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Während unter Jack Thayers müdem Blick das dritte Team den Dienst antrat, um die Skelette aus dem Waggon abzutransportieren, befand sich Annabel in Phillipsburg in einem kleinen Ziegelgebäude an der Corliss Avenue, dem Büro des örtlichen Sheriffs. Eric Murdoch saß der jungen Frau gegenüber und hörte ihr aufmerksam zu. Annabel war vom ersten Augenblick an beeindruckt gewesen von der stattlichen Erscheinung des Sheriffs, der einen Meter neunzig maß und bestimmt über hundert Kilo wog.
»Zu viele Opfer kommen aus dieser Gegend, das kann kein Zufall sein. Bob muss auch irgendwo hier wohnen«, erläuterte Annabel. »Wir müssen die ganze Umgebung unter die Lupe nehmen, alle vorbestraften Personen überprüfen, die Nachbarn der Opfer befragen, ob ihnen nichts aufgefallen ist.«
»Ich helfe Ihnen natürlich gerne, möchte aber keinen Ärger mit den Bundesbehörden. Haben Sie sich mit denen abgesprochen?«
Jetzt war sie auch noch an einen Bürokraten geraten. Der Bezirk gehörte nicht zu ihrem Zuständigkeitsbereich, und selbst wenn sie von Woodbine oder dem Bürgermeister von New York höchstpersönlich unterstützt wurde, musste sie sich doch an die Vorschriften halten.
»Unter uns gesagt: Es ist ja nicht so, dass ich sie schätze«, meinte er vertraulich. »Sie halten sich für die Kings, aber ich möchte Unannehmlichkeiten vermeiden.«
»Das haben wir schnell geregelt, glauben Sie mir. Einstweilen brauche ich Ihre Unterstützung. Sie sind hier zu Hause und kennen die Leute.«
»Ja … Was Sie mir vorhin über Taylor Adams erzählt haben, hat sich das wirklich so abgespielt? Sie wurde völlig nackt mit einer am Körper festgesteckten Nachricht aufgefunden?«
Annabel nickte finster.
»Kannten Sie sie?«
»Taylor? Doch, ja. Man kann sogar sagen, dass sie hier gewissermaßen Stammgast war! Sie machte nur Blödsinn. Mehrmals habe ich sie selbst zu ihrer Mutter zurückgebracht, nachdem sie völlig betrunken auf der Straße aufgegriffen worden war. Sie ist kein schlechtes Mädchen, nur ein bisschen wirr im Kopf. Aber wenn man nichts tut, um ihr zu helfen, wird es böse enden.«
»Ich fürchte, in Zukunft wird sie sich wesentlich ruhiger verhalten. Ich komme gerade von ihrer Mutter, sie hat mir eine Aufstellung von Taylors Freunden gegeben. Was meinen Sie dazu?«
Annabel hielt dem Sheriff die Liste hin, der sie mit seiner großen schwieligen Hand entgegennahm.
»Hm … nichts Besonderes. Zwei davon kenne ich, die sind genauso wie sie, die anderen … keine Ahnung, wahrscheinlich irgendwelche Burschen aus der Gegend. Darf ich Sie etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Was war denn in dem Umschlag?«
»Nur wirres Zeug«, log die junge Frau. »Warum?«
»Ich dachte nur. Man muss schon ganz schön verrückt sein, um so etwas zu tun!«
»Oder unglaublich selbstsicher.«
Sie hatte in den letzten Stunden lange darüber nachgedacht. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihre Ideen darzulegen, sich mitzuteilen.
»Es ist, als wollte er uns beweisen, dass er tun kann, was er will, dass ihm ein Menschenleben völlig gleichgültig ist. Als wollte er uns zeigen, wie mächtig er ist, dass er es sich erlauben kann, Menschen zu entführen, nur um sie als Boten zu benutzen, als brauchte er bloß mit den Fingern zu schnippen, um zu bekommen, was er will. Die Welt ist seine Vorratskammer, er braucht sich nur daraus zu bedienen. In gewisser Weise hält er sich für Gott.«
»Ich habe in einem Buch gelesen, dass genau das oft das Problem bei Serienmördern ist«, warf Sheriff Murdoch ein. »Sie streben nach totaler Kontrolle und Macht, indem sie ihre Opfer entmenschlichen. Ich finde es idiotisch, so was zu schreiben, wie kann man denn …«
Annabels Handy summte. Sie trat ein wenig beiseite und nahm das Gespräch an. Es war Joshua Brolin.
