SANSA

Sansa holten sie am dritten Tag.

Sie wählte ein schlichtes Kleid aus dunkelgrauer Wolle, einfach geschnitten, aber reich verziert um Kragen und Ärmel. Ihre Finger fühlten sich klobig und unbeholfen an, als sie ohne Hilfe ihrer Dienerinnen mit den silbernen Befestigungen rang. Jeyne Pool war mit ihr eingesperrt, doch Jeyne war zu nichts zu gebrauchen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und anscheinend konnte sie nicht aufhören, um ihren Vater zu weinen.

»Ich bin sicher, dass es deinem Vater gut geht«, erklärte Sansa, nachdem sie das Kleid schließlich richtig geknöpft hatte. »Ich werde die Königin bitten, dich zu ihm zu lassen. « Sie glaubte, die Freundlichkeit würde Jeyne wieder auf andere Gedanken bringen, doch das Mädchen sah sie nur mit roten, geschwollenen Augen an und weinte nur noch umso heftiger. Sie war so kindisch.

Auch Sansa hatte geweint am ersten Tag. Selbst innerhalb der dicken Mauern von Maegors Feste, trotz verriegelter und verrammelter Türen, befiel sie das Entsetzen, als das Morden begann. Aufgewachsen mit dem Klirren von Stahl war kaum ein Tag ihres Lebens vergangen, an dem sie nicht gehört hatte, wie ein Schwert aufs andere traf, allein das Wissen darum, dass diese Kämpfe echt waren, machte den entscheidenden Unterschied. Sie hörte es, wie sie es noch nie zuvor gehört hatte, und anderes noch dazu, Schmerzensschreie, wütende Flüche, Hilferufe und das Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden. In den Liedern schrien die Ritter nie, nie flehten sie um Gnade.

Also weinte sie, bettelte durch die Tür, man möge ihr sagen, was vor sich ginge, rief nach dem Vater, nach Septa Mordane, nach dem König, nach ihrem tapferen Prinzen. Falls die Männer, die sie bewachten, ihr Flehen vernahmen, so gaben sie keine Antwort. Nur einmal ging die Tür auf, und zwar in jener Nacht, als sie Jeyne Pool zu ihr hereinwarfen, mit blauen Flecken übersät und zitternd. »Sie bringen alle um«, hatte die Tochter des Haushofmeisters geschrien. Sie redete und redete. Der Bluthund habe ihre Tür mit einem Streithammer eingeschlagen, erzählte sie. Leichen lägen auf der Treppe zum Turm der Hand, und die Stufen seien rutschig vom Blut. Sansa wischte ihre eigenen Tränen fort und tröstete die Freundin. Sie schliefen im selben Bett, umarmten einander wie Schwestern.

Am zweiten Tag war es noch ärger. Die Kammer, in die man Sansa gesperrt hatte, lag oben im höchsten Turm von Maegors Feste. Vom Fenster aus konnte sie sehen, dass die schweren, eisernen Fallgitter im Torhaus herabgelassen waren, und hochgezogen war auch die Zugbrücke über dem trockenen Burggraben, der die Burg in der Burg von der großen Festung außen trennte. Gardisten der Lennisters schlichen mit Spießen und Armbrüsten in Händen auf den Mauern herum. Der Kampf war vorüber, und Grabesstille hatte sich über den Roten Bergfried gesenkt. Zu hören war nur noch Jeyne Pools endloses Jammern und Schluchzen.

Man gab ihnen zu essen – harten Käse und frisch gebackenes Brot mit Milch am Morgen, Brathühnchen mit Gemüse am Mittag und zum späten Abendbrot einen Eintopf aus Rindfleisch und Gerste –, aber die Diener, die das Essen brachten, wollten auf Sansas Fragen keine Antwort geben. An diesem Abend brachten ihr einige Frauen Kleider aus dem Turm der Hand und dazu einige von Jeyne Pools Sachen, doch schienen sie fast so verängstigt wie Jeyne; sie versuchte, mit ihnen zu sprechen, da flohen sie vor ihr, als hätte sie die graue Pest. Die Wachen vor der Tür weigerten sich nach wie vor, sie aus der Kammer zu lassen.

