8. KAPITEL

Die Finger um den glatten Handlauf der Bootswand gekrümmt, blickte Emmeline über den milchigweißen Schaum des Kielwassers zurück zum Steg, wo die einsame Gestalt ihrer Mutter stand. Hinter ihr bildeten die strohgedeckten grauen Steinhäuser und Lagerschuppen von Barfleur eine eindrucksvolle Kulisse, von den ersten Strahlen der Morgensonne in goldenen Glanz getaucht. Das im Wind flatternde Gewand schien Emmeline zuzuwinken. Sie hatte den Tag mit ihrer einsilbigen und sorgenvollen Mutter verbracht, zugleich eine Reisetasche mit dem Nötigsten gepackt. Als Guillame im Morgengrauen auf der Schwelle stand, um sie abzuholen, hatte Felice ihre Tochter unter Tränen ans Herz gedrückt, in Gedanken an ihren Ehemann, den die See ihr geraubt hatte.

„Wir liegen gut im Wind, Madame.“ Talvas trat neben Emmeline und legte die Hände an den Handlauf, die dunkelblauen Ärmel seiner Tunika gaben den Blick frei auf gebräunte sehnige Handgelenke. Beim vertrauten Klang seiner melodischen Stimme zuckte sie unmerklich zusammen, anschließend nickte sie stumm. Ein befremdliches Prickeln durchrieselte sie. Mit aufeinandergepressten Lippen hielt sie den Blick auf die schwindende Küste von Barfleur gerichtet. Die Deckplanken schwankten leise unter ihren Ledersohlen, als das Schiff sich durch die schwere See pflügte. Durch die Erfahrungen früherer Zeiten daran gewöhnt, glich sie die Schaukelbewegungen mit breitem Stand ihrer Beine aus.

„Wann seid Ihr zum letzten Mal auf hoher See gewesen, Madame?“, fragte er.

Sie beugte sich über die Bootswand, wollte ihm nicht gestehen, dass sie seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr auf einem großen Segelschiff gewesen war. „Es ist eine Weile her“, antwortete sie beklommen, während sie das Deck absuchte, um etwas zu finden, womit sie ihn ablenken konnte. Ihr kritischer Blick heftete sich auf die Windfäden, schmale Leinenstreifen, die in regelmäßigen Abständen an dem großen Rahsegel flatterten. An einer Seite hingen die Bänder schlaff herab.

„Das Segel ist schlecht getrimmt“, meldete sie, triumphierend, einen Fehler entdeckt zu haben, und warf dem Steuermann einen kritischen Blick zu. „Wir verlieren Fahrt.“

„Der Wind hat sich gerade gedreht“, erklärte Talvas geduldig. „Seht, der Steuermann justiert bereits die Ruderpinne.“

„Ich kenne den Mann nicht, habe ihn noch nie gesehen.“ Emmeline musterte den bärenstarken Seemann, dessen klobige Fäuste auf dem Holz der Ruderpinne lagen. „Seid Ihr sicher, dass er weiß, was er tut?“

Ihre Kapuze begann nach hinten zu rutschen, und sie schob sie kurzerhand in den Nacken.

„Das will ich meinen. Er steht seit Jahren in meinen Diensten. Wir haben gemeinsam viele Seefahrten unternommen.“ Talvas nickte zu ihm hinüber. „Ich vertraue ihm blind.“

„Und damit soll ich mich zufrieden geben?“ Die spitze Bemerkung sprudelte unüberlegt aus ihr heraus. Was war nur an diesem Mann, das sie ständig reizte, zu sticheln und ihn anzugreifen? Immerhin hatte sich sein Verhalten ihr gegenüber merklich verändert, bei all seiner Arroganz konnte er auch höflich und zuvorkommend sein. Sie war gut beraten, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen.

„Könnte es eine bessere Empfehlung geben?“ Er zog eine dunkle Braue hoch.

