36

Mit Einbruch der Dunkelheit fiel der Schnee in immer dichteren Flocken, und das Viertel Red Hook duckte sich in den Schutz seiner Schornsteine, Docks und Lagerhäuser. Das Gebäude, das Brolin unter die Lupe nehmen wollte, lag inmitten dieser weißen Schwaden. Die roten Ziegelsteine verschmolzen mit dem Dunst, der wie ein Perlendiadem für eine Nacht die Stadt beherrschte. Der Privatdetektiv hatte die Zeit in einer schmuddeligen Bar totgeschlagen, die höchstens ein Dutzend Stammkunden im ganzen Jahr bewirtete, und einen Pfefferminztee nach dem anderen getrunken.

Jetzt lehnte er an dem Autowrack vor dem Lagerhaus, in dem Bob und seine teuflische Sekte zweifellos ihre Messen abgehalten hatten.

Im Schutz des dichten Schneetreibens kletterte Brolin auf eine der Verladerampen. Tagsüber hatte er seitlich einen Zugang ausgemacht, den er vielleicht benutzen konnte.

Diskretion war wie immer höchstes Gebot – eine leichte Aufgabe bei diesen Wetterverhältnissen. Brolin suchte nach einem Mauervorsprung, von dem aus er sich auf das weiter oben erkennbare Sims stemmen könnte. Kurz darauf befand er sich auf dem Dach über dem Kai. Der mächtige Schatten, der von den oberen Stockwerken auf ihn fiel, schützte ihn vor dem Wind. Gebückt lief er zum anderen Ende. Wie erwartet, erstreckte sich dort ein betonierter Innenhof, ebenso alt wie der Rest des Gebäudekomplexes. Der Kanal mit seinem grünlichen Wasser begrenzte den Lagerplatz. Brolin sprang auf der anderen Seite in das hohe Gras, das in den Ritzen zwischen den Platten wucherte, und suchte nach einer Tür, die er auch gleich fand. Jetzt hatte er alle Zeit dieser Welt, denn hier konnte ihn niemand entdecken.

Mit einem Dietrich machte sich Brolin an dem Schloss zu schaffen – eine Kunst, in der er nicht eben begabt war. Bisweilen wünschte er, Houdini entstiege noch einmal seinem Grab. Dieses Mal brauchte er gute zehn Minuten, um mit seinen steifen Fingern die Eisentür zu öffnen.

Mit einem dumpfen Geräusch fiel sie hinter ihm zu, und er stand in undurchdringlichem Dunkel.

Brolins Leuchtstift warf einen dünnen Lichtschein in den Raum, wie ein winziger weißer Strich auf einer Schiefertafel. Der glitzernde Staub tanzte in dem Lichtstrahl. Zu seiner Rechten stand ein hoher Stapel Holzkisten, die in der Feuchtigkeit verrotteten und zerfielen. Er machte ein paar Schritte zwischen durchgeweichten Kartons und verschiedenen Abfällen. Plötzlich ein Knarren an der Decke.

Brolin blieb stehen, die Hand an seiner Glock.

Wieder ein Knarren, diesmal etwas gedämpfter.

Er hob den Kopf und sah, dass das Dach teilweise aus dickem, aber lichtdurchlässigem Kunststoff bestand.

Das ist nur der Schnee, Idiot, das Gewicht des Schnees.

Mit dem Gefühl, sich auf einer alten Galeone zu befinden, nahm er seinen Rundgang wieder auf – Knacken, Knarren, Kratzen und überall Feuchtigkeit. Nachdem er zwei große Räume durchsucht hatte, kam er in einen schmalen Korridor, der aus dem länglichen, flachen Lagerhaus in den höheren Teil des Gebäudes führte. In einem Winkel türmten sich Farbeimer, weiter hinten entdeckte er einen Haufen Isoliermaterial für Elektrokabel, das voller Löcher oder mit eingetrocknetem Gips überzogen war. Der Lichtstrahl war zu dünn, als dass er hätte erkennen können, was sich weiter hinten befand, denn der Raum wirkte plötzlich riesengroß.

Geh langsam und gründlich vor, denk daran, was Dr. Folstom in Portland immer gesagt hat: »Man muss technisch arbeiten.« Mach dich frei von deinen Gefühlen, lass dich nicht entmutigen.

Vor seinem geistigen Auge tauchte Rachel Faulets lächelndes Gesicht auf. Er kannte die junge Frau nur aus den Schilderungen der anderen und von Fotos her, doch er hoffte für ihre Familie, dass sie noch lebte, irgendwo.

Für sie, für all die anderen. Konzentriere dich. Wo würde sich Bob einrichten? Besser gesagt, wo würde er einen Tempel zu Ehren und zum Ruhm von Caliban errichten?

