Tigerfutter
Julie war tot.
Davon war zumindest ihre Großmutter überzeugt. Ulrike Szeidel wohnte wie ihre Tochter Sarah in Handschuhsheim, allerdings im westlichen Teil des Ortes, dort, wo die Häuser an die Felder grenzten. Ein kleines Reihenhaus, bei dem in einem Körbchen neben der Haustür ein gelbes Windrad zwischen dunkelroten Astern Herbstidylle verbreitete.
Ulrike Szeidel hatte Maria die Tür geöffnet, das Gesicht verquollen vom Weinen.
»Es ist alles nur meine Schuld«, brachte sie erstickt hervor.
Ohne Maria weiter zu beachten, ging sie voraus ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa und presste ein Taschentuch vor den Mund.
Auf dem Couchtisch lagen Malsachen, ein Block, auf dem anscheinend Julie herumgekritzelt hatte: ein Haus, das aussah, als würde es gleich zusammenbrechen. Aus seinem Schornstein stieg gelber Rauch hervor, daneben ein Wesen, das fast so groß war wie das Haus und entfernt Ähnlichkeit mit einer Katze hatte. Und unten am Bildrand ein Gekritzel, das wohl »Mama« bedeuten sollte.
»Glauben Sie, er hat ihr etwas angetan? Ich meine, bevor … Er wird sich doch nicht an dem Kind vergangen haben, oder?«
»Seit wann ist Julie weg?«
»Seit fast drei Stunden.«
»Und warum rufen Sie jetzt erst an?«
Frau Szeidel schluchzte auf. »Ich wusste es doch nicht. Sie wollte heute Morgen zur Nachbarin, da geht sie oft hin, wenn sie hier ist. Die hat eine Tochter, die ist genauso alt wie Julie. Ich muss mich ja auch mal um was kümmern. Ich kann nicht den ganzen Tag nur nach dem Kind sehen. Ich habe sie rübergebracht.«
Sie wischte die Tränen weg.
»Heute Mittag wollte ich sie holen, aber da war sie nicht mehr da. Sie ist nur eine Viertelstunde geblieben, dann wollte sie zurück zu mir. Die Nachbarin hat sie durch den Garten geschickt, aber sie ist nicht angekommen.«
»Wie viel Uhr war es, als Sie Julie rübergebracht haben?«
»Das war vielleicht so gegen zehn.«
»Wo wohnt diese Nachbarin? Hier, direkt nebenan?«
»Es ist das nächste Gründstück. Links, gleich neben uns. Sie hat mir noch geholfen zu suchen. Aber dann musste sie weg.«
Neben dem Wohnzimmerfenster war eine Glastür, die auf eine Terrasse führte, dahinter lag der Garten. Ein kleines übersichtliches Grundstück, das am Kopfende zum Weg hin einen Maschendrahtzaun hatte, in den ein Gartentor eingelassen war. Zwischen den Grundstücken nach rechts und links gab es nur dichtes Buschwerk zur Begrenzung.
»Hinten ist eine Lücke zwischen den Sträuchern. Julie ist schon öfters durch den Garten nach Hause gekommen, dann muss sie nicht vorne über die Straße. Die Terrassentür ist so gut wie immer offen, sie hätte nur dagegendrücken müssen.«
»Und das Tor hinten zum Weg, ist das auch offen?«
»Ja, ja. Es ist offen.«
Ulrike Szeidel schluchzte auf und hob die Hände vor das Gesicht. Maria konnte sie kaum noch verstehen.
»Es hieß doch, es geht um Sarah. Ich wusste doch nicht, dass er es auf das Kind abgesehen hat. Das hat mir niemand gesagt. Niemand! Warum haben Sie das nicht gesagt? Ich hätte sie doch nie auch nur einen Moment aus den Augen gelassen!«
»Weiß Ihre Tochter schon Bescheid?«
Das Schluchzen wurde lauter. »Nein. Das kann ich ihr nicht sagen. Das schaffe ich nicht.«
Autotüren wurden zugeschlagen, Stimmen waren zu hören.
Maria wusste, wer das war.
Auf der Straße vor dem Haus versammelte sich gerade das wahrscheinlich größte Polizeiaufgebot, das man in Handschuhsheim jemals zu sehen bekommen hatte. Aber mit Sicherheit war es immer noch nicht groß genug.