„Eine Empfehlung von Euch? Einem Mann, der nichts zu verlieren hat?“

Talvas lachte schallend, der Kranz feiner Fältchen um seine Augen vertiefte sich. Du liebe Güte, was für ein zänkisches Weib! Er hatte große Lust, ihren roten Kirschmund mit einem Kuss zum Schweigen zu bringen, ihre zierliche Gestalt in seine Arme zu ziehen, bis sie um Gnade flehte …Verflucht! Er schüttelte sich, setzte wieder seine undurchdringliche Maske auf und befahl sich, die Augen vor der Schönheit ihres vom Seewind rosigen Gesichts zu verschließen.

Emmeline neigte den Kopf seitlich, in Erwartung einer Antwort.

Talvas musterte sie streng. „Ihr benehmt Euch wie ein zänkisches altes Weib. Euer Vater hat wohl versäumt, Euch beizeiten übers Knie zu legen.“

„Es steht Euch nicht zu, so vertraulich mit mir zu sprechen. Im Übrigen hätte mein Vater so etwas nie getan.“ Ihre grünen Augen funkelten vor Zorn.

„Hätte er es nur getan. Dann hättet Ihr vielleicht gelernt, Eure spitze Zunge in Zaum zu halten.“

Emmeline straffte die Schultern und reckte das Kinn. „Wie könnt Ihr es wagen, so mit mir zu sprechen! Ihr überschreitet die Grenzen des guten Benehmens.“ Sie stieß ihre kleine Faust gegen seine breite Brust.

„So wie Ihr, Madame? Ihr redet mit mir wie mit einem gewöhnlichen Bauern, nicht wie mit einem Lord!“ Sie errötete unter seiner Zurechtweisung und schwieg. „Was ist mit Eurem Ehemann?“, fuhr Talvas hartnäckig fort. „Wieso hat er Euch nicht gezüchtigt?“ Er wollte sie absichtlich kränken, den Zorn dieser kleinen eigensinnigen Hexe herausfordern, bis sie die Beherrschung verlor und ihm gestand, was in ihrer Ehe vorgefallen war. „Hätte er Euch dieses dreiste Benehmen durchgehen lassen?“

Emmelines Welt geriet aus den Fugen. Der Wadenkrampf in ihrem verletzten Bein schien sie zu verhöhnen, eine ständige Erinnerung an ihre Leidenszeit. Was wusste er über Giffard? Oder klopfte er lediglich auf den Busch? Nein, Giffard hatte ihr nichts durchgehen lassen. Beim geringsten Widerwort hatte er sie bestraft. Gedemütigt. Gezüchtigt. Eingesperrt. Sie wollte nicht an ihre leidvolle Vergangenheit erinnert werden, doch dieser Mann forderte sie heraus, reizte sie bis aufs Blut, und die hässlichen Erinnerungen stürmten auf sie ein, als wäre alles erst gestern geschehen.

Talvas beobachtete sie mit wachsendem Interesse. Sie reagierte, als habe er ihr einen Eimer eiskaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Das Feuer in ihren Augen erlosch, ihre zarten Schultern sackten nach vorne. Sie schlang die Arme um sich, ein Zittern durchflog sie. „Mein Ehemann lebt nicht mehr.“ Und dafür danke ich Gott, fügte sie im Stillen hinzu.

„Habt Ihr ihn geliebt?“, fragte Talvas unvermutet.

Sie starrte blicklos ins Leere. „Liebe? Nein, Mylord, mit Liebe hatte das nichts zu tun.“ Ihre Stimme war voller Verachtung.

„Dann habt Ihr den Mann auf Wunsch Eures Vaters geheiratet?“

„Mein Vater hätte dieser Verbindung niemals zugestimmt. Er hätte alles getan, um sie zu verhindern.“ Ihre Augen verdunkelten sich. „Aber Giffard war vermögend, und meine Mutter und ich waren völlig verarmt.“

Talvas legte seine Hand über die ihre, seine Finger übten einen kurzen zuversichtlichen Druck aus. „Sprecht mit mir darüber“, drängte er leise und senkte den Blick seiner tiefblauen Augen in die ihren.

