3. KAPITEL
Kaiserin Maud saß auf einem gepolsterten Hocker am Bett ihres Vaters König Henry. Besorgt nahm sie seine wächserne knochige Hand und schüttelte den Kopf.
„Ich verstehe diese plötzliche Krankheit nicht, Robert“, sagte sie leise an ihren hageren Halbbruder gerichtet, der an einem der hohen schmalen Fenster des Turmgemachs stand. „Heute früh auf der Jagd war er noch völlig gesund und munter.“
Robert löste den Blick von den kahlen Bäumen des ausgedehnten Laubwalds, und drehte sich um. Sein Haar, das er nach normannischer Art kurzgeschnitten trug, wies den gleichen kastanienbraunen Schimmer auf wie das seiner jüngeren Schwester. Der Earl of Gloucester war seinem hohen Rang entsprechend prächtig gekleidet. Seine eng anliegenden grünen Beinkleider aus feinster Wolle waren vom Knie abwärts mit Lederriemen verschnürt, bis hin zu den knöchelhohen Stiefeln aus weichem Ziegenleder. In dem überheizten Gemach hatte er seine dunkelbraune Tunika abgelegt. Das fein gewebte weiße Leinenhemd stach hell von den feucht glänzenden grauen Mauern ab. Umhang und Schwert hatte er in der Großen Halle abgelegt, als er dabei half, seinen kranken Vater die steinerne Wendeltreppe drei Stockwerke hinauf in den Ostturm zu tragen.
„Offenbar wurde er von einem unerklärlichen Fieber befallen“, stellte Robert fest. „Wir können nichts dagegen tun, Maud. Auch der Arzt ist ratlos.“
Beim Jagdausflug an diesem Morgen war der König plötzlich krank geworden. Robert, der einen Hirsch verfolgte, hatte sich nach seinem Vater umgedreht und ihm zugewinkt, ihm zu folgen. Das bleiche Gesicht des Königs hatte ihm einen Schrecken eingejagt. Noch während Robert kehrtgemacht und vom Pferd gesprungen war, geriet Henry ins Wanken, glitt aus dem Sattel und stürzte ohnmächtig zu Boden.
„Also müssen wir mit seinem Tod rechnen.“ Mauds Worte hallten dumpf von den runden Mauern des Turmgemachs wider, ihre Besorgnis um ihren kranken Vater war nicht zu überhören. Sie hatte ihr Jagdkostüm abgelegt und trug ein wallendes Gewand aus hellrotem Samt, das ihren üppigen Rundungen schmeichelte. Ihre ehemals zierliche Figur, ein Erbgut ihrer Mutter, der angelsächsischen Königin Edith, war seit der Geburt ihres zweiten Sohnes ziemlich unförmig geblieben. Zudem hatte sie die seitlichen Bänder des Bliauts zu eng über ihre Leibesmitte geschnürt.
Die mit kostbaren Juwelen besetzten Ringe an ihren kurzen Fingern funkelten im Widerschein des Feuers. Der in aller Eile herbeigerufene Leibarzt des Königs hatte Anweisung gegeben, das Feuer im Kamin zu schüren, damit die Hitze das Fieber austreibe. Nun prasselten dicke Scheite im mannshohen Steinkamin, in dessen Einfassung kunstvoll verschlungene Ornamentmuster eingemeißelt waren. Maud erhob sich schwerfällig, beugte sich über ihren Vater und küsste ihn auf die bleiche Stirn.
„Denk an dein Versprechen, Vater, das Versprechen, das du mir gegeben hast“, flüsterte sie. Das verächtliche Schnauben vom Fenster her ließ sie die Stirn runzeln.
„Als hättest du ihm je Gelegenheit gegeben, es zu vergessen“, spöttelte Robert und verzog die Mundwinkel. „Haben nicht genug Edle einen Eid darauf geleistet?“
„Ich will es nur noch einmal aus seinem Mund hören!“, entgegnete Maud gereizt.
