10. KAPITEL
Nach einem erholsamen Bad und in frischen Kleidern betrat Emmeline zögernd die Große Halle. Draußen brach bereits am späten Nachmittag die winterliche Dämmerung herein. Riesige Binsenfackeln in Eisenhaltern an den Steinwänden erhellten den Saal, und im mannshohen Kamin prasselte ein wärmendes Feuer. Kunstvoll gewebte Wandteppiche in lebhaften Farben hingen von den wuchtigen Holzbalken der Decke bis zu den Steinfliesen herab. Rauchschwaden schwebten wie dünne Nebelgespinste über den langen aufgebockten Tischen, an denen dicht gedrängt munter plaudernde und lachende Ritter neben dem Burggesinde saßen und mit großem Appetit aßen und tranken. Emmeline wusste nicht, wo sie sitzen sollte, oben an der Hochtafel, an der die Kaiserin, Earl Robert und Lord Talvas bereits Platz genommen hatten, oder unten bei den Rittern, Burgbewohnern und Bauern.
„Gestattet mir, Euch zu begleiten, Madame.“
Emmeline drehte sich Guillame zu, der sie mit lächelndem Gesicht empfing. Obgleich er an die dreißig Jahre zählte, hatte er sich das Aussehen eines jüngeren Mannes bewahrt. Er reichte ihr zuvorkommend den Arm und führte sie an den langen aufgebockten Tischen vorbei zur Hochtafel, nahm neben ihr Platz, legte ihr verschiedene Bratenstücke und Gemüse vor und goss Wein in ihren Kelch.
„Besten Dank, Guillame.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln.
„Es ist mir ein Vergnügen“, antwortete er höflich. „Euch ist es zu verdanken, dass wir alle wohlbehalten England erreicht haben und nicht auf dem Meeresgrund den Fischen zum Fraß liegen.“
„Das war nicht nur mein Verdienst. Es ist ein Wunder, dass niemand ertrunken ist.“
„Seid nur nicht so bescheiden, Madame. Wir haben die Küste nur erreicht, weil Ihr das Segel repariert habt. Eine wahre Heldentat“, erklärte er voller Bewunderung.
Emmelines Magen meldete sich, was Guillame nicht entging. „Nun greift zu und lasst es Euch schmecken.“ Der köstliche Bratenduft stieg ihr in die Nase und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie biss mit großem Appetit in ein Hühnerbein.
Nach einer Weile sah sie, wie unten in der Halle die Tische beiseite geräumt wurden.
„Was tun die Leute da?“, fragte sie Guillame, der sich bereits über sein viertes Hühnerbein hermachte.
Guillame warf ihr einen erstaunten Blick zu, während er sich mit dem Ärmel den Bratensaft vom Kinn abwischte. „Nach dem Festmahl wird getanzt. An langen Winterabenden sehnen die Leute sich nach Unterhaltung.“
Wie auf sein Stichwort stimmten drei Musikanten mit Laute, Leier und Harfe eine Farandole an. Die beschwingte Melodie erfüllte die Halle und hob die heitere Stimmung der Festgäste noch mehr, die ihren Herrn und Gebieter und seine Rückkehr feierten. Lord Talvas war wieder daheim! Ritter, Knechte, Bauern und Mägde nahmen in der Mitte der Halle Aufstellung zum ersten Tanz. Emmeline beobachtete die fröhlichen Gesichter der Tanzenden, die, einander an den Händen haltend, eine lange Kette bildeten und sich in zierlichen Schritten im Takt der Musik nach vorne bewegten und schließlich wieder nach hinten, quer durch die Halle. So also sieht das Leben auf der Burg eines edlen Herrn aus, dachte Emmeline. Erfüllt von Musik, Licht und munterem Lachen, ganz im Gegensatz zum bescheidenen Leben, das sie mit ihrer Mutter führte, ganz zu schweigen von dem freudlosen Dasein, das sie an Giffards Seite gefristet hatte. Unter dem Tisch klopfte sie mit den Füßen den Takt zur Musik und beobachtete die hin und her wogende Menschenkette. Und dann sah sie zu ihrer Verwunderung, wie der Anführer der Kette, ein jovialer untersetzter Mann mit verschwitztem Gesicht, unter verschlungenen Armen durchtauchte und die nachfolgenden Tänzer es ihm gleichtaten. Dadurch entstand ein verschlungenes Menschenband, das sich schlängelnd durch den Saal bewegte.
