7. KAPITEL

Geoffrey und Marie, die vor Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen wurden, erschraken zutiefst beim Anblick ihrer triefendnassen Freundin, die von Lord Talvas of Boulogne ins Haus gebracht wurde. Emmeline stand vor Kälte schlotternd in der Wohnstube, zu ihren Füßen bildeten sich Wasserpfützen, während die beiden sich rührend um sie kümmerten. Marie drückte den Besuchern je einen Becher Honigwein in die Hand, während Geoffrey die Glut in der Feuerstelle aufstocherte und Torfstücke hineinwarf, bis rötliche Flammen züngelten. Danach hängte er einen Kessel Wasser in den Eisenhaken über dem Feuer.

Immer noch vor Kälte zitternd, hatte Emmeline in ihrer Erschöpfung Mühe, Worte der Erklärung zu finden. Warum war Talvas auf dem Schiff gewesen? Die Gegenwart des Hünen hinter ihr verwirrte sie und lähmte ihren Verstand. Sie wünschte, er würde endlich gehen.

„Marie, es tut mir leid, euch so früh aus dem Bett geholt zu haben …“ Emmeline machte einen vorsichtigen Schritt vorwärts, ein stechender Schmerz fuhr ihr ins rechte Bein. Marie, die am Feuer kauerte, wandte sich zu ihr um.

„Was ist geschehen?“

„Eure Freundin hat offenbar die unselige Angewohnheit, sich ständig in Gefahr zu bringen.“ Talvas’ harsche Stimme erfüllte den kleinen Raum, er gab ihr nicht einmal Gelegenheit, selbst zu antworten. „Ich erwischte sie an Bord ihres Schiffes, und sie sprang ins Meer, um mir zu entkommen.“

„Ihr habt mich an Bord meines Schiffes erwischt?“, wiederholte Emmeline sarkastisch, während Marie sich vor Schreck die Hand vor den Mund schlug. „Es ist mein gutes Recht, auf meinem Schiff zu sein, was Euch keineswegs zusteht.“

Marie starrte ihre Freundin nun entgeistert an. „Du bist ins Meer gesprungen? Großer Gott!“ Emmeline straffte die Schultern und reckte das Kinn. Es war nicht ihre Schuld! Was hätte sie sonst tun sollen unter den gegebenen Umständen?

Talvas war an der Tür stehen geblieben und beobachtete das Profil der aufsässigen jungen Frau, die er aus dem Wasser gefischt hatte. Ein anschauliches Beispiel einer ungestümen und leichtfertigen Person, die nur das tat, was ihr gefiel, da sie niemandem Rechenschaft schuldete. Allerdings faszinierte ihn ihre Furchtlosigkeit. Als ihre nassen Kleider in der Wärme des Feuers zu dampfen begannen, nahm er einen Hauch ihres Duftes nach Lavendel und Rosen wahr, der seinen Sinnen schmeichelte. Sein Blick glitt über ihre zerzausten langen Zöpfe, die ihr über den schmalen Rücken hingen und bis zu den Rundungen ihrer Hüften reichten. Unvermutet drehte sie sich nach ihm um, klar und eindringlich blickten ihre großen grünen Augen, umrahmt von dunklen Wimpern, ihn an.

„Nun? Ihr schuldet mir eine Erklärung“, forderte sie schroff. Die hünenhafte Gestalt ließ die Stube noch kleiner wirken; sein schwarz gelockter Scheitel stieß beinahe gegen die Deckenbalken. Er gab ihr das Gefühl, zwergenhaft zu sein. Talvas trat einen Schritt in die Stube, stellte den leeren Becher auf den blank geschrubbten Tisch und näherte sich ihr, ein bedrohlicher Riese im flackernden Feuerschein. Schwindel drohte sie zu übermannen, sie suchte Halt am Tisch. Hitze stieg in ihr auf, und ihr war, als sei ihr heißer Kopf von ihrem eisigen Körper getrennt.

„Ich beschloss, mir das Schiff noch einmal anzusehen, bevor wir die Segel setzen“, erklärte er schließlich.