„Bischöfe, Äbte und Barone des Reiches haben den Schwur geleistet“, rief Robert ihr in Erinnerung. „Was willst du mehr? Alle haben sich damit einverstanden erklärt, dass du nach dem Ableben unseres Vaters die Thronfolge als Königin von England und der Normandie antrittst.“
„Sei nicht ärgerlich mit mir, Robert, das ertrage ich nicht.“ Maud seufzte. „In Wahrheit müsstest du sein Nachfolger werden.“
Robert lachte freudlos. „Der Makel meiner unehelichen Geburt verwehrt mir das Recht, je König zu werden, liebe Schwester. Das würden die Barone niemals dulden.“ Ein Lächeln huschte über seine hageren Gesichtszüge. „Und ich bin zufrieden, wie es ist. Ich habe Gloucester und eine steinreiche Frau.“ Eine Gemahlin, die er wohlweislich auf seine Stammburg verbannt hatte, da es nicht nur auf Torigny ansehnliche Damen gab, mit denen er sich zu vergnügen wusste.
„Ja, eine Gemahlin, die du nur selten siehst, weil du mich ständig begleitest.“
„Der König hat mir deine Sicherheit ans Herz gelegt, wie du sehr wohl weißt.“
„Und dafür bin ich dir dankbar, Robert. Du stehst mir näher als mein Gemahl Geoffrey. Wieso Vater die Heirat mit diesem Einfaltspinsel für mich arrangierte, ist mir ein Rätsel.“
„Nun ja, es war der größte Wunsch unseres Vaters, dich mit Geoffrey of Anjou zu verheiraten.“
„Ein Mann, der elf Jahre jünger ist als ich. Was für ein Witz!“ Maud nestelte am Knoten der golddurchwirkten Kordel an den golddurchwirkten Bettbehängen. „Zuerst verheiratet er mich mit dem deutschen Kaiser, alt genug, um mein Vater zu sein …“
„Zugegeben, mit zwölf warst du damals zu jung …“
„Für die Ehe war ich alt genug, Robert, aber nicht für die Ehe mit einem alten Mann, dessen Sprache ich kaum verstand. Das Bett mit ihm zu teilen war wie …“
Robert hob abwehrend die Hand. „Erspare mit die Einzelheiten. Ich kann mir denken, wie schwer es für dich war.“
Maud verzichtete auf eine weitere Bemerkung und nestelte wieder an der Vorhangschnur. „Mein Gott, wann lernen die Mägde endlich, die Kordeln richtig zu binden? Ich habe es ihnen hundertmal gezeigt.“ Missgelaunt stand sie auf, warf die Schleppe hinter sich und strich glättend über die Falten ihres Bliauts. „Ach Robert, wie ich dieses Warten hasse!“ Sie streckte sich, um die Spannung in ihrem Rücken loszuwerden. „Sollten wir nicht noch mal zur Jagd reiten, statt ihn anzustarren und abzuwarten, bis er … uns verlässt?“
Robert war in drei langen Sätzen bei ihr und nahm sie bei den Schultern. Er spürte ihre Anspannung und Beklommenheit, als sie die Arme abweisend vor der Brust verschränkte. Er kannte ihre ehrgeizigen Pläne. Ihr größtes Ziel bestand darin, Königin zu werden. Sie lebte in der felsenfesten Überzeugung, einen rechtmäßigen Anspruch auf die Thronfolge zu haben – und duldete keinen Widerspruch. „Nein, Maud. Es ist unsere Pflicht, unserem Vater in seiner Todesstunde beizustehen.“
Maud nickte und blickte sinnend auf die reglose Gestalt im Bett, als wolle sie sich die hageren Gesichtszüge ihres Vaters einprägen. Er war ein strenger und grausamer Herrscher, aber ihr war er immer ein guter Vater gewesen, der sie geduldig alles lehrte, was sie wissen musste, um das Reich einst zu regieren. Seine Bemühungen hatten sich nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Bruders William, seinem einzigen legitimen männlichen Erben, deutlich verstärkt. An jenem Tag hatte er seiner Tochter Maud versprochen, dass sie bei seinem Ableben sein Reich erben würde.
Die wachsbleiche Haut spannte sich über seine Wangenknochen und die kühn geschwungene Adlernase. Er starrte mit offenen Augen zum Gebälk hinauf, Augen, die Maud tiefbraun, mit goldenen Einsprengseln in Erinnerung hatte. Augen, die mit ihr gelacht und geweint hatten. Seine schmalen Lippen schimmerten bläulich. Sie horchte auf seinen leise pfeifenden Atem. Ein Röcheln. Und dann nichts mehr. Maud schlug die Hände vors Gesicht. Wenn sie ihren Vater nicht ansah, war der Tod vielleicht nicht wahr.