„Ich kann nicht.“ Wenn sie darüber redete, würde alles wieder in ihr aufbrechen, die grauenhaften Bilder ihrer Vergangenheit würden in unerträglicher Klarheit vor ihr stehen. Nein, sie wollte vergessen, wollte die Erinnerungen für immer in einen Abgrund werfen und begraben.

„Geoffrey erzählte mir von Eurer Verletzung.“ Seine Hand lag immer noch auf der ihren.

„Dazu hatte er kein Recht“, fauchte sie und entzog sich ihm. „Verflixt, ich wusste es. Ich spüre es an der Art, wie Ihr mich behandelt. Ich will Euer Mitleid nicht!“

Wutentbrannt fuhr sie herum und floh. Ihre wirbelnden Röcke entblößten ihre schlanken Beine in dicken Wollstrümpfen. Ihr blonder Zopf, der ihr unter dem Schleier über den Rücken hing, schwang hin und her.

Talvas hatte sie mit einem Satz eingeholt, nahm sie beim Arm und drehte sie zu sich um. Seine sehnigen Finger umfingen ihr herzförmiges Kinn und zwangen sie, den Kopf zu heben. Sein Blick wanderte über ihren Hals, wo ihr Puls unter zarter Haut regelrecht flatterte. Die Brust wurde ihm eng …Verlangen befeuerte sein Blut. Was zum Teufel war eigentlich mit ihm los? Er rühmte sich seiner strikten Selbstbeherrschung, wenn es um Frauen ging, eine Beherrschung, wie sie Mönchen und Priestern anstand, die er, ein Mann ohne den Halt der Gottesfurcht und des christlichen Glaubens, noch übertraf.

„Nein, Madame. Ihr irrt. Ich habe kein Mitleid mit Euch.“ In seiner dunklen Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton. „Ich begehre Euch.“

Emmeline schlug die Augen auf. Der schwere Behang vor dem Holzverschlag im Bug schlug laut klatschend im Sturm. Der Regen prasselte gegen die Lederhaut, sprühte ihr ins Gesicht. Auf einer breiten Rosshaarmatratze ausgestreckt, wurde ihr plötzlich bewusst, dass ihre Füße tiefer lagen als ihr Kopf. Unter dem Vorwand, der Kaiserin Gesellschaft zu leisten, hatte sie sich zeitig in den Unterschlupf zurückgezogen. In Wahrheit aber hatte sie das dringende Bedürfnis, der knisternden Spannung zu entfliehen, die sich zwischen Talvas und ihr aufgebaut hatte. Bei Einbruch der Nacht hatten Maud und Emmeline sich in die Pelze gehüllt und sich schlafen gelegt. Emmeline genoss den Luxus der weichen Matratze, während die Kaiserin unentwegt über die Beschwernisse der Seereise klagte und stöhnte. Das Wetter war ruhig gewesen, ein kräftiger Wind brachte sie rasch der Küste Englands näher. Unterdessen aber hatte der Wind Sturmstärke angenommen und schleuderte das Schiff bedenklich hin und her.

„Emmeline!“, jammerte die Kaiserin, streckte tastend die Hand aus und klammerte sich an Emmelines Ärmel.

„Was plagt Euch?“ Sie versuchte, Mauds Gesicht im Dunkeln zu erkennen, und richtete sich auf.

„Mir dreht sich der Magen um“, stöhnte Maud. „Ich fühle mich furchtbar elend.“

„Lasst mich Eure Stirn befühlen.“ Emmeline legte der Kaiserin die Hand an die heiße Stirn und erschrak. „Ihr habt Fieber, Mylady. Ich hole Wasser und ein feuchtes Tuch, um Euch Linderung zu verschaffen.“

Sie zog sich den Umhang enger um die Schultern, tastete nach der erloschenen Fackel, um sie am Kohlebecken an Deck zu entzünden, das während der gesamten Überfahrt brennen sollte. Sie hatte Mühe, die schwere durchnässte Lederhaut beiseite zu schieben, und kroch schließlich auf allen vieren durch die Öffnung.