„Dieser Tanz ist mir ein Rätsel, eine wahre Kunst.“ Sie lächelte Guillame an.
„Aber Ihr habt doch gewiss schon getanzt, Madame“, entgegnete er verdutzt.
Emmeline schüttelte den Kopf. „Nein, ich hatte nie Gelegenheit dazu.“ Ihre Worte gingen im Lärm der Hochrufe unter, während die Kette sich immer schneller durch den Saal schlängelte. „Lord Talvas! Lord Talvas!“, rief jemand. Emmelines Blick flog die Hochtafel entlang. Kaiserin Maud in einem hohen geschnitzten Lehnstuhl versperrte ihr die Sicht auf den Burgherrn.
„Erwarten die Leute etwa, dass er mit ihnen tanzt?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Talvas sich unters Volk mischte.
„Ihr werdet staunen, Madame“, entgegnete Guillame augenzwinkernd und spießte sich ein Stück Schweinebraten von dem langen Servierbrett auf.
Ohrenbetäubender Jubel brach los, als Talvas sich erhob, der blendend aussah in einer prächtigen grünen und goldbestickten Tunika, die seine breiten Schultern umspannte wie eine zweite Haut. Das weiß gebleichte Leinenhemd bildete einen starken Kontrast zu seinem gebräunten Gesicht, die dunklen geschwungenen Brauen verliehen ihm ein verwegenes Aussahen. Und plötzlich stand er neben Emmeline, seine engen Beinkleider aus feinstem Ziegenleder betonten die Muskelwölbungen seiner kräftigen Schenkel. Er hielt ihr die Hand entgegen, auf die sie entsetzt starrte. Guillame stupste sie aufmunternd in die Seite. „Nun bietet sich Euch die Gelegenheit, ein Tänzchen zu wagen“, raunte er ihr zu.
„Ich kann nicht tanzen“, flüsterte sie und blickte ängstlich zu Talvas. Sie würde ihn nur in Verlegenheit bringen mit ihrem unbeholfenen Gehopse, noch dazu mit ihrem verletzten Bein. Niemals könnte sie den zierlichen Schritten einer Farandole folgen.
„Kommt, Madame“, forderte Talvas unerbittlich. „Kein Widerspruch. Die Leute wollen Euch ehren, weil Ihr mich wohlbehalten nach Hause gebracht habt.“ Er senkte die Stimme, seine nächsten Worte galten nur ihr. „Auch ich will Euch ehren.“
Ihr Herz klopfte wild.„Ich … ehm …Talvas, mein Bein …?“ Ihre großen grünen Augen flehten ihn an.
Er lächelte nachsichtig. „Das habe ich nicht vergessen, Madame.“ Er griff nach ihrer Hand und zog sie hoch. Sie spürte seinen warmen Atem. „Ich werde Euch nicht fallen lassen.“
Emmeline nahm das Gesichtermeer nur verschwommen wahr, als Talvas sie umsichtig die Stufen hinunter in den Saal führte, umjubelt von seinen Untertanen, die ihm respektvoll Platz machten, als die Musik wieder einsetzte.