»Wir müssen uns sehen, es ist wichtig«, erklärte er.
»Ich muss noch ein paar Personen befragen, die Freunde des Mädchens, das heute Nacht aufgefunden wurde. Danach komme ich zurück.«
»Vergessen Sie das, wir müssen uns unbedingt sprechen.«
»Was macht Sie so sicher, dass …«
»Ich bin in einer Stunde vor Ihrer Wohnung. Bis gleich.«
Er beendete das Gespräch.
Annabel erholte sich kurz von ihrer Überraschung und kehrte dann zu Murdoch zurück.
»Ich … Ich muss leider los, Sheriff. Sie haben ja meine Nummer. Wenn es noch etwas gibt, rufen Sie mich bitte an.«
Murdoch zuckte mit den breiten Schultern, und die junge Frau kehrte zu ihrem BMW zurück. Sie schaltete den CD-Player ein, und die sanfte Trompete von Miles Davis erklang.
Auf der Fahrt erhielt Annabel einen Anruf von Jack Thayer. Schlechte Nachrichten. Erstens, mehrere der Skelette wiesen eine schreckliche Besonderheit auf: Man hatte den oberen Teil des Schienbeins abgetrennt. Nicht allen, aber bei fast einem Viertel der Erwachsenen. Bei den Kindern jedoch nicht. Außerdem waren nicht alle Skelette vollständig, es fehlten mehrere Schädel, Oberschenkel und Brustkörbe. Zweitens, und das war auch kein gutes Zeichen, waren die Federals vor Ort aufgetaucht. Angesichts der Umstände – wiederholte grenzüberschreitende Entführungen und schließlich zwei Feds unter den identifizierten Opfern – bestand das FBI darauf, in die Ermittlungen einbezogen zu werden. Bislang hatten sie sich zurückgehalten, doch jetzt, da sie durch die Entdeckung des Waggons über genügend Indizien verfügten, betraten sie die Bühne für den letzten Akt, um die Lorbeeren zu ernten. Noch hatte das FBI die Ermittlungen nicht offiziell übernommen, doch das war nur eine Frage der Zeit. Die Medien machten immer mehr Druck, je mehr vom Ausmaß der Entführungen bekannt wurde.
Durch das nächtliche Polizeiaufgebot alarmiert, liefen in der Region von Montague unermüdlich die Fernsehkameras. Wenn Bob sein Fernsehgerät eingeschaltet hatte, wusste er nun, dass sein kleiner Spielplatz aufgeflogen war. Nach der Warnung der letzten Nacht fürchtete Annabel seinen Zorn. Laut verfluchte sie die Journalisten und dann auch die G-Men1. Wenn das FBI die Ermittlungen an sich riss, würde das NYPD mit aller Macht Druck ausüben, denn schließlich hatten die New Yorker die ganze Drecksarbeit gemacht, sich die Nächte um die Ohren geschlagen und alles andere …
Hundemüde, aber noch immer entschlossen, nichts herzugeben, auch wenn das FBI schon vor der Tür stand, verabschiedete sich Thayer mit ein paar ermunternden Worten von seiner Kollegin.
Annabel blickte von der Verrazano Bridge auf die graue Bucht und fuhr nach Brooklyn Heights. Als sie vor ihrem Haus aus dem Wagen steigen wollte, öffnete ihr eine Hand galant die Tür.
»Ich habe soeben im Radio einen gewissen Sheriff Tuttle aus Montague gehört«, sagte Brolin. »In einer knappen Pressemitteilung berichtete er von der Entdeckung eines Massengrabs. Ich habe den Eindruck, dass ihm eingeflüstert wurde, was er sagen durfte und was nicht. Zum Glück hat er keine Verbindung zu Ihren Ermittlungen hergestellt. Aber ich fürchte, es wird nicht lange dauern, und …«
Annabel zuckte mit den Schultern. Nun, da das FBI mit im Rennen war, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Feds die Führung übernehmen würden. Dann konnten die sich mit den Medien herumschlagen. Doch wie allen Cops gefiel es ihr überhaupt nicht, von den Ermittlungen ausgeschlossen zu werden.
