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Schneematsch verwandelte die Bürgersteige zu beiden Seiten der Flatbush Avenue in eine glitschige Rutschbahn, auf der sich die Neonbeleuchtung der Geschäfte trübe spiegelte.
Annabel drängte sich entschlossen durch die frühabendliche Menschenmenge. Billigläden reihten sich aneinander, eine endlose Kette von Uhren- und Klamottengeschäften, von Delis und Snackbuden, deren Fenster mit einer bräunlichen Fettschicht überzogen waren. Eigentlich hätte sie Jack in einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel begleiten sollen, denn ihre afroamerikanischen Ursprünge – durch das Blut ihrer Eltern zwar verwässert – waren noch deutlich erkennbar und lösten leichter die Zungen als das Auftauchen eines weißen Polizisten mit angespannten Gesichtszügen und lebhaften Augen. Dennoch blieb sie ihrem Ruf als Einzelgängerin treu und machte sich, getrieben von einer Eingebung, in einem Areal, das außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches lag, auf die Suche.
In den letzten vierundzwanzig Stunden hatten sich die Ereignisse überschlagen: die Anhäufung makaberer Indizien, erste Hinweise und Schlussfolgerungen. Annabel war sicher, dass das Ativan eine brauchbare Spur war.
Sie ging von einer einfachen These aus: Der Angreifer der Unbekannten – der Mann mit den Skalpen – lebte in diesem Viertel. Da sein Opfer nackt durch die Straßen gelaufen und nur in der Nähe der Pergola des Prospect Parks gesehen worden war, lag der Verdacht nahe, dass die Frau von irgendeinem Ort in der Nähe geflohen war, denn sonst wäre sie sicherlich auch anderswo bemerkt worden. Und wenn ihr Peiniger hier wohnte, war zu vermuten, dass er sich seine Medikamente in der Nähe besorgte. Von dieser Idee ausgehend, hatte sie im Branchenverzeichnis alle Drugstores des Viertels herausgesucht und bereits zwei Duane Reades einen Besuch abgestattet, allerdings erfolglos. Im ersten war seit über sechs Monaten kein Ativan mehr verkauft worden, und die Kunden waren zu alt, um verdächtig zu sein. Im zweiten war dieses Medikament seit mehr als einem Jahr nicht ausgegeben worden: Das Kings County Hospital befand sich in unmittelbarer Nähe, und die Patienten versorgten sich dort. Annabel hatte noch drei Adressen, die auf dieser Seite des Parks lagen, doch in Anbetracht der vorgerückten Stunde fürchtete sie, heute nicht mehr fertig zu werden. Sie betrat die CVS Pharmacy, die nächste Adresse auf ihrer liste. Vereinzelte Kunden inspizierten die Regale mit Vitaminpräparaten. Zwei schlecht ausgerüstete Touristen kamen hereingestürmt, um sich mit Lippenbalsam zu versorgen.
Annabel begab sich in den hinteren Teil der Apotheke, wo die verschreibungspflichtigen Medikamente ausgegeben wurden. Das Motto der Kette leuchtete in weißen Lettern auf rotem Untergrund: WIR HELFEN DEN MENSCHEN, LÄNGER BEI BESSERER GESUNDHEIT UND GLÜCKLICHER ZU LEBEN. Wie um das amerikanische Paradox hervorzuheben, lagen darunter in einem Metallregal unzählige Süßigkeiten: Twix, Baby Ruth, Hershey’s, nichts fehlte. Annabel konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und fragte sich, wie jedes Mal, ob es sich um Provokation oder um menschliche Dummheit handelte.
»Tut mir Leid, junge Frau, wir haben geschlossen, kommen Sie morgen zwischen neun und achtzehn Uhr wieder«, erklärte eine Stimme.
Annabel wandte sich um und zeigte dem Verkäufer im weißen Kittel, der hinter seinem Computer stand, ihre Dienstmarke.
»Es ist dringend«, erklärte sie.
»Na dann, was kann ich für Sie tun?«
»Haben Sie in letzter Zeit Ativan verkauft?«
Der Apotheker nickte erstaunt.
