SANSA
Die Wände des Thronsaales waren leer geräumt, die Jagdteppiche, die König Robert so geliebt hatte, abgenommen und in einer Ecke auf einen unordentlichen Haufen geworfen.
Ser Mandon Moor nahm seinen Platz unter dem Thron ein. Sansa blieb an der Tür stehen. Die Königin hatte ihr »Freiheit in der Burg« gewährt als Belohnung dafür, dass sie brav gewesen war, dennoch wurde sie überallhin eskortiert. »Ehrenwache für meine zukünftige Tochter«, nannte die Königin das, doch gaben sie Sansa nicht das Gefühl, geehrt zu werden.
»Freiheit in der Burg« bedeutete, dass sie sich innerhalb des Roten Bergfrieds bewegen durfte, wie sie wollte, solange sie versprach, das Innere der Mauern nicht zu verlassen, ein Versprechen, das Sansa nur allzu bereitwillig gegeben hatte. Die Tore wurden bei Tag und Nacht von Janos Slynts Goldröcken bewacht, und überall standen Leibgardisten der Lennisters herum. Außerdem, selbst wenn sie die Burg verlassen konnte, wohin sollte sie gehen? Es reichte, dass sie über den Hof spazieren konnte, in Myrcellas Garten Blumen pflücken und der Septe einen Besuch abstatten, um dort für ihren Vater zu beten. Manchmal betete sie auch im Götterhain, da die Starks den alten Göttern huldigten.
Der Hof versammelte sich zum ersten Mal, seit Joffrey regierte, weshalb Sansa sich auch unruhig umsah. Eine Reihe von Leibgardisten der Lennisters standen unter den westlichen Fenstern, eine Reihe von Goldröcken der Stadtwache unter den östlichen. Vom gemeinen Volk und den Bürgerlichen sah sie niemanden, doch unter der Galerie irrte rastlos eine Traube von großen und kleinen Lords herum. Es waren nicht mehr als zwanzig, wo für gewöhnlich hundert auf König Robert gewartet hatten.
Sansa gesellte sich zu ihnen, murmelte Grußworte, während sie sich einen Weg nach vorn bahnte. Sie erkannte den schwarzhäutigen Jalabhar Xho, den düsteren Ser Aron Santagar, die Zwillinge von Rothweyn Horror und Slobber … nur schien niemand sie zu erkennen. Oder wenn sie es doch taten, scheuten sie vor ihr zurück, als hätte sie die graue Pest. Der kränkliche Lord Gyles versteckte sein Gesicht, täuschte einen Hustenanfall vor, und der lustige, stets trunkene Ser Dontos wollte sie begrüßen, doch Ser Balon flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin auch er sich abwandte.
Und so viele andere fehlten. Wo sind sie geblieben?, fragte sich Sansa. Vergeblich suchte sie nach freundlichen Gesichtern. Niemand wollte ihrem Blick begegnen. Es war, als wäre sie zum Geist geworden, schon im Leben tot.
Großmaester Pycelle saß allein an seinem Ratstisch, schien zu schlafen, seine Hände über dem Bart gefaltet. Sie sah, wie Lord Varys in die Halle hastete, ohne dass seine Schritte zu hören gewesen wären. Einen Augenblick später trat Lord Baelish lächelnd durch die hohen Türen am hinteren Ende ein. Er plauderte freundlich mit Ser Balon und Ser Dontos, während er auf dem Weg nach vorn war. Schmetterlinge flatterten in Sansas Bauch. Ich sollte keine Angst haben, sagte sie sich. Ich habe nichts zu fürchten, alles wird am Ende gut ausgehen, Joff liebt mich und die Königin auch, das hat sie gesagt.
Die Stimme eines Herolds wurde laut. »Grüßet alle Seine Majestät Joffrey aus den Häusern Baratheon und Lennister, den Ersten seines Namens, König der Andalen, der Rhoynar und der Ersten Menschen, Lord über die Sieben Königslande. Grüßet alle seine Hohe Mutter Cersei aus dem Hause Lennister, Königinregentin, Licht des Westens und Protektorin des Reiches.«
Ser Barristan Selmy, prachtvoll anzusehen in weißem Panzer, schritt ihnen voran. Ser Arys Eichenherz eskortierte die Königin, während Ser Boros Blount neben Joffrey ging, sodass sechs Männer der Königsgarde in der Halle waren, alle Weißen Schwerter bis auf Jaime Lennister. Ihr Prinz – nein, ihr König jetzt! – nahm je zwei Stufen zum Eisernen Thron, indes seine Mutter sich beim Rat niederließ. Joff trug edlen, schwarzen Samt, mit Rot geschlitzt, einen schimmernden Umhang aus Goldtuch mit hohem Kragen und auf seinem Kopf eine goldene Krone mit Rubinen und schwarzen Diamanten.
Als Joffrey sich umdrehte und den Saal überschaute, fiel sein Blick auf Sansa. Er lächelte, setzte sich und sprach: »Es ist die Pflicht des Königs, Untreue zu strafen und jene zu belohnen, die redlich sind. Großmaester Pycelle, ich heiße Euch, meine Erlasse vorzulesen.«
Pycelle erhob sich schwerfällig. Er trug eine prachtvolle Robe aus dickem, rotem Samt mit einem Kragen aus Hermelin und glänzenden, goldenen Spangen. Aus einem herabhängenden Ärmel mit vergoldeten Schneckenverzierungen zog er ein Pergament, entrollte es, begann, eine lange Liste von Namen zu verlesen, und befahl im Namen des Königs und des Rates jedem, vorzutreten und Joffrey die Treue zu schwören. Täten sie es nicht, betrachtete man sie als Verräter, und ihr Land und ihre Titel fielen an den Thron.
Bei den Namen, die er las, stockte Sansa der Atem. Lord Stannis Baratheon, seine Hohe Gattin, seine Tochter. Lord Renly Baratheon. Beide Lords Rois und deren Söhne. Ser Loras Tyrell. Lord Mace Tyrell, seine Brüder, Onkel, Söhne. Der rote Priester Thoros von Myr. Lord Beric Dondarrion. Lady Lysa Arryn und ihr Sohn, der kleine Lord Robert. Lord Hoster Tully, sein Bruder Ser Brynden, sein Sohn Ser Edmure, Lord Jason Mallister. Lord Bryk Caron von den Marschen. Lord Tytos Schwarzhain. Lord Walter Frey und sein Erbe Ser Stevron. Lord Karyl Vanke. Lord Jonos Bracken. Lady Shella Whent. Doran Martell, Fürst von Dorne und alle seine Söhne. So viele, dachte sie, während Pycelle immer weiterlas, ein ganzer Schwarm von Raben wird nötig sein, diese Befehle auszusenden.
Und am Ende, fast zum Schluss, kamen die Namen, vor denen sich Sansa gefürchtet hatte. Lady Catelyn Stark. Robb Stark. Brandon Stark, Rickon Stark, Arya Stark. Sansa verschluckte ein Stöhnen. Arya. Sie wollten, dass Arya erschien und einen Eid ablegte … dies konnte nur bedeuten, dass ihre Schwester mit der Galeere geflohen war und sich inzwischen auf Winterfell in Sicherheit befand …
Großmaester Pycelle rollte die Liste auf, stopfte sie in seinen linken Ärmel und zog ein anderes Pergament aus dem rechten. Er räusperte sich und begann von neuem. »Es ist der Wunsch und Wille Seiner Majestät, dass Tywin Lennister, Lord über Casterlystein und Hüter des Westens, anstelle des Hochverräters Eddard Stark das Amt der Hand des Königs einnimmt, mit seiner Stimme spricht, seine Armeen gegen Feinde führt und seinem königlichen Willen entspricht. Solches hat der König erlassen. Der Kleine Rat stimmt damit überein.
Es ist der Wunsch und Wille Seiner Majestät, dass anstelle des Hochverräters Stannis Baratheon seine Hohe Mutter, die Königinregentin Cersei Lennister, die stets seine treueste Stütze war, einen Platz im Kleinen Rat erhält, damit sie ihm helfe, weise und gerecht zu regieren. Solches hat der König erlassen. Der Kleine Rat stimmt damit überein. «
Sansa hörte leises Murmeln von den Lords um sie herum, doch wurde es schnell wieder still. Pycelle fuhr fort.
»Weiterhin ist es der Wunsch und Wille Seiner Majestät, dass sein getreuer Diener Janos Slynt, Hauptmann der Stadtwache von Königsmund, mit sofortiger Wirkung in den Stand eines Lords erhoben wird, dass man ihm den alten Herrensitz von Harrenhal mit allen Ländereien und Einkommen überträgt und dass seine Söhne und Enkel diese Ehren bis ans Ende aller Zeiten innehaben sollen. Darüber hinaus lautet sein Befehl, dass Lord Slynt einen Sitz im Kleinen Rat erhält, um bei der Führung des Reiches zu helfen. Der Kleine Rat stimmt damit überein.«
Sansa nahm eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Janos Slynt trat ein. Diesmal war das Gemurmel lauter und wütender. Stolze Lords, deren Häuser Tausende von Jahren zurückreichten, machten dem halbwegs kahlen, froschgesichtigen Bürgerlichen nur widerwillig Platz, als er an ihnen vorbeimarschierte. Goldene Schuppen waren auf den schwarzen Samt seines Wamses genäht und klingelten bei jedem Schritt. Sein Umhang war aus schwarz-gold kariertem Satin. Zwei hässliche Burschen, die wohl seine Söhne sein mussten, liefen ihm voraus, kämpften – groß, wie sie waren – mit dem Gewicht eines schweren Metallschildes. Als Wappen hatte er einen blutigen Speer gewählt, golden auf nachtschwarzem Grund. Der bloße Anblick jagte Sansa eine Gänsehaut über die Arme.
Als Lord Slynt seinen Platz einnahm, fuhr Großmaester Pycelle fort: »Schließlich, in diesen Zeiten von Verrat und Aufruhr, nachdem unser geliebter Robert nun tot ist, neigt der Rat zur Ansicht, dass das Leben und die Sicherheit König Joffreys von allerhöchster Bedeutung ist …« Er sah zur Königin hinüber.
Cersei stand auf. »Ser Barristan Selmy, tretet vor.«
Ser Barristan hatte am Fuß des Eisernen Thrones gestanden, still wie eine Statue, doch nun sank er auf ein Knie und neigte den Kopf. »Majestät, ich stehe zu Eurer Verfügung. «
»Erhebt Euch, Ser Barristan«, sagte Cersei Lennister. »Ihr dürft Euren Helm abnehmen.«
»Mylady?« Stehend nahm der alte Ritter seinen hohen, weißen Helm ab, obwohl er nicht verstand, wieso.
»Ihr habt dem Reich lang und treu gedient, guter Herr, und jeder Mann und jede Frau in den Sieben Königslanden schuldet Euch Dank. Doch fürchte ich, dass Eure Dienste nun ein Ende finden. Es ist der Wunsch des Königs und des Rates, dass Ihr Eure schwere Bürde ablegt.«
»Meine … Bürde? Ich … ich verstehe nicht …«
Der neu ernannte Lord Janos Slynt meldete sich zu Wort mit schwerer, schroffer Stimme. »Ihre Majestät versucht Euch mitzuteilen, dass Ihr als Lord Kommandant der Königsgarde entlassen seid.«
Der große, weißhaarige Ritter schien zu schrumpfen, als er dort stand, und er atmete kaum. »Majestät«, sagte er schließlich. »Die Königsgarde ist eine Bruderschaft. Unser Eid gilt lebenslang. Nur der Tod kann einen Lord Kommandanten von seinem heiligen Eid befreien.«
»Wessen Tod, Ser Barristan?« Die Stimme der Königin war weich wie Seide, dennoch erfüllten ihre Worte den ganzen Saal. »Eurer oder der Eures Königs?«
»Ihr habt meinen Vater sterben lassen«, sagte Joffrey anklagend vom Eisernen Thron her. »Ihr seid zu alt, um irgendjemanden zu schützen.«
Sansa sah, wie der Ritter zu seinem neuen König aufblickte. Nie zuvor hatte sie sein Alter so bewusst wahrgenommen. »Majestät«, sagte er. »Ich wurde in meinem dreiundzwanzigsten Jahr für die Weißen Schwerter auserwählt. Es war alles, was ich mir je erträumt hatte, vom ersten Augenblick an, als ich ein Schwert ergriff. Ich habe allen Anspruch auf den Besitz meiner Vorfahren aufgegeben. Das Mädchen, mit dem ich vermählt werden sollte, heiratete stattdessen meinen Vetter, ich hatte keine Verwendung für Land oder Söhne, mein Leben sollte dem Reich gewidmet sein. Ser Gerold Hohenturm selbst hat meinen Eid gehört … den König mit all meiner Kraft zu schützen … mein Blut für das seine zu geben. Ich habe neben dem Weißen Bullen und Prinz Lewyn von Dorne gekämpft … neben Ser Arthur Dayn, dem Schwert des Morgens. Bevor ich Eurem Vater gedient habe, half ich, König Aerys zu schützen, und vor ihm dessen Vater Jaehaerys … drei Könige …«
»Und alle sind sie tot«, erklärte Kleinfinger.
»Eure Zeit ist um«, verkündete Cersei Lennister. »Joffrey braucht Männer um sich, die jung und stark sind. Der Rat hat beschlossen, dass Ser Jaime Lennister Euren Platz als Lord Kommandant der Bruderschaft der Weißen Schwerter einnimmt.«
»Der Königsmörder«, entfuhr es Ser Barristan, die Stimme hart vor Verachtung. »Der falsche Ritter, der seine Klinge mit dem Blut des Königs entweiht hat, den zu schützen er geschworen hatte.«
»Hütet Eure Zunge, Ser«, warnte die Königin. »Ihr sprecht von unserem geliebten Bruder, des Königs eigen Blut.«
Lord Varys ergriff das Wort, milder als die anderen. »Es ist nicht so, als wären wir Eurer Dienste uneingedenk, guter Herr. Lord Tywin Lennister hat großzügig eingewilligt, Euch ein hübsches Stück Land nördlich von Lennishort zu geben, direkt am Meer, mit Gold und genügend Männern, Euch eine ordentliche Festung zu errichten, und Dienern, die Euren Wünschen entsprechen.«
Harsch blickte Ser Barristan auf. »Eine Halle, in der ich sterben soll, und Männer, mich zu begraben. Ich danke Euch, edle Lords … aber ich spucke auf Euer Mitleid.« Er griff nach oben und löste die Spangen, die seinen Umhang hielten. Der schwere, weiße Stoff glitt von seinen Schultern und sank zu einem Haufen auf dem Boden. Sein Helm landete klirrend daneben. »Ich bin ein Ritter«, erklärte er ihnen. Er öffnete die silbernen Befestigungen an seiner Brustplatte und ließ auch diese fallen. »Ich werde wie ein Ritter sterben.«
»Ein nackter Ritter, wie mir scheint«, spottete Kleinfinger.
Da lachten alle, Joffrey auf seinem Thron und die Lords, die daneben standen, Janos Slynt und Königin Cersei und Sandor Clegane und sogar die anderen Männer der Königsgarde, die fünf, die bis vor einem Augenblick noch seine Brüder gewesen waren. Oh, muss das schmerzen, dachte Sansa. Sie fühlte mit dem edlen, alten Mann, der nun beschämt und rotgesichtig dastand, zu wütend, um ein einziges Wort hervorzubringen. Schließlich zog er sein Schwert.
Sansa hörte jemanden aufstöhnen. Ser Boros und Ser Meryn traten vor, um sich ihm zu stellen, doch Ser Barristan ließ sie mit einem Blick erstarren, der vor Verachtung triefte. »Fürchtet Euch nicht, Sers, Euer König ist in Sicherheit … nicht Euretwegen allerdings. Selbst jetzt noch könnte ich Euch fünf in Stücke schneiden, so wie ein Dolch durch Käse geht. Wenn Ihr unter dem Königsmörder dienen wollt, ist keiner von Euch noch wert, das Weiß zu tragen. « Er warf sein Schwert vor den Eisernen Thron. »Hier, Junge. Schmelz es ein, und leg es zu den anderen, wenn du willst. Es wird dir mehr nützen als die Schwerter in den Händen dieser fünf. Vielleicht bekommt Lord Stannis Gelegenheit, darauf zu sitzen, wenn er dir den Thron nimmt.«
Er wählte den langen Weg hinaus, und seine Schritte knallten laut am Boden und hallten von den nackten Steinmauern zurück. Lords und Ladys machten Platz, ihn durchzulassen. Erst als die Pagen die großen Türen aus Eiche und Bronze hinter ihm geschlossen hatten, hörte Sansa wieder anderes: leise Stimmen, unruhiges Scharren, das Rascheln von Papier am Ratstisch. »Er hat mich Junge genannt«, klagte Joffrey übellaunig und klang dabei jünger, als er nach Jahren war. »Er hat auch von meinem Onkel Stannis gesprochen.«
»Leeres Geschwätz«, sagte Varys, der Eunuch. »Ohne Bedeutung …«
»Es könnte sein, dass er mit meinen Onkeln üble Pläne schmiedet. Ich will, dass man ihn ergreift und befragt.« Keiner rührte sich. »Ich sagte: Ich will, dass man ihn ergreift!«
Janos Slynt erhob sich vom Ratstisch. »Meine Goldröcke werden sich seiner annehmen, Majestät.«
»Gut«, sagte König Joffrey. Lord Janos marschierte aus dem Saal, und seine hässlichen Söhne mussten sich sputen, um Schritt halten zu können, da sie den großen, metallenen Schild mit dem Wappen des Hauses Slynt zu schleppen hatten.
»Majestät«, erinnerte Kleinfinger den König. »Wenn wir fortfahren könnten … die Sieben sind nur noch sechs. Wir benötigen einen neuen Recken für Eure Königsgarde.«
Joffrey lächelte. »Sag es ihnen, Mutter.«
»Der König und der Rat sind zu dem Entschluss gekommen, dass niemand in den Sieben Königslanden geeigneter wäre, Seine Majestät zu hüten und zu schützen, als seine Leibwache Sandor Clegane.«
»Wie gefällt dir das, Hund?«, fragte König Joffrey.
Im narbigen Gesicht des Bluthunds war kaum eine Regung zu erkennen. Er nahm sich einen langen Augenblick, darüber nachzudenken. »Warum nicht? Ich müsste weder Ländereien noch eine Frau aufgeben, und wen würde es stören, wenn ich es täte?« Die verbrannte Seite seines Mundes zuckte. »Aber ich warne Euch, ich werde keinen Rittereid ablegen.«
»Die Bruderschaft der Königsgarde hat stets aus Rittern bestanden«, sagte Ser Boros bestimmt.
»Bis jetzt«, sagte der Bluthund in seinem tiefen Krächzton, und Ser Boros schwieg.
Der Herold des Königs trat vor, und Sansa wurde bewusst, dass der Moment nun fast bevorstand. Nervös strich sie den Stoff ihres Rockes glatt. Sie trug Trauerkleider als Zeichen des Respekts für den toten König, dennoch hatte sie besondere Sorgfalt darauf verwendet, sich hübsch zu machen. Ihr Kleid war von der elfenbeinfarbenen Seide, welche sie von der Königin geschenkt bekommen und die Arya ruiniert hatte, doch hatte sie diese schwarz färben lassen, und jetzt war der Fleck nicht mehr zu sehen. Stundenlang hatte sie vor ihrem Schmuck gesessen und sich schließlich für eine schlichte Silberkette entschieden.
Des Herolds Stimme wurde laut. »Falls jemand in diesem Saale Seiner Majestät noch anderes vorzutragen hat, soll er sich nun zu Worte melden oder von dannen ziehen und für immer schweigen.«
Sansa verlor den Mut. Jetzt, sagte sie sich, ich muss es jetzt tun. Mögen mir die Götter den Mut verleihen. Sie trat einen Schritt vor, dann noch einen. Lords und Ritter traten schweigend beiseite, um sie durchzulassen, und sie spürte die Last ihrer Blicke. Ich muss stark wie meine Hohe Mutter sein. »Majestät«, rief sie mit weicher, bebender Stimme.
Vom Eisernen Thron aus hatte Joffrey einen besseren Überblick als alle anderen im Saal. Er erkannte sie zuerst. »Tretet vor, Mylady«, rief er lächelnd.
Sein Lächeln machte ihr Mut, gab ihr das Gefühl, schön und stark zu sein. Er liebt mich wirklich, es stimmt. Sansa hob den Kopf und ging auf ihn zu, nicht zu langsam und nicht zu schnell. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, wie nervös sie war.
»Die Lady Sansa aus dem Hause Stark«, rief der Herold.
Unter dem Thron blieb sie stehen, an der Stelle, wo Ser Barristans weißer Umhang neben seinem Helm und dem Brustpanzer am Boden lag.
»Hast du dem König und dem Rat etwas vorzutragen, Sansa?«, fragte die Königin vom Ratstisch her.
»Das habe ich.« Sie kniete auf dem Umhang, um ihr Kleid nicht zu beschmutzen, und blickte zu ihrem Prinzen auf seinem grässlichen, schwarzen Thron auf. »Wenn es Eurer Majestät gefällt, so bitte ich um Gnade für meinen Vater, Lord Eddard Stark, der die Hand des Königs war.« Hundertmal hatte sie die Worte geübt.
Die Königin seufzte. »Sansa, du enttäuschst mich. Was habe ich dir vom Blut eines Verräters erzählt?«
»Euer Vater hat schwere und furchtbare Verbrechen verübt, Mylady«, intonierte Großmaester Pycelle.
»Ach, armes, trauriges Ding«, seufzte Varys. »Sie ist noch ein Kind, Mylords, sie weiß nicht, worum sie bittet.«
Sansa hatte nur Augen für Joffrey. Er muss mich anhören, er muss, dachte sie. Der König rutschte auf seinem Sitz herum. »Lasst sie sprechen«, befahl er. »Ich will hören, was sie zu sagen hat.«
»Danke, Majestät.« Sansa lächelte, scheu und leise, nur für ihn. Er hörte sie an. Sie wusste, dass er es tun würde.
»Verrat ist ein schädlich Unkraut«, erklärte Pycelle feierlich. »Es muss gejätet werden, mit Wurzel und Stamm und Saat, wenn nicht neuerlich Verräter überall am Wegesrand sprießen sollen.«
»Streitet Ihr die Verbrechen Eures Vaters ab?«, fragte Lord Baelish.
»Nein, Mylords.« Sansa war klug genug, dies nicht zu tun. »Ich weiß, dass er bestraft werden muss. Ich bitte nur um Gnade. Ich weiß, dass mein Vater bereuen wird, was er getan hat. Er war König Roberts Freund, und er hat ihn geliebt, Ihr alle wisst, wie sehr. Bis der König ihn darum gebeten hat, wollte er nie die Hand sein. Sie müssen ihn belogen haben. Lord Renly oder Lord Stannis oder … oder irgendwer, sie müssen gelogen haben, sonst …«
König Joffrey beugte sich vor, und seine Hände packten die Lehnen des Thrones. Zerbrochene Schwertspitzen ragten zwischen seinen Fingern auf. »Er hat gesagt, ich sei nicht der König. Warum hat er das gesagt?«
»Er hatte sich das Bein gebrochen«, antwortete Sansa eifrig. »Es hat so wehgetan, dass Maester Pycelle ihm Mohnblumensaft geben musste, und es heißt, vom Mohnblumensaft wäre der Kopf voller Wolken. Sonst hätte er es nie gesagt. «
Varys sagte: »Kindliches Vertrauen … so süße Unschuld … und doch sagt man, oft käme Weisheit aus dem Mund der Kinder.«
»Verrat bleibt Verrat«, gab Pycelle gleich zurück.
Unruhig wiegte sich Joffrey auf seinem Thron. »Mutter? «
Cersei Lennister betrachtete Sansa nachdenklich. »Wenn Lord Eddard seine Verbrechen gestehen würde«, sagte sie schließlich, »wüssten wir, dass er seine Torheit bereut.«
Joffrey sprang auf. Bitte, dachte Sansa, bitte, bitte, sei der König, von dem ich weiß, dass du es bist, gut und mild und edel, bitte. »Habt Ihr noch mehr zu sagen?«, fragte er sie.
»Nur … wenn Ihr mich liebt, tut mir diesen Gefallen, mein Prinz«, sagte Sansa.
König Joffrey musterte sie von oben bis unten. »Eure lieblichen Worte haben mich bewegt«, sagte er galant und nickte, als wollte er sagen, alles würde noch gut werden. »Ich will tun, worum Ihr mich bittet … zuerst jedoch muss Euer Vater gestehen. Er muss gestehen und sagen, dass ich der König bin, sonst wird es für ihn keine Gnade geben.«
»Das wird er«, sagte Sansa mit rasendem Herzen. »Oh, ich weiß, dass er es tun wird.«