Sie wandte sich zu Brolin um, ihre Zöpfe flatterten im Wind. Sie bemerkte den Hund im Hintergrund, der sie neugierig beobachtete. Brolin war ins Hotel gegangen, um ihn abzuholen.
»Was wollen Sie mir denn so Wichtiges erzählen?«, begann sie unverzüglich. »Ich war gerade in Phillipsburg bei Sheriff Murdoch. Sie haben einfach aufgelegt, ohne eine Erklärung. Wenn ich es so machen würde wie Sie, hätte ich Sie hier vor der Tür stehen lassen müssen.«
Ein Anflug von Belustigung huschte über seine Lippen. Sie war überhaupt nicht wütend. Sie hat einen starken Willen, das ist alles, und sie mag es nicht, wenn sie nicht alles im Griff hat …
»Kommen Sie, wir müssen reden.«
Er zog sie in eine Parallelstraße, eine Fußgängerpromenade mit Blick auf die Bucht und auf Manhattan. Seit September war das Geländer mit dreifarbigen Blumensträußen, Staatsflaggen sowie den Fotos der bei der Katastrophe getöteten Personen geschmückt. Die Attentate hatten neben einer beispiellosen Etaterhöhung für sämtliche Nachrichtendienste auch zu einer unglaublichen Welle des Patriotismus geführt. Das ganze Land hatte sich in die Nationalfarben gehüllt, selbst die M&Ms waren jetzt rot, blau und weiß.
»Annabel, was können Sie mir über diese Skelette in dem Waggon erzählen?«
»Wie bitte? Sie waren es doch, der mir etwas Wichtiges mitteilen wollte, oder?«
Sie gewöhnte sich allmählich an die charismatische Ausstrahlung ihres Begleiters und ließ sich nicht mehr so leicht verwirren. Trotzdem hatte Annabel den Verdacht, dass er seinen Charme zu seinem Vorteil einsetzte.
»Darauf komme ich gleich. Was wissen Sie über diese Leichen?«
Annabel seufzte.
»Okay. Nicht sehr viel, das habe ich Ihnen schon heute Morgen gesagt. Es sind die sterblichen Überreste von etwa sechzig Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Sie wurden schon als Skelette dorthin gebracht. Nach Aussage des Gerichtsmediziners war wenig oder gar kein Fleisch an den Knochen. Und gerade habe ich noch erfahren, dass bei manchen das obere Stück des Schienbeins fehlt.«
Brolin nickte. Das Paket an Malicia Bents.
»Hören Sie, ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt«, gestand Annabel. »Die Nachricht, die die junge Taylor trug, war an mich adressiert. Ich denke die ganze Zeit daran. Auf Ihren Rat hin habe ich bei meinem Vorgesetzten darauf bestanden, dass bei Pressemitteilungen, wenn denn unbedingt ein Detective erwähnt werden muss, mein Name genannt wird. Ich glaube, das hat funktioniert.«
»Haben Sie Angst?«
Annabel dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte sie den Kopf.
»Ich glaube nicht.«
»Bob brauchte einen Ansprechpartner bei der Polizei. Sie verkörpern diejenigen, die ihn verfolgen, das passt ihm nicht. Vielleicht fühlt er sich aber auch geschmeichelt. Ich denke nicht, dass er Sie persönlich bedroht, er attackiert den Apparat, dessen Symbol Sie sind. Seien Sie trotzdem vorsichtig.«
Annabel schaute den Hügel hinunter auf die Lagerhäuser und verlassenen Docks. Sie sog den kühlen Wind ein, der über ihr Gesicht strich.
»Wer ist Malicia Bents?«, fragte sie. »Sie haben heute Morgen von ihr gesprochen.«
»Ich denke, sie ist Bobs rechte Hand und in gewisser Weise seine Repräsentantin.«
Annabel sah ihn fragend an.