»Ja … ein wenig.«
Angesichts seiner Zögerlichkeit fügte Annabel eilig hinzu: »Es ist wichtig, es könnte um mehrere Frauenleben gehen. Bitte, ich brauche diese Informationen.«
»Ja, ich verstehe. Hm … Also ich habe zwei Kunden, die dieses Medikament beziehen, einmal eine Frau, die auf der Straße arbeitet und nicht mehr schlafen kann; seit dem elften September hat sie Angstzustände, ihr Bruder war dort als Feuerwehrmann eingesetzt. Der Zweite ist … nun, wie soll ich sagen, etwas eigenartig. Er nimmt es schon lange, er kommt regelmäßig mit seinem Rezept. Ein nervöser Typ. Wissen Sie, dieses Medikament wird hier selten verkauft, darum erinnere ich mich auch so gut. Warten Sie einen Moment, ich sehe nach, ob wir noch andere Patienten eingeschrieben haben.«
Er tippte auf seiner Tastatur und schüttelte den Kopf, während er las, was auf dem Bildschirm angezeigt wurde.
»Nein, das war in letzter Zeit alles.«
»Und wie sieht der nervöse Typ aus?«
»Er ist eher mager, ein Farbiger. Um ehrlich zu sein, ist er mir ziemlich unsympathisch, er grüßt nicht einmal.« Er wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. »Ah, da ist es ja, er heißt Spencer Lynch. L-Y-N-C-H.«
»Wie der Regisseur?« Angesichts der fragenden Miene des Apothekers winkte Annabel ab. »Haben Sie seine Adresse?«
Der Mann nickte heftig und schrieb einige Worte auf ein Blatt Papier, das er ihr reichte.
»Aber ich möchte keine Schwierigkeiten mit ihm haben, wenn Sie …«
Annabel legte den Zeigefinger auf die Lippen, trat einen Schritt zurück und warf einen kurzen Blick auf das Namensschild an seinem Kittel.
»Ich werde schweigen wie ein Grab, Vince«, flüsterte sie, ehe sie wieder in die kalte Abendluft trat.
Das Handy in der einen Hand, Spencer Lynchs Adresse in der anderen, bahnte sich Annabel ihren Weg durch den Menschenstrom, so schnell sie konnte, aber ohne zu rennen.
»Jack, die Adresse von dem Typen passt – gleich neben der Kreuzung Parkside und Ocean Avenue, auf derselben Seite wie der Lebensmittelladenbesitzer, der die Frau an diesem Abend hat fliehen sehen. Er könnte es sein, er heißt Spencer Lynch.«
»Überstürz nichts, wir werden uns das ansehen, dem Kerl einige Fragen stellen und dann weiter entscheiden, okay?«
»Aber wenn er diese Mädchen immer noch bei sich hat? Wenn er merkt, dass die Polizei ihn aufgespürt hat, könnte er sie umbringen.«
»Jetzt geh erst mal hin und warte auf mich. An der Ecke ist ein McDonald’s, geh hin und entspann dich ein bisschen. Ich muss noch ein paar Leute aufsuchen, in zwei Stunden bin ich da.«
Annabel versuchte, die Dinge zu beschleunigen, aber Thayer blieb hart, und sie beendeten das Gespräch. Sie war übererregt, das Adrenalin breitete sich in ihrem Körper aus und hielt sie in Schwung. Kurz darauf war sie bei der Adresse angekommen und trat auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig vor einen öffentlichen Fernsprecher. Sie tat so, als würde sie eine Nummer wählen, zog ein Notizheft heraus und schrieb irgendetwas auf. Immer Haltung bewahren, sagte sie sich, selbst wenn man sich unbeobachtet glaubt, kann man nie wissen. Sie warf einen Blick auf das Eckhaus am Parkside Court, in dem Lynch wohnte. Es war ein dreistöckiger ockerfarbener Bau mit breitem Gesims und einer rostigen Außentreppe, die sich vom Dach bis zu einem leer stehenden jamaikanischen Restaurant im Erdgeschoss zog. Alle Fenster waren mit Plastikplanen abgedeckt oder mit Brettern vernagelt, und eine Sicherheitsabsperrung grenzte eine Baustelle ab, davor ein Lattenzaun mit der Aufschrift BETRETEN VERBOTEN. Offensichtlich war das Haus seit Wochen unbewohnt.
»Verdammt, das wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein«, murmelte Annabel.
Das Verbotsschild, das an der Absperrung lehnte, entlockte der jungen Frau ein bitteres Lächeln. Reglos stand sie vor dem Lichterstrom der vorbeifahrenden Autos und überlegte. Jack würde erst in zwei Stunden hier sein, er könnte ihr dann helfen, noch einmal die Leute in den benachbarten Geschäften zu befragen, zumindest in denen, die zu dieser späten Stunde noch nicht geschlossen wären. Sie schnalzte mit der Zunge und fluchte innerlich, ehe sie in den benachbarten Schnellimbiss trat. Sie bestellte einen Käsekuchen und überbrückte die Wartezeit mit mehreren Tassen Kaffee.