„Mitten in der Nacht?“, stieß Emmeline gepresst hervor. Ihre Augen blitzten. „Ich glaube Euch nicht, Lord Talvas. Ihr führt etwas im Schilde, das spüre ich.“ Seine hohe Gestalt begann zu verschwimmen, sie taumelte und suchte Halt, um nicht zu stürzen … Talvas fing sie auf, bevor sie zu Boden sank. Seine starken Arme umfingen ihre zierliche Gestalt, der Becher rollte über den Boden, der Met ergoss sich über die Steinfliesen. An seine breite Brust gedrückt, hörte sie seine tiefe Stimme über ihrem Kopf wie durch dichten Nebel, ihre Umgebung nahm sie durch einen Schleier wahr. Sie sehnte sich nach Schlaf, nach einem hundertjährigen Schlaf, und sie lehnte das Gesicht an seine Brust und ließ sich von der Wärme seines Körpers einlullen.

Widerstrebend gestattete sich Talvas das Wohlbehagen, ihre Rundungen zu spüren. Er starrte blicklos ins Feuer, irritiert von ihrer Nähe. Marie eilte herbei und streifte Emmeline den nassen Kittel über den Kopf. Sein Blick wurde magisch vom Ausschnitt ihres Leinenhemdes angezogen, wanderte über ihren schlanken Hals zur Mulde ihres Schlüsselbeins, zum runden Ansatz ihres Busens. Der Kopf des Mädchens sank nach hinten. Er schob den Arm höher und bettete sie bequemer an seine Schulter. Ihre langen seidigen Wimpern warfen Schatten auf ihre bleichen Wangen. Verlangen pulsierte durch seine Adern, so heftig und unerwartet, dass er vor Schreck den Kopf hochriss. Sein Blick suchte Geoffrey, der die schmale Holzstiege von der Schlafkammer herunterkam, die Arme beladen mit Kleidern und einer Pelzdecke.

„Maries Kleider müssten ihr passen“, verkündete Geoffrey.

„Ja, gewiss“, sagte Marie. „Aber ich will ihr das nasse Hemd noch ausziehen.“ Sie bedachte Lord Talvas mit einem bedeutungsvollen Blick. Er nickte knapp.

„Ich warte draußen.“

Er zog die Haustür hinter sich zu, atmete die frische Morgenluft tief ein und blinzelte ins erste Tageslicht. Plötzlich überkam ihn der Drang, einen wilden animalischen Schrei auszustoßen. Seit er diese zierliche Nymphe unter dem herabstürzenden Kran weggerissen, seit sie hilflos unter ihm auf dem Steg gelegen hatte, quälte ihn dieses Verlangen, sie zu besitzen. Zum Teufel, er kannte das Mädchen erst seit drei Tagen – konnte er sich so wenig beherrschen? Er sollte schleunigst eine Hure aufsuchen, um seine Begierden zu stillen! Hatte er denn nichts aus seiner Vergangenheit gelernt? Sein unsteter Blick wanderte den Küstenstreifen entlang, wo die ersten Hafenarbeiter ihr Tagwerk begannen, folgte einem Fischerboot, das aufs Meer hinausfuhr. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Erinnerungen stürmten auf ihn ein, zu mächtig, um sie bannen zu können.

Er hätte ihr verzeihen können, als sie ihn verließ. Sein jugendlicher Ehrgeiz und seine Liebe zur See hatten die kurze Zeit ihres Zusammenseins überschattet. Und sie war den Verlockungen eines Lebens in Luxus und Reichtum erlegen. Was er ihr nie verzeihen konnte, war die Tatsache, dass sie ihm sein Kind weggenommen hatte: Sie war einfach mit dem Säugling verschwunden. Und manchmal glaubte er, nur geträumt zu haben, dass sie ihm eine Tochter geboren hatte. Aber er hatte das strampelnde Baby in den Armen gehalten, den dunklen seidigen Haarflaum bewundert, das runde rosige Gesicht, die winzigen Finger, die mit erstaunlicher Kraft seinen Daumen umklammerten. Und er hatte das zufriedene Glucksen gehört, das ihm das Herz vor Liebe überfließen ließ. Talvas starrte aufs Meer hinaus und versuchte, seine düsteren Gedanken zu vertreiben. Die Brust war ihm zugeschnürt, Schuldgefühle lasteten auf seinem Herzen. Einige Monate nach ihrem plötzlichen Verschwinden hatte er erfahren, dass seine kleine Tochter gestorben war.