»Woher wissen Sie das?«
Brolin schilderte den Tempel im Lagerhaus von Red Hook, erzählte von dem Papierfetzen mit dem Namen Malicia Bents und danach von seinem Gespräch mit Freddy Copperpot.
»Wenn wir bei der Ausgangshypothese bleiben, dass Bobs Gruppe nur aus drei Personen besteht, dann ist Malicia Bents wie Janine Shapiro ein Faktotum des Verbrechens im Dienste der Gruppe.«
»Und wenn Malicia und Janine ein und dieselbe Person wären?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Diese Malicia ist ganz schön dreist, ihren kleinen Handel unter falschem Namen per Post abzuwickeln. Das alles passt nicht zu Janines Persönlichkeit. Ich sehe Janine als Werkzeug ihres Bruders, ein gebrochenes Wesen, das in seinem Kielwasser trieb. Nein, bei Malicia handelt sich um eine andere Frau, und sie muss in der Nähe von Phillipsburg leben, wo sie ihre Pakete entgegennahm.«
Saphir, der neben ihnen her trabte, lief plötzlich schneller und bog in einen Seitenweg ein. Sie folgten ihm und führten ihre Unterhaltung fort.
»Warum eine Frau? Was könnte ihr Motiv sein? Bei Janine war es der Bruder, aber bei Malicia?«
»Janine hielt sich für völlig wertlos, weil ihr Bruder es so wollte. Durch die ständigen Misshandlungen fand sie schließlich heraus, dass sie, wenn sie andere mordete oder folterte, selbst plötzlich alles war: stark, gefürchtet, mächtig. Nur darum hat sie ihre Rolle akzeptiert. Doch ein Teil ihrer selbst wollte das nicht, deshalb strich sie das Blut auf die Kirchenfenster. Sie suchte Vergebung oder, im Gegenteil, Strafe.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«, fragte Annabel verwundert.
»Nein, so empfinde ich die Situation. Ich kann mich irren, natürlich, es ist nur eine Deutung. Aber so ist es in vielen ähnlichen Fällen. Doch um auf Malicia Bents zurückzukommen, ich glaube, wir haben es hier mit einer ausgereiften, willensstärkeren Persönlichkeit zu tun. Erst wenn wir wissen, warum Bob seine Opfer so lange am Leben lässt, können wir auch Malicias Motivation ergründen.«
»Bob ist ein Psychopath!«, knurrte Annabel. »Er hat Taylor Adams sechs Wochen lang eingesperrt, bevor er sie mit einer Nachricht, die an ihre Brust geheftet war, wieder frei ließ. Er hat sie in den Wahnsinn getrieben! Sie macht den Mund nur noch auf, um zu schreien oder um zu sagen, dass sie in der Hölle bei den Dämonen war. Was, zum Teufel, macht er mit diesen Menschen?«
»Ich habe anfangs an Sexsklaven gedacht, doch nach den neuen Erkenntnissen über seine Persönlichkeit erscheint das nicht mehr logisch. Kommen Sie.«
Brolin zog die junge Frau in die Remsen Street, die sie hinuntergingen, unter dem Brooklyn-Queens-Expressway hindurch bis zum Gewerbegebiet am Ufer des East River. Saphir sprang fröhlich umher und schnüffelte an allem, was ihm vor die Nase kam. Der Hund schien in seinem neuen Leben aufzublühen. Das Trio lief über einen von Aluminiumzäunen gesäumten Weg, vorbei an einem verlassenen Gebäude und über einen verrotteten Holzkai. Um einige der Bretter, die gefährlich knarrten, machten sie einen Bogen und stiegen ein paar wurmstichige Stufen zum Ufer hinunter. Die Bucht lag majestätisch vor ihnen wie eine Quecksilberwüste, in der sich die tiefen rasch vorbeiziehenden Wolken spiegelten.
»Schauen Sie sich um, Annabel. Was sehen Sie?«, fragte der Privatdetektiv.