Er ging rasch noch einmal alles durch, was er über Bob und diesen Namen »Caliban« wusste. Über Letzteren herrschte noch immer Unklarheit, eine seltsame Vorstellung, fast eine Gottheit. Der lateinische Psalm war in dieser Hinsicht völlig eindeutig. Wahrscheinlich war Bob ein Egozentriker wie viele Kriminelle seiner Art, bezog alles auf sich, hielt sich für eine Art von Guru.

Was noch?

Er ist nicht mehr ganz jung, mindestens dreißig, und hat Leute wie Shapiro und Lynch geschickt manipuliert. Er hat keine Vorurteile hinsichtlich Rasse und Geschlecht seiner Opfer, das heißt, er tötet nicht aus sexueller Lust, zumindest nicht nur und nicht unmittelbar. Er glaubt an das, was er tut, er ist größenwahnsinnig. Er hat Caliban und das ganze Drumherum einfach erfunden. Wenn er etwas Grandioses gewollt hätte, so hätte er einem großen Raum den Vorzug gegeben, der feierlicher wirkte. Und er ist vorsichtig, hinterlässt keine Spuren, wurde nie gesehen, achtet sehr auf seine Vorgehensweise, wenn er seine Opfer entführt. Er ist intelligent, bestimmt auch leicht paranoid. Er hat sicherlich einen möglichst abgelegenen Raum gewählt, also oben.

Der rote Ziegelbau, der zu dieser Lagerhalle gehörte, war über fünfzehn Meter hoch, also hoch genug, um andere Gebäude zu überragen, sie von oben zu beherrschen.

Während Brolin nach einer Treppe suchte, glitten seine Gedanken in die Abgründe des Bösen, des Verbrechens. Er dachte an all das, was er gesehen, gelesen und in seinem Polizistenleben gehört hatte. Tausende Bilder verstümmelter Leichen, Großaufnahmen von klaffenden Wunden in den Autopsieberichten, entstellte Körper, denen das Leiden aus allen Poren quoll. Diese Berge offenen Fleisches vor seinen Augen, an den Tatorten oder im Leichenschauhaus. Diese Tonbänder, auf denen Mörder den langsamen Tod einer Frau oder eines Kindes aufgezeichnet hatten. Manchmal drehten diese Ungeheuer Videos: Sie zeigten Opfer, denen bewusst war, dass sie schrecklich leiden, dass sie sterben würden, und die trotzdem noch hofften, bis sie durch das eigene Blut nichts mehr erkennen konnten; sie zeigten, wie sich dann der Blick veränderte und flehte, dass all dies aufhören und der so erschreckende Tod zu Hilfe eilen möge. All das und vieles mehr.

Er kam an einer Luftschleuse vorbei und hörte das Klirren einer Kette. Dann das entsetzliche Heulen einer Frau. In einem Flash, einem roten, weiß geäderten Bild nahm Brolin einen verzerrten Mund wahr, auf dem Kinn durch all die Schläge verschmierter Lippenstift. Das Schreien setzte sich fort, wurde lauter und unmenschlich. Nur an der Grenze zum Tod, im Reich des Leidens, ist solches Schreien möglich. Unter der dünnen rosa Haut bildeten sich purpurne Flecke. Die Mundwinkel wurden rissig und platzten plötzlich auf. Die roten Furchen frästen sich durch beide Wangen, erreichten die Ohren, ein teuflischer Mund gierte nach verbotenen Früchten. Blutstropfen bildeten sich, die zähe Flüssigkeit rann über das Kinn, eine infernalische Parodie der Clownsmaske.

Ein weißer Blitz verscheuchte das Bild. Brolin keuchte.

Seit Jahren litt er unter diesen imaginären Schreckensbildern, die unvermittelt und unkontrollierbar auftauchten. Das hatte natürlich nichts mit den plötzlichen Vorahnungen zu tun, die Profiler in Fernsehserien oft haben, all das war Quatsch. Diese Erscheinungen waren sehr viel realer, entstanden aus seiner Persönlichkeit und seinen Erfahrungen. Sie führten aber zu nichts, höchstens in den Wahnsinn.

Mit einer angewiderten Geste verscheuchte er sie, schloss die Augen und kniete sich auf den Boden, bis er wieder zu seinem inneren Gleichgewicht zurückgefunden hatte.

Die Geräusche des Lagerhauses hallten in einem endlosen Gang wider.

Brolin setzte seinen Weg fort, leuchtete mit seinem Lichtstrahl in alle Winkel. Ein Luftzug strich an seinen Schläfen vorbei. Es gab hier so viele Löcher, verrostete Öffnungen und zerbrochene Fenster, dass daran nichts Ungewöhnliches war. Das Pfeifen des Windes setzte wieder ein, abgehackt. Das Gebäude atmete. Stoßweiser Atem.