Nur ein paar Meter hinter dem Haus begann das Handschuhsheimer Feld, eine weite fruchtbare Ebene, hunderte von Feldern, durchzogen von einem Netz schmaler asphaltierter Sträßchen und holpriger Feldwege.
Ein Naherholungsgebiet, in dem Spaziergänger, Inlineskater, Radfahrer und das seltene Gartenrotschwänzchen eine friedliche Koexistenz führten.
Im Frühling schwängerte der Geruch von Erdbeeren die Luft, und an heißen Sommertagen leuchteten die Tomaten aus den Gewächshäusern. Blumenfelder wechselten sich ab mit langen Reihen Lollo rosso und Lollo bianco, die rote und hellgrüne Streifen auf die Äcker malten.
Um diese Zeit stand hier der Mais mannshoch. Felder, die man nicht überblicken konnte. Tabakpflanzen, Sonnenblumen, die selbst einen großen Menschen um einen guten Kopf überragten.
Ein idealer Ort, um zu verschwinden. Oder jemanden verschwinden zu lassen.
An der Wand über der Couch hingen Fotos. Gleich auf mehreren war ein kleines Mädchen zu sehen. Große blaue Kulleraugen, blonde Löckchen. Ein rundes, zartes Gesicht, wie das einer Porzellanpuppe. Julie Szeidel. Ein Kind, das aussah wie der Engel, der Weihnachten über der Krippe schwebte. Nur der Goldstaub fehlte.
Ein hübsches Mädchen, eines, das sich ganz bestimmt viele Menschen aussuchen würden, wenn man sich Kinder aus dem Katalog bestellen könnte.
Süß, dachte Maria, und in ihrem Magen krampfte sich alles zusammen. Süße Maid.
»Was hatte Julie heute Morgen an?«
»Eine Jeans und ein …«, Ulrike Szeidel überlegte, »einen hellblauen Pulli und eine rote Strickjacke.«
»Wir brauchen eines der Fotos von ihr. Das neueste, das Sie haben. Und Kleidungsstücke. Etwas, das sie erst vor Kurzem getragen hat.«
Marias Blick fiel auf das Bild, das Julie gemalt hatte. Sie ging zum Tisch und rollte es zusammen.
»Und das hier, das brauche ich auch.«
*
Julies Zeichnung lag auf Marias Schreibtisch.
Karel Lindnar schien das Bild eingehend zu betrachten, den Kopf gesenkt, sodass die glatten halblangen Haare wie ein Vorhang an seinem Gesicht herunterhingen.
»Ein unschuldiges, harmloses Kinderbild. Ich denke, das da unten heißt ›Mama‹.« Maria schob das Bild etwas näher zu ihm.
»Könnte gut sein.« Lindnar nickte zustimmend. »Sieht zumindest so ähnlich aus.«
»Können Sie sich vorstellen, wie das für Julies Mutter ist? Was sie im Moment durchmacht?«
Lindnar zuckte mit den Schultern. »Bestimmt nicht schön.«
Maria wusste, wie es für Sarah Szeidel war. Sie hatte mit ihr geredet und hätte dieses Gespräch lieber aus ihrem Gedächtnis ausgelöscht.
Auf dem Rückweg von Handschuhsheim war sie in der Klinik vorbeigefahren, in der Hoffnung, dass Julie zu ihrer Mutter gelaufen war. Aber im Neuenheimer Feld, in dem die Klinik nur ein Gebäude von vielen war, fanden sich schon die meisten Erwachsenen nur mit Müh und Not zurecht. Natürlich war Julie nicht dort gewesen.
Sarah Szeidel hatte Maria erst ungläubig angesehen, als sie ihr von Julies Verschwinden berichtete. Dann hatte sie geweint, dann geschrien, und je mehr Maria sie zu beruhigen versuchte, desto verzweifelter war sie geworden.
Maria hatte nicht mehr gewusst, was sie noch hätte sagen oder tun können, und schließlich hilflos nach der Schwester geklingelt.
Der Beamte mit dem Foto von Karel Lindnar war schon bei ihr gewesen. Sarah Szeidel kannte Lindnar nicht.
Aber für das, was passiert war, musste sie ihn auch nicht kennen. Es reichte, wenn Lindnar sie kannte, sie irgendwo einmal gesehen hatte. Sarah Szeidel und ihre Tochter.