Als sie nicht antwortete, wiederholte er: »Schauen Sie sich um, sagen Sie mir, was Sie sehen?«
Ihr Blick streifte ihn und wanderte dann zu dem Wald aufragender Türme von Manhattan. Wie gigantische Raketen ragten sie in den Himmel. Gegenüber war das Ufer von New Jersey mit seinen Kränen in winterlichen Dunst getaucht. Hinter Annabel stieg der steile Hügel von Brooklyn Heights an, an dem weder Erde noch Bäume zu erkennen waren, nur von Menschen errichtete Bauten wie auf einem übervollen Monopoly-Spielbrett. Der Expressway zog sich wie ein schmutziges lärmendes Band hindurch. Die junge Frau hatte sich einmal um sich selbst gedreht. Das Plätschern der Wellen erregte ihre Aufmerksamkeit. Auf dem Wasser schwammen Plastiktüten wie industrielle Quallen. Dazwischen tänzelte ein leerer Kanister auf der Oberfläche, daneben dümpelte ein Kondom. Der Mensch war allgegenwärtig. Der siegreiche Eroberer einer wehrlosen Erde.
Annabel schaute gekränkt zu Brolin und sagte leise: »Ich weiß nicht … eine Landschaft … freudlos und trist?«
Brolin stimmte ihr mit einem leichten Nicken zu. Seine schwarzen Haarsträhnen umspielten seine Wangen. Er sprach ohne jede Emotion, eine bloße Feststellung.
»So sieht es aus: Industrialisierung, Umweltverschmutzung, aber darüber hinaus, was jeder von uns von früh bis spät sieht: Konsum, Konsumwahn, überall. Die Werbung überflutet uns mit immer mehr neuen Ideen, die sie noch heimtückischer macht und ihre Wirkung steigert. Tagtäglich sind wir mit einer Welt konfrontiert, die nur noch vom Marketing lebt, von der Analyse der Kommunikation, und zwar nicht mit einem menschenfreundlichen Ziel, o nein, es geht nur um Konsumsteigerung. Das ist das einzige Ziel dieser Gesellschaft, und da ist auch die Religion keine Ausnahme. Heute sind Glaubensrichtungen keine Überzeugungen mehr, sondern Entscheidungen! In Zeitschriften werden die Vor- und Nachteile der Religionen gegeneinander abgewogen. Man wählt eine spirituelle Richtung und kann sie mehrmals im Leben beliebig ändern. Religion ist nur noch Mittel zu einem besseren Leben. Man lebt nicht mehr für einen Gott, man glaubt nur zum eigenen Vorteil an ihn, er wird einem verkauft wie ein spirituelles Anxiolytikum, ein angstlösendes Mittel, das es für jedes Problem gibt.«
Annabel lehnte sich an einen der Brückenpfeiler und wartete, worauf der Privatdetektiv hinaus wollte.
»Wir leben nicht mehr, um reine Luft zu atmen«, fuhr er fort, »um zu lieben und die kurze Zeit zu genießen, die wir im Einklang mit der Natur auf Erden verbringen. Nein, wir gleiten allmählich in ein synthetisches Modell ab. Wir machen uns zu Robotern, definieren uns zunehmend über unseren Besitz und unsere Arbeitszeit. Schauen Sie, Annabel, schauen Sie sich um. Auf wen hören wir? Wer lenkt diese Gesellschaft? Wem gehorchen wir? Den Verbrauchern, den Produzenten, den Konformisten, den Robotern dieser Erde.«
Ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen. Annabel schüttelte den Kopf, sie teilte zwar grundsätzlich seine Auffassung, doch er ging trotzdem etwas zu weit. Sie unterbrach ihn: »Übertreiben Sie nicht, wir sind doch nicht in einem Science-Fiction-Film!«
»Nein, denn ein Roman, der vor einhundert oder zweihundert Jahren unsere aktuelle Welt beschrieben hätte, wäre zweifellos als absurd und als unvorstellbarer Horror abgetan worden. Sie finden, dass ich zu dick auftrage? Und doch ist das alles wahr. Früher lebte der Mensch oder überlebte, um Kinder zu bekommen, um eine Frau zu lieben. Früher glich die Gesellschaft einer Pyramide, oben die wenigen Herrschenden, unten die Beherrschten. Letztere wurden ausgebeutet, oft als Kanonenfutter benutzt. Die Lebenserwartung war gering. Die Menschen suchten ihr Glück in den einfachen Dingen des Lebens, lieben und am Leben bleiben. Das Wesentliche.