„Folgt mir einfach.“ Talvas lächelte aufmunternd. Er hielt ihre linke Hand, und ein pockennarbiger Ritter hielt ihre rechte mit verschwitzten Fingern. Emmeline ahmte Talvas’ Schritte mit grimmiger Verbissenheit nach, vollführte zierliche Schritte im Kreis, die zwischen Gehen und Hüpfen wechselten. Immer, wenn sie auf ihrem schwachen Bein einknickte, stützte Talvas sie so geschickt, dass niemand etwas bemerkte, beinahe, als spüre er den Moment, ehe sie stolperte. Er führte sie wie ein Puppenspieler eine Marionette. Allmählich gewann sie Vertrauen. Er würde sie nicht fallen lassen! Die steile Falte auf ihrer Stirn glättete sich, ihre Lippen umspielte ein zaghaftes Lächeln. Bald wiegte sie sich anmutig zur beschwingten Musik, alles um sie herum begann sich zu drehen wie ein bunter Kreisel, ein Meer aus fröhlich lachenden Gesichtern, nur der feste Druck von Talvas’ Hand gab ihr Halt und ein gelegentlicher Blick in sein Gesicht. Irgendwann bildeten die Tanzenden einen Reigen. Er stand seitlich hinter ihr, legte einen Arm um ihre Schultern, zog ihren Rücken an seine Brust, ohne ihre Hand freizugeben, und drehte sich mit ihr im Kreis. Emmeline vergaß ihre Hemmungen, schmiegte sich an ihn und überließ sich den Klängen der Musik. Morgen war alles vorbei, und sie würde ihn nie wieder sehen.
Er drehte sich noch einmal mit ihr, hob sie in die Höhe, bis sie den Boden unter den Füßen verlor. Der Saum ihres Gewandes wirbelte hoch, gab den Blick auf ihre schlanken Waden in hellseidenen Beinlingen und geborgten feinen Lederschuhen frei. Sein linker Arm war um ihre Mitte geschlungen, der ihre lag an seiner Schulter, sein Gesicht keine Handbreit von ihrem entfernt. Überschäumende Lebensfreude befeuerte ihr Blut, sie hätte vor Glück jauchzen mögen. Er lächelte, eine dunkle Haarlocke fiel ihm jungenhaft in die Stirn. Ihre Blicke verschmolzen ineinander, und beide bemerkten nicht, dass die Musik jäh verstummte.
Eine tödliche Stille senkte sich über die Halle.
Maud war aufgesprungen, ihr Gesicht eine wutverzerrte Grimasse. Sie zitterte am ganzen Leib. „Wie könnt Ihr mir das antun!“, kreischte sie mit sich überschlagender Stimme. Zähnefletschend spuckte sie die Worte aus und streckte den Arm anklagend in Talvas’ Richtung. Das spitz zulaufende Ende ihres langen Ärmel wischte über die Tafel und warf einen Kelch um, der Wein ergoss sich rot wie Blut über das schneeweiße Tuch. Einer Magd entfuhr ein spitzer Schrei, bevor sie sich erschrocken die Hand vor den Mund schlug.
Talvas stellte Emmeline sanft auf die Füße, ohne ihre Hand loszulassen, wandte sich mit fragend hochgezogenen Brauen der Kaiserin zu und wartete stumm auf die Fortsetzung ihrer Anklage.
„Ihr habt mich verraten, Schurke! Niederträchtiger Halunke!“ Maud hielt ein Pergament hoch, an dem eine Kordel mit einem Wachssiegel baumelte. Der junge Bote hinter ihr machte ein erschrockenes Gesicht über den Wutausbruch der Kaiserin, nachdem sie die Botschaft gelesen hatte. Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, sein Umhang und sein Gesicht waren mit Lehm bespritzt.
„Hättet Ihr die Güte, mich darüber aufzuklären, wessen Ihr mich beschuldigt, Mylady?“, fragte Talvas höflich. Emmeline spürte seine wachsende Spannung hinter seiner zur Schau getragenen Gelassenheit. Er straffte die Schultern, nahm eine lauernde Haltung an, als bereite er sich auf einen Angriff vor. Mauds Gesicht war von einer unvorteilhaften Röte überzogen. Sie ließ sich jäh in den Lehnstuhl fallen, als habe der Zornausbruch ihr die Stimme verschlagen. Earl Robert trat vor.