Hinter ihm knarrten die Scharniere der Eichentür. Er drehte sich nach Geoffrey um, froh, aus seinen düsteren Gedanken geholt zu werden. „Wie geht es dem Mädchen?“, fragte er teilnahmslos.

Geoffrey lächelte. „Marie hat sie angezogen, und wir haben ihr ein Lager vor dem Feuer bereitet. Aber ihr ist noch immer kalt.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Sagt mir, Mylord … wie weit ist sie eigentlich geschwommen?“

Talvas blickte zur Belle Saumur hinaus, die sanft im ruhigen Wellengang schaukelte. „Beinahe die ganze Strecke.“

Geoffrey pfiff durch die Zähne. „Alle Achtung. Ich wusste, dass sie schwimmen kann, aber diese Entfernung und bei der Kälte!“

„Höchst bemerkenswert … und ungewöhnlich, dass ein Mädchen überhaupt schwimmen kann“, stellte Talvas anerkennend fest. Verflucht! Er war nicht an ihr interessiert!

„Ihr Vater Anselm brachte es ihr bei. Emmeline konnte schon schwimmen, bevor sie richtig laufen konnte.“ Geoffrey musterte den nassen Umhang des Besuchers. „Mylord, Ihr seid völlig durchnässt. Verzeiht, dass mir das nicht vorhin schon aufgefallen ist. Kann ich Euch trockene Sachen anbieten?“

Talvas grinste. „Und ich dachte schon, Ihr fragt mich nie.“ Er duckte sich unter dem Türbalken und folgte Geoffrey ins Haus.

Eine wohlige Wärme umhüllte Emmeline, die weiche Pelzdecke schmiegte sich an ihre Wange, allmählich begann sie, die Gerüche und Geräusche in der warmen Stube wahrzunehmen. Murmelnde Stimmen, das Klappern von Geschirr, Wasserplätschern und das köstliche Aroma von frisch gebackenem Brot.

Ihr Denkvermögen war getrübt – gerade hatte sie sich noch mit diesem unerträglichen Mann gezankt, und im nächsten Augenblick war sie ihm ohnmächtig in die Arme gesunken. Allerdings entsann sie sich an seinen Geruch nach Leder und Seetang.

Sie öffnete die Augen einen Spalt und fragte sich, ob er gegangen war. Verstohlen blinzelte sie aus ihren Decken in die Stube. Marie stand am Küchentisch und brach frisches Brot in handliche Stücke. Und Geoffrey …

Sie riss die Augen auf.

Hitze durchzuckte sie wie ein Blitz und brachte ihr Blut in Wallung. Lord Talvas! Er stand mit dem Rücken zu ihr, streifte sich die nasse Tunika über den Kopf, dann das Unterhemd, und rieb sich mit einem grob gewebten Tuch trocken. Emmeline starrte gebannt auf den prachtvollen Männerrücken. Bekleidet war Talvas schon eine stattliche Erscheinung, aber halbnackt bot er einen atemberaubenden Anblick. Sie ließ den Blick die kräftige Wirbelsäule nach unten wandern, eingebettet in wohlgeformte Muskelpakete, der Beweis harter körperlicher Betätigung. Nichts an ihm war schlaff und verweichlicht. Ihr Blick glitt tiefer bis zur Stelle, wo seine Hüften vom Hosenbund verdeckt wurden.

Sinnliches Verlangen durchströmte sie, das sie nicht zulassen durfte und wollte. Niemals! Sie barg ihr Gesicht in den Händen. Wenn sie sein Bild bannte, würde ihre Sinnesaufwallung abflauen, das Feuer in ihr gelöschte werden – das hoffte sie zumindest.

