26
Den Gesetzen des Winters folgend, hatte es früh morgens wieder angefangen zu schneien. Ganz sanft und mit hypnotischer Monotonie rieselte der Schnee vom Himmel. In seine Jacke eingehüllt, wartete Brolin in dem Wagen, den er gemietet hatte. Er parkte zwischen Dahill Road und West 50th Street, etwa dreißig Meter von Shapiros Haus entfernt. Es war ein trostloses Wohnviertel, weit und breit kein Garten, nichts als graue, einfallslose Bauten, ein oder zwei Stockwerke hoch mit tristen Fassaden und Fensteröffnungen so schwarz wie Sonnenbrillen. Das Haus von Shapiro stand etwas abseits, am Ende einer Sackgasse – ein schmaler einstöckiger Bau mit vergitterten Fenstern und Stacheldraht auf dem Dach. Es grenzte an ein Brachland, auf dem ein alter, halb eingefallener Schuppen mit obszönen Sprüchen und Zeichnungen an einer Wand sein Dasein fristete.
Es war kalt, und Brolin versuchte, mehr recht als schlecht seine Hände zu wärmen, indem er sie in seine Jackentaschen steckte, statt sie aneinander zu reiben. Er hatte absichtlich ein altes, zerbeultes Auto ausgewählt, um in einem Viertel wie diesem nicht aufzufallen, was allerdings zur Folge hatte, dass die Standheizung nicht mehr funktionierte. Brolin erinnerte sich an eine Anekdote, die sein Großvater über die Belagerung von Stalingrad im Zweiten Weltkrieg erzählt hatte. Um sich aufzuwärmen, machten die Deutschen eifrig Freiübungen und waren ständig in Bewegung. Die Russen auf der anderen Seite rührten sich nicht. Unendlich viele Soldaten des Reichs starben den Kältetod. Brolin konnte sich noch erinnern, wie sich sein Großvater zu ihm geneigt und geflüstert hatte, als handelte es sich um ein Geheimnis: »Die Russen wussten nämlich, dass sich die Luftschicht zwischen ihrer Haut und ihren Kleidern durch die eigene Körperwärme aufheizen würde, wenn sie sich möglichst wenig bewegten. Die Deutschen dagegen mit ihren ständigen Übungen ließen kalte Luft in diesen Zwischenraum eindringen.«
Die Arme fest an den Oberkörper gepresst, konzentrierte sich Brolin darauf, die Temperatur von besagter Thermoschicht zu erhöhen, und starrte dabei auf die Sackgasse. Shapiros Haus war das letzte vor dem Brachland, das durch einen Zaun abgetrennt war. Ein schmaler Fußweg führte durch das Terrain zu einem Supermarkt auf der anderen Seite, der durch eine leichte Erhebung und ein paar verkrüppelte Bäume halb verdeckt war. Weit und breit keine Menschenseele. Das Gelände war mit Schrott und Gerümpel übersät, irgendwo rostete sogar ein alter Van vor sich hin. Brolin fragte sich gerade, auf welchem Weg er sich am besten Zugang zu dem Haus verschaffen könnte, als an sein Seitenfenster geklopft wurde. Er zuckte zusammen.
Ein vertrautes Gesicht neigte sich zu ihm herab.
Die Zöpfe unter einer Baseballkappe versteckt, sah ihn Annabel lächelnd an. Er öffnete die Fahrertür.
»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt! Was machen Sie hier?«
Er blickte sich um und fürchtete fast, Dutzende von Polizisten zu sehen, die gleich losstürmen würden, um Lucas Shapiro zu verhaften.
»Keine Sorge, ich bin solo hier. Ich konnte nicht schlafen bei der Vorstellung, Sie diesen Blödsinn …«
»Wir haben schon darüber gesprochen, ich bitte Sie nur …«
»… allein machen zu lassen. Ich begleite Sie.«
Brolin rang die Hände.
»Wie stellen Sie sich das vor? Sie setzen Ihren Job aufs Spiel. Nein, das ist meine Sache. Wenn da drinnen irgendetwas passiert und man Sie findet, dann …«
»Ich komme nicht mit rein; ich bleibe hier zum Aufpassen. Jetzt seien Sie still und hören mir mal gut zu. Ich habe über die ganze Sache nachgedacht – Sie haben Recht. Menschenleben zu retten, das ist die oberste Priorität. Also durchsuchen Sie das Haus, und wenn Sie das geringste Indiz gegen Shapiro finden, dann informieren Sie mich, aber rühren Sie nichts an. Gibt es keine Beweise, werde ich ihn auch nicht festnehmen und das Risiko eingehen, dass er gleich wieder freikommt, ohne uns von seinen Freunden erzählt zu haben. In diesem Fall werden wir ihn diskret überwachen lassen. Ich kann nicht wissen, ob es Indizien oder Beweise bei Shapiro gibt, solange wir uns nicht umgesehen haben … Was ich nicht auf legalem Wege machen kann, ohne dass Shapiro es erfährt. Sagen wir, dies ist ein Sonderfall, eine Ausnahmeregelung, die nur Sie und mich etwas angeht.«
Sie zwinkerte ihm zu.
»Steigen Sie ein, sonst sieht er uns noch.«
Annabel nahm auf dem Beifahrersitz Platz und öffnete ihre Handtasche.
