17. KAPITEL

Entfernte Stimmen drangen wie durch dichten Nebel an Emmelines Ohr, eine vertraute Stimme, die sie aus dem Dämmerschlaf holte. Mit geschlossenen Augen bewegte sie tastend eine Hand, spürte weiches Leinen und einen dumpfen Schmerz in der Schulter.

„Vertrau mir, Talvas“, hörte sie eine aufmunternde Frauenstimme. „Ich pflege sie gesund. Und ich sorge dafür, dass sie keinen Schritt ohne mich tut.“

Emmelines Wimpern klebten aneinander, als sie versuchte, die Augen zu öffnen. Im hellen Licht, das schräg durch schmale Maueröffnungen einfiel, nahm sie die Umrisse zweier Gestalten wahr: Talvas’ kühn geschnittenes Profil erkannte sie sogleich. Doch die hochgewachsene und schlanke Frauengestalt neben ihm hatte sie noch nie gesehen.

Talvas lachte. Zu Emmelines Erstaunen hob er die Hand und zog neckend an einem schwarzen Zopf der Frau. „Genau das ist meine Sorge, Matilda, denn bei dir bin ich mir nie sicher, was du dir als Nächstes ausheckst.“

Matilda! Natürlich, seine Schwester! Emmeline hob den Kopf ein wenig, ihre blonden Locken lagen wie ein goldener Strahlenkranz auf dem weißen Kissen. Die Frau lachte heiter, melodisch hell, und drehte den Kopf, als sie Emmelines winzige Kopfbewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. „Sieh nur, Talvas! Sie ist endlich aufgewacht!“

„Dem Himmel sei Dank!“ Talvas fuhr sich hektisch durch die schwarzen Locken und war in drei Sätzen an ihrem Bett.

„Talvas“, sagte Emmeline matt und versuchte, die Hand zu heben. „Mein Gott, bin ich froh, dich zu sehen.“

Er beugte sich lächelnd über sie. „Und wie bin ich erst froh, dich zu sehen.“ Er umfing ihre zarten Finger mit seiner großen warmen Hand. Sein Blick glitt forschend über ihr bleiches Gesicht, verharrte an ihrem Hals und dem blutverkrusteten Strich, den Edgars Klinge hinterlassen hatte.

„Du schaust mich an, als hättest du mich nie zuvor gesehen.“

„Ich hatte befürchtet, dich nie wieder zu sehen“, gestand er wehmütig und setzte sich an den Bettrand. Erschöpfung und Sorge hatten sich in seine Gesichtszüge eingegraben, seine Augen waren blutunterlaufen.

„Du siehst schrecklich aus“, sagte sie zärtlich und bemerkte die dunklen Bartstoppeln an seinen Wangen. Jede Einzelheit seines Gesichts prägte sie sich ein, sie konnte sich einfach nicht an ihm satt sehen.

„Er hat nicht geschlafen, seit er Euch in dieses Bett gepackt hat“, meldete Matilda sich zu Wort, die neben Talvas getreten war, eine vornehme Erscheinung in einem reich bestickten Gewand aus rostroter Wolle, das ihre schlanke Gestalt umspielte.

„Wie lange?“ Emmeline versuchte sich aufzurichten, schmerzlich verzog sie das Gesicht.

„Ein paar Tage“, murmelte Talvas und legte sie mit sanftem Druck wieder in die Kissen zurück. „Bleib liegen, Emmeline. Du hast einen Bluterguss an der Schulter. Aber wenigstens heilt der Schnitt an deinem Hals endlich.“ Er strich sanft mit dem Finger über ihren Halsansatz.

Ein Prickeln durchströmte sie. Sie schloss die Augen und wunderte sich, wieso seine harmlose Berührung noch in diesem matten Zustand diese köstliche Wirkung in ihr auszulösen vermochte.

„Emmeline, ist dir nicht gut?“ Seine Stimme klang besorgt.

Sie schlug die Augen auf, ihre Blicke verschmolzen ineinander. Smaragdgrüne Augen tauchten in saphirblaue Tiefen.

„Ich sehe mal in der Küche nach dem Rechten“, erklärte Matilda taktvoll. „Nun weiß ich ja, dass die junge Frau über den Berg ist.“ Keiner der beiden hörte ihre leichten Schritte zur Tür, auch nicht das Klicken des Riegels, als Matilda das Gemach verließ.