„Stephen of Blois wurde heute morgen zum König von England gekrönt“, erklärte er feierlich. Maud entfuhr ein empörter Laut. „Euer Schwager, Talvas.“
„Ich weiß, wer Stephen ist“, antwortete Talvas gelassen.
„Er hat mir die Krone geraubt“, kreischte Maud. „Robert sandte eine Botschaft zum Abt von Sherborne mit der Bitte, den Feierlichkeiten meiner Krönung in Winchester beizuwohnen, und dies ist seine Antwort darauf. Das lasse ich mir nicht bieten!“ Sie schlug mit der Faust auf das unschuldige Pergament wie ein verwöhntes Kind.
„Das ist höchst bedauerlich, Mylady“, entgegnete Talvas gefasst.
„Höchst bedauerlich für Euch, Mylord“,herrschte die Kaiserin ihn an.„Woher weiß Stephen vom Tod meines Vaters?“ Ein Raunen ging durch die Menge im Saal. Kein Wunder, dachte Emmeline, der Tod des Königs sollte geheim gehalten werden. „Von wem sonst sollte Stephen davon erfahren haben?“, fuhr die Kaiserin fort. Ihre dunklen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Eure Schwester Matilda ist mit Stephen verheiratet. Ihr habt ihr gegen mein ausdrückliches Verbot eine Botschaft zukommen lassen. Der Thron ist mir rechtmäßig zugesprochen, und ich werde darauf bestehen. Aber zunächst muss ich wissen, wem ich vertrauen kann. Ihr, Lord Talvas, habt Euch eindeutig als Verräter erwiesen. Wachen, nehmt den Mann fest!“
Der Befehl hallte von den Mauern der Halle wider. Niemand bewegte sich. Fassungslos blickte Maud in die Gesichter von Talvas’ Untertanen. Die Kaiserin war nicht daran gewöhnt, dass ihren Anordnungen nicht augenblicklich Folge geleistet wurde.
„Meine Soldaten hören nur auf meine Befehle, Mylady“, erklärte Talvas mit Nachdruck. „Ihr irrt in Eurer absurden Mutmaßung, Mylady, ich hätte Matilda eine Botschaft zukommen lassen. Ich habe mich noch nie in die Angelegenheiten der Krone eingemischt und werde es auch in Zukunft nicht tun.“
„Lügner!“, schrie Maud in höchster Erregung. „Ich jage Euch von dieser Burg, und wenn ich gezwungen bin, es selbst zu tun.“
In drei langen Sätzen, in einem Wirbel aus Grün und Gold, stürmte Talvas durch die Halle, sprang aufs Podium und stand neben dem geschnitzten Lehnstuhl der Kaiserin. Maud war gezwungen, den Kopf in den Nacken zu legen, um zu ihm aufzublicken.
„Darf ich Euch daran erinnern, Mylady“, richtete Talvas in leicht gereiztem Ton das Wort an sie, „dass dies meine Burg und meine Untertanen sind. In meinem Haus habt Ihr keinerlei Machtbefugnisse.“ Ein angstvolles Flüstern war zu hören. „Bei allem Respekt, Mylady, ich schlage vor, dass Ihr meine Burg verlasst, da Ihr Euch dafür entschieden habt, in mir Euren Feind zu sehen.“
In einer dunklen Ecke der Halle nahm Emmeline eine Bewegung wahr. Versteckte sich dort jemand? Ein Schatten bewegte sich, Eisen blitzte auf. Emmeline setzte sich instinktiv in Bewegung, versuchte sich dem Schatten zu nähern. War Talvas in Gefahr? Seine Warnung klang ihr in den Ohren. Maud war eine willensstarke Frau, aber sie war auch heimtückisch und würde vor nichts zurückschrecken, um über England und die Normandie zu herrschen.