›Die da oben‹ hatten die Macht, mal mehr, mal weniger. Und sie hatten Zeit. Macht und Zeit ließen sie anspruchsvoll werden, sie wollten immer mehr, mehr Land, mehr Städte, mehr Frauen, mehr Untertanen, es war eine Welt des Krieges … Heute hat sich das alles geändert. Man wollte allen ein wenig Macht geben, und die wächst, je mehr Zeit man der Gesellschaft schenkt. Und der Mensch will immer noch mehr, immer mehr, er gerät in eine rasende Spirale. Die früheren Kriege wurden durch Arbeit ersetzt, die Schlachten fordern ebenso viele Opfer, doch sie sind weniger sichtbar. Diese Kriege töten kaum noch Menschen, sie töten die Menschheit.«
Brolin hielt kurz inne, der Bootsanleger nebenan schaukelte knarrend im Wasser. Dann fügte er hinzu: »Sie machen uns zu Maschinen.«
Mit einem gellenden, verzweifelten Schrei bekundete eine Möwe ihre Zustimmung.
Annabel fröstelte. Zum ersten Mal fasste jemand dieses Gefühl, das sie bewegte, in Worte. Diesen Eindruck, dass sich die Welt nach und nach selbst verlor. Doch sie übernahm die Rolle des Advocatus Diaboli: »Ich denke, Sie sehen zu schwarz. Viele Männer und Frauen sind in dieser Welt glücklich«, konterte sie.
»Natürlich. Sie kennen doch die Geschichte von dem Frosch, den man in kochendes Wasser taucht, oder? Kaum im Wasser, springt der Frosch mit einem Satz heraus. Setzt man ihn aber in lauwarmes Wasser und erhöht langsam, sehr langsam die Temperatur, so rührt sich der Frosch nicht, auch dann nicht, wenn das Wasser zu kochen beginnt, und dann ist es zu spät.«
Er holte zu einer weiten Geste aus und fuhr fort: »Genauso verhalten wir uns!«
Annabel kicherte, diesmal ging er wirklich zu weit.
»Wissen Sie, was Sie sind?«, sagte sie schließlich ohne jede Bosheit. »Sie sind paranoid und pessimistisch. Man muss doch Vertrauen in diese Gesellschaft, in dieses System haben.«
Brolin nickte traurig. Sie verkörperte genau das, was er gerade ausgeführt hatte.
»Caliban dominus noster … Erinnern Sie sich, Annabel. ›Caliban ist unser Herr.‹ Er ist das Produkt dieser neuen Welt. Genau das wollte Bob erschaffen.«
Sie schob ihre Zöpfe auf die andere Seite, um Brolin direkt anschauen zu können. Der betonte noch einmal: »Caliban ist der Preis, den diese Gesellschaft bezahlen muss, das Abfallprodukt ihrer Wahl. In einem System latenter Perversität ist er das Ergebnis.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Ja. Es ist uns gelungen, die Liebe zu einem Konsumgut zu machen. Man probiert hier und dort, sammelt die Opfer, heiratet überhastet, einfach so, aus einer Laune heraus, um gleich danach die Meinung zu ändern. Bob ist das Kind all dessen, einer Welt der Konsummaxierung. Ein Kind, das allein aufgewachsen ist, gespeist mit der Gewalt des Fernsehens, der Medien, des herrschenden Zynismus und dessen Schreie der Angst, der Verzweiflung, der Einsamkeit nie gehört wurden. Jetzt ist es zu spät. Bob ist mit diesem Konsummodell aufgewachsen, die Macht liegt in dem, was man besitzt. Man baut sich selbst auf, indem man notfalls die anderen niedertritt. Heute zeigt uns Bob, wie gut er seine Lektion gelernt hat. Er häuft an, er sammelt, er hat die Macht. Er hat sich Caliban als Emblem geschaffen, als zynisches Symbol unserer modernen Mängel.«
Annabel schreckte auf.