»Bitte, ich muss mit der Königin reden«, erklärte Sansa ihnen, wie sie es jedem erklärte, den sie an diesem Tage sah. »Sie wird mich sprechen wollen, ich weiß es genau. Sagt ihr, ich möchte sie sehen, bitte. Wenn nicht die Königin, dann Prinz Joffrey, falls Ihr so freundlich wäret. Wir wollen heiraten, wenn wir älter sind.«

In der Abenddämmerung des zweiten Tages wurde eine große Glocke geschlagen. Sie klang tief und tönte voll, und das lange, langsame Geläut erfüllte Sansa mit Furcht. Das Läuten ging immer weiter, und nach einer Weile hörten sie, wie andere Glocken in der Großen Septe von Baelor auf Visenyas Hügel antworteten. Wie Donner rumpelten sie über die Stadt und warnten vor einem kommenden Sturm.

»Was ist los?«, fragte Jeyne und hielt sich die Ohren zu. »Wieso läuten sie die Glocken?«

»Der König ist tot.« Sansa konnte nicht sagen, woher sie es wusste, und dennoch war sie dessen gewiss. Das langsame, endlose Läuten erfüllte ihre Kammer, traurig wie ein Klagelied. Hatte ein Feind die Burg erstürmt und König Robert ermordet? War das jener Kampf gewesen, den sie gehört hatten?

Verwundert, rastlos und verängstigt schlief sie ein. War ihr hübscher Joffrey jetzt König? Oder hatten sie auch ihn gemeuchelt? Sie sorgte sich um ihn und ihren Vater. Wenn sie nur wüsste, was vor sich ging …

In dieser Nacht träumte Sansa von Joffrey auf dem Thron und von sich selbst neben ihm, in einem Kleid aus gewebtem Gold. Sie trug eine Krone auf dem Kopf, und alle, die sie je gekannt hatte, traten vor sie, um auf die Knie zu fallen und ihr die Aufwartung zu machen.

Am nächsten Morgen, dem Morgen des dritten Tages, erschien Ser Boros Blount von der Königsgarde, um sie zur Königin zu eskortieren.

Ser Boros war ein hässlicher Mann mit breiter Brust und kurzen Säbelbeinen. Seine Nase war platt, seine Wangen hingen durch, sein Haar war grau und spröde. Heute trug er weißen Samt, und sein schneeweißer Umhang wurde von einer Löwenbrosche gehalten. Das Tier besaß den weichen Schimmer von Gold, und seine Augen waren winzige Rubine. »Prächtig und prunkvoll seht Ihr heute Morgen aus, Ser Boros«, erklärte Sansa. Eine Dame vergaß nie ihre Umgangsformen, und sie war entschlossen, eine Dame zu sein, komme, was wolle.

»Ganz wie Ihr, Mylady«, sagte Ser Boros mit toter Stimme. »Ihre Majestät erwartet Euch. Folgt mir.«

Draußen vor ihrer Tür standen Wachen, bewaffnete Männer der Lennisters mit roten Umhängen und Löwenhelmen. Sansa zwang sich, sie freundlich anzulächeln, und wünschte ihnen einen guten Morgen, während sie vorüberging. Es war das erste Mal, dass man sie aus ihrer Kammer ließ, seit Ser Arys Eichenherz sie vor zwei Tagen hergebracht hatte. »Damit du in Sicherheit bist, mein süßes Kind«, hatte Königin Cersei ihr erklärt. »Joffrey würde es mir nie verzeihen, wenn seiner Liebsten etwas zustieße.«

Sansa hatte erwartet, dass Ser Boros sie zu den königlichen Gemächern begleiten würde, doch stattdessen führte er sie aus Maegors Feste hinaus. Die Brücke war wieder unten. Arbeiter ließen einen Mann an Seilen in die Tiefen des trockenen Grabens hinab. Als Sansa hinunterblickte, sah sie eine Leiche, die am Grund auf den riesenhaften Eisenspitzen gepfählt war. Hastig wandte sie die Augen ab, fürchtete sich zu fragen, fürchtete sich, zu lange hinzusehen, fürchtete, es könne jemand sein, den sie kannte.