Maud erhob sich und stieß mit ihrem kurzen dicken Finger gegen Talvas’ Brust. „Hört mir gut zu! Ich werde Königin. Und Ihr gehorcht meinem Befehl. Diese Burg wird mein Hauptquartier. Hier versammle ich meine Soldaten, um so schnell wie möglich nach Winchester zu marschieren. Die Krone gehört mir!“
„Dann müsst Ihr gegen mich kämpfen.“
Die Kaiserin sackte erneut in ihren Stuhl zurück, sichtlich erschöpft von dem hitzigen Wortwechsel, und gab ihrem Halbbruder, der neben ihr stand, einen müden Wink. „Robert, kümmere dich um ihn.“
Talvas’ Hand griff nach dem Heft seines Schwertes, als Robert vortrat, beide Hände in einer Geste der Beschwichtigung erhoben. Im gleichen Augenblick löste sich ein Bär von einem Mann aus dem Schatten und stürmte vor.
Emmeline, die sich lautlos bis zu den Stufen des Podiums bewegt hatte, entdeckte als Erste die Gefahr. „Vorsicht, Talvas! Hinter Eurem Rücken!“, schrie sie gellend, als der Hüne seine Keule bereits schwang. Talvas fuhr bei ihrer Warnung herum und duckte sich. Der Knüppel traf ihn mit einem dumpfen Schlag am Hinterkopf. Er sackte in die Knie und stürzte zu Boden. Emmeline versuchte zu ihm zu gelangen, doch der Angreifer versperrte ihr den Weg.
Totenstille herrschte in der Halle. Niemand rührte sich.
„Was habt Ihr getan?“, rief Emmeline in hellem Entsetzen und stieß zwei Soldaten der Kaiserin beiseite, die ihr den Zutritt zum Podium verweigern wollten.
„Deine Besorgnis um den Mann ist rührend.“ Mauds Augen waren kalt und ohne Mitleid. „Aber ich würde mich hüten, einem Hochverräter zu viel Zuneigung entgegenzubringen, sonst landest auch du im Kerker.“ Maud wandte sich an ihren Halbbruder. „Lass ihn wegschaffen, Robert“, befahl sie. „Und scheuche die gaffenden Bauerntölpel aus der Halle. Wir müssen ein Land zurückgewinnen.“
Emmeline wanderte rastlos in ihrem Gemach auf und ab. In dem heillosen Durcheinander – den bewusstlosen Talvas hatte man weggeschleppt, und die Burgbewohner waren geflohen, aus Angst, die nächsten Opfer des Zorns der Kaiserin zu werden – hatte sie sich heimlich davongemacht, in der Hoffnung, die Kaiserin und der Earl würden sie im Tumult vergessen. Sie musste fliehen. Sie musste diesen unseligen Ort so schnell wie möglich verlassen.
Immer wieder tauchte das Schreckensbild vor ihr auf, wie der blutüberströmte Talvas von drei kräftigen Männern fortgeschafft worden war. Das Blut aus seiner klaffenden Kopfwunde war auf die Steinfliesen getropft. Emmeline verharrte an dem schmalen hohen Fenster und starrte in die mondhelle Landschaft. Was sollte sie nur tun? Ihr Verstand gebot ihr, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen, aber es gab einen Grund, der sie zurückhielt. Wenn Talvas’ Kopfwunde nicht versorgt wurde, würde er verbluten. Das durfte sie nicht zulassen. Bei all seiner hochfahrenden Art hatte er sich ihr gegenüber auch gütig erwiesen, mehr als das. Sie schloss die Augen in Erinnerung an seinen sehnigen Körper, an den sie sich geschmiegt hatte, an seine Lippen, an seinen berauschenden Kuss. Es war, als hätten ihre Seelen sich ineinander verschlungen. Sie holte tief und stockend Atem, und plötzlich stand ihr Entschluss fest. Er durfte nicht sterben! Sie musste zu ihm! Eilig streifte sie das Bliaut wieder über das Unterkleid, ohne die seitlichen Bänder zu schnüren, und öffnete vorsichtig die Tür.