»Meine Kollegen sind heute Morgen in der St. Edwards Church und verhören den Priester, den Sie gesehen haben. Hier, nehmen Sie das.«
Sie reichte ihm einen Kopfhörer und ein ansteckbares Mikro, die mit einem Walkie-Talkie verbunden waren.
»Ich habe sie im Revier ausgeliehen. So können wir in Kontakt bleiben.«
Diese Frau war wirklich clever, dachte Brolin bei sich. Er musste zugeben, dass er mit einer derartigen Wendung nicht gerechnet hatte. Allein die Tatsache, dass sie hier in diesem Auto vor Shapiros Haus saß, konnte sie teuer zu stehen kommen. Sie verfügte über wichtige Informationen, von denen sie ihre Kollegen nicht in Kenntnis gesetzt hatte.
Wenige Minuten später tauchte ein beigefarbener Lieferwagen – Shapiro am Steuer – aus der Zufahrt auf, die hinter das Haus führte. Als er in die Straße einbog, duckte sich Brolin und legte den Kopf auf Annabels Schenkel.
»Sorry«, entschuldigte sich der Privatdetektiv und richtete sich wieder auf, »aber er durfte mich auf keinen Fall sehen.«
»Kein Thema, hier ist wirklich Vorsicht geboten.«
»Bleibt noch Janine, seine Schwester. Ich habe mich erkundigt, sie arbeitet heute Morgen, doch ich weiß nicht, wann genau. Ein Cop muss eben Geduld haben …«
Annabel zog die Augenbrauen hoch.
Sie warteten noch knapp drei Stunden, bis Janine Shapiro endlich das Haus verließ. Eine winzige, zierliche Person mit Bubikopf und einem zwei Nummern zu großen Mantel. Auffallend langsam lief sie über den Gehweg, bevor sie in die Straße einbog, die zur U-Bahn führte.
»Warum sollte eine Frau so etwas machen?«, fragte Annabel. »Lucas Shapiro ist ein grausamer Vergewaltiger, aber seine Schwester? Was gewinnt sie dabei? Sie wird doch nicht ähnlich abartig veranlagt sein?«
»Bei Mördern, die als Duo operieren, gibt es fast immer einen Dominierenden und einen Dominierten. Es ist anzunehmen, dass Lucas Shapiro seine Schwester durch seine Körpergröße und seinen Charakter seit jeher beherrscht hat. Er hat sie in ihrer Kindheit sicher misshandelt, um sie gefügig zu machen. Vielleicht hat er sie sogar vergewaltigt. Allein an ihren Bewegungen sieht man, dass sie zerbrechlich ist und nicht das geringste Selbstvertrauen hat. Das hat ihr Bruder sicherlich ausgenutzt und ihr ständig eingeredet, dass sie zu nichts nutze sei, dass aber zum Glück er da sei, um für sie zu sorgen. Er hat alles getan, um sich im Leben seiner Schwester unentbehrlich zu machen. Sie leben zusammen, obwohl sie schon um die dreißig sind, also konnte er, selbst als er im Gefängnis war, weiter Einfluss auf sie ausüben. Ich weiß eigentlich nichts Genaues, das sind reine Vermutungen. Doch viele Verbrecher-Duos funktionieren so.«
»Aber deshalb gleich töten? Das kommt mir trotzdem verrückt vor!«
»Mich wundert gar nichts mehr. Wollen Sie ein Beispiel? Paul Bernado und Karla Homolka in den 90er-Jahren. Sie heiraten, und Karla ist bereit, ihrem Mann die eigene kleine Schwester auszuliefern, damit er sie vergewaltigt. Karla selbst hat sie mit Drogen voll gepumpt und die Szene gefilmt; die Kleine ist daran gestorben. Das haben sie mit mehreren Opfern wiederholt, bis sie festgenommen und verurteilt wurden. Solche Geschichten gibt es massenweise. Massenweise …«
Nach einem kurzen Schweigen sagte Annabel mit sanfter, aber leicht bitterer Stimme: »Irgendetwas stimmt nicht mehr mit der Welt. Ich hab manchmal den Eindruck, es wird immer schlimmer.«
»Die Welt kann nichts dafür, die Schuldigen sind die Menschen.«
Sie wechselten einen verständnisvollen Blick. Die Polizisten werden täglich Zeugen des menschlichen Wahnsinns, und dabei sind sie schrecklich einsam. Diese beiden verstanden sich – und das tat gut.
Sie ließen noch eine halbe Stunde verstreichen, um sicher zu gehen, dass Janine Shapiro nichts vergessen hatte und nicht zurückkommen würde. Dann stieg Brolin aus und beugte sich zu seiner unerwarteten Verbündeten hinab.
»Es ist bald Mittag, Shapiro kommt oft zum Essen her. Da er durch ganz Manhattan und Brooklyn fahren muss, kann er vor dreizehn Uhr nicht da sein. Geben Sie mir um zehn vor ein Zeichen. Der Schlüssel steckt in der Zündung. Wenn es irgendein Problem gibt, fahren Sie einfach los. Sie kümmern sich nicht um mich, verstanden?«
Annabel nickte.
»Frequenz sieben«, sagte sie und wies auf das Walkie-Talkie, das aus Brolins Jackentasche schaute.
»Bis später.«
Er deutete ein freundschaftliches Lächeln an, das die junge Frau richtig verstand, und überquerte im Laufschritt die Straße.
Der Countdown lief.