Um seinen Weg besser finden zu können, tastete sich Brolin an den Wänden entlang. Fast erwartete er, dass sie sich unter seiner Hand hoben und senkten. Er fühlte beinahe die laue Wärme, die langsam wieder in dieses Gemäuer zurückkehrte. Er befand sich im Rachen des Ungeheuers, trat auf seine Eingeweide. Jeden Augenblick konnte es ihn verschlingen.

Der Lichtstrahl fiel auf ein metallenes Geländer: die Treppe.

Joshua fuhr mit der Hand darüber, und das Rückgrat des Ungeheuers erbebte in einem Klirren. Der pfeifende Atem strich über sein Haar. Eiskalt.

Er setzte den Fuß auf die erste Stufe, zögerte dann aber. Die Treppe führte in die Tiefe, in den Keller.

Bob ist vor allem vorsichtig. Unten ist keine Luke, kein Kellerfenster, nichts lässt Lärm durch, es ist ruhig geschützt!

Er ging hinab. Es schadete ja nicht, unten anzufangen. Seine Schritte auf dem Metall der Stufen hallten durch das ganze Gebäude. Unter der Erde war die Atmung des Lagerhauses verhalten, man fühlte sich besser aufgehoben.

Eine Reihe von Räumen, die meisten leer. Rohrleitungen an den Wänden und am Ende ein riesiger Heizkessel, das schlafende Herz des Ungeheuers. Brolin hob den Kopf.

Er kehrte in den vorherigen Raum, der im Gegensatz zu den anderen nicht völlig leer war, zurück. Überall lagen aufgerissene Kartons herum, die den Boden wie grobes Linoleum bedeckten. Brolin hob da und dort ein Stück Pappe hoch. Ein paar zerquetschte Insekten, nichts Besonderes. Trotzdem hatte er das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Fensterlose Mauern, geschützt unter der Erde, inmitten eines Labyrinths, sehr günstig für eine überstürzte Flucht.

Die bedrückende Atmosphäre eignete sich außerdem für Rituale und bizarre Zeremonien. Brolin stellte sich Bob und seine Schergen nicht als Jünger Satans vor. Sie machten ganz andere, viel konkretere Dinge.

Sie hatten die Kartons ausgelegt, damit sie das Blut bei dem Gemetzel aufsaugten.

Die Lampe richtete ihr inquisitorisches Auge auf den Boden. Alles war so verfault und vermodert, dass keinerlei verwertbare Spuren geblieben waren. Joshua suchte dennoch weiter, bis er ein paar zerknüllte Zettel entdeckte. Drei zerrissene Papierknöllchen, die zwischen zwei Kartonteile gerutscht waren. Der eine Zettel war ein Flugblatt mit Werbung, von dem praktisch nichts für eine eventuelle Auswertung übrig geblieben war. Das andere …

Aus dem Korridor hinter Brolin drang ein dumpfes Geräusch.

Dieses Mal war es nicht das Ächzen des Gebäudes, sondern jemand, der an etwas gestoßen war. Der Privatdetektiv zog vorsichtig seine Waffe und richtete sich auf. So leise wie möglich schlich er an der Wand entlang, um in den Gang blicken zu können. Er atmete tief durch und warf sich, Lampe und Waffe vorgestreckt, mit dem ganzen Körper ins Unbekannte.

Nichts.

Mit großen Schritten drang er ins Dunkel vor, die vom Stress erzeugte Hitze durchflutete seinen Körper.

Plötzlich tauchte im fahlen Licht seiner Lampe ein Schatten auf, dem unmittelbar hämmernde Geräusche auf der Metalltreppe folgten. Brolin stürzte los. Er hoffte, dass es ein Obdachloser war, jemand, der vielleicht etwas beobachtet hatte. Tief in seinem Innern aber schrillten alle Alarmglocken, denn es konnte sich auch um ein sehr gefährliches Individuum handeln.

Brolin erreichte den Fuß der Treppe, als der andere sie gerade verließ. Augenblicke später befand er sich wieder im Erdgeschoss, in völliger Stille. Er hielt den Atem an, um besser hören zu können, und fühlte seine feuchte Handfläche an der Waffe.

Keine Spur von dem Eindringling. Rundherum Schatten und Fluchtwege in jede Richtung. Er konnte überall sein. Da drang ein kaum vernehmbares Rascheln an sein Ohr.

Brolin erkannte, was geschehen war, und wusste gleichzeitig, dass es zu spät war.

Der andere stand genau hinter ihm.

In Blut geschrieben
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