Sie fanden Königin Cersei in den Ratsgemächern, wo sie am Kopfende eines langen Tisches voller Papiere, Kerzen und Blöcken Siegelwachs saß. Der Raum war prunkvoller als alles, was Sansa je gesehen hatte. Staunend starrte sie die Schnitzereien und die beiden Sphinxe an, die neben der Tür kauerten.

»Majestät«, grüßte Ser Boros, nachdem ein anderer Mann der Königsgarde, Ser Mandon mit dem seltsam toten Gesicht, sie hereingeschoben hatte. »Ich bringe das Mädchen. «

Sansa hatte gehofft, Joffrey wäre bei ihr. Statt ihres Prinzen waren nur drei Ratsherren des Königs anwesend. Lord Petyr Baelish saß linker Hand der Königin, Großmaester Pycelle am Ende des Tisches, während Lord Varys über ihnen thronte und nach Blumen roch. Sie alle waren schwarz gekleidet, wie sie ängstlich bemerkte. Trauerkleider …

Die Königin trug ein ebenfalls schwarzes Seidenkleid mit hohem Kragen und hundert dunkelroten Rubinen, die sie vom Hals bis zur Brust bedeckten. Sie waren in Tropfenform geschnitten und wirkten, als weinte die Königin Blut. Cersei lächelte sie an, als sie sie sah, und für Sansa war es das hübscheste und traurigste Lächeln, das sie je gesehen hatte. »Sansa, mein süßes Kind«, sagte sie, »ich weiß, du hast nach mir gerufen. Es tut mir leid, dass ich nicht früher nach dir schicken konnte. Die Lage war sehr unklar, und ich konnte keinen Augenblick erübrigen. Ich hoffe, meine Untergebenen haben gut für dich gesorgt?«

»Alle waren nett und freundlich, Majestät, danke der freundlichen Nachfrage«, erwiderte Sansa höflich. »Nur, na ja, niemand will uns verraten, was geschehen ist …«

»Uns?« Cersei schien überrascht.

»Wir haben das Mädchen des Haushofmeisters mit bei ihr untergebracht«, sagte Ser Boros. »Wir wussten nicht, was wir sonst mit ihr machen sollten.«

Die Königin legte die Stirn in Falten. »Beim nächsten Mal werdet Ihr fragen«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Allein die Götter wissen, mit welchen Geschichten sie Sansa beunruhigt hat.«

»Jeyne fürchtet sich«, sagte Sansa. »Sie hört gar nicht auf zu weinen. Ich habe ihr versprochen zu fragen, ob sie ihren Vater sehen darf.«

Der alte Großmaester Pycelle senkte den Blick.

»Ihrem Vater geht es doch gut, oder?«, fragte Sansa bange. Sie wusste, dass es Kämpfe gegeben hatte, doch einem Haushofmeister würde doch sicher niemand etwas zuleide tun. Vayon Pool trug nicht mal ein Schwert.

Königin Cersei blickte jeden der Ratsherren einzeln an. »Ich möchte nicht, dass sich Sansa solche Sorgen macht. Was sollen wir mit ihrer kleinen Freundin anfangen, Mylords? «

Lord Petyr beugte sich vor. »Ich werde einen Platz für sie suchen.«

»Nicht in der Stadt.«

»Haltet Ihr mich für einen Narren?«

Die Königin überging das. »Ser Boros, bringt das Mädchen in Lord Petyrs Gemächer, und weist seine Leute an, sich dort um sie zu kümmern, bis er sie holt. Sagt ihr, dass Kleinfinger kommt, um sie zu ihrem Vater zu bringen, das sollte sie beruhigen. Ich möchte, dass sie fort ist, wenn Sansa wieder in ihre Kammer zurückkehrt.«

»Wie Ihr wünscht, Majestät«, sagte Ser Boros. Er verneigte sich tief, machte auf dem Absatz kehrt und ging, wobei sein langer, weißer Umhang die Luft in seinem Rücken aufwirbelte.