„Mir geht es gut, Talvas.“ Emmelines Stimme zitterte ein wenig, als die Erinnerungen auf sie einstürmten, allen voran das Schreckensbild, wie Sylvies Leichnam im dunklen Wasser des Burggrabens trieb.

„Hat der Schurke dir etwas angetan?“

„Nein, aber er hat Sylvie getötet! Sie hat sich nicht das Leben genommen, Talvas. Edgar hat sie erwürgt. Sylvie muss bemerkt haben, dass er sich heimlich in die Burg geschlichen hat. Sie wollte uns warnen, wollte Stephen warnen. Aber dieser Unhold hat sie getötet, um sie daran zu hindern.“

„Gott sei ihrer Seele gnädig“, murmelte Talvas.

„Sie wollte ihre Fehler wiedergutmachen, Talvas. Sie hat bitter bereut, was sie dir damals angetan hat.“

„Das ist mir mittlerweile bewusst. Sie war eine tapfere Frau.“

Er beugte sich vor, schob seine Hände unter Emmelines Schultern und zog sie an seine Brust. „So wie du“, murmelte er an ihrer Schulter. Sie fühlte sich beruhigend warm an.

„Nein, übertreibe nicht“, widersprach sie. „Es gab nichts, womit ich nicht fertig geworden wäre.“

„Mir scheint, du willst mit allen Schrecken alleine fertig werden“, murmelte er und legte sie sanft in die Kissen zurück. „Und woher stammt das?“ Er strich mit einem Finger über den gelblich verfärbten Bluterguss an ihrem Mund.

„Vom Knebel. Ich sagte Edgar, er verschwende seine Zeit mit mir als Geisel, du würdest mich nicht suchen.“

„Aber ich habe dich verzweifelt gesucht, Emmeline.“

„Das wusste ich, aber Edgar konnte es nicht wissen.“ Sie hob die Hand und streichelte seine bärtige Wange.

Talvas legte seine Hand über die ihre. „So kann es nicht weitergehen, Emmeline.“

Eine seltsame Unruhe regte sich in ihrem Herzen.

„Ich glaubte, dich verloren zu haben.“ Seine Stimme war ein tonloses Krächzen. Er drehte ihre Hand nach außen, strich behutsam mit dem Daumen über ihre wundgescheuerten Gelenke. „Und dann fand ich dich, zusammengebrochen neben dem Weg, und glaubte, du wärst erfroren.“ Er drückte ihre Finger. „Mein Gott, als ich dich so liegen sah …“ Er konnte nicht weitersprechen, schüttelte hilflos den Kopf, war unfähig, seine überwältigende Angst in Worte zu fassen. „Emmeline, das kann ich nicht noch einmal ertragen.“

„Was willst du damit sagen?“, flüsterte sie. Ihr war, als liege unbekanntes, gefährliches Neuland vor ihr.

„Dass ich dich nie wieder verlieren will, nie wieder.“

Sie entzog ihm ihre Hand, nestelte fahrig an ihrem Amulett. Die glatte Jade fühlte sich kühl an und rief ihr den praktischen und logischen Verstand ihres Vaters in Erinnerung. „Das ist ein Versprechen, das wir nicht halten können.“

„Warum nicht?“ In seiner Frage schwang leise Kränkung.

„Du sprichst von … Heirat, Talvas“, stammelte sie und biss sich auf die Unterlippe.

„Ja, darauf wollte ich hinaus.“ In seine Augen trat ein argwöhnisch suchender Blick. Er war im Begriff, Emmeline seine Seele zu offenbaren, aber sie sträubte sich immer noch gegen seine Zuneigung.

„Talvas, ich kann nicht“, fuhr sie tonlos fort.

„Aber warum denn nicht?“ Ungestüm beugte er sich über sie, zog sie an sich und nahm ihren Mund in einem fordernden Kuss in Besitz. Er schlang die Arme um sie und presste ihren schmalen Körper an seine Brust, bevor er sich zwang, den Kuss zu lösen. „Warum leugnest du immer noch das, was zwischen uns ist?“

Das Blut rauschte ihr in den Adern, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. „Ich leugne es doch nicht“, widersprach sie und sank matt ins Kissen zurück. „Ich will mit dir zusammensein, aber ich kann dich nicht heiraten.“

Er sprang jäh auf, schlug beinahe mit dem Kopf gegen den Querbalken des Baldachins und trat ans Fenster, Zorn brodelte in ihm auf. „Dann kann ich dich nicht beschützen, Emmeline, verdammt noch mal! Ich kann dich nicht beschützen!“

Das beglückende Band der Wiedersehensfreude zerriss. Sie warf die Decken zurück, achtete nicht auf ihre Schmerzen, humpelte zu ihm und legte ihm eine Hand an den Arm. „Ich brauche deinen Schutz nicht, Talvas, ich will nur deine Liebe.“

Ihre Worte hallten in der Stille nach.