Der Regen prasselte auf sie herunter, der Wind peitschte ihr die Tropfen wie Nadelstiche ins Gesicht. Ihre schläfrige Benommenheit wich im Nu einem kämpferischen Überlebenstrieb. Sie suchte mit dem Rücken Halt an der hohen Bootswand, um auf die Füße zu kommen, zog sich am Handlauf hoch, während das Schiff im hohen Wellengang hin und her schlingerte. Sie blinzelte in den peitschenden Regen … und schrie vor Schreck auf.

Die Fackel entglitt ihren Fingern. Auf dem Deck verstreut lagen reglose Menschen!

Fieberhaft überlegte sie, was passiert sein mochte. Kriechend näherte sie sich der ersten leblosen Gestalt und stellte fest, dass die Seeleute krank waren, sich vor Schmerzen krümmten und stöhnten. Was in Gottes Namen war geschehen? Sie hob den Kopf, ihr verzweifelter Blick suchte den Steuermann. Das Schiff wäre dem sicheren Untergang geweiht, wenn es in dieser stürmischen See richtungslos treiben würde.

Dort stand er. Gottlob!

Seine breite Gestalt zeichnete sich als mächtiger Schatten vor dem wolkenverhangenen Nachthimmel ab. Talvas hielt die schwere Ruderpinne mit beiden Händen fest, stemmte sich dagegen, um zu verhindern, dass das Schiff zu stark krängte und Schlagseite bekam. Er erspähte sie im strömenden Regen und schrie ihr etwas zu. Seine dröhnende Stimme übertönte kaum das gespenstische Heulen des Sturms.

„Halt! Bleibt unten! Es ist zu gefährlich!“ Seine Warnung drang in abgerissenen Wortfetzen zu ihr, der Rest ging im Tosen der Elemente unter.

„Wir kentern!“, schrie sie zurück und machte sich daran, die Leiter zum Ruderaufbau hinaufzuklettern. Ihre Hände umklammerten bereits die oberste Sprosse, als Talvas sich vorbeugte, sie am Arm packte und mit einem kräftigen Schwung hochzog.

„Habt Ihr den Verstand verloren? Ich sagte doch, Ihr sollt unten bleiben!“, brüllte er und fluchte laut, als sie durch das heftige Rollen des Schiffes ins Taumeln geriet. „Haltet Euch an mir fest, verdammt noch mal!“ Sie krallte sich an sein Lederwams, kam wieder ins Gleichgewicht, während er das Ruder gegen die mächtigen Wogen stemmte.

„Was ist mit der Mannschaft los?“, schrie sie zu ihm hinauf. Er schüttelte den Kopf, da er sie nicht hören konnte, dann neigte er sich ihr zu. Seine nassen Strähnen streiften ihre Wange, als sie ihre Frage laut schreiend wiederholte.

„Es lag am Fleisch – das Fleisch im Eintopf muss verdorben gewesen sein.“ Sein Blick durchdrang sie. „Habt Ihr davon gegessen?“

„Nein“, schrie sie zurück. „Nur Brot und Käse.“

„Ich auch. Wir hatten Glück. Sogar Guillame liegt dort unten und krümmt sich vor Schmerzen.“ Er nickte zu seinem Begleiter hinüber, der wie ein Häufchen Elend an der Bordwand kauerte.

Das Deck neigte sich gefährlich nach vorne, als der Bug in ein Wellental sauste. Ein eisiger Wasserschwall ergoss sich über sie.

„Haltet Euch fest! Legt die Arme um mich!“, befahl Talvas. „Ich will Euch nicht verlieren.“ Sie wurde gegen ihn geschleudert und schlang die Arme um seinen sehnigen Körper. Er stand da, wuchtig wie ein Fels, unbesiegbar und zuverlässig, seine Muskeln und Sehnen hart wie Eisen, als er dem Ruder und der aufgewühlten See seinen Willen aufzwang.