Sansa war verdutzt. »Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Wo ist denn Jeynes Vater? Wieso kann Ser Boros sie nicht an Stelle von Lord Petyr zu ihm bringen?« Sie hatte sich vorgenommen, ganz die Dame zu spielen, sanft wie die Königin und stark wie ihre Mutter, Lady Catelyn, aber plötzlich erfüllte sie wieder große Furcht. Eine Sekunde lang glaubte sie, weinen zu müssen. »Wohin schickt man sie? Sie hat nichts Falsches getan, sie ist ein gutes Mädchen.«

»Sie hat dich aufgeregt«, sagte die Königin sanft. »Das dürfen wir nicht dulden. Und jetzt kein Wort mehr. Lord Baelish wird veranlassen, dass man sich um Jeyne kümmert, das verspreche ich dir.« Sie strich über einen Stuhl neben sich. »Setz dich, Sansa, ich möchte mit dir reden.«

Sansa nahm neben der Königin Platz. Abermals lächelte Cersei, doch konnte diese Geste Sansa die Sorge nicht nehmen. Varys knetete seine weichen Hände, Großmaester Pycelle hielt seine müden Augen auf die Papiere vor sich gerichtet, und sie spürte, wie Kleinfinger sie anstarrte. Etwas am Blick des kleinen Mannes gab Sansa das Gefühl, als hätte sie keine Kleider an. Das verursachte ihr eine Gänsehaut.

»Süße Sansa«, sagte Königin Cersei und legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Solch ein hübsches Kind. Ich hoffe, du weißt, wie sehr Joffrey und ich dich lieben.«

»Ja?«, sagte Sansa atemlos. Kleinfinger war vergessen. Ihr Prinz liebte sie. Nichts anderes zählte.

Die Königin lächelte. »Du bist mir fast eine Tochter. Und ich weiß auch um die Liebe, die du für Joffrey hegst.« Müde schüttelte sie den Kopf. »Ich fürchte, was deinen Vater betrifft, gibt es einige sehr ernste Neuigkeiten. Du musst tapfer sein, Kind.«

Bei ihren leisen Worten wurde Sansa ganz kalt. »Was für Neuigkeiten?«

»Dein Vater ist ein Verräter, meine Liebe«, sagte Lord Varys.

Großmaester Pycelle hob seinen alten Kopf. »Mit meinen eigenen Ohren habe ich gehört, wie Lord Eddard unserem geliebten König Robert geschworen hat, er würde die jungen Prinzen beschützen, als wären sie seine eigenen Söhne. Im selben Augenblick jedoch, als unser König starb, rief er den Kleinen Rat zusammen, um Prinz Joffrey seinen rechtmäßigen Thron zu nehmen.«

»Nein«, platzte Sansa heraus. »Das würde er nicht tun. Das würde er nicht!«

Die Königin nahm einen Brief auf. Das Papier war zerrissen und starr von trockenem Blut, doch das aufgebrochene Siegel war das ihres Vaters, der Schattenwolf in hellem Wachs. »Das haben wir beim Hauptmann eurer Leibgarde gefunden, Sansa. Es ist ein Brief an Stannis, den Bruder meines verstorbenen Mannes, in dem er aufgefordert wird, die Krone für sich zu beanspruchen.«

»Bitte, Majestät, das muss ein Missverständnis sein.« Plötzliche Panik umnebelte ihre Sinne. »Bitte, schickt nach meinem Vater, er wird es Euch erklären, er würde niemals einen solchen Brief schreiben, der König war sein Freund.«

»Das glaubte Robert«, sagte die Königin. »Dieser Verrat hätte ihm das Herz gebrochen. Die Götter sind gnädig, dass er es nicht mehr erleben musste.« Sie seufzte. »Sansa, Süße, du musst verstehen, in welch schreckliche Lage uns das gebracht hat. Du bist unschuldig an dem, was geschehen ist, wir alle wissen es, dennoch bist du die Tochter eines Hochverräters. Wie kann ich dir erlauben, meinen Sohn zu heiraten? «