„Du hast dir von einem einzigen Mann dein Leben zerstören lassen.“ In seiner Stimme lag eine tödliche Ruhe, er stand aufrecht und starr, wie aus Stein gehauen in seiner inneren Anspannung. Hatte er ihre Worte überhaupt gehört? „Ich kann dich nicht zwingen, mich zu heiraten. Gott schütze mich davor, Madame de Lonnieres jemals meinen Willen aufzuzwingen.“ Er wandte sich so brüsk zu ihr um, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. In seinen Augen loderte ein unkontrolliertes Feuer. „Es wäre anders, wenn du mein Kind tragen würdest.“

Eisiges Entsetzen legte sich lähmend auf ihr Herz. „Willst du damit sagen … du würdest … mich zur Ehe zwingen?“ Verwirrt von ihren eigenen Worten taumelte sie nach hinten, stolperte beinahe über den Saum ihres Nachthemds. Nein, Talvas, schrie es in ihr, tu so etwas nicht!

„Wenn es nötig wäre.“ Seine kalte Entschlossenheit jagte ihr Angstschauer über den Rücken.

Sie wandte sich ab, Hoffnungslosigkeit machte ihr das Herz schwer, ein unendliches Gefühl der Einsamkeit bemächtigte sich ihrer. „Dann hoffen wir, dass es niemals dazu kommt.“

Dunkelgrüner Efeu rankte sich die hell verputzte Mauer des Kräutergartens von Hawkeshayne hinauf. Auf einem dürren Zweig in einem Busch wippte zwitschernd ein Rotkehlchen, der einzige Farbfleck im grauen winterlichen Garten. In der müden Nachmittagssonne machte Emmeline, auf Matildas Arm gestützt, einen Spaziergang durch den Garten. Ihre weichen Sohlen verursachten kaum Geräusche auf den Kieswegen entlang der frisch umgegrabenen Gemüsebeete.

Die Eintönigkeit der Tage begann an Emmelines Nerven zu zerren. Zwei ganze Wochen waren verstrichen seit Talvas Ankündigung, er wolle sich Stephens Kampf anschließen, Maud aus Sedroc zu vertreiben. Matilda hatte er strenge Anweisungen erteilt, auf Emmeline aufzupassen und ihr nicht zu gestatten, die Burgmauern bis zu seiner Rückkehr zu verlassen. Mit Emmeline hatte er kaum noch ein Wort gesprochen. Mühsam war sie aufgestanden, bedrückt und mutlos nach ihrem letzten Streit, und hatte vom Fenster aus zugesehen, wie Talvas und Guillame an der Spitze eines Trupps Soldaten, deren Schilde und Speere im Sonnenschein glänzten, durch das Burgtor ritten, die Pferderücken mit scharlachroten Behängen geschmückt, den Farben des Königs.

„Ich freue mich, dass deine Wangen wieder Farbe bekommen“, bemerkte Matilda, die sich mit der jungen Frau in den letzten Tagen angefreundet hatte. Da sie gezwungenermaßen viel Zeit miteinander verbrachten, hatten die beiden einige Gemeinsamkeiten entdeckt, nicht zuletzt ihren Drang nach Unabhängigkeit. Sie hatten sich glänzend unterhalten und miteinander gescherzt. Zwei Frauen, die im Typ nicht verschiedener sein konnten: die hochgewachsene, schwarzhaarige Matilda, anmutig und graziös, daneben Emmeline, etwas fülliger, zartgliedrig und hellblond.

„Ich genieße die frische Luft und den Wind, der mir ins Gesicht bläst“, lächelte Emmeline. Sie atmete den würzigen Geruch nach Meer und Tang tief ein, und ein sehnsüchtiges Fernweh befiel sie. „Ich fühle mich wieder völlig gesund und bei Kräften.“ Sie sprach die Worte mit solchem Nachdruck, dass Matilda stehen blieb und sie fragend ansah.