Manche Täter spähten ihre Opfer monatelang vorher aus. Sie wussten, wo sie arbeiteten, wann sie das Haus verließen, in welchen Hort das Kind gebracht wurde und wo die Oma wohnte.
»Wo waren Sie, bevor Sie in die Mensa gegangen sind?«
Lindnar schwieg.
»Ich habe Sie etwas gefragt«, herrschte Maria ihn an.
Von der Zeit her wäre es möglich gewesen: das Kind schnappen, irgendwohin bringen – oder töten. Die kleine Leiche im Feld zwischen die Tabakpflanzen zerren. Und dann ab in die Mensa, wo ihn jeder sehen konnte.
»Ich bin ein bisschen durch die Gegend gelaufen.« Er zögerte. »Glaube ich.«
Mengert beugte sich zu ihm, stützte die Hand auf der Rückenlehne des Stuhls auf.
»Wo ist das Mädchen? Es wäre besser, wenn Sie uns antworten würden. Entschieden besser, auch für Sie. Glauben Sie mir.«
Karel Lindnar hob den Kopf, sodass sein Gesicht das von Mengert fast berührte.
»Was haben Sie denn vor? Folter? Das macht sich aber gar nicht gut, wenn ich blaue Flecken habe. Dann sind Sie Ihren Job los.«
Er starrte Mengert ins Gesicht, ohne einen Zentimeter zurückzuweichen.
»Oder machen Sie das wie die Amis? Waterboarding. Da kann man hinterher nichts nachweisen, oder?«
Lindnar spürte wohl genau, dass Mengert so wütend war, dass er am liebsten zugeschlagen hätte.
Er provozierte sie, seitdem sie ihn verhörten. Und was wohl am meisten provozierte, war, dass Karel Lindnar den Eindruck machte, als sei das alles für ihn ein willkommenes Spiel, als sei er die Hauptperson in einer Fernsehshow. Statt Kakerlaken im Dschungelcamp ein Verhör bei der Heidelberger Kripo.
Maria räusperte sich, Mengert richtete sich wieder auf und trat zurück.
»Herr Lindnar, noch einmal: Wo ist Julie Szeidel?«, fragte sie.
»Ja, wo ist sie?« Karel Lindnar nahm Julies Zeichnung und betrachtete sie eingehend. »Was soll das da sein?« Er wies auf das katzenähnliche Wesen. »Sieht aus wie ein Hase. Oder ist das eine Katze? Nein, ich glaube, das ist keine Katze. Das ist …«
»Warum tun Sie das?«, unterbrach Maria ihn.
Scheinbar überrascht sah der junge Mann sie an. »Was denn?«
»Hier den Idioten spielen. Warum sagen Sie nicht einfach: Ich habe sie, aber ich werde Ihnen nicht verraten, wo sie ist.«
Lindnar legte das Blatt wieder hin.
»Weil ich nicht weiß, wo dieses Mädchen ist. Ich kenne sie nicht, und ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte. Das habe ich Ihnen schon vor einer halben Stunde gesagt, aber damit waren Sie ja nicht zufrieden.«
»Aber Eichendorff mögen Sie schon, nicht wahr?«
»Soll ich ehrlich sein?«
»Genau darum geht es hier.«
»Also gut.« Lindnar lehnte sich zurück. »Ich mag ihn nicht besonders. Soweit ich das überhaupt beurteilen kann, denn außer diesem einen Gedicht, dieser ›Mondnacht‹, kenne ich nichts von ihm. Ich hoffe, das enttäuscht Sie jetzt nicht.«
»Das ist aber sehr seltsam. Wenn ich jemanden nicht mögen würde, schriebe ich in meiner Wohnung wohl kaum ein Gedicht von ihm an die Wand.«
»Es ist ja auch nicht sein Gedicht. Das, was da steht, ist meins. Ich habe es mir ausgedacht. Eichendorffs Gedicht war nur die Vorlage. Aber glauben Sie mir, ich war selbst überrascht, dass ich das so gut hinbekommen habe.«
»Ist es das, was Sie antreibt? Einmal in irgendetwas gut zu sein? Und sei es nur darin, anderen Menschen Leid zuzufügen? Der Versager, der auch einmal etwas können will? Der endlich mal im Mittelpunkt stehen möchte?«
Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, in dem Karel Lindnar es nicht mehr schaffte, ihr in die Augen zu sehen.