»Aber ich liebe ihn«, weinte Sansa verwirrt und verängstigt. Was hatten sie mit ihr vor? Was hatten sie mit ihrem Vater gemacht? So hatte es nicht kommen sollen. Sie hatte Joffrey heiraten sollen, sie waren verlobt, er war ihr versprochen, sie hatte sogar davon geträumt. Es war nicht gerecht, ihn ihr wegen etwas zu nehmen, das ihr Vater getan haben mochte.

»Wie gut ich das weiß, Kind«, sagte Cersei mit freundlicher Stimme. »Warum sonst wärest du zu mir gekommen und hättest mir vom Plan deines Vaters erzählt, dass er dich fortschicken will, wenn nicht aus Liebe?«

»Es war aus Liebe«, sagte Sansa aufgebracht. »Vater wollte mir nicht die Erlaubnis geben, Lebewohl zu sagen.« Sie war das gute Mädchen, das gehorsame Mädchen, doch hatte sie sich an jenem Morgen so ungezogen wie Arya gefühlt, war von Septa Mordane fortgeschlichen und hatte sich ihrem Vater widersetzt. Noch nie hatte sie etwas derart Eigensinniges getan, und sie hätte auch nicht daran gedacht, wenn sie nicht Joffrey so sehr liebte. »Er wollte mich nach Winterfell zurückschicken und mich mit irgendeinem kleinen Ritter verheiraten, obwohl ich doch Joffrey will. Ich habe es ihm gesagt, aber er wollte nicht auf mich hören.« Der König war ihre letzte Hoffnung gewesen. Der König konnte ihrem Vater befehlen, sie in Königsmund zu lassen und Prinz Joffrey zu heiraten, Sansa wusste, dass er es konnte, nur hatte der König ihr stets Angst gemacht. Er war laut und hatte eine raue Stimme und war so oft betrunken, und wahrscheinlich hätte er sie einfach zu Lord Eddard zurückgeschickt, falls man sie überhaupt zu ihm vorgelassen hätte. Also ging sie stattdessen zur Königin und schüttete ihr das Herz aus, und Cersei hatte ihr zugehört und freundlich gedankt … danach hatte Ser Arys sie ins hohe Zimmer von Maegors Feste geleitet und Wachen aufgestellt, und ein paar Stunden später hatten draußen die Kämpfe begonnen. »Bitte«, endete sie, »Ihr müsst mich Joffrey heiraten lassen, ich will ihm eine gute Frau sein, Ihr werdet sehen. Ich werde eine Königin wie Ihr sein, ich verspreche es.«

Königin Cersei sah die anderen an. »Meine edlen Herren vom Rat, was meint Ihr zu ihrem Flehen?«

»Das arme Kind«, murmelte Varys. »Eine Liebe, so wahr und unschuldig, Majestät, es wäre grausam, sie dem Kinde zu verweigern … und doch, was können wir tun? Ihr Vater ist verurteilt.« Seine weichen Hände wuschen einander in einer Geste von hilflosem Kummer.

»Ein Mädchen, das mit dem Samen eines Verräters gezeugt wurde, wird merken, dass der Verrat ihr ganz natürlich kommt«, sagte Großmaester Pycelle. »Jetzt ist sie ein so süßes Ding, aber in zehn Jahren, wer kann schon sagen, was sie alles ausbrütet?«

»Nein«, sagte Sansa entsetzt. »Ich werde nicht, ich will nie … ich würde Joffrey nie verraten, ich liebe ihn, ich schwöre es.«

»Oh, wie ergreifend«, sagte Varys. »Und doch ist es wahr gesprochen: Blut spricht lauter als alle Schwüre.«

»Sie erinnert mich an die Mutter, nicht den Vater«, befand Lord Petyr Baelish leise. »Seht sie an. Das Haar, die Augen. Sie ist das Abbild von Cat im selben Alter.«