„Du meinst …“

„Ja, es drängt mich, die Heimreise anzutreten, heim in die Normandie.“

Ein Schwarm Saatkrähen erhob sich aus dem kahlen Geäst einer Esche im hinteren Teil des Gartens und flog kreischend in den blauen Himmel.

Matilda schmunzelte. „Aber, aber! Talvas wünscht, dass du auf seine Rückkehr wartest, wie du weißt. Ich nehme an, dass er dich auf deinem Schiff in die Normandie zurückbringen will.“

„Ich finde einen anderen Schiffsführer für die Belle Saumur.Für mich gibt es in England nichts mehr zu tun.“ Emmeline bemühte sich, nicht auf die beklemmende Leere in ihrem Herzen zu achten und ihren Kummer zu verbergen.

„Bist du dir deiner Sache wirklich sicher?“, fragte Matilda behutsam. Ihr Bruder hatte ihr Emmelines Wohlergehen mit großer Eindringlichkeit ans Herz gelegt. Während ihrer Bewusstlosigkeit hatte er nächtelang an ihrem Bett gewacht. Matilda entsann sich nicht, dass er je zuvor einer Frau so viel zärtliche Zuwendung und Fürsorge entgegengebracht hätte.

„Er will mich heiraten.“ Emmeline seufzte und stieß mit der Schuhspitze in den Kies.

„Oh, wie wunderbar, Emmeline!“ Matilda griff begeistert nach ihren Händen. „Aber wieso willst du dann in die Normandie zurückkehren?“

„Weil ich seinen Antrag abgelehnt habe.“ Emmelines Stimme klang hohl.

„Das begreife ich nicht.“ Matilda war sichtlich verwirrt.

„Er will nicht einsehen, dass Liebe nichts mit Heirat zu tun hat. Er will mich beschützen und ist der Meinung, das könne er nur, wenn wir verheiratet sind. Ich habe in meiner unglücklichen Ehe mit Giffard sehr gelitten und mich zu lange nach Unabhängigkeit gesehnt, um meine Freiheit wieder aufzugeben. Du kannst mich gewiss verstehen, Matilda.“

„Hmm. Wie schätzt du mein Leben an Stephens Seite ein, Emmeline? Siehst du in mir eine Gefangene, eine unterdrückte rechtlose Frau?“ Hand in Hand setzten die Freundinnen ihren Spaziergang fort.

„Aber nein. Du bist die eigensinnigste und resoluteste Frau, die mir je begegnet ist.“ Und plötzlich musste Emmeline schmunzeln.

„Das nehme ich als Kompliment“, lachte Matilda. „Und dennoch bin ich glücklich mit dem Mann verheiratet, den ich über alles liebe.“

„Vielleicht hast du recht“, meinte Emmeline nachdenklich. „Ach Matilda, ich muss mit ihm reden. Ich habe mich ihm gegenüber abscheulich benommen.“ Ihr war, als werde ihr eine schwere Last von den Schultern genommen. „Wie lange es wohl noch dauern mag, bis Stephen und Talvas zurückkehren?“

Matilda seufzte, dann lächelte sie verschmitzt und drückte Emmelines Hand. „Wer weiß? So friedlich und angenehm das Leben in dieser Burg auch sein mag, die Enge der Mauern fängt an mich zu bedrücken, und ich könnte mir denken, dir ergeht es ähnlich, hab ich recht?“ Ein leichter Wind spielte sanft mit den widerspenstigen Löckchen, die sich an ihren Wangen kringelten.

Emmeline nickte und führte Matildas Gedankengänge weiter. „Eine Belagerung kann sich über viele Wochen oder Monate hinziehen.“ In schweigender Übereinkunft machten die Frauen kehrt und verließen eilig den Garten durch den Torbogen in der Mauer. In ihrer Hast drängten sie sich gleichzeitig durch die schmale Öffnung, traten sich dabei gegenseitig auf die Schleppen und kicherten wie zwei junge Mädchen.