»Schon deprimierend, was? So intelligent, aber Ihr Studium schaffen Sie trotzdem nicht. Spricht sich rum, in Ihrer WG weiß man schon Bescheid. Und dann die Frauen.«
Maria wartete einen Moment, bevor sie weitersprach.
»Die hübsche Lea gibt Ihnen doch tatsächlich den Laufpass. Und die Nächste, wie hieß sie noch – Tanja? –, auch. Wie viele waren es denn schon vor Lea, von denen Sie abserviert wurden? Da staut sich ganz schön was auf, oder? Im Studium klappt nichts, mit den Frauen klappt es nicht …«
»Sie sind echt gut.« Lindnar nickte anerkennend. »Sie haben es voll erfasst: Ich bin einer von den Losern. Sie sollten sich mal mit meinem Vater unterhalten. Sie beide würden sich bestimmt gut verstehen. Du kannst nichts, du bist nichts, aus dir wird nie etwas. Das bringt mich echt nach vorne, wissen Sie. Da blühe ich so richtig auf.«
Lindnar streckte die Beine vor, so als mache er es sich auf einem Liegestuhl bequem.
»Aber jetzt weiß ich ja zum Glück, was ich kann. Dank Ihnen. Sie haben mich darauf gebracht. Ich bin ein Dichter. Das erklärt alles. Kreative Menschen sind oft schräg drauf.«
»Kennen Sie eigentlich den eleusischen Bund, Herr Lindnar?«
»Ich glaube, das ist so eine Volkstanzgruppe. Oder?«, fragte Lindnar mit naivem Unterton.
Maria hätte ihn am liebsten geschüttelt.
»Kapieren Sie eigentlich, um was es hier geht?«
»Aber klar doch.« Lindnar nickte, ein eifriger Schuljunge, der sich anschickte, die Frage seiner Lehrerin zu beantworten. »Sie denken, ich hätte Lea umgebracht und dann auch noch ein Kind entführt, nur weil ich an meine Zimmerwand ein Gedicht geschrieben habe, das sich anhört, als wäre es von Eichendorff. Und das, obwohl Sie diejenige waren, die mich mit Ihrer Fragerei erst auf die Idee gebracht hat.«
Lindnar hatte recht. Genauso konnte man es drehen. Jeder Verteidiger würde sich mit Freude darauf stürzen.
»Nach unserem Gespräch in der Mensa habe ich mir das Gedicht von Eichendorff aus dem Internet geholt. Ich habe es umgeschrieben. Kein Verbrechen, soviel ich weiß.«
»Und warum heißt es in Ihrer Version, das Böse hätte Ihnen ›die Liebste‹ entführt? Angeblich waren Sie doch froh, dass die Sache mit Lea vorbei war?«
»Trotzdem habe ich sie einmal gemocht. Damals war sie meine Liebste. Obwohl das vielleicht wirklich ein bisschen dick aufgetragen ist. Ich werde es noch einmal überarbeiten.«
»Wenn Sie mit alldem nichts zu tun haben, wo waren Sie dann am Montagabend?«
Lindnar wiegte den Kopf nachdenklich hin und her.
»Also, wenn man mich unter Druck setzt, fallen mir solche Sachen einfach nicht mehr ein.« Und fast nahtlos fügte er hinzu: »Was muss dieses kleine Mädchen nur für eine Angst haben, so allein, ohne seine Mutter.«
Da war er wieder, dieser undefinierbare Ausdruck auf Lindnars Gesicht.
Es klopfte, Alsberger schaute herein.
»Können Sie mal kurz kommen?«
Maria ging zu ihm auf den Flur. Hatte er am Vormittag noch gestrahlt wie der Lottokönig, sah er jetzt so finster drein, als stünde der Weltuntergang bevor.
»Die Kollegen haben in Lindnars Wohnung keine Hinweise auf Sarah Szeidel oder ihre Tochter gefunden«, sagte er leise. »Aber sein Tagebuch. Es stehen einige Sachen über Lea Rinkner drin. Erst irgendwelche Schwärmereien, dann eine Seite, auf der er sie aufs Übelste beschimpft. Aber nichts darüber, dass er ihr etwas antun will. Dann gibt es noch ein Heft, in das er ein paar wirre Sachen gekritzelt hat. Irgendetwas über die Mayas und den Weltuntergang. Lea Rinkners Telefonnummer steht in seinem Notizbuch im Adressverzeichnis. Er hat sie durchgestrichen.«
»Durchgestrichen? Wie, durchgestrichen?«
»Der Kollege hat nur gesagt, die Nummer und der Name wären durchgestrichen, mehr nicht.«
Als sie zurück ins Büro kam, sah Karel Lindnar sie fragend an.