Im dunklen Flur stand Talvas.
Sie blinzelte verdutzt, streckte die Hand aus, um sich zu vergewissern, dass er kein Trugbild war.
Talvas schmunzelte über ihr entgeistertes Gesicht und legte einen Finger an den Mund. Lautlos huschte er ins Gemach, schloss die Tür und schob den Eisenriegel vor.
„Ja, ich bin es, Madame.“ Seine tiefe Stimme klang samtweich.
„Aber wie …? Emmeline verschränkte abweisend die Arme, um ihre Erleichterung nicht zu zeigen.
Er lächelte, und seine weißen Zähne blitzten im Halbdunkel. „Es gibt einen Geheimgang aus dem Kerker, den der bärenstarke Tölpel nicht kennt. Er sitzt noch immer vor dem Gitter und glaubt, mich zu bewachen. Und Ihr? Wo wollt Ihr hin?“
„Ich?“ Sie furchte die Stirn.
„Habt Ihr nicht grade die Tür geöffnet? Wo wollt Ihr hin, mitten in der Nacht?“
„Ich … nun ja, ich wollte Euch nicht verbluten lassen“, erklärte sie stockend. „Ich wollte Eure Wunde versorgen.“
„Man hätte Euch nicht in meine Nähe gelassen“, entgegnete er. „Aber ich freue mich über Eure Besorgnis.“
„Ich bin nicht um Euch besorgt“, widersprach sie schroff. „Kein Mensch mit einem Funken Mitgefühl lässt einen anderen verbluten.“
„Was Maud sich im Stillen wünscht“, antwortete er trocken und betastete vorsichtig seinen Hinterkopf, wobei er eine Grimasse schnitt. „Der Kerl schlug mit aller Wucht zu, aber durch Eure Warnung konnte ich ausweichen, sonst stünde ich wohl nicht hier. Dafür danke ich Euch.“
„Lasst mich einen Blick darauf werfen“, bat sie. „Vielleicht muss die Wunde genäht werden.“
Er schüttelte den Kopf. „Keine Zeit. Guillame sattelt bereits die Pferde. Ich muss schleunigst nach Winchester zu meiner Schwester und ihrem Gemahl. In ihrem Zorn ist Maud unberechenbar. Sie ist zu allem fähig. Ich muss Stephen warnen.“
„Ihr seid ihm keine Hilfe, wenn Euch das Wundfieber befällt“, tadelte Emmeline streng. „Ich will die Wunde wenigstens säubern.“ Sie trat an eine Truhe, auf der ein Krug Wasser stand, daneben lagen frische Tücher. „Setzt Euch ans Feuer. Ich brauche Licht, um die Wunde zu sehen.“
Seine Gesichtszüge waren von Erschöpfung gezeichnet, als er sich auf den Hocker vor dem Kamin setzte, die Ellbogen auf die Knie stützte und sich mit der Hand über die Stirn fuhr.
Emmeline trat hinter ihn und teilte mit sanften Fingern das blutverkrustete Haar. Beim Anblick der klaffenden Wunde biss sie sich auf die Unterlippe. Sie tauchte das Tuch ins Wasser und begann, die Wunde mit leichtem Druck zu waschen, methodisch und umsichtig. Die Nähe und Wärme seines breiten Rückens machte sie benommen.
„Fertig“, verkündete sie nach einer Weile und sehnte sich danach, seine breiten Schultern zu streicheln. Erschrocken über ihren unbotmäßigen Gedanken trat sie hastig einen Schritt zurück und stieß den Krug mit dem blutigen Wasser um, das sich über die Dielen ergoss.
„Wie ungeschickt von mir“, rief sie verärgert und machte sich daran, die Pfütze aufzuwischen.
Er griff nach ihrer Hand. „Lasst das!“, befahl er heiser und zog sie mit einem Ruck zwischen seine Schenkel. „Nein, wehrt Euch nicht“, fuhr er fort, als er ihren Widerstand spürte. „Ich muss mit Euch reden.“
Emmeline nickte, seine kraftvollen Schenkel hielten sie wie in einer Eisenzange gefangen.
„Ihr müsst uns begleiten. Es wäre zu gefährlich, hier zu bleiben. Die Kaiserin schätzt Euch zwar, wird Euch aber als Druckmittel gegen mich benutzen, das steht fest.“
„Aber … aber meine Schwester braucht mich“, stammelte Emmeline verwirrt. „Ich muss unbedingt zu ihr. Sie ist in Nöten“, fuhr sie mit fester Stimme fort. „Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun. Das muss die Kaiserin einsehen.“
Talvas schüttelte grimmig den Kopf. „Wer weiß, wozu eine verwöhnte Kaiserin imstande ist?“, murmelte er. „In ihrem rasenden Zorn ist diese Frau zu allem fähig. Man hat ihr den Thron von England verweigert, das Einzige, woran ihr wirklich etwas liegt. Ihr Machthunger ist unstillbar.“ Er legte seine Hände an Emmelines Schultern und blickte ihr beschwörend in die Augen. „Begleitet uns, bei mir seid Ihr in Sicherheit.“
Sein Angebot klang verlockend, brachte ihren Entschluss ins Wanken. Seine tiefe einschmeichelnde Stimme entfachte erneut dieses befremdliche Sehnen in ihr. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart ganz und gar nicht sicher. „Könnt Ihr mich auf dem Weg an der Burg meiner Schwester absetzen?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Nein, das wäre ein Umweg. Ich darf keine Zeit verlieren. Sobald wir Winchester erreichen, kann ich Euch eine Eskorte stellen.“ Draußen ertönte der Ruf einer Eule, einmal, zweimal. Talvas sprang so heftig auf, dass sie nach hinten getaumelt wäre, hätte er sie nicht an den Schultern gehalten. „Das ist Guillames Zeichen. Kommt Ihr mit uns oder nicht?“
„Einverstanden.“
„Braves Mädchen.“ Mit einem Satz war er am Fenster und schwang ein Bein über die Brüstung. „Wir müssen fort“, gab er ihr eindrücklich zu verstehen. „Ich lasse Euch hinunter, und Guillame fängt Euch auf. Es ist nicht sehr hoch.“
Sie legte sich den Umhang um die Schultern und zog unschlüssig die Stirn kraus. „Beeilt Euch, Emmeline“, drängte er. „Wieso dieses Zaudern? Eine Frau, die in sturmgepeitschter See einen Mast hinaufklettert, wird doch keine Höhenangst haben, oder?“
Nein, ich habe keine Höhenangst, dachte sie, aber ich habe Angst vor dir. Sie wischte ihre Bedenken weg, setzte sich auf das Fenstersims und schwang die Beine nach draußen. Vom Burghof herauf hörte sie das leise Klirren der Pferdegeschirre. Talvas nahm sie bei den Händen. „Lasst Euch hinunter!“ Sie rutschte nach vorne und ließ sich an der Mauer nach unten fallen. Hilflos hing sie zwischen Himmel und Erde, nur von Talvas’ starken Händen gehalten, ihre Arme und Schultern schmerzten von dem starken Zug.
„Guillame, fang sie auf“, flüsterte Talvas und ließ sie los. Ein Angstschrei blieb ihr in der Kehle stecken, doch schon landete sie sicher in Guillames Armen.