„Aha, ich denke, unsere Nixe ist aufgewacht.“ Talvas’ tiefe Stimme erfüllte den Raum. Er drehte sich nach ihr um und zog die Tunika über den Kopf.

„Ihr scheint nicht sonderlich erfreut darüber zu sein“, entgegnete Emmeline angriffslustig, um ihren inneren Aufruhr zu überspielen. Mühsam richtete sie sich auf, unter der Pelzdecke lugten ihre nackten Füße hervor, sie krümmte die Zehen auf dem kalten Steinboden.

„Jedenfalls bin ich nicht sonderlich erfreut darüber, dass Ihr nach England reist.“ Er musterte sie argwöhnisch, während er den Ledergürtel um seine schmalen Hüften schnallte. „Wer garantiert mir, dass Ihr nicht wieder eine Torheit begeht?“

„Das ist allein meine Sache“, entgegnete sie schnippisch. „Wie gesagt, ich übernehme selbst die Verantwortung für mein Handeln.“

Er lächelte breit und wirkte plötzlich jünger, irgendwie zugänglicher. „Und ich wage zu bezweifeln, dass sich jemand findet, der die Verantwortung für Euch übernimmt.“

„Im Übrigen kann ich Euch in mancher Hinsicht nützlich sein“, fuhr sie fort, ohne auf seine Bemerkung einzugehen, und rieb die Füße aneinander. Ob Marie Strümpfe und Schuhe für sie erübrigen konnte?

„Hmm … das bleibt abzuwarten.“ Talvas fuhr sich mit den Fingern durchs wirre dunkle Haar.

„Jedenfalls steht mein Entschluss fest. Ich muss meine Schwester besuchen.“ Sie warf die Decken zurück, um ihrer Rede Nachdruck zu verleihen, und stand auf, zu schnell, wie sich herausstellte. Ihr rechter Fuß knickte ein, und sie sank stöhnend auf ihr Lager zurück.

Marie, die sich am Herd zu schaffen machte, eilte an ihre Seite, aber Talvas war schneller. Bevor Emmeline ihn von sich stoßen konnte, kauerte er vor ihr und hob den Saum ihres Bliauts.

In dem lastenden Schweigen schien die Zeit stehen geblieben zu sein.

Unter Emmelines rechtem Knie zogen sich rote Narbenwülste das Wadenbein hinab, die ihre glatte helle Haut entstellten. Ihr rechter Fuß unter dem leicht geschwollenen Knöchel war ein wenig seitlich verdreht.

„Gütiger Himmel!“ Talvas pfiff leise durch die Zähne, seine blauen Augen suchten die ihren. „Wie ist das geschehen? Gewiss nicht heute Nacht.“

Emmeline schüttelte den Kopf. „Nein, es ist eine alte Verletzung.“ Ihre Stimme bebte angesichts der Erinnerung: Der gewaltige Stoß in den Rücken, das wackelige Holzgeländer, an dem sie vergeblich Halt suchte, bevor sie zusammengekrümmt unten auf dem Boden aufprallte, von einem wahnsinnigen Schmerz im rechten Bein durchbohrt. Dann Giffards Gesicht, aufgedunsen und fett, der Speichel troff ihm aus den Mundwinkeln, als er wie ein Irrer lachte und von oben auf sie herunterglotzte.

„Deshalb hinkt Ihr“, sagte Talvas leise. „Ich hätte es mir denken müssen.“ Er nahm ihre Hand, die Schwielen seiner Finger drückten sich in ihre Handfläche. Ein starker Griff und dennoch unendlich weich, dass sie es nicht über sich brachte, sich ihm zu entziehen.

Sie errötete unter seinem eindringlichen Blick, glaubte in den Tiefen seiner blauen Augen zu ertrinken. Jäh entriss sie ihm ihre Hand und zog hastig die Röcke über die hässlichen Narben. „Das ist lange her. Ich denke gar nicht mehr daran.“ Sein Mitleid, seine Besorgnis hatten ihr gerade noch gefehlt.