„Es ist schwer, Kurs zu halten.“ Seine Stimme war dicht an ihrem Ohr. „Das Hauptsegel hat sich an einer Stelle vom Mast gerissen.“

Emmeline hob den Blick zur Mastspitze und blinzelte in den stechenden Regen. Das Segel war nicht zerfetzt, aber eine Leine, mit der es am Querbaum befestigt war, hatte sich losgerissen. Dadurch flatterte die riesige Leinwand an einer Seite. Das Schiff konnte trotz des starken Windes keine Fahrt aufnehmen und reagierte schwerfällig. Auf diese Weise würde die Überfahrt mindestens einen Tag länger dauern.

„Das muss sofort in Ordnung gebracht werden“, rief Emmeline ihm zu.

Talvas verdrehte die Augen. „Das weiß ich auch, Madame, aber im Augenblick sind wir die einzigen gesunden Menschen an Bord.“ Er wies mit dem Kinn auf die sich krümmenden Seeleute. „Ihr seid zu schwach, um das Ruder zu halten, und ich bin zu schwer, um auf den Mast zu klettern.“

„Aber ich nicht.“

„Wie bitte?“ Er streifte sie mit einem finsteren Blick.

„Ich bin leicht und kann den Mast hinaufklettern.“ Emmeline, die sich immer noch an ihm festhielt, legte den Kopf in den Nacken und schrie aus Leibeskräften.

Er starrte lange in ihr bleiches kleines Gesicht, dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte. Mitten im Sturmgebraus, im Tosen der brodelnden See, im prasselnden Regen, glich er einem Satan, dem Herrscher über Tod und Verderben. Sein breiter Brustkorb wurde von seinem teuflischen Lachen geschüttelt.

„Ihr hört nie auf, mich in Erstaunen zu versetzen, Madame.“

Sie zerrte an seinem Lederwams und zwang ihn, ihr Gehör zu schenken. „Es ist mein Ernst, Talvas“, rief sie und wies mit dem Arm zum Segel hinauf. „Seht doch, es hat sich nur eine Leine gelöst. Das kann schnell behoben werden.“

„Schlagt Ihr etwa vor, hinaufzuklettern und den Schaden zu beheben?“, fragte er gedehnt, als zögere er, ihre Antwort hören zu wollen, und musterte sie eindringlich.

Emmeline blinzelte ernsthaft zu ihm auf. „Ja, natürlich. So etwas habe ich oft genug für meinen Vater getan.“ Sein verdattertes Gesicht reizte sie zum Lachen.

„Aber Ihr seid eine Frau! Nein, nein. Ihr bleibt brav an Deck, wo ich Euch im Auge behalten kann.“ Er presste die Lippen aufeinander, um das absurde Gespräch zu beenden.

„Die Überfahrt dauert doppelt so lange, wenn das Segel nicht getrimmt ist“, fuhr sie unbeirrt fort. „Außerdem ist nicht nur die Mannschaft krank, die Kaiserin hat hohes Fieber. Wir müssen so rasch wie möglich Land erreichen, sonst verschlimmert sich ihr Zustand. Wir haben keine Arzneien an Bord.“

Die Planken erzitterten und knarrten in ihren Verankerungen, als das Schiff einen Wellenberg steil nach oben schoss, um gleich darauf in ein Wellental hinunterzurasen. Emmeline verlor den Halt unter den Füßen und klammerte sich fester an Talvas.

„Ganz ruhig, Madame“, sagte er fast befehlend, gleichzeitig schlang er seinen Arm um sie und zog sie an sich. „Es ist verdammt schwer bei diesem Seegang, den Halt nicht zu verlieren.“

„Talvas, ich muss hinauf und das Segel befestigen, sonst verliere ich mein Schiff.“

Er verzog das Gesicht. Würde die Kleine nie aufgeben? Bisher war er der Meinung gewesen, Frauen seien schwache Geschöpfe, angewiesen auf den Schutz starker Männer, die sie vor der harten Wirklichkeit des Lebens bewahrten. Diese Frau aber setzte sich über alle Bestimmungen und Regeln hinweg, trachtete ständig danach, ihren Freiheitswillen und ihre Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen, als wolle sie ihn zwingen, seine Meinung über das schwache Geschlecht zu ändern. Aber wer war er, um ihr Vorschriften zu machen? Sie ging ihn nichts an, gehörte nicht zu ihm. Er war nicht ihr Herr und Gebieter, der ihr befehlen konnte, sich seinem Willen zu beugen. Er hatte keine Rechte über sie.