»Und, ist die Kleine wieder aufgetaucht?«
»Warum haben Sie Leas Nummer aus Ihrem Notizbuch gestrichen?«
»Oh, Sie machen das aber gründlich.«
Wäre die Situation eine andere gewesen, hätte man ehrliche Bewunderung hören können. So klang es wie der reine Hohn.
»Warum haben Sie das getan?«
»Warum macht man so etwas?« Karel Lindnar zuckte mit den Schultern. »Wir hatten uns getrennt, ich hatte nicht mehr vor, sie noch einmal anzurufen. Frauen tun das doch angeblich auch. Die Zahnbürste des Lovers wegschmeißen oder die Fotos vom Urlaub, sein T-Shirt in kleine Stücke schneiden.«
»Hat Lea Sie so verletzt, dass Sie nicht einmal mehr ihren Namen ertragen konnten? Vielleicht haben Sie ihn ja nicht einfach durchgestrichen. Vielleicht ging es eher darum, jemanden auszulöschen.«
Lindnar lachte auf.
»Klar. Erst bringe ich sie um, dann renne ich nach Hause, streiche ihren Namen aus meinem Organizer und warte, bis die Polizei kommt und das sieht. Ist doch logisch. Würde doch jeder so machen, oder nicht?«
Spott und Hohn, das war wohl alles, was sie aus Lindnar herausbekommen würden. Er hatte nicht vor, ihnen irgendetwas zu verraten.
Er spielte mit seinem möglichen Alibi für die Zeit des Mordes an Lea Rinkner wie mit einem Köder, den er vor ihrer Nase herumschwenkte. Wahrscheinlich hätte er nur die Musik in seinem Zimmer laut stellen und unbemerkt verschwinden müssen, und alle in der WG hätten geschworen, er sei dort gewesen.
Doch Lindnar lieferte ihnen den Grund, dass sie ihn festhalten konnten. Vielleicht hatte er ein Alibi, vielleicht auch nicht.
Was bezweckte er damit?
Dass Julie Szeidel langsam und erbärmlich irgendwo in einem Verschlag zugrunde ging, während Hades in Untersuchungshaft saß und sich die Hände rieb, weil er die Polizei zum Handlanger seines nächsten Mordes machte? Sollte Julie Szeidel sterben, während sie ihn hier festhielten?
Wie viele Punkte gab das in seinem Spiel?
»Mengert, bring Herrn Lindnar zurück in die Arrestzelle, damit er in Ruhe und ganz ohne Druck noch einmal darüber nachdenken kann, was er am Montagabend gemacht hat.«
Vor allem aber musste sie selbst nachdenken. Der nächste Zug. Sie war dran.
Als Maria auf den Flur trat, kam Jörg Maier gerade zur Abteilungstür herein.
»Ah, da habe ich ja Glück. Ich war gerade in der Nähe und wollte fragen, ob du einen Kaffee mit mir trinken gehst?«
Er lächelte, sodass sich die kleinen Fältchen um seine Augen vertieften und sofort an Sonne, Meer und Dolce Vita denken ließen, auch wenn sie sicherlich eher vom Neonlicht über dem Obduktionstisch stammten.
Lindnar würde sowieso nicht reden, zumindest nicht in nächster Zeit. Da konnte sie auch einmal kurz verschwinden.
»Also gut. Die können hier mal eine Weile auf mich verzichten.«
Aber vorher rief Maria noch einmal bei der Einsatzleitung in Handschuhsheim an. Keine Spur von Julie.
Jörg wollte gern in das »LiteraturCafé« an der Stadtbücherei. Da es keine zwei Minuten entfernt lag, war es Maria gerade recht. In der Bäckerei gegenüber wäre bestimmt über kurz oder lang ein Kollege aufgetaucht, der brühwarm weitererzählt hätte, dass die Mooser schon wieder mit dem Maier zusammenhockte.
Maria bestellte wirklich nur einen Kaffee, obwohl an der Theke knusprige Croissants und Muffins lockten. Schließlich wollte sie nicht, dass Jörg dachte, sie wäre ein Vielfraß.
»Hast du Lust, nächste Woche mit mir ins Kino zu gehen?«, fragte Jörