73

Annabel hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.

Sie konnte sein Lachen nicht länger ertragen. Das gellende Gelächter eines Wahnsinnigen. Caliban weidete sich an ihrer Angst. Wie er diese Augenblicke liebte; das Gefühl, einen Menschen psychisch zu vernichten, ihn zu zerstören.

»Das Leben, Annabel, ist pure Ironie. Die Katastrophen entstehen aus guten Absichten, das ist die einzige Lehre, die wir aus der Geschichte ziehen können. Nehmen Sie zum Beispiel die arme Rachel, die Ihr Privatdetektiv überall sucht wie ein braver Hund. Wissen Sie, was? Ich habe sie ausgewählt, weil sie schwanger ist; ihre Schwester hat es mir erzählt. Sie ist eine Freundin, Megan Faulet. Wenn Megan mir nichts von der Schwangerschaft ihrer Schwester erzählt hätte, wäre Rachel jetzt nicht hier! Ist sie nicht herrlich, die Ironie des Lebens?«

Er musste über seinen eigenen Sarkasmus lachen. Annabels Stöhnen zeigte ihm, dass sie bald so weit war. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde er ihr die ganze Größe seines Genies beweisen. Diese wunderbare Erfindung, sein System, um wirklich jeden in den Wahnsinn zu treiben. Er pflegte seine Taten sonst vor niemandem zu rechtfertigen, in diesem ganz speziellen Fall aber, vor der Frau, die ihm nachgestellt hatte, war es ein besonderer Spaß, ihr alles zu enthüllen, zumal es das ideale Mittel war, sie in Panik zu versetzen und vollends aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Er beschloss, sein Spielchen noch etwas weiter zu treiben, ein letztes Mal, um es dann zum Abschluss zu bringen.

»Ich habe wirklich geglaubt, dass Sie alles verstanden hätten, als sie die Skelette in dem Eisenbahnwaggon fanden. Ich muss zugeben, das war ein harter Schlag für mich. Jetzt, da bin ich mir sicher, fügt sich das Puzzle zusammen, oder? Die geöffneten Schädel, die Schienbeine, die bei einigen fehlten … Noch immer nicht? Ich bitte Sie, Annabel! Wissen Sie, wie die Kniepartie beim Kalb beschaffen ist? Das lässt sich mit menschlichen Knochen sehr gut nachbilden, man braucht dazu das Stück unterhalb des Knies. Nun, kommen wir zum großen Finale: Sie wissen, dass Lucas mehrere Geschäfte mit Fleisch beliefert hat. Er fuhr zum Großmarkt, kaufte, was er brauchte, und schweißte die Stücke bei sich zu Hause in Plastikfolie ein. Und wenn ich Ihnen jetzt gestehen würde, dass er nicht selten seine Ware mit etwas anderem als Rind- oder Kalbfleisch streckte … Wer sagt Ihnen denn, dass Sie und viele andere nicht schon längst Menschenfleisch auf ihrem Teller liegen hatten … Der Vorteil beim Menschen ist, dass sich alles verwerten lässt!«

Nun war er in seinen Ausführungen weit genug gegangen, sie musste innerlich bereits schreien. Jetzt konnte er zur Tat schreiten.

Seine Stimme wurde gleichzeitig sanft und unerbittlich. Er spielte nicht mehr.

»Rechts neben Ihnen liegt eine Schachtel mit Streichhölzern, nehmen Sie sie!«

Annabel hatte Mühe, ihn zu verstehen. Sie stand unter Schock, trotzdem hatte sie den veränderten Tonfall seiner Stimme wahrgenommen. Sie zitterte. Sie musste hier raus, bevor sie den Verstand verlor. Calibans Lachen war ihr durch Mark und Bein gegangen. Sie hatte die Ironie darin herausgehört und malte sich jetzt das Schlimmste aus. Sie wollte sich den Mund, das Gedächtnis, die ganze Seele reinwaschen.

»Genau rechts von Ihnen. Los, strecken Sie schon den Arm aus.«

Sie wollte nicht länger im Dunkeln sein, sie ertrug es nicht mehr. Annabel tastete suchend nach rechts und fand die Schachtel. Ein leises Rascheln war um sie herum zu hören, als sie sie öffnete.

»Annabel … all die Leute, die ich entführt habe … Sie … sie sind nicht tot, Annabel. Sie sind bei Ihnen. In diesem Augenblick. Um sie herum. Dank meiner werdet ihr für immer zusammen sein. Alle zusammen …«

Die junge Frau war mit den Nerven am Ende, sie verstand nicht, dass es sich um eine Warnung handelte. Alles, wonach sie sich in diesem Moment sehnte, war ein wenig Licht, ein wenig Wärme und danach, von hier wegzukommen.

Sie zündete ein Streichholz an.

Der Geruch von Schwefel breitete sich mit der kleinen Rauchwolke aus.

Die Finsternis wich für einen Augenblick zurück, um dem Grauen Platz zu machen.

Annabel blickte um sich, als die Flamme größer wurde.

Sie befand sich in einem kreisrunden Raum, der eng und niedrig war.

Alle kamen zum Vorschein.

Zu Dutzenden.

Männer, Frauen, Kinder. Sie waren alle, fast alle da.

Die Wände waren überzogen mit der Haut ihrer Gesichter, es gab nicht das kleinste freie Fleckchen Erde oder Stein, jeder Winkel war bedeckt von gespannter Haut, gedehnten Lippen und flatternden Augenlidern. Sie war von einem menschlichen Patchwork umgeben.

Annabel begann zu zittern, die Flamme wurde kleiner.

In dem Moment bemerkte sie ein Gesicht, das anders war. Rundlich, dort, wo all die anderen flach waren. Bleicher und weniger wächsern, weniger transparent. Die Lippen waren nicht blassviolett, sondern dunkel und feucht. Sie erkannte es – das Gesicht von Rachel Faulet.

Annabel näherte sich.

Und die Augen öffneten sich.

Augen, erfüllt von blankem Entsetzen.

Annabel ließ das Streichholz fallen, und Finsternis senkte sich gierig über die Gruft.

In Blut geschrieben
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