„Seid Ihr Eurer Sache sicher?“, fragte er unvermutet.

Emmeline wusste, dass sie gewonnen hatte, und nickte heftig. Widerstrebend löste sie sich aus dem Schutz seines Armes, zerrte sich den durchnässten Umhang von den Schultern und warf ihm das Bündel vor die Füße, löste die Bänder der seitlichen Verschnürung ihres Bliauts und streifte sich das Gewand über den Kopf, ohne zu bemerken, dass Talvas sie dabei beobachtete. Das dünne Untergewand klebte an ihrem Busen und den Rundungen ihrer Hüften.

„Habt Ihr vor, nackt auf den Mast zu klettern?“ Talvas bezähmte seinen Wunsch, sie an sich zu ziehen und ihr die letzten Hüllen vom Leib zu reißen. Hastig richtete er den Blick in die Ferne, als sie sich bückte, um die Riemen ihrer Schuhe zu lösen.

Sie lachte. „Nein, Mylord, aber ohne die hinderlichen Gewänder kann ich besser klettern. Seid unbesorgt, ich bringe Euch nicht in Verlegenheit.“

„Dafür danke ich meinem Schöpfer“, brummte er. Der Ausschnitt ihres Unterkleids klaffte auf. Selbst im Dunkeln konnte er die verlockende Schwellung ihrer Brüste sehen. „Bonne chance, ma petite.“ Seine Worte klangen gestelzt, unbeholfen. Ihre Blicke begegneten sich, verschmolzen ineinander. Ihr war, als könne er bis in die Tiefen ihrer Seele schauen.

Er sah zu, wie sie sich schwankend dem Mast näherte – und fühlte sich ohnmächtig. Er durfte das Ruder nicht loslassen, konnte den Mast nicht selbst hochklettern. Er musste ihr vertrauen. Kopfschüttelnd versuchte er, das Gefühl der Hilflosigkeit zu verdrängen. Wie lange war es her, dass er einer Frau vertraut hatte? Er tat gut daran, niemals zu vergessen, dass der Vertrauensbruch einer Frau sein Leben verändert und ihm Unglück gebracht hatte. Aber diese zierliche Person mit ihrer spitzen Zunge, ihrem Widerspruchsgeist und ihrem eisernen Willen drohte all seine Vorsätze ins Wanken zu bringen.

Emmeline streckte sich, um die ersten Knoten der Strickleiter am Mast zu fassen, zog sich hoch und stellte den linken Fuß in die erste Sprosse. Sie holte tief Atem, zwang sich, nicht an die Gefahr zu denken und sich nur auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Die wilde Entschlossenheit, ihr Schiff zu retten, verlieh ihr Kraft, ließ sie die Schwäche in ihrem verletzten Bein vergessen, und sie kletterte geschickt und zielstrebig den Mast hinauf. Ihr langer Zopf flatterte im Sturm. Der Mast hatte etwa die Höhe von drei übereinander stehenden Männern, und bald war sie oben angelangt. Sie hütete sich, den Blick nach unten in die brodelnde Gischt zu richten, kümmerte sich auch nicht darum, ob Talvas sie beobachtete. Sie schlang die Schenkel um den Mast, verschränkte die Füße ineinander, wie sie es in ihrer Kindheit geübt hatte. Dadurch hatte sie beide Hände frei, um die losen Enden der Leine zu fassen, die sie am Querbaum festzurrte und mehrmals verknotete. Die Muskeln in Rücken und Beinen schmerzten, ihre klammen Finger hatten Mühe, den Knoten zu befestigen und das Segel straff zu ziehen. Sie spürte, wie ihre Kräfte merklich nachließen. Doch dann blähte sich das Segel wieder im Wind. Fertig! Sie hatte es geschafft. Nun galt es nur noch, nach unten zu klettern.

