett, er hatte die anderen Jungen geweckt. Verdammt sollten sie sein! Wenn der Morgen graute und sie noch nicht in ihren Betten waren, würde man auch sie als Fahnenflüchtige suchen. Was glaubten sie denn, was sie da taten?

Die Stille schien kein Ende nehmen zu wollen. Von dort, wo Jon kauerte, konnte er die Beine ihrer Pferde durch die Zweige sehen. Schließlich meldete sich Pyp zu Wort. »Was hast du gehört?«

»Ich weiß nicht«, räumte Halder ein. »Ein Geräusch, ich dachte, es wäre vielleicht ein Pferd gewesen, aber …«

»Da ist nichts.«

Aus den Augenwinkeln sah Jon einen hellen Schatten, der sich durch die Bäume schob. Blätter raschelten, und Geist sprang aus dem Dunkel hervor, so plötzlich, dass Jons Stute erschrak und wieherte. »Da!«, rief Halder.

»Ich hab es auch gehört!«

»Verräter«, sagte Jon zu seinem Schattenwolf und schwang sich in den Sattel. Er riss den Kopf der Stute herum, um sie durch die Bäume zu lenken, doch waren sie bei ihm, bevor er auch nur zehn Schritte machen konnte.

»Jon!«, rief Pyp ihm nach.

»Bleib stehen«, sagte Grenn. »Du kannst uns nicht allen entkommen.«

Jon fuhr herum, um sich ihnen zu stellen, zog das Schwert. »Geht weg. Ich will Euch nichts tun, aber ich tu es, wenn ich muss.«

»Einer gegen sieben?« Halder gab ein Signal. Die Jungen verteilten sich, kreisten ihn ein.

»Was wollt ihr von mir?«, rief Jon.

»Wir wollen dich wieder dahin bringen, wo du hingehörst«, sagte Pyp.

»Ich gehöre zu meinem Bruder.«

»Wir sind jetzt deine Brüder«, sagte Grenn.

»Sie hacken dir den Kopf ab, wenn sie dich erwischen«, warf Kröte mit nervösem Lachen ein. »Das ist so dumm, das ist was, das Auerochs tun würde.«

»Würde ich nicht«, sagte Grenn. »Ich bin kein Eidbrecher. Ich habe die Worte gesprochen, und ich habe sie auch so gemeint.«

»Das habe ich auch«, erklärte Jon. »Versteht ihr denn nicht? Die haben meinen Vater ermordet. Es ist Krieg, mein Bruder Robb kämpft in den Flusslanden …«

»Das wissen wir«, sagte Pyp ernst. »Sam hat uns alles erzählt. «

»Das mit deinem Vater tut uns leid«, sagte Grenn, »aber es ändert nichts. Hast du den Eid erst abgelegt, kannst du nicht weg, egal, wohin.«

»Ich muss«, rief Jon inbrünstig.

»Du hast die Worte gesagt«, erinnerte ihn Pyp. »Meine Wacht beginnt, du hast es gesagt. Sie soll nicht enden vor meinem Tod.«

»Ich will auf meinem Posten leben und sterben«, fügte Grenn nickend hinzu.

»Du musst mir die Worte nicht sagen, ich kenne sie so gut wie du.« Er wurde böse. Wieso konnten sie ihn nicht in Ruhe lassen? Sie machten es ihm nur schwerer.

»Ich bin das Schwert in der Dunkelheit«, stimmte Halder an.

»Der Wächter auf den Mauern«, krähte Kröte.

Jon fluchte ihnen allen ins Gesicht. Sie beachteten ihn nicht. Pyp brachte sein Pferd näher heran, zitierte: »Ich bin das Feuer, das gegen die Kälte brennt, das Licht, das den Morgen bringt, das Horn, das die Schläfer weckt, der Schild, der die Reiche der Menschen schützt.«

»Bleib zurück«, warnte Jon ihn und schwang drohend sein Schwert. »Ich meine es ernst, Pyp.« Sie trugen nicht einmal ihre Rüstungen, er konnte sie in Stücke hacken, wenn er musste.

Matthar war hinter ihn getreten. Er stimmte in den Chor mit ein. »Ich widme mein Leben und meine Ehre der Nachtwache. «

Jon trat seine Stute, drehte sie herum. Die Jungen waren jetzt überall um ihn, kamen von allen Seiten näher.

»In dieser Nacht …« Halder trabte von links heran.

»… und in allen Nächten, die da noch kommen werden«, endete Pyp. Er griff nach Jons Zügeln. »Ich sag dir, welche Wahl du hast. Töte mich oder komm mit mir zurück.«

Jon hob sein Schwert … und ließ es hilflos sinken. »Verdammt sollst du sein«, sagte er. »Ihr alle.«

»Müssen wir dir die Hände fesseln oder gibst du uns dein Wort, dass du friedlich mit uns zurückreitest?«, fragte Halder.

»Ich werde nicht fliehen, falls du das meinst.« Geist kam unter den Bäumen hervor, und Jon warf ihm einen bösen Blick zu. »Du warst keine große Hilfe«, sagte er. Wissend sahen ihn die tiefen, roten Augen an.

»Wir sollten uns lieber beeilen«, sagte Pyp. »Wenn wir nicht vor der Dämmerung zurück sind, wird der Alte Bär uns allen die Köpfe abschlagen.«

Vom Ritt zurück blieb Jon Schnee nur wenig in Erinnerung. Er schien ihm kürzer als der Ritt gen Süden, vielleicht weil er mit seinen Gedanken woanders war. Pyp gab das Tempo vor, galoppierte, ging Schritt, trabte und fiel dann wieder in Galopp. Mulwarft tauchte auf und verschwand wieder, die rote Laterne über dem Bordell war lange schon erloschen. Sie kamen gut voran. Es war noch eine gute Stunde vor der Dämmerung, als Jon die Türme von der Schwarzen Festung voraus erblickte, düster vor der mächtigen, fahlen Wand der Mauer. Diesmal erschien es ihm nicht wie ein Zuhause.

Sie konnten ihn zurückbringen, sagte Jon bei sich, aber sie konnten ihn nicht zum Bleiben zwingen. Der Krieg würde nicht am Morgen enden, auch nicht am Tag darauf, und seine Freunde konnten nicht Tag und Nacht auf ihn aufpassen. Er würde warten, sie glauben machen, dass er sich damit abgefunden hätte, hierzubleiben … und dann, wenn sie nachlässig wurden, wäre er wieder unterwegs. Beim nächsten Mal wollte er den Königsweg meiden. Er wollte der Mauer nach Osten folgen, vielleicht bis ganz zum Meer, eine längere Route, aber sicherer. Oder sogar gen Westen und dann südlich über den hohen Pass. Das war der Weg der Wildlinge, hart und gefährlich, aber zumindest würde ihm niemand folgen. In die Nähe des Königswegs wollte er sich nicht verirren.

Samwell Tarly erwartete sie in den alten Ställen, saß am Boden gegen einen Bund Heu gelehnt, zu aufgeregt, um schlafen zu können. Er stand auf und bürstete sich ab. »Ich … ich bin froh, dass sie dich gefunden haben, Jon.«

»Ich nicht«, sagte Jon, als er abstieg.

Pyp sprang von seinem Pferd und warf einen angewiderten Blick in den heller werdenden Himmel. »Hilf uns, die Pferde fertig zu machen, Sam«, sagte der kleine Junge. »Wir haben einen langen Tag vor uns und dank unserem Lord Schnee keinen Schlaf gehabt.«

Der Tag brach an, und Jon ging in die Küche, wie er es an jedem Morgen tat. Drei-Finger-Hobb sagte nichts, als er ihm das Frühstück des Alten Bären aushändigte. Heute waren es drei braune Eier, hart gekocht, mit Röstbrot und Schinken und eine Schale mit runzligen Pflaumen. Jon trug das Essen zum Königsturm hinüber. Er fand Mormont am Fenstersitz beim Schreiben. Der Rabe lief auf seinen Schultern hin und her, murmelte: »Korn, Korn, Korn«, und kreischte, als Jon eintrat. »Stell das Essen auf den Tisch«, sagte der Alte Bär und blickte auf. »Ich möchte etwas Bier.«

Jon öffnete einen Fensterladen, nahm die Flasche Bier vom äußeren Sims und schenkte ein Horn voll. Hobb hatte ihm eine Zitrone gegeben, die noch kalt von der Mauer war. Jon zerdrückte sie in seiner Faust. Der Saft tropfte durch seine Finger. Mormont trank jeden Tag Zitrone in seinem Bier und behauptete, das sei der Grund dafür, wieso er noch seine eigenen Zähne hatte.

»Ohne Zweifel hast du deinen Vater geliebt«, sagte der Lord Kommandant, als Jon ihm sein Horn brachte. »Uns vernichtet stets das, was wir lieben, Junge. Weißt du noch, wann ich das zu dir gesagt habe?«

»Das weiß ich noch«, sagte Jon trübsinnig. Er wollte nicht über den Tod seines Vaters sprechen, nicht einmal mit Mormont.

»Achte darauf, dass du es nie vergisst. Die harten Wahrheiten sind diejenigen, an die man sich halten sollte. Bring mir meinen Teller. Ist es wieder Schinken? Soll wohl so sein. Du siehst müde aus. War dein Ritt im Mondschein so anstrengend? «

Jons Kehle war trocken. »Ihr wisst es?«

»Wisst es«, wiederholte der Rabe von Mormonts Schulter. »Wisst es.«

Der Alte Bär schnaubte. »Glaubst du, man hätte mich zum Lord Kommandanten der Nachtwache gemacht, weil ich dumm wie Stroh bin, Schnee? Aemon hat mir gesagt, dass du gehen würdest. Ich habe ihm gesagt, du würdest zurückkommen. Ich kenne meine Männer … und meine Jungen auch. Die Ehre hat dich auf den Königsweg geschickt … und die Ehre hat dich zurückgebracht.«

»Meine Freunde haben mich zurückgebracht«, sagte Jon.

»Habe ich von deiner Ehre gesprochen?« Mormont betrachtete seinen Teller.

»Sie haben meinen Vater ermordet. Erwartet Ihr von mir, dass ich untätig herumsitze?«

»Wenn ich die Wahrheit sagen soll, haben wir erwartet, dass du genau das tust, was du getan hast.« Mormont probierte eine Pflaume, spuckte den Kern aus. »Ich hatte eine Wache abgestellt, die auf dich achten sollte. Man hat gesehen, wie du ausgeritten bist. Wenn deine Brüder dich nicht geholt hätten, hättest du den langen Weg genommen, aber nicht mit deinen Freunden. Es sei denn, du hättest ein Pferd mit Flügeln wie ein Rabe. Hast du?«

»Nein.« Jon fühlte sich wie ein Idiot.

»Schade, wir hätten Verwendung für ein solches Pferd.«

Jon richtete sich auf. Er sagte sich, er wollte aufrecht sterben. So viel zumindest konnte er tun. »Ich kenne die Strafe für Fahnenflucht, Mylord. Ich habe keine Angst zu sterben. «

»Sterben!«, schrie der Rabe.

»Und auch nicht zu leben, wie ich hoffe«, sagte Mormont, schnitt seinen Schinken mit einem Dolch und fütterte den Raben mit einem Bissen. »Du bist nicht fahnenflüchtig geworden … bisher. Da stehst du vor mir. Wenn wir jeden Jungen köpfen würden, der des Nachts nach Mulwarft reitet, würden nur noch Geister die Mauer bewachen. Aber vielleicht hast du die Absicht, morgen noch einmal zu fliehen oder in zwei Wochen. Ist das so? Ist das deine Hoffnung, Junge?«

Jon schwieg.

»Das habe ich mir gedacht.« Mormont pellte die Schale von einem gekochten Ei. »Dein Vater ist tot, Junge. Glaubst du, du könntest ihn zurückholen?«

»Nein«, antwortete er bedrückt.

»Gut«, sagte Mormont. »Wir beide haben gesehen, wie die Toten wiederkehren, du und ich, und das ist nichts, was ich gern noch einmal erleben möchte.« Er aß sein Ei mit zwei Bissen und holte ein Stück Schale zwischen seinen Zähnen hervor. »Dein Bruder steht mit der ganzen Streitmacht des Nordens auf dem Schlachtfeld. Jeder einzelne seiner verbündeten Lords befehligt mehr Recken, als du in der Nachtwache findest. Warum, glaubst du, bräuchte er deine Hilfe? Bist du ein so gewaltiger Krieger oder trägst du einen Grumkin in der Hosentasche, der dein Schwert verzaubert?«

Jon wusste ihm nichts zu antworten. Der Rabe pickte auf ein Ei ein, brach die Schale auf. Er schob den Schnabel durch das Loch und zog Bissen von Weißem und Eigelb hervor.

Der Alte Bär seufzte. »Du bist nicht der Einzige, den dieser Krieg berührt. Ob es mir gefällt oder nicht: Meine Schwester marschiert in der Armee deines Bruders, sie und ihre Töchter, in Männerrüstungen. Maegen ist ein grauer, alter Snark, halsstarrig, ungeduldig und eigensinnig. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, kann ich es kaum ertragen, dieses scheußliche Weib um mich zu haben, doch heißt das nicht, dass meine Liebe zu ihr geringer wäre als die Liebe, die du für deine Halbschwestern empfindest.« Stirnrunzelnd nahm Mormont sein letztes Ei und drückte es in seiner Faust, bis die Schale knirschte. »Oder vielleicht doch. Sei es, wie es sei, trotzdem würde ich trauern, wenn sie sterben sollte, und dennoch siehst du mich nicht fortlaufen. Ich habe den Eid abgelegt, genau wie du. Ich gehöre hierher … wohin gehörst du, Junge?«

Ich gehöre nirgendwohin, wollte Jon sagen, ich bin ein Bastard, ich habe keine Rechte, keinen Namen, keine Mutter und jetzt nicht mal mehr einen Vater. Die Worte wollten nicht heraus. »Ich weiß es nicht.«

»Aber ich«, sagte Lord Kommandant Mormont. »Kalter Wind kommt auf, Schnee. Jenseits der Mauer werden die Schatten lang. Cotter Peik berichtet von großen Elchherden, die südlich und östlich zum Meer ziehen, ebenso die Mammuts. Er sagt, einer seiner Männer habe keine drei Wegstunden von Ostwacht riesenhafte, missgestaltete Fußabdrücke gefunden. Grenzer vom Schattenturm haben ganze Dörfer gefunden, die verlassen waren, und Ser Denys sagt, bei Nacht sehen sie Feuer in den Bergen, mächtige Flammen, die von abends bis morgens auflodern. Qhorin Halbhand hat in den Tiefen des Schlundes einen Gefangenen gemacht, und der Mann schwört, dass Manke Rayder seine Leute in einer geheimen Festung sammelt, die er gefunden hat, zu welchem Zweck, wissen nur die Götter. Glaubst du, dein Onkel Benjen war der einzige Grenzer, den wir im letzten Jahr verloren haben?«

»Ben Jen«, krächzte der Rabe, nickte mit dem Kopf, und Stückchen vom Ei fielen aus seinem Schnabel. »Ben Jen. Ben Jen.«

»Nein«, sagte Jon. Sie hatten auch andere verloren. Zu viele.

»Glaubst du, der Krieg deines Bruders sei wichtiger als unserer?«, bellte der alte Mann.

Jon kaute an seiner Lippe. Der Rabe flatterte ihn mit seinen Flügeln an. »Krieg, Krieg, Krieg, Krieg«, krähte er.

»Ist er nicht«, erklärte ihm Mormont. »Mögen uns die Götter retten, Junge, du bist nicht blind, und du bist nicht dumm. Wenn tote Menschen einen bei Nacht verfolgen, glaubst du, dass es da noch wichtig ist, wer auf dem Eisernen Thron sitzt?«

»Nein.« Aus diesem Blickwinkel hatte Jon die Sache noch nicht betrachtet.

»Dein Hoher Vater hat dich zu uns geschickt, Jon. Wer kann schon sagen, warum?«

»Warum, warum, warum?«, schrie der Rabe.

»Ich weiß nur, dass das Blut der Ersten Menschen in den Adern der Starks fließt. Die Ersten Menschen haben die Mauer errichtet, und es heißt, sie erinnerten sich an Dinge, die ansonsten vergessen wären. Und dieses Vieh, das du da hast … es hat uns zu diesen Kreaturen geführt, hat dich vor dem toten Mann auf der Treppe gewarnt. Ser Jarmy würde es ganz sicher Zufall nennen, aber Ser Jarmy ist tot, und ich hingegen nicht.« Lord Mormont spießte mit der Spitze seines Dolches ein Stück Schinken auf. »Ich glaube, dass du dafür geboren wurdest, hier zu sein, und ich möchte, dass du mit deinem Wolf dabei bist, wenn wir vor die Mauer gehen.«

Seine Worte schickten Jon einen Schauer der Aufregung über den Rücken. »Vor die Mauer?«

»Du hast mich gehört. Ich habe die Absicht, Benjen Stark zu suchen, tot oder lebendig.« Er kaute und schluckte. »Ich werde nicht feige hier herumsitzen und auf Schnee und Eiswind warten. Wir müssen herausfinden, was vor sich geht. Diesmal wird die Nachtwache als Streitmacht ausreiten, gegen den König-jenseits-der-Mauer, die Anderen und alles, was sonst noch dort draußen sein mag. Ich habe die Absicht, das Kommando selbst zu übernehmen.« Er deutete mit dem Dolch auf Jons Brust. »Üblicherweise ist der Kämmerer des Lord Kommandanten gleichzeitig sein Knappe … nur möchte ich nicht jeden Morgen aufwachen und mich fragen, ob du wieder weggelaufen bist. Also will ich von dir eine Antwort, Lord Schnee, und ich will sie jetzt. Bist du ein Bruder der Nachtwache … oder nur ein Bastardbengel, der Krieg spielen will?«

Jon richtete sich auf und holte lang und tief Luft. Vergib mir, Vater. Robb, Arya, Bran … vergebt mir, ich kann Euch nicht helfen. Er spricht die Wahrheit. Ich gehöre hierher. »Ich gehöre … Euch, Mylord. Ich bin Euer Mann. Ich schwöre es. Ich laufe nie wieder fort.«

Der Alte Bär schnaubte. »Gut. Dann geh und leg dein Schwert an.«