„Gut gemacht, Madame“, lobte Guillame anerkennend, hob sie in den Sattel eines Pferdes und schwang sich auf das zweite Pferd. „Los!“
„Aber Lord Talvas …? Sie drehte sich um, blickte nach oben und sah gerade noch, wie er sich mit wehendem Umhang abstieß und direkt in den Sattel des dritten Pferdes sprang. Mit festem Schenkeldruck wendete er das Tier und nahm die Zügel auf.
„Wir haben es eilig“, flüsterte er.
Aus dem Inneren der Burg wurden Stimmen laut. War Talvas’ Flucht bereits entdeckt worden? Emmeline drückte die Fersen in die Flanken des Wallachs und ritt hinter dem Schatten von Talvas’ Pferd in die Nebelschwaden der Nacht. Die drei Reiter folgten einem morastigen Pfad, der sich durch hohes Schilf im Marschland schlängelte. Rechts von sich hörte Emmeline das Gurgeln von Wasser und vermutete, dass sie am Flussufer nach Norden ritten. Der Vollmond stand zwar hell am Himmel, aber der Nebel waberte in immer dichteren Schwaden, die ihr feuchtkalt ins Gesicht schlugen.
„Wir müssen absitzen“, rief Talvas plötzlich nach hinten. Sein scharfer Ton erschreckte sie. Ihre Finger um die Zügel waren taub geworden. War sie eingeschlafen? Der Nebel war mittlerweile so dicht geworden, dass sie die Hand vor Augen nicht mehr sah. Sie hob ein Bein über den Sattel und glitt unbeholfen zu Boden. Vor Kälte steif geworden, setzte sie sich mit unsicheren Schritten in Bewegung.
„Schneller, Madame“, drängte Guillame hinter ihr, „sonst verlieren wir Lord Talvas aus den Augen. Nur er kennt den Weg durch den Sumpf.“ Emmeline schlang sich die Zügel um die klammen Finger und drängte den Wallach vorwärts. Noch konnte sie den schlagenden Schweif von Talvas’ Hengst vor sich erkennen. Ihr verletztes Bein schmerzte höllisch, aber sie stapfte verbissen voran, obwohl es ihr immer schwerer fiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der wabernde Nebel hüllte sie ein wie ein Leichentuch.
Und dann hörte sie das Kläffen der Hunde. Talvas hörte es gleichfalls, hielt einen Moment inne und beschleunigte seine Schritte. Nein, wollte sie ihm hinterherrufen, langsamer, ich schaffe es nicht, fürchtete aber, die Verfolger könnten sie hören.
„Guillame, geht voran“,flüsterte sie und blieb stehen.„Die Männer sind hinter Euch her, nicht hinter mir. Beeilt Euch und sagt Talvas, ich komme nach.“ Sie lächelte aufmunternd in Guillames zweifelndes Gesicht. Sie wollte um keinen Preis riskieren, dass die beiden Männer den Häschern der Kaiserin in die Hände fielen, nur weil sie nicht mithalten konnte. Schließlich nickte Guillame zögernd und führte sein Pferd an ihr vorbei. Tapfer stapfte Emmeline hinter ihm her, spähte angestrengt geradeaus, sah gelegentlich ein Flattern seines Umhangs. Angestrengt horchte sie auf den Hufschlag seines Pferdes, das Klirren des Zaumzeugs. Nun, da niemand mehr hinter ihr war, kroch ihr eine unheimliche Kälte über den Rücken. Und plötzlich sah und hörte sie gar nichts mehr. Der Nebel umgab sie wie eine weiße Wand gleich Gefängnismauern.
„Guillame?“, rief sie zaghaft. „Talvas?“ Dann eine Spur lauter, mit bebender Stimme: „Guillame?“ Und plötzlich stieß sie gegen ihn. „Gott sei Dank!“, entfuhr es ihr mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung.
„Danke, dass Ihr auf mich gewartet habt“, keuchte sie und klammerte sich an seinen Umhang. „Ich dachte, ich hätte Euch verloren.“
„Es ist mir ein Vergnügen, Madame.“ Earl Robert lächelte böse.