Erst jetzt spürte sie die Kälte des prasselnden Regens, des schneidenden Windes, die ihr bis in die Knochen drang. Das Deck schien unendlich weit unter ihr zu liegen. Der nasse Stoff ihres Unterkleids schlug gegen ihre Schenkel, klebte an ihren Beinen und behinderte ihren Abstieg. Verbissen klammerte sie sich an die nasse, hin und her schwingende Strickleiter, während das Schiff unter ihr heftig schwankte. Der Aufstieg war ihr weit weniger mühsam erschienen. Ihr Fuß tastete nach der nächsten Sprosse, als ihr das nasse Tau durch die steifen Finger rutschte … „Vorsicht!“ Den Warnruf von unten hörte sie nicht, als sie sich verzweifelt festklammerte. Die Leine brannte heiß in ihren Handflächen, aber sie fand keinen Halt mehr. Im gleichen Moment legte sich das Schiff gefährlich zur Seite. Mit einem spitzen Schrei und wild um sich schlagenden Armen und Beinen stürzte sie ins Nichts.

„Ich hab dich!“ Eine vertraute Stimme krächzte an ihrem Ohr, als sie gegen einen Muskelberg prallte und von kraftvollen Armen aufgefangen wurde. Dann spürte sie die Deckplanken unter ihren nackten Füßen und seufzte erleichtert auf. Durch den nassen Stoff spürte sie die Hitze, die Talvas entströmte.

„Hier“, murmelte er und legte ihr seinen Umhang um die Schultern. „Der ist zwar auch nass, aber vielleicht wärmt er Euch.“ Unter dem schweren Stoff schwankte sie ein wenig, fühlte sich aber geborgen.

„Danke, Mylord.“

„Nein, ich danke Euch, Emmeline.“ Er hob ihr Kinn mit einem Finger und blickte ihr mit unverhohlener Bewunderung in die Augen. „Ihr habt Erstaunliches geleistet. Seht, wir haben wieder volle Fahrt aufgenommen. Ich kenne keine Frau, die diese mutige Tat vollbracht hätte.“

„Ich bin mit der See aufgewachsen“, entgegnete Emmeline achselzuckend. „Das war für mich keine große Sache.“ Sie versuchte, die Muskelschmerzen in Rücken und Schultern nicht zu beachten.

Talvas verspürte große Achtung vor dieser zierlichen Frau, die sich weigerte, sich ihre Erschöpfung anmerken zu lassen. Der offene Umhang gewährte ihm einen Blick auf ihren Busen, der sich unter dem nassen Unterkleid abzeichnete. Ihre Schönheit zog ihn unwiderstehlich in ihren Bann. Er neigte den Kopf, in der Absicht, ihr einen unschuldigen Kuss auf den Mund zu drücken – nur eine keusche flüchtige Berührung. Als sein Mund ihre vollen warmen Lippen streifte, flammte sein Verlangen auf. Stöhnend schlang er die Arme um sie, zog sie an sich und kostete gierig von ihr. Emmeline sank an seine Brust, ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie war ein einziges schmelzendes Fließen, während sie sich an seine breite Brust schmiegte. Seine Hand, die ihren Rücken entlangstrich und sie enger an ihn presste, entfachte ein brennendes Sehnen ihr. Ein mächtiger Strudel erfasste sie, der jede Willenskraft in ihr auslöschte. Seine Lippen waren wie eine geheime Verheißung, sie in ein Paradies zu entführen – an einen Ort der Erfüllung süßer Träume und Wünsche, an einen Ort voller Gefahren.

Der Kuss vertiefte sich, wuchs zu einer berauschenden Macht, der beide hilflos ausgeliefert waren. Sie klammerten sich aneinander, zwei Menschen, hilflos verstrickt im Bann ihrer Leidenschaft, die alles um sich vergessen hatten. Im nächsten Augenblick brach eine gewaltige Wasserwand über das Schiff herein.