Die Königin blickte sie an, beunruhigt zwar, und trotzdem konnte Sansa die Wärme in ihren klaren, grünen Augen erkennen. »Kind«, sagte sie, »wenn ich wahrlich glauben könnte, dass du nicht wie dein Vater wärst, nun, nichts würde mich mehr freuen, als zu sehen, wie du meinen Joffrey ehelichst. Ich weiß, dass er dich von ganzem Herzen liebt.« Sie seufzte. »Dennoch fürchte ich, dass Lord Varys und der Großmaester Recht behalten könnten. Das Blut wird sich durchsetzen. Ich muss nur daran denken, wie deine Schwester ihren Wolf auf meinen Sohn gehetzt hat.«

»Ich bin nicht wie Arya«, platzte Sansa heraus. »Sie hat das Verräterblut, nicht ich. Ich bin gut, fragt Septa Mordane, sie wird es Euch bestätigen, ich will nur Joffreys treue und liebende Frau sein.«

Sie spürte das Gewicht von Cerseis Blicken, als die Königin ihr ins Gesicht sah. »Ich glaube, du meinst es ernst, mein Kind.« Sie wandte sich den anderen zu. »Mylords, mir scheint, wenn sich der Rest ihrer Sippe in diesen schrecklichen Zeiten loyal verhalten sollte, wären unsere Befürchtungen damit noch lange nicht ausgeräumt.«

Großmaester Pycelle strich sich durch den mächtigen, weichen Bart, die breite Stirn in Falten. »Lord Eddard hat drei Söhne.«

»Noch Jungen«, sagte Lord Petyr. »Ich würde mir mehr Sorgen um Lady Catelyn und die Tullys machen.«

Die Königin nahm Sansas Hände in die ihren. »Kind, hast du dein Alphabet gelernt?«

Sansa nickte sorgenvoll. Sie konnte besser lesen und schreiben als ihre Brüder, nur mit dem Rechnen war es bei ihr hoffnungslos.

»Ich freue mich, das zu hören. Vielleicht gibt es noch Hoffnung für dich und Joffrey …«

»Was soll ich tun?«

»Du sollst deiner Hohen Mutter und deinem Bruder, dem Ältesten, schreiben … wie heißt er gleich?«

»Robb«, sagte Sansa.

»Die Nachricht vom Verrat deines Hohen Vaters wird sie sicher bald erreichen. Es wäre besser, wenn sie es von dir erfahren. Du musst ihnen erklären, wie Lord Eddard seinen König verraten hat.«

Sansa wollte Joffrey unbedingt, doch glaubte sie nicht, dass sie den Mut hätte zu tun, worum die Königin sie bat. »Aber er hat nie … ich weiß nicht … Eure Majestät, ich wüsste nicht, was ich schreiben sollte …«

Die Königin tätschelte ihre Hand. »Wir sagen dir, was du schreiben sollst, Kind. Wichtig ist, dass du Lady Catelyn und deinen Bruder drängst, den Frieden des Königs zu wahren.«

»Es würde schwer für sie, wenn sie es nicht täten«, sagte Großmaester Pycelle. »Bei aller Liebe, die du für sie empfindest, musst du sie drängen, den Pfad der Weisheit nicht zu verlassen.«

»Ohne Zweifel wird sich deine Hohe Mutter furchtbar um dich sorgen«, sagte die Königin. »Du musst ihr sagen, dass es dir gut geht und du in unserer Obhut bist, dass wir dich gut behandeln und du alles hast, was du dir wünschst. Bitte sie alle, nach Königsmund zu kommen, um Joffrey Treue zu schwören, wenn er seinen Thron besteigt. Sollten sie das tun … nun, dann werden wir wissen, dass dein Blut nicht verdorben ist, und wenn du in der Blüte deiner Weiblichkeit stehst, wirst du den König in der Großen Septe von Baelor heiraten, vor den Augen der Götter und der Menschen. «

den König heiraten … Die Worte ließen ihren Atem schneller gehen, und dennoch zögerte Sansa. »Vielleicht … wenn ich meinen Vater sehen dürfte, mit ihm reden über …«

»Verrat?«, vermutete Lord Varys.