„Talvas sagte nichts von einer gemeinsamen Reise. Und ich habe ihm fest versprochen, nicht zuzulassen, dass du ohne mich einen Schritt aus dieser Burg tust. Fühlst du dich stark genug für einen längeren Ausritt?“

„So stark wie nie zuvor.“

Sedroc Castle thronte hoch auf einem Felsen über einer weiten Talmulde mit fruchtbaren Äckern und Weiden, die in der Ferne in die Salzwiesen des Marschlandes übergingen. Die hohen Türme und zinnenbewehrten Mauern glänzten im Sonnenlicht, das gelegentlich durch die rasch dahintreibenden Wolken brach. Umgeben von einem tiefen Burggraben, war die Festung nur an einer Stelle über Zugbrücke und Fallgitter zugänglich. Direkt unter dem Zugang lag das streng bewachte Feldlager von Stephens Soldaten. Den fleckigen runden und einstmals weißen Zelten war anzusehen, wie oft Stephens Armee in kriegerischen Auseinandersetzungen durchs Land zog. Die Soldaten hatten Übung darin, das Feldlager in wenigen Stunden auf- und abzubauen. Auf den spitzen Dächern der etwa zwanzig Zelte, die jeweils zehn Soldaten Unterkunft boten, wehte das scharlachrote Banner des Königs, der fest entschlossen war, sich Maud nicht durch die Finger schlüpfen zu lassen. Von mehreren Feuerstellen stiegen Rauchsäulen in die Luft, ein würziger, verführerischer Geruch nach gebratenem Fleisch hing über dem Lager. Die Soldaten scharten sich um die Feuer, um ihren Hunger zu stillen.

Talvas hielt den Blick geistesabwesend auf seine vom Morgentau durchnässten schweren Stiefel gerichtet. Er saß auf einem Hocker vor dem Zelt, das er mit Stephen und Guillame teilte, tauchte seinen Zinnbecher in das Holzgefäß mit Met neben sich und trank in tiefen Schlucken. Diese Belagerung zog sich entschieden zu lange hin. Die Soldaten zeigten bereits Anzeichen von Erschöpfung, einige lagen mit Fieber und quälendem Husten auf ihren Pritschen. Sein abwesender Blick nahm einen Herold wahr, in Kettenhemd und Wappenrock in den Farben von Kaiserin Maud, der sich König Stephen am Lagerfeuer näherte. Vielleicht ist es endlich vorbei, dachte Talvas. Vielleicht brachte der Bursche die Botschaft von Maud, dass sie den Wunsch habe, friedlich abzuziehen und ihrem Cousin Stephen den Thron zu überlassen.

Stephen hörte aufmerksam zu, als der Herold den Inhalt des Pergaments laut vorlas. Dann lachte er auf und schüttete den Met in seinem Becher ins Feuer. „Meine Antwort ist nein!“, rief er und schüttelte heftig den Kopf, als er den Boten mitten im Satz unterbrach. Der Knappe erschrak, verneigte sich und machte sich eilig auf den Rückzug. Stephen näherte sich Talvas.

„Sie weigert sich zu kapitulieren, das störrische Weib!“, knurrte der König erbittert. „Aber ich wette, bald wird die Nahrung dort oben knapp. Durch unsere Belagerung gelangen seit Wochen keine Vorräte mehr in die Burg.“

„Wer weiß, wie gefüllt ihre Vorratskeller sind, und sie haben genügend Wasser“, überlegte Talvas. „Wenn es uns gelänge, den Brunnen auszutrocknen, wäre die Belagerung binnen weniger Tage vorbei.“ Bei aller Bereitschaft, Stephen in seinem Kampf zu unterstützen, war er nur mit halbem Herzen bei der Sache. Seine Gedanken waren in Hawkeshayne. Er wollte zurück … zu Emmeline. Die bitteren Worte ihrer letzten Auseinandersetzung hallten ständig in ihm nach. Er war wütend auf sie gewesen. Ihr Eigensinn, ihre ständige Zurückweisung hatten ihn erzürnt und tief gekränkt. Und außerdem bezweifelte er, dass seine Schwester, so willensstark sie auch sein mochte, in der Lage war, die störrische Emmeline auf Dauer in Schach zu halten. Er streckte die Beine von sich und verzog das Gesicht, da die Wunde in seinem Schenkel zu schmerzen begann.