„Er ist von uns gegangen, Robert. Er ist gestorben. Sieh nur, er atmet nicht mehr.“ Als könne sie die Wahrheit nicht ertragen, wandte sie sich jäh ab, trat an das schmale hohe Fenster und schlang die Arme enger um sich. Robert bekreuzigte sich, bevor er seinem Vater mit sanften Fingern die Augen zudrückte.
Das eiserne Schnappschloss an der schweren Eichentür klickte leise beim Eintreten des Erzbischofs von Rouen, des engsten Vertrauten des Königs.
„Reichlich spät“, murmelte Robert sarkastisch. „Wieso seid Ihr nicht früher gekommen?“
Der Erzbischof trat ans Bett und blickte in die wächserne Totenmaske seines Monarchen. „Der Herr gebe ihm die Ewige Ruhe.“
„Etwas spät, um ihm die letzte Beichte abzunehmen, Eminenz“, bemerkte Robert und bemühte sich, nicht allzu tadelnd zu klingen.
„Ich habe Seiner Majestät bereits die letzte Beichte abgenommen, Earl Robert“, erklärte der Erzbischof in einem schnarrend arroganten Unterton. Eingebettet in die Fettwülste seiner Hängebacken, funkelten kleine Augen. „Falls Ihr daran interessiert seid, es zu hören: Ich habe ihm die Letzte Ölung und die Absolution erteilt. Er ging von uns, wohlversehen mit den heiligen Sterbesakramenten. Gott sei seiner Seele gnädig.“
Maud wandte sich mit fragenden Augen vom Fenster. „Eminenz, sagte mein Vater etwas über …?
„Worüber?“ Der Erzbischof machte ein erstauntes Gesicht.
„Darüber, dass ich Königin werde. Er hat doch gewiss mit Euch darüber gesprochen, wie?“
Der Bischof schüttelte bereits den Kopf, ehe sie die Frage ausgesprochen hatte. „Nein, Mylady. Davon hat er nichts erwähnt. Er äußerte lediglich den Wunsch, in der Klosterkirche von Reading an der Seite Eurer Frau Mutter beigesetzt zu werden. Allerdings fiel ihm das Sprechen ausgesprochen schwer.“
„Seid Ihr sicher?“ Mauds Stimme überschlug sich vor Aufregung. Sie näherte sich dem beleibten Erzbischof mit Argwohn im Blick.
„Aber ja, Mylady. Ich saß am Bett Eures Vaters und hörte alles, was er sagte. Seine Nachfolge erwähnte er mit keinem Wort. Ich ging davon aus, dass Stephen die Thronfolge antritt.“
Maud zog den Atem scharf ein. „Nein, Ihr irrt gewaltig, Eminenz. Mein Vetter Stephen Count of Blois? Er darf niemals König werden.“
„Aber er ist, besser gesagt, war der Lieblingsneffe Eures Vaters. Ihr beide seid wie Bruder und Schwester zusammen aufgewachsen.“
Maud schüttelte heftig den Kopf und fuhr den Bischof an wie ein bissiger Terrier. Der Fettwanst wich einen Schritt zurück. „Ich bin die rechtmäßige Erbin des Throns, Mylord Erzbischof. Das weiß jedes Kind in England. Gott im Himmel, der gesamte englische Adel hat einen Eid darauf geschworen!“
„Es wäre höchst ungewöhnlich, wenn der englische Adel eine Frau als Königin duldet …“ Der Erzbischof rieb sich nachdenklich das Doppelkinn. „Noch dazu in Anbetracht Eurer Ehe mit dem Comte de Anjou.“
„Was hat meine Ehe damit zu tun?“, entgegnete Maud spitz.