„Wie ist das geschehen?“, wiederholte er unbeirrt, sich der lastenden Stille in der Stube wohl bewusst. Geoffrey und Marie wussten gewiss darüber Bescheid.

„Ich bin gestürzt“, erklärte sie tonlos. „Ich habe mich ungeschickt angestellt.“

Talvas richtete sich auf und fragte sich, was sie hinter ihrer verschlossenen Miene, ihrer knappen Erklärung verbarg. Ihre Hände umklammerten die Armlehnen des Stuhls, auf den sie sich gesetzt hatte, so fest, dass ihre Knöchel weiß schimmerten. In seinem Gesicht war ein deutliches Zucken zu erkennen. Im Stuhl zurückgelehnt, glich sie einer zerbrochenen Puppe in ihrem moosgrünen Bliaut. Ihr ungestümer Geist, ihre sprühende Lebendigkeit, ihr starker Wille schienen gebrochen zu sein. Sein Blick ruhte noch lange sinnend auf ihr, bevor er sich zum Gehen wandte.

„Ich verabschiede mich, Madame.“ Er nickte ihr zu. „Wir sehen uns später.“

Ihr feindseliger Blick streifte ihn. „Es lässt sich ja wohl nicht vermeiden“, murmelte sie und richtete den Blick ins Feuer. Diese besorgte Miene ertrug sie nicht. Seine Arroganz war ihr lieber, mit Anmaßung konnte sie umgehen. An Abneigung und Hochmut war sie gewöhnt, davor wusste sie sich zu schützen – das hatte ihr Giffard beigebracht.

„Danke für die Gastfreundschaft.“ Talvas verneigte sich höflich vor Marie und verließ das Haus. „Ich wünsche Euch eine gute Überfahrt, Mylord“, sagte Geoffrey, der ihn begleitete. Und draußen vor der Tür fügte er im Flüsterton hinzu: „Ihr Ehemann Giffard hat ihr das angetan.“

Seemöwen kreisten kreischend über ihrem Kopf, als Emmeline von der Mole den Ochsenkarren beobachtete, der über den Schotter in ihre Richtung holperte. Verärgert verschränkte sie die Arme vor der Brust. Das war zu viel! Die Ladung eines Karrens war bereits mit zwei Lastkähnen zur Belle Saumur hinübergerudert worden. Und nun sollten weitere Kisten und Truhen folgen, zweifellos vollbepackt mit den Kleidern der Kaiserin. Missmutig nagte sie an ihrer Unterlippe.

„Seid unbesorgt, Madame, der Frachtraum ist groß genug“, sagte Talvas, der neben sie getreten war, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Seine hünenhafte Gestalt schützte sie vor dem Wind vom Meer her.

Sie blickte zu ihm auf. „Ich … ich dachte, Ihr seid bereits an Bord.“ In Wahrheit hatte sie ihn gemieden. Zu wissen, dass er ihr verletztes Bein gesehen hatte, behagte ihr ganz und gar nicht, gab ihr das Gefühl, minderwertig zu sein, und das störte sie über die Maßen.

Er hatte sie vom Schiff entdeckt, wie sie an der Mole stand, eine einsame Gestalt, die mit besorgter Miene das Verladen des Reisegepäcks verfolgte, die Arme gegen den scharfen Wind schützend um sich geschlungen. Bei ihrem verlorenen Anblick hatte ihm ein seltsames Gefühl die Brust verengt und ihn veranlasst, in einen leeren Frachtkahn zu springen, um an ihrer Seite zu sein.

„Ich war bereits an Bord.“ Sein Lächeln verwirrte sie. „Aber dann dachte ich, Ihr braucht vielleicht Unterstützung bei der Überwachung, ob das Gepäck ordnungsgemäß verladen wird.“

„Nein danke. Jemand müsste eher dafür sorgen, dass mein Schiff nicht überladen wird.“ Emmeline wies mit dem Arm zu den bauchigen Ledertaschen und Truhen hinüber, die sich auf dem Schotter stapelten.

Er lachte und zeigte seine weißen Zähne. „Vielleicht braucht Ihr aber Unterstützung gegen ihn.“ Er wies mit dem Kinn zur Straße hinüber.