„Wie geht es dir?“, fragte Stephen stirnrunzelnd. „Blutet die Wunde wieder?“

„Nein, ich glaube nicht. Guillame hat mich gut verbunden. Es ist ja nur ein Kratzer.“ Damit wischte er Stephens Besorgnis beiseite. Es war seine eigene Schuld, dass ein feindlicher Pfeil von den Zinnen des Wehrgangs der Burg sich in seinen Schenkel gebohrt hatte. Er war in Gedanken ganz woanders gewesen, hatte davon geträumt, Emmelines seidige Haut zu streicheln. Er hatte sie seit Wochen nicht gesehen, aber ihr Bild stand ihm deutlich vor Augen. Wenn er nachts schlaflos auf seiner Pritsche lag, sehnte er sich danach, sie zu liebkosen;, tagsüber vermisste er ihre spitze Zunge und ihre Schlagfertigkeit. Und wenn er versuchte, sie aus seinen Gedanken zu verbannen, kehrte die Erinnerung an sie verstärkt zurück und quälte ihn umso mehr.

Ein Warnruf hallte durchs Lager. Beide Männer spähten in die Richtung, aus der er gekommen war, ihre Blicke flogen suchend über die umliegenden Hügel.

„Berittene unter meinen Farben“, murmelte Stephen und kniff die Augen zusammen beim Anblick des rotgoldenen Banners eines Soldaten, dem zwei weitere Reiter folgten.

„Heiliger Himmel!“, entfuhr es Talvas aufgeregt, der die beiden Frauen zu Pferd augenblicklich erkannte: die hohe Gestalt seiner Schwester und die zierliche Emmeline neben ihr. Die Gruppe ritt in die Mitte des Lagers, ohne auf die bewundernden Blicke der Soldaten zu achten. Emmelines Gesicht war von der Kälte gerötet, die weite Kapuze des dunkelgrünen Umhangs war ihr in den Nacken gerutscht, der Seidenschleier fächelte im Wind. Sie lächelte über eine Bemerkung, die Matilda ihr zuflüsterte; ein süßes Lächeln, das ihm das Herz weitete. Talvas war hin und her gerissen, ob er sie in die Arme schließen und küssen oder tadeln sollte. Stephen tat sich keinen Zwang an, seinem Unmut Luft zu machen.

„Was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht, Mathilda?“ Ohne abzuwarten, bis die kastanienbraune Stute stillstand, hob er seine Gemahlin aus dem Sattel.

„Ich hatte Sehnsucht nach dir, Liebster“, antwortete Mathilda, sank ihm anmutig in die Arme, ohne sich von seinem Groll beirren zu lassen, und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. „Wir waren in Sorge um euch tapfere Helden.“ Matilda warf ihrem Bruder ein kokettes Lächeln zu, das er mit düsterer Miene quittierte. „Mach kein so finsteres Gesicht, Talvas. Freut ihr euch denn nicht, uns zu sehen?“

Emmeline glitt aus dem Sattel, ihre gute Laune verflog bei Talvas’ kühlem Empfang. Sie kam sich vor wie eine Närrin. Als er sich ihr näherte, straffte sie die Schultern. Dann bemerkte sie sein leichtes Hinken und furchte die Stirn.

„Was fehlt dir?“, platzte sie heraus.

„Die Frage sollte ich dir stellen“, knurrte er und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, um ihr ihren Leichtsinn zu veranschaulichen. „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst in Hawkeshayne bleiben?“

„Matilda wünschte meine Begleitung“, antwortete sie ausweichend. Wie sollte sie ihm erklären, wie sehr er ihr gefehlt hatte? Wie sehr sie sich nach der Vertrautheit jener Nacht sehnte, die sie im Schneesturm in der Hütte im Wald verbracht hatten? Damals hatte sie ernsthaft geglaubt, sie könne ihm alles anvertrauen, ohne dass er sie verurteilen würde. Ihre Weigerung, ihn zu heiraten, hatte ihn von ihr entfernt und die Mauer der Zurückhaltung, des Argwohns wieder errichtet. War es zu spät, ihn zu erreichen?

„Du folgst also den Launen meiner törichten Schwester und weigerst dich, das zu tun, worum ich dich bitte?“ Seine blauen Augen bohrten sich in die ihren. „Mein Gott, Emmeline, es geht mir doch nur um deine Sicherheit!“ Er fuhr sich entnervt durch die Haare.

„Ich konnte sie nicht allein reisen lassen“, widersprach Emmeline aufbrausend und zog den Umhang enger um ihre Schultern.