»Du enttäuschst mich, Sansa«, sagte die Königin mit Augen hart wie Stein. »Wir haben dir von den Untaten deines Vaters berichtet. Wenn du wirklich so loyal bist, wie du sagst, wieso solltest du ihn dann noch sehen wollen?«

»Ich … ich meinte nur …« Sansa spürte, dass ihre Augen feucht wurden. »Er ist nicht … bitte, ihm ist doch nichts … geschehen, oder … oder … «

»Lord Eddard ist nichts zugestoßen«, sagte die Königin.

»Aber … was soll mit ihm geschehen?«

»Das ist eine Frage, die der König entscheiden muss«, verkündete Großmaester Pycelle gewichtig.

Der König! Sansa blinzelte die Tränen fort. Joffrey war jetzt der König, dachte sie. Ihr tapferer Prinz würde ihrem Vater niemals etwas antun, was auch immer er verbrochen haben mochte. Wenn sie zu ihm ginge und um Gnade flehte, würde er bestimmt auf sie hören. Er musste es, er liebte sie, selbst die Königin sagte das. Joff würde ihren Vater bestrafen müssen, die Lords würden es von ihm erwarten, doch vielleicht würde man ihn zurück nach Winterfell schicken oder ins Exil in eine der Freien Städte jenseits der Meerenge. Es würde nur für ein paar Jahre sein. Bis dahin wäre sie mit Joffrey verheiratet. Wenn sie erst Königin war, konnte sie Joff überreden, ihren Vater zurückzuholen und ihn zu begnadigen.

Nur … falls Mutter oder Robb etwas Verräterisches taten, zu den Fahnen riefen oder sich weigerten, Treue zu schwören oder irgendwas, wäre alles dahin. Ihr Joffrey war gut und edel, sie wusste es in ihrem Herzen, ein König jedoch musste mit Rebellen streng verfahren. Es lag an ihr, es ihnen klarzumachen, ganz allein an ihr!

»Ich … ich werde den Brief schreiben«, erklärte Sansa.

Mit einem Lächeln so warm wie ein Sonnenaufgang beugte sich Cersei Lennister vor und küsste sie sanft auf die Wange. »Ich wusste es. Joffrey wird so stolz sein, wenn ich ihm erzähle, wie mutig und vernünftig du dich heute erwiesen hast.«

Am Ende schrieb sie vier Briefe. An ihre Mutter, Lady Catelyn Stark, und an ihre Brüder auf Winterfell und außerdem an ihre Tante und an ihren Großvater, Lady Lysa Arryn auf Hohenehr und Lord Hoster Tully von Schnellwasser. Als sie damit fertig war, hatte sie verkrampfte und steife Finger voller Tintenflecken. Varys hatte das Siegel ihres Vaters. Sie wärmte milchig weißes Bienenwachs über einer Kerze, goss es vorsichtig auf die Schreiben und sah, wie der Eunuch jeden Brief mit dem Schattenwolf des Hauses Stark stempelte.

Jeyne Pool und all ihre Sachen waren verschwunden, als Ser Mandon Moor Sansa in den hohen Turm von Maegors Feste zurückbrachte. Kein Heulen mehr, dachte sie dankbar. Trotzdem schien es irgendwie kälter, seit Jeyne nicht mehr da war, selbst noch nachdem sie ein Feuer entfacht hatte. Sie zog einen Stuhl nah an den Kamin, nahm eines ihrer Lieblingsbücher und verlor sich in den Geschichten von Florian und Jonquil, von Lady Shella und dem Ritter des Regenbogens, vom kühnen Prinzen Aemon und seiner vergeblichen Liebe zu seines Bruders Königin.

Erst später an jenem Abend, als sie in den Schlaf sank, fiel Sansa ein, dass sie ganz vergessen hatte, nach ihrer Schwester zu fragen.