Ein Frösteln lief Emmeline über den Rücken, als Earl Robert der Kaiserin half, vom Ochsenkarren zu steigen, wollte sich aber ihr Unbehagen beim Anblick des hageren hochmütigen Edelmanns nicht anmerken lassen.

„Ich denke, er hat seine Lektion gelernt“, stellte sie grimmig fest.

„Mag sein, aber mächtige Männer lassen sich nicht gern demütigen.“ Talvas blickte forschend in ihr verschlossenes Gesicht und fragte sich, ob sie wohl Ähnlichkeiten zwischen dem Earl und ihrem Ehemann festgestellt hatte.

Auf ihrer Stirn bildete sich eine steile Falte. „Lord Talvas, lasst das bitte!“

„Was denn?“, fragte er leichthin.

Sie nestelte an den Bändern ihres Umhangs. „Ihr behandelt mich anders … seit Ihr … mein verletztes Bein gesehen habt“, murmelte hastig. „Bitte lasst das.“ Sie senkte beschämt den Blick.

Er hob ihr mit einem Finger das Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Wäre Euch Gleichgültigkeit lieber?“

„Nein … aber …“ Wie sollte sie ihm erklären, dass sie mit Gleichgültigkeit besser umgehen konnte?

Talvas legte den Kopf seitlich und wartete auf Antwort. Emmeline verzog das Gesicht. „Um Worte verlegen, Madame?“, neckte er. „Das kann ich mir nicht denken.“

„Ach, lasst mich zufrieden und kümmert Euch um Eure Mannschaft“, fauchte sie schließlich gereizt. „Ich brauche Eure Hilfe nicht.“ Der Wind wehte ihr den Schleier ins Gesicht, den sie mit einer unwirschen Handbewegung nach hinten wischte. „Die Kaiserin scheint ihre gesamte Garderobe eingepackt zu haben.“

„Das Privileg hochgestellter Persönlichkeiten“, bemerkte er trocken. „Aber die Kaiserin bringt noch eine besondere Fracht: den Grund, warum sie so überstürzt nach England reist.“ Er wies zu einem weiteren Karren hinüber, von zwei kraftvollen Ochsen gezogen, die sich den Weg durch eine Menschenansammlung bahnten. Die Bewohner von Barfleur waren zum Hafen geeilt, um einen Blick auf die gefürchtete Kaiserin Maud zu werfen.

„Nicht noch mehr Zeug!“, entfuhr es Emmeline aufgebracht. „Ich muss mit ihr sprechen.“

Sie wandte sich zum Gehen, doch Talvas hielt sie am Arm zurück.

„Wartet!“, befahl er. „Habt Ihr Euch nicht gefragt, warum sie unbedingt zu dieser gefährlichen Jahreszeit den Ärmelkanal überqueren will?“

Emmeline blickte ihn argwöhnisch an, ein Gefühl drohenden Unheils keimte in ihr auf. Seine Augen lagen im Schatten seines tief in die Stirn gezogenen Lederhuts, dennoch entging ihr das Funkeln seiner blauen Augen nicht.

„Nun redet schon“, forderte sie und trat einen Schritt näher. Er bemerkte die dunklen Ringe in ihrem von Schlaflosigkeit gezeichneten Gesicht.

„Seht doch!“ Er drehte sie sanft um. Emmeline beobachtete, wie vier Männer ein langes, in weiße Tücher gehülltes Bündel behutsam aus dem Karren hoben, es auf ihre Schultern legten und die Last vorsichtig über die Steine hinunter zu einem wartenden Kahn brachten.

„Ein Leichnam“, entfuhr es ihr ungläubig. „Talvas, wer ist das?“

„Mauds Vater, König Henry.“

Emmeline schlug sich die Hand vor den Mund. „Ich hatte keine Ahnung“, murmelte sie.