„Willst du etwa behaupten, du hast die Rolle der Beschützerin für sie übernommen?“, entgegnete er sarkastisch. „Du verfügst ja schließlich auch über die Kraft eines Bären.“ Sein Zorn machte einer resignierten Enttäuschung Platz. „Eigentlich hätte ich nichts anderes von dir erwarten dürfen.“

Ein Windstoß wehte ihr den Gazeschleier ins Gesicht. „Ich wollte dich sehen“, murmelte sie und wischte das Gespinst mit einer unwirschen Handbewegung nach hinten.

Ihre Blicke trafen einander, verweilten in stummer Erkenntnis. Ihm war, als fahre ein Blitz in seine Brust. Seine Augen verdunkelten sich, die Wirklichkeit verschwamm. Unvermutet war das Paar eingesponnen in einen Kreis erregender Spannung, in eine beseligende Traumwelt, zu der kein anderer Zutritt hatte. Er hielt sie mit seinem Blick gefangen. Die Zeit blieb stehen. Emmelines Blick wanderte von der widerspenstigen Locke in seiner Stirn über die hohen Wangenknochen, den geschwungenen Mund zu seinem sehnigen Hals, wo eine Ader kraftvoll schlug – und sie erkannte … die Bedeutung der Liebe.

„Stephen sagt, dein Bein ist verletzt“, platzte Matildas Stimme in die knisternde Atmosphäre hinein, und der kostbare Moment der Erkenntnis zerstob wie eine Seifenblase.

„Komm, lass die Hosen fallen! Ich will mir die Wunde ansehen.“ Matilda starrte auf den getrockneten Blutfleck an Talvas’ Schenkel.

Mit einem wehmütigen Lächeln entschuldigte er sich bei Emmeline für die Taktlosigkeit seiner Schwester. „Gestatte mir wenigstens, mich in mein Zelt zurückzuziehen.“ Lachend humpelte er zum Zelteingang.

„Los, Emmeline, ich brauche deine Hilfe. Du kannst ihn festhalten, wenn er schreit.“ Matilda lachte über das irritierte Gesicht ihrer Freundin. „Du liebe Güte, Emmeline, das war doch nur Spaß.“

Matildas Heiterkeit verflog allerdings rasch beim Anblick der entzündeten Wundränder. Nachdem sie ihn gezwungen hatte, seine Beinkleider herunterzulassen, führte sie ihn zur Strohmatratze, auf der er nachts schlief. Da lag er auf dem Rücken, einen Arm über den Augen, den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst, während Matilda die blutverkrustete Umgebung der Pfeilwunde abtastete.

„Du leichtsinniger Narr“, schalt Matilda. „Die Wunde ist schlecht gesäubert … und dieser Verband.“ Mit spitzen Fingern hielt sie einen blutdurchtränkten Leinenstreifen hoch und verzog angewidert das Gesicht. „Was hat Guillame sich dabei gedacht?“

„Das ist doch nicht seine Schuld“, verteidigte Talvas seinen Gefährten. „Unter den gegebenen Umständen hat er sein Bestes getan.“

Emmeline holte auf Matildas Bitte hin einen Lederbeutel, der am Sattel ihrer Stute befestigt war, während Guillame Wasser in einem kleinen Kessel über dem Feuer erhitzte. Talvas wirkt müde und erschöpft, dachte sie besorgt, während sie an den Lederriemen nestelte.

„Zum Glück habe ich meine Arzneien mitgebracht“, sagte Matilda, während sie die Stoffsäckchen aus dem Beutel nahm und daran schnupperte, um die richtigen Kräuter zu finden für einen Umschlag, der das Gift aus der Wunde ziehen sollte.

„Hoffentlich weißt du, was du tust“, brummte Talvas, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beobachtete Mathilda argwöhnisch. Und dann ruhte sein Blick auf Emmeline, die beflissen die Anweisungen seiner Schwester ausführte.

„Ihr scheint Euch wieder gut erholt zu haben, Madame“, stellte er unvermittelt und förmlich fest, erfreut über ihre rosigen Wangen und die Leichtigkeit ihrer Schritte. Sie trug ein fliederfarbenes Gewand seiner Schwester, das ihre schlanke Figur umspielte, nur den bestickten Saum zog sie wie eine Schleppe hinter sich her.

Emmeline wandte sich ihm zu und antwortete ihm ebenso förmlich. „Ja, ich habe mich dank der Pflege Eurer Schwester wieder völlig erholt.“ Die Frauen wechselten einen lächelnden Blick. „Nach zwei Tagen war ich wieder auf den Beinen.“

„Emmeline, ich brauche dich“, sagte Matilda. „Du musst die Wundränder zusammenhalten, damit ich die Wunde ordentlich nähen kann.“ Emmeline senkte den Blick auf die klaffende Wunde an seinem Schenkel und errötete heftig.

„Zier dich nicht“, schalt Matilda ungeduldig. „Willst du sein Bein retten oder nicht?“

„Ja, natürlich“, antwortete Emmeline scheu, holte tief Atem und legte die Finger auf die erhitzte Haut an der Wunde und bemühte sich, die Nähe seines Lendentuches zu übersehen, das seine Blößen bedeckte. Die Behaarung an seinem Bein kitzelte an ihren Handflächen. Sie hörte, wie er den Atem scharf einzog. „Tut das weh?“

„Nein“, antwortete er schroff. „Beeil dich bitte, Matilda!“ Wie sollte er den Sturm des Verlangens erklären, den Emmelines zarte Berührung in ihm auslöste? Er schloss die Augen und zwang sich, an etwas anderes zu denken, bis die Prozedur endlich vorüber war.

„Wie geht es unserem Schwerverletzten?“ Stephen streckte den Kopf durch die Zeltklappe.

„Ich lebe noch“, knurrte Talvas und zog die Beinkleider hoch.

Matilda verstaute ihre Leinensäckchen mit den Heilkräutern wieder in dem Lederbeutel. „Stephen, hier im Feldlager kann Talvas nicht gesund werden. Er muss nach Hause. Diese Belagerung muss endlich ein Ende haben.“

„Ich bin völlig deiner Meinung“, antwortete Stephen. „Es muss aufhören. Wir müssen das Brunnenwasser vergiften, und dafür gibt es nur eine Lösung.“

Talvas sprang zu heftig von der Pritsche auf und geriet ins Wanken. „Nein, Stephen, ich lasse es nicht zu!“

„Es gibt keine andere Lösung! Die Belagerung kann noch Monate dauern.“

„Aber …“ Talvas warf Emmeline einen finsteren Blick zu, der sie erschreckte.

„Was ist denn?“

„Wir brauchen jemand, der klein und wendig genug ist, um sich vom Wasser her Zugang zur Burg zu verschaffen“, erklärte der König. „Nach Einsetzen der Flut kann man zur steilen Nordwand rudern, den Felsen erklimmen und durch eine Öffnung ins Innere der Burg gelangen. Das war mein ursprünglicher Plan für euch beide, bevor Lord Edgar uns in die Quere kam.“

„Nein!“ Talvas schloss die Augen.

Stephen wandte sich an Emmeline. „Ihr seid eine ungewöhnlich tapfere Frau“, sagte er anerkennend. „Wollt Ihr uns helfen? Ihr seid die Einzige, die diese Aufgabe bewältigen kann.“

„Ihr wollt, dass ich die Felswand hinaufklettere?“, fragte Emmeline ungläubig.

„Nein! Das lasse ich nicht zu!“, donnerte Talvas. „Lieber setze ich die Belagerung noch ewig fort, ehe ich Emmeline in Gefahr bringe.“

Sie legte ihm beschwichtigend die Hand an den Arm. „Es ist die einzige Lösung, um die Belagerung zu beenden, Talvas. Haben wir beide nicht genug Gefahren durchgestanden, die Euch bewiesen haben, dass ich auf mich aufpassen kann?“

„In gewisser Weise hat sie recht“, meldete Matilda sich zu Wort, „und sie ist beinahe so halsstarrig wie ich.“

Talvas seufzte. Er wusste, dass er sich geschlagen geben musste. Wenn er seine Zustimmung zu diesem verwegenen Abenteuer gab, bestand vielleicht die Hoffnung, dass Emmeline zur Einsicht gelangte, eine Ehe mit ihm könne sich durchaus von den leidvollen Erfahrungen unterscheiden, die sie mit ihrem gewalttätigen Gemahl gemacht hatte. „Gut! Ich rudere Euch zur Felswand und bringe Euch wohlbehalten wieder zurück.“

„Aber … dein Bein“, wandte Matilda ein. „Dein Bein braucht Schonung.“

„Ich begleite sie, Matilda, und das ist mein letztes Wort.“