„Anjou ist seit jeher mit England und der Normandie verfeindet. Seien wir doch ehrlich, Euer Vater und Euer Gemahl redeten seit geraumer Zeit kein Wort miteinander.“
„Eine Belanglosigkeit, Eminenz. Immerhin arrangierte mein Vater meine Heirat mit Geoffrey, da er sich dadurch Frieden zwischen der Normandie und Anjou erhoffte.“
„Was ihm in gewisser Weise auch gelungen ist“, pflichtete der Erzbischof ihr bei. „Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass die englischen Barone einen angevinischen Herzog auf dem Thron von England zu sehen wünschen.“
„Er wird den Thron nicht besteigen, sondern ich!“ Mauds Gesicht rötete sich vor Zorn. „Heilige Mutter Gottes, bin ich dazu verdammt, ständig von Narren umgeben zu sein?“
Robert trat einen Schritt vor. „Ich denke, dass …“
„Misch dich nicht ein, Robert. Das ist allein meine Angelegenheit.“ Maud schob ihre rundliche Gestalt zwischen ihren Halbbruder und den Erzbischof. „Hört mir gut zu, Eminenz …“ Sie stocherte ihm mit spitzem Zeigefinger an die Brust. „Auch wenn Ihr glaubt, es besser zu wissen: Ich werde Königin von England und der Normandie sein. Das ist der Wunsch meines Vaters. Er hat alle Barone und kirchlichen Würdenträger davon in Kenntnis gesetzt. Und ich wünsche nicht, dass irgendwer vom Tod des Königs erfährt, ehe ich seinen Leichnam nach England überführt habe. Habt Ihr verstanden?“
Der Erzbischof nickte, wobei sein Doppelkinn wabbelte. „Ich verstehe sehr wohl, Mylady.“ Er warf Robert einen flüchtigen Seitenblick zu, ehe er sich wieder an Maud wandte. „Gestattet, dass ich die Totenwache halte, bevor die Leichenwäscherinnen ihre Arbeit verrichten?“
„Gewiss. Robert wird dafür sorgen, dass Ihr nicht gestört werdet.“ Ein entferntes Greinen war zu hören. Maud verzog übellaunig das Gesicht. „Ich sollte besser nach den Kindern sehen.“ Seufzend wandte sie sich an Robert. „Und du kümmerst dich um eine Überfahrt nach England. So rasch wie möglich.“
Hinter der Stadtmauer von Barfleur und dem öden Marschland erstreckten sich riesige Wälder, ein breiter grüner Gürtel die Berge hinauf bis dicht unter die Felsengipfel, um auf der anderen Seite in tiefe, von reißenden Flüssen durchzogene Täler abzufallen. Unter hohen Buchen und ausladenden Eichen, deren kahle Äste dunkel in den grauen Wolkenhimmel ragten, trabte Emmelines Pferd einen schmalen morastigen Pfad am Ufer des Flusses Argon entlang.
Sie ritt in mäßiger Geschwindigkeit, saß locker im Sattel, passte sich den Bewegungen ihrer Fuchsstute an und hielt die Zügel mit sicherer Hand. Felice hatte sich bei allen Vorbehalten gehütet, ihrer Tochter das verwegene Vorhaben, die Kaiserin aufzusuchen, auszureden. Sie kannte Emmelines störrisches Wesen zu gut und wusste, dass sie sich nicht von ihrem Ziel abbringen ließ. Aber ihr Vater hätte ihren Plan gutgeheißen, dessen war Emmeline sich sicher. Er war stets ein Mann der Tat gewesen, der nichts davon gehalten hatte, die Hände in den Schoß zu legen und darauf zu warten, dass etwas geschah. Emmeline zog den Kopf ein, duckte sich unter einem tief hängenden Zweig und lächelte still in sich hinein. Sie wusste natürlich auch, dass er nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass sie allein reiste. Ein Stich der Trauer fuhr ihr ins Herz. Nach all den Jahren vermisste sie seinen Rückhalt, seine weisen Ratschläge noch immer. Anselm war stets der ausgleichende ruhende Pol, im Gegensatz zu ihrer ruhelosen, leicht erregbaren Mutter.
Während sie gedankenversunken dahin ritt, eingelullt vom stetigen Rauschen des Flusses zu ihrer Linken, bezog sich der Himmel zunehmend mit schweren grauen Wolken, die den Pfad am Waldrand verdunkelten. Emmeline drückte dem Pferd die Absätze in die warmen Flanken und wechselte in eine schnellere Gangart, um nicht vom Regen bis auf die Haut durchnässt zu werden. Der Wind heulte in den kahlen Baumwipfeln, und plötzlich hörte sie ein anderes Geräusch. Sie zog die Zügel an, brachte die Stute zum Stehen und versuchte es mit seitlich geneigtem Kopf zu orten. Der Wind trug ein metallisches Klicken, das unverkennbare Klirren von Zaumzeug zu ihr herüber. Und dann hörte sie gedämpfte dunkle Stimmen.
Mit klopfendem Herzen schwang sie ein Bein über den Hals des Tieres und sprang in einer Wolke grauer Röcke zu Boden, wobei sie versuchte, das Gewicht auf den gesunden Fuß zu verlagern. Gehetzt Ausschau haltend nach einem Versteck, kletterte sie den steilen Abhang hinauf, um sich und die Stute hinter Bäumen und Gestrüpp zu verbergen. Brombeerdornen rissen an Umhang und Bliaut, zerkratzten ihr Gesicht und Arme und verhedderten sich in ihrem Leinenschleier, als ihr die Kapuze in den Nacken rutschte. Mit halb zugekniffenen Augen tastete sie sich voran, bis ihre Finger gegen Stein stießen: Ein riesiger Felsbrocken versperrte ihr den Weg. Erleichtert brachte sie das Pferd und sich selbst dahinter in Sicherheit, lehnte sich mit schlotternden Knien gegen den kühlen Stein und rang nach Atem. Erst jetzt machte sie sich klar, als die Angst in ihr aufstieg, dass sie einen Fehler begangen hatte, ohne Begleitung durch diese einsamen und undurchdringlichen Wälder zu reiten.
Unten auf dem Pfad näherten sich dunkle Männerstimmen. Dennoch konnte sie nicht widerstehen, den Hals zu recken und in die Tiefe zu spähen. Sie hatte es gerade noch geschafft. An der Wegbiegung tauchten zwei glänzend gestriegelte Pferde auf …
Nein … das durfte nicht wahr sein!
Sie erkannte den unerträglichen Lord Talvas auf den ersten Blick. Er ritt vorneweg, hoch aufgerichtet im Sattel seines Rappens, in seiner typisch herrischen Art, mit einem wachsam suchenden Ausdruck im Gesicht. Hatte er sie gehört? Sein Gefährte Guillame ritt hinter ihm, dessen flachsblondes Haar einen starken Kontrast zum rabenschwarzen Lockenkopf seines Herrn bildete. Emmeline durchlief ein Schauder, das Blut rauschte ihr in den Adern. Die dunklen Schatten, die die Bartstoppeln im Gesicht von Lord Talvas hinterlassen hatten, waren verschwunden; er war jetzt glatt rasiert. Fasziniert blickte sie in das schöne Gesicht des Mannes, der unter ihr vorbeiritt. Hohe Wangenknochen verliehen ihm einen lauernden, raubtierähnlichen Ausdruck. Sein schön geschwungener Mund mit energischer Oberlippe und voller sinnlicher Unterlippe zeigte in den Mundwinkeln feine Grübchen.
Eine befremdliche Hitze durchströmte sie, blitzschnell wich sie hinter den Felsen zurück, presste die Wange an den rauen Stein und atmete den Geruch nach feuchtem Moos ein. Ein merkwürdiges Schwindelgefühl ergriff sie, machte ihr das Denken schwer. Lord Talvas hatte die Kleider gewechselt, deren Pracht keinen Zweifel an seiner adeligen Herkunft ließ. Seine grüne Tunika aus feinster Wolle, vom Knie bis zur Hüfte geschlitzt, um genügend Bewegungsfreiheit im Sattel zu gewähren, war an Saum und rundem Halsausschnitt mit reicher Goldstickerei versehen. Die Ärmel seines dunkelgrünen Überwurfs reichten bis zu den Ellbogen. Der kurze blaue, pelzgefütterte Umhang um seine breiten Schultern blähte sich im Wind und wurde am Hals von einer juwelenbesetzten Spange gehalten.
Während die Reiter unter ihr passierten, wieherte eines der Pferde leise, worauf ihre Stute ebenso leise antwortete, den Kopf senkte und mit einem Vorderhuf ins welke Laub schlug. Emmeline spannte jeden Muskel an, wagte vor Angst kaum zu atmen und hoffte inständig, die Reiter hätten nichts gehört.
Talvas aber zog bereits die Zügel an, drehte sich halb im Sattel um und legte die Hand an den Schwertgriff. Guillame zog seine Waffe mit lautem Geräusch.
„Wer da?“, rief Talvas gebieterisch. Seine klare Stimme hallte durch das Tal. „Zeigt Euch, oder wir holen Euch aus Eurem Versteck!“
Emmeline brach der Schweiß aus allen Poren. Sie hatte nicht die Absicht, sich wie ein gehetztes Wild jagen zu lassen. Die Männer hätten sie im Nu eingeholt. „Ich bin es, Emmeline de Lonnieres.“ Ihre Stimme geriet ihr zu einem jämmerlichen Piepsen, stellte sie verärgert fest. Dann rutschte und schlitterte sie durch Gestrüpp und Laub den steilen Abhang hinunter, während Talvas seinem Gefährten einen irritierten Blick zuwarf, der seine buschigen blonden Brauen hochzog.
„Die Frau vom Hafen in Barfleur“, murmelte Guillame, steckte sein Schwert wieder in die Scheide und stieg vom Pferd.
„Erinnere mich nicht daran.“ Talvas verzog das Gesicht und beobachtete den unbeholfenen Abstieg der jungen Frau. Was für ein Pech, dass ihm diese kleine Hexe schon wieder begegnete. Als sie auf dem Weg landete, das Pferd im Schlepptau, das sie beinahe überrannt hätte, musste er an sich halten, um nicht laut aufzulachen. Dürre Zweige hatten sich in ihrem Schleier und Wollumhang verfangen. Der blutige Kratzer an ihrer Wange stammte gewiss von Dornen. Auf ihrer glatten Stirn klebten Schmutz und winzige Sandkörner.
„Und wo sind die anderen?“ Talvas stützte die Hände auf den Sattelknauf und beugte sich vor.
„Welche anderen?“, fragte sie verdutzt. Verglichen mit den kostbaren Gewändern der Männer wirkten ihr abgetragener Umhang und das graue Bliaut schäbig, aber bessere Kleidung besaß sie nicht. Der Stoff ihres dunkelbraunen Untergewandes war von etwas besserer Qualität, von dem aber nur ein kurzes Stück sichtbar war unter den fast bis zum Boden reichenden Tütenärmeln.
Talvas Augen sprühten eisblaue Funken. „Spannt meine Geduld nicht auf die Folter, Madame“, grollte er. „Wo ist Eure Begleitung?“
„Ich habe keine Begleitung.“ Emmeline trat von einem Fuß auf den anderen. Der kalte aufgeweichte Lehm drang durch ihre dünnen Ledersohlen.
Talvas schlug die Augen zum Himmel. „Sie reitet ohne Begleitung“, murmelte er in sich hinein. „Und wieso fällt es mir nicht schwer, ihr zu glauben?“
Emmeline entging sein verächtlicher Tonfall keineswegs. „Ich habe mir nichts vorzuwerfen“, entgegnete sie aufbrausend.
„Und warum versteckt Ihr Euch hinter einem Felsen?“ Sein Stiefel im eisernen Steigbügel befand sich in Höhe ihrer Schulter. Unvermutet beugte er sich aus dem Sattel und entfernte einen dürren Zweig aus ihrem Schleier. Sie biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte den Drang, wegzulaufen. Seine kühlen Finger streiften ihre Wange. Unter seiner Berührung errötete sie schamhaft, mied seinen Blick und seufzte leise, als er den Zweig ins Wasser warf. „Antwortet, Madame“, knurrte er.
„Ihr hättet Freund oder Feind sein können“, antwortete sie und hielt den Blick auf seine abgewetzte Stiefelspitze gerichtet.
„Richtig.“ Talvas tätschelte den Hals seines unruhig tänzelnden Hengstes. „Habt Ihr denn keine Ahnung, welche Gefahren auf einen Reiter ohne Begleitung lauern, noch dazu auf eine Frau? Guter Gott, selbst ich bin so vernünftig und reite mit meinem Gefährten.“ Er nickte zu Guillame hinüber.
„Ich kann auf mich selbst aufpassen“, widersprach sie störrisch.
Talvas musterte ihre zierliche Gestalt geringschätzig von Kopf bis Fuß. „Wenn ich Euch so ansehe, habe ich erhebliche Zweifel daran“, äußerte er herablassend. Aber wieso in aller Welt kümmerte ihn das? Er sollte sie einfach stehen lassen und sich den Teufel um sie scheren! „Wohin wollt Ihr?“
Sie zögerte, ihm ihr Ziel zu nennen. Hinter dem markanten Kopf des Reiters, dessen kühn geschnittenes Profil sich deutlich vor dem bleigrauen Wolkenhimmel abhob, schwankten die Wipfel hoher Nadelbäume heftig im Sturm. Aus den kahlen Ästen einer schlanken Buche flog krächzend ein Krähenschwarm auf.
„Ihr lasst uns warten, Madame.“ Talvas blickte finster in ihr verschlossenes Gesicht. Dreistes Frauenzimmer! Selbst seine Seeleute legten höflichere Manieren an den Tag als diese zänkische kleine Person, die ihn hasserfüllt aus ihren bemerkenswert grünen Augen anfunkelte. Ein Verhalten, das ihm fremd war, da Frauen ihm normalerweise kokette Blicke zuwarfen, was seine Abneigung gegen das schwache Geschlecht nur erhöhte. Es konnte ihm nur recht sein, wenn diese Hexe ihn hasste.
Unwillkürlich machte sie einen Schritt nach hinten und stieß mit den Fersen gegen den Fels. Talvas setzte die Miene eines Mannes auf, der bereit war, einen ganzen Tag auf die richtige Antwort zu warten. Der strenge Zug um seinen Mund, das stahlharte Funkeln seiner Augen – alles deutete auf einen Charakter hin, der nicht so leicht aufgeben würde.
Emmeline seufzte. „Ich reite nach Torigny.“ Sie verkroch sich in ihren dünnen Wollumhang.
„Auch wir reiten nach Torigny.“ Der Wind fuhr in seine dunklen Locken. „Welch ein Zufall, dass wir den gleichen Weg haben. Gestattet uns, Euch zu begleiten.“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, Mylord. Ich halte Euch nur auf. Lasst mich getrost meiner Wege ziehen.“ Verflixt! Wurde sie den lästigen Kerl denn nie los? Die Schmerzen in ihrem verletzten Fuß begannen unerträglich zu werden.
Er drohte ihr mit dem Finger. „Nein, Madame. Ihr seid zwar die unerträglichste und widerspenstigste Frau, der ich je begegnete – ein wahres Pech –, dennoch fühle ich mich für Euch verantwortlich.“
Emmeline schloss entnervt die Augen. Vielleicht war das alles nur ein böser Traum.
„Ja, Madame.“ Seine Stimme klang schneidend. „Es ist unsere Pflicht als Ritter, schutzlosen Frauen beizustehen, besonders jungen Witwen, denen ihre neu erworbene Freiheit offenbar zu Kopf gestiegen ist.“
Sein Spott machte sie nur noch wütender, sie lehnte sich Halt suchend an ihr Pferd. „Woher wisst Ihr, dass ich Witwe bin?“, fragte sie mit vor Entrüstung schriller Stimme.
„Ich habe nur geraten.“ Er lachte leise. „Was habt Ihr dem bedauernswerten Mann angetan? Ihn mit Eurer scharfen Zunge in den Wahnsinn getrieben?“ Beide Männer lachten wiehernd.
Emmeline presste die Lippen aufeinander. „Feine Ritter des Königreichs, wahrhaftig!“, höhnte sie. „Ich glaube Euch kein Wort. Und ich muss mir diese Unverschämtheiten nicht gefallen lassen … dieses rüpelhafte Benehmen. Lasst mich vorbei!“ Sie versuchte, den kräftigen Hengst mit ihrem Körpergewicht beiseite zu schieben. Talvas packte sie am Oberarm und stieß sie gegen die Flanke des Pferdes.
„Falls Ihr Wert auf gezierte und feine Lebensart legt, so seid Ihr bei mir an den Falschen geraten“, knurrte er. „Aber ich habe einen Eid auf ritterliche Tugenden geschworen. Und Ihr, junge Frau, vergeudet unsere Zeit mit Eurem Geschwätz.“ Ohne Vorwarnung beugte er sich weit aus dem Sattel, umfing ihre schmale Mitte und hob sie schwungvoll in den Sattel ihres Pferdes. „Ihr kommt mit uns, und das ist ein Befehl!“