Talvas lächelte nachsichtig. „Nur eine Handvoll Menschen wissen davon. Es ist der ausdrückliche Wunsch der Kaiserin, seinen Tod geheim zu halten, bis sie England erreicht.“

„Aber warum?“

„Weil sie den Anspruch erhebt, Königin von England und der Normandie zu werden.“

„Aber warum diese Hast? Wieso bringt sie sich und den Leichnam ihres Vaters in Gefahr?“ Emmeline krümmte die Zehen in ihren Winterstiefeln. „Die Krone steht ihr doch zu! Warum muss sie nach England reisen, um ihre Ansprüche persönlich geltend zu machen?“

„Es gibt noch einen weiteren Bewerber. Die englischen Untertanen würden lieber den Vetter der Kaiserin auf dem Thron sehen.“

„Kein Wunder. Er ist schließlich ein Mann“, entgegnete Emmeline bissig.

Talvas neigte den Kopf. „Davon gehe ich aus.“ Mit leicht verengten Augen schaute er dem Boot nach, das zum Schiff gerudert wurde. „Aber Stephen ist auch ein fähiger und aufrechter Mann.“

„Kennt Ihr ihn denn?“

„Er ist mit meiner jüngsten Schwester Matilda verheiratet.“

Emmeline furchte die Stirn. „Wird man Euch zwingen, Partei zu ergreifen?“ Sie beobachtete, wie die Kaiserin mühsam, von zwei Hofdamen gestützt, den beschwerlichen Weg durch den Schotter zum wartenden Boot bewältigte, und fragte sich, wie die hochwohlgeborene Lady ohne fremde Hilfe die Belle Saumur erklimmen wollte.

„Die Möglichkeit besteht“, antwortete Talvas ausweichend, da er nicht die Absicht hatte, ihr anzuvertrauen, dass dies bereits geschehen war. „Aber zunächst ist Eile geboten, wenn wir noch bei Flut auslaufen wollen. Seid Ihr bereit?“

Emmeline zögerte. Die weißen Schaumkronen der Brandung schlugen im ewig gleichen Rhythmus an die Küste, verliehen den grauen Steinen eine Vielfalt glänzender Schattierungen von Braun und Grau, bevor sie sich leise glucksend wieder zurückzogen. Der nasse Landstreifen war bereits erheblich breiter geworden, bald würde die Ebbe wieder einsetzen.

„Kommt, wir müssen los“, drängte Talvas.

Emmeline fingerte nach dem Amulett an ihrem Hals, beschlichen von leisem Unbehagen. „Die Belle Saumur ist zu schwer beladen“, gab sie erneut zu bedenken. „Eine Truhe Kleider hätte der Kaiserin doch genügen können“

Talvas lächelte. „Wegen der paar Kleiderkisten wird das Schiff nicht sinken.“

„Mag sein. Aber ein Sturm könnte das Schiff mit Mann und Maus versenken“, murmelte sie. Verdrießlich stieß sie mit der Stiefelspitze gegen einen Kieselstein, der über die Planken schlitterte und ins Wasser fiel.

„Vertraut meiner Erfahrung als Schiffsführer, Madame“, entgegnete Talvas, und in seinen Augen blitzte ein verwegenes Funkeln. „Ich habe noch kein Schiff verloren.“

Sie musterte ihn scharf, ohne eine Spur von Unsicherheit in seinen markanten Gesichtszügen zu entdecken. Er hielt sich offenbar für unbesiegbar, gerade so, als habe er Macht über die Elemente. „Kühne Worte, Mylord.“ Ein rosiger Hauch überflog ihr zartes Gesicht, ihre Stimme wurde lauter. „Ihr wisst genau, wie gefährlich es um diese Jahreszeit ist, ein Schiff auf hoher See zu segeln. Ich muss diese Reise wagen, genau wie die Kaiserin, aber Ihr … Ihr seid nicht gezwungen, Euch in Gefahr zu begeben. Warum also setzt Ihr Euer Leben aufs Spiel?“

Talvas zuckte mit den Achseln. In seinem Blick glaubte sie etwas wie Schmerz zu erkennen. Eine bittere Erinnerung? Sie war sich nicht sicher. Seine tonlose Antwort versetzte ihr einen Stich.

„Weil ich nichts zu verlieren habe.“