Die Arme vor der Brust verschränkt, beobachtete sie die Passanten und hielt nach ihrem Kollegen Ausschau, der bald kommen müsste.
Annabels Blick fiel auf einen Mann mit einer Papiertüte. Er stand vor dem unbewohnten Haus und blickte nervös nach rechts und nach links. Er war farbig, ziemlich groß und wirkte eher hager. Sie ließ ihn nicht aus den Augen und fragte sich, was das Theater sollte. Sein Verhalten war nicht normal, er führte etwas im Schilde. Das gibt’s doch nicht, was hat der vor? Der Mann drückte die Tüte an sich und schob sich an der am schlechtesten beleuchteten Stelle durch eine Lücke im Zaun.
Bei Annabel läuteten alle Alarmglocken.
Er entsprach der Beschreibung, Aussehen, Hautfarbe, das verdächtige Verhalten – alles passte, und vor allem hatte er diskret ein leer stehendes Gebäude betreten, das die Adresse des Verdächtigen war! Was brauchte man mehr? Annabel glaubte nicht an eine Häufung von Zufällen.
Himmel! Das ist meine Chance.
Überfüttert mit Geschichten, die ihr Mann aus allen Teilen der Welt mitgebracht hatte, war Annabel zu der Überzeugung gelangt, dass jeder Mensch über ein gewisses Potential an Glück verfügte, das sich im Laufe seines Lebens einstellte. Und das war soeben auch bei ihr geschehen.
Die Chance meines Lebens, sagte sie sich. Eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen darf.
Sie sah auf ihre Uhr, Jack würde bald da sein. Sie wählte seine Handynummer. Die Mailbox. Entweder war er mit seinen Befragungen noch nicht fertig, oder er befand sich in der U-Bahn. Sie zögerte. Aber wenn der Typ durch den Hinterausgang verschwindet, entwischt er mir. Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen und nagte an ihrer Lippe.
Annabel schloss kurz die Augen.
Verdammt, dann bin ich eben verrückt.
Sie war entschlossen.
Sie legte eine Zehn-Dollar-Note auf die Theke, lief über die Straße und schob sich nun ihrerseits hinter die Holzabsperrung. Vor den Blicken der Passanten geschützt, schaltete sie ihr Handy aus und zog ihre Beretta. Der Hauseingang war mit einer schweren Kette gesichert, deren Schloss auf den staubigen Boden hing. Das fängt ja gut an, dachte Annabel, wenn ich die Kette bewege, müsste es mit dem Teufel zugehen, dass er mich nicht hört. Sie hatte keine Zeit, sie vorsichtig zu öffnen, um keinen Lärm zu machen. Schnell suchte sie nach einem anderen Zugang und entdeckte ein erreichbares Fenster im ersten Stock. Die Plastikplane, die es normalerweise verschloss, flatterte im Wind und war nur noch an einer Seite befestigt.
Also, zeig, was du kannst!
Sie steckte ihre Waffe ein, stützte sich am Schaufenster eines geschlossenen Geschäfts ab, klammerte sich an einer Mauerspalte fest und zog sich hoch. Nach ein paar vorsichtigen Klimmzügen befand sie sich auf der Fensterbank, von der aus sie über den Bauzaun hinweg auf die Straße sehen konnte. Vielleicht ruft so wenigstens jemand die Polizei. Diese Vorstellung beruhigte sie. Der Gedanke aber, dass ihr der Kerl jeden Moment entkommen könnte, war unerträglich.
Sie drehte sich um und stieg, die Waffe erneut gezogen, in den ersten Stock ein. Das Gewicht ihrer Beretta vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit. Annabel wusste, dass sie einen körperlichen Angriff abwehren konnte. Sie war eine der Besten beim Selbstverteidigungskurs der Polizei und darüber hinaus Mitglied in einem Thai-Box-Club. Sie verfügte zwar nicht über dieselbe Muskelmasse wie die Männer, doch dank ihres technischen Geschicks konnte sie es durchaus mit ihnen aufnehmen. Allerdings war sie noch nie allein in ein Haus eingedrungen. Anders als in Krimis dargestellt, besteht der Alltag eines Detectives aus relativ simplen Ermittlungen und weniger aus gefährlichen Einsätzen.
Sie schlich durch ein leeres Zimmer zu einem schmalen Gang, von dem eine Treppe abging. Weiter drang das Licht von draußen nicht vor, der Rest war in feuchtes Dunkel getaucht. Von oben war ein Geräusch zu hören, dann begann der Boden zu knarren, ein schwerer Gegenstand wurde verrückt.
Annabel tastete ihre Jacke ab und verfluchte sich, weil sie ihre Taschenlampe vergessen hatte. Was nutzt sie dir im Kofferraum deines Autos!
Sie machte sich heftige Vorwürfe. Nichts war vorbereitet, sie verfügte über keine geeigneten Hilfsmittel, und sie wusste, dass das, was sie tat, schlichter Wahnsinn war. So nahm man nicht die Verfolgung eines Mannes auf, den man für gefährlich hielt.
Dennoch ging sie weiter die Treppe hinauf und achtete darauf, den Fuß an den Rand der Stufen zu setzen, um sie nicht zum Knarren zu bringen, ganz vorsichtig, so …
Sie ließ die Hand über die Wand gleiten, um sich in der Dunkelheit orientieren zu können.
Ihre Finger trafen auf etwas Kaltes, Feuchtes: Von der Decke tropfte Wasser herab, Brackwasser aus einem Behälter oder einer Pfütze auf dem baufälligen Dach, vermutete Annabel.
Das dumpfe Geräusch wurde lauter, es kam aus dem dritten Stock. Annabel tastete sich dicht an der Wand entlang. Sämtliche Türen waren entfernt worden, so dass nur dunkle Rechtecke blieben. Hinter einem jeden konnte sich ein bewaffneter Mann verbergen. Die junge Frau schob sich vorsichtig, den Rücken an den klebrigen Kalk gepresst, voran. Bei jeder Türöffnung brach ihr der kalte Schweiß aus, und sie stellte sich einen Mann vor, der auf der anderen Seite der Wand kauerte, nur fünfzehn Zentimeter von ihr entfernt, dann beide Gesichter am Türrahmen, kurz davor, einander zu fixieren. Er mit seinem Skalpell, erfüllt von einer obszönen Lust bei der Vorstellung, einer Polizistin den Skalp abzuziehen, und sie selbst wie gelähmt vor Angst durch das plötzliche Auftauchen dieser wahnsinnigen Augen und unfähig, von ihrer Beretta Gebrauch zu machen.
Denk nicht an so etwas, schalt sie sich selbst. Konzentrier dich auf den Augenblick.
Mit einem geschmeidigen Sprung huschte sie an dem dunklen Loch vorbei, das zu einem der Zimmer führte.
Auf diese Art stieg Annabel vorsichtig die Treppe hinauf, ebenso wachsam bei ihren Bewegungen wie gegenüber dem geringsten Geräusch. An jeder Türöffnung, auf jeder Stufe wiederholte sie das Manöver, alle Sinne in Alarmbereitschaft. Ihre Stirn war schweißbedeckt. Als sie das letzte Stockwerk erreicht hatte, blieb sie stehen. Hier waren alle Fenster mit Brettern vernagelt, so dass von außen kein Licht hereindrang. Ein Dutzend Kerzen brannten am Boden, andere waren erloschen und hatten nur ein Häufchen hartes Wachs hinterlassen, wieder andere waren neu und noch nicht angezündet. Die Wände waren mit schwarzen Inschriften bedeckt. »ERHEBUNG«, »GEIST«, »KRAFT« und viele andere. Annabel erkannte Zitate von Politikern, vor allem von Martin Luther King. Das Geräusch war jetzt ganz nah, auf der anderen Seite der Wand.
Annabel hielt ihre Beretta fest in beiden Händen und näherte sich der Durchgangstür. Ihre Knie waren nicht weich, ihre Handflächen nicht feucht. Sobald sie ihre Fantasievorstellungen im Zaum hielt, befand sie sich in einem Schwebezustand zwischen Angst und Erregung. Der Augenblick, wiederholte sie sich, nur der Augenblick zählt.
Im Kerzenlicht erkannte sie eine Rattenfalle fünf Zentimeter von ihrem Fuß entfernt, etwas weiter eine zweite und eine dritte. Insgesamt war es sicher ein halbes Dutzend, und in einer steckte noch die Beute. Eine eigenartige Ratte mit spitzen Ohren … Als sie näher trat, sah Annabel, dass es ein Kätzchen war. Der kleine behaarte Körper war vom Druck des Metallbügels deformiert. Das Tier war schon seit längerer Zeit tot.
Verdammt noch mal, konzentrier dich auf den Augenblick! Nicht auf deine Gefühle!
Unter ihrem Fuß knarrte eine Diele.
Wenn sie schon Lärm machte, dann richtig, sagte sie sich, legte die letzten Meter im Laufschritt zurück und trat in den Raum, den sie mit einem Blick durchmaß, um sicher zu gehen, dass sie allein war. Sie drückte sich mit dem Rücken an die Wand, damit sie nicht von hinten überrascht werden konnte. Innerhalb von zehn Sekunden begann ihr Herz zu rasen, und sie zwang sich, tief einzuatmen, um sich zu beruhigen.
Das Summen kam von fünf Ventilatoren. Sie standen am Boden, und die an den Schutzgittern befestigten Fliegenfänger flatterten wie Dutzende verhedderter Windsäcke. Der Strom war nicht abgeschaltet, vielleicht wegen der beginnenden Bauarbeiten, dachte Annabel, außer der Bewohner der Örtlichkeiten wäre ein geschickter Bastler. Eine Pressspanplatte auf zwei Böcken diente als Tisch, der mit verschiedenen pinselähnlichen Instrumenten bedeckt war; daneben war eine Plastikbüste auf einem Sockel festgeschraubt, und lange Haarbüschel lagen sorgfältig aufgereiht neben einem Stück getrockneter Haut. Bei näherem Hinsehen stellte Annabel fest, dass die Haare an einem Holzstab hingen – sie trockneten zwischen den Ventilatoren und Kerzen.
Ihr Atem ging jetzt stoßweise, sie hatte ihn nicht mehr unter Kontrolle. Mit einem unablässigen »Plopp« tropfte Wasser von der Decke.
Der Fußboden gab erneut ein Knarren von sich, das diesmal nicht von der Polizeibeamtin ausgelöst worden war. An der Tür am anderen Ende des Zimmers huschte ein Schatten vorbei.
Annabel entsicherte die Waffe, zielte und schlich in diese Richtung. Sie wusste nicht, ob der Mann sie gesehen hatte. Sie bewegte sich unter dem rieselnden Wasser hindurch, das ihr in die Augen spritzte und in kleinen Rinnsalen über Nacken und Rücken lief.
Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen misstrauisch lauernd, betrat er den Raum. Das Chrom seines Revolvers glänzte im Licht der zuckenden Kerzenflammen, die sein Versteck erhellten. Annabel nahm die Szene im Zeitlupentempo wahr. Jede Bewegung schien aus kleinen Einzelteilen zu bestehen. Und selbst ihre eigene Stimme klang wie ein lang gezogener Schrei, als sie rief: »KEINE BEWEGUNG, POLIZEI!«
Sie nahm die fließende Bewegung seiner Halsmuskeln wahr, als er den Kopf zu ihr umwandte, und das Lächeln, als er erkannte, dass es sich um eine Frau handelte. Die Zeitlupe veränderte die Geschmeidigkeit seiner Gesten nicht. Der zerstörerische Lauf der Pistole hob sich, sein Rachen geladen mit Tod, um seinen Inhalt auszustoßen. Nur das Geräusch des von der Decke tropfenden Wassers, das an eine nervtötende Kaskade erinnerte, blieb sonderbarerweise unverändert.
Annabel drückte ab.
Ein einziges Mal.
Spencer Lynchs Schulter zerbarst, und Hunderte von dunklen Flecken erschienen augenblicklich auf den Wänden.
Plötzlich beschleunigte sich die Szene wieder zu einem normalen Tempo. Der Mann brach am Boden zusammen, jetzt heulte auch seine Waffe auf, und im selben Moment rollte er sich in das Zimmer, aus dem er gekommen war. Annabel konnte nicht reagieren.
Sie sah die Funkengarbe, während Gipsstücke ihre Wange trafen. Aus dem Gleichgewicht gebracht, ließ sie sich fallen, doch in ihrer Wut richtete sie ihre Beretta auf die Wand, hinter der Spencer Lynch verschwunden war. Sie leerte das gesamte Magazin, alle vierzehn Kugeln.
Eine widerwärtige Wolke von Rauch und Schießpulver stob auf, und die letzten weißen Putzbrocken rollten über den Boden.
Annabel lud ihre Waffe nach und richtete den Lauf erneut auf ihren unsichtbaren Gegner. So verharrte sie eine gute Weile, unempfindlich gegen den Schmerz in ihren Armmuskeln.
Als die ersten Blutstropfen aus den Löchern in der Wand sickerten, ließ sie die Beretta langsam sinken.