»Was? Wollen Sie behaupten, dass das der Grund ist? Dass er all das tut, um zu haben!«
»Nein, Annabel, um zu sein. Er hat sehr genau verstanden, was ihn diese Welt jeden Morgen lehrt: Um zu sein, muss man haben. Man muss eine Sozialversicherungsnummer haben, einen Führerschein, ein Haus, eine Frau oder einen Mann, Kinder, einen großen Fernseher, immer mehr und immer wieder neue Kleidung, neue CDs, Geld auf dem Konto, um in Urlaub fahren zu können, um anderen aus purem Vergnügen Geschenke zu machen. Genau das hat Bob verstanden.«
Brolin starrte auf einen Haufen angeschwemmter Plastiktüten und fügte dann hinzu: »Aber er erhebt sich über die anderen, er besitzt Menschen, ihr ganzes Leben. Für sich allein.«
Annabel runzelte die Stirn; eine solche Motivation konnte sie sich nicht vorstellen.
»Das ist ja total verrückt!«
»In gewisser Weise nicht verrückter, als sein ganzes Leben einem Unternehmen zu schenken, um einige Jahre vor der Rente hinausgeworfen zu werden …«
Annabel schluckte mühsam. Plötzlich fragte sie sich, ob Brolin wirklich dachte, was er sagte. Sie suchte eine Antwort in seinen verzweifelt leeren Augen.
»Vergessen Sie die Tätowierungen nicht«, fuhr er fort. »Bob kennzeichnet seine Opfer mit einem Strichcode, er verwandelt sie in Konsumgüter, in Waren, die ihm dann offenbar gehören.«
»Das kann ich nicht glauben, es muss noch etwas anderes geben …«
»Möglicherweise«, meinte er und zuckte mit den Schultern.
»Und die Skelette? Warum reduziert er sie zu Skeletten? Und dieses Paket, von dem Sie sprechen, warum tauschen sie die Teile aus?«
»Wenn Sie etwas Neues haben, zeigen Sie es Ihren Freunden, oder? Genau das tun sie, denke ich. Das Fleisch und die Organe sind die Essenz des Lebens, verfallen aber nach kurzer Zeit, die Knochen sind haltbarer, enthalten Mineralstoffe, überdauern die Zeit. Ein Stück von jedem, um ein Leben zu symbolisieren. Genau weiß ich es natürlich auch nicht, das alles ist nur Theorie … Aber sie hat Hand und Fuß.«
Angesichts dieser finsteren Betrachtungen ließ sich Annabel auf einen großen Stein sinken und streichelte den Hund.
»Gut, und wie können wir Bob fassen?«, fragte sie mit leicht ironischem Unterton.
»Auf dem Zettel, den ich gefunden habe«, fuhr Brolin fort, »wird ein Hof der Wunder erwähnt. Kennen Sie den?«
Annabel musterte ihn mit einem seltsamen Leuchten in den Augen.
»Der Hof der Wunder von Babylon. Ich habe davon gehört. Das können Sie vergessen.«
Brolin runzelte die Stirn. Annabel erläuterte: »Das ist ein Mythos, nichts weiter, eine Legende.«
»Und was besagt sie?«
»Sie kennen doch diese Legenden, diese Geschichten, die jeder gehört, die aber niemand erlebt hat, für die es keine Beweise gibt. Wie, äh … wie diese Albinoalligatoren, die angeblich seit zwanzig Jahren in der Kanalisation der Stadt leben, die aber noch nie jemand gesehen hat. Diese Art Storys.«
»Wo kann ich mich darüber informieren?«
»Nirgends und überall, wie gesagt, es ist eine Geschichte, die erfunden wurde, um anderen Angst zu machen.«
»Annabel, und wenn es nun keine Legende wäre?«
Sie holte tief Luft und warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.
»Alle Polizisten von New York können Ihnen bestätigen, dass das nur Blödsinn ist … Aber wenn Sie unbedingt wollen, kann ich Sie mit einer Person bekannt machen, die daran glaubt. Sie hat mir davon erzählt, aber wenn Sie das hören, werden Sie entsetzt sein. Denn wenn es diesen Hof der Wunder wirklich gäbe, dann wäre es das Vorzimmer zur Hölle.«
Lächelnd streckte sie ihm die Hand entgegen.
Brolin ergriff sie und half ihr beim Aufstehen.
1 G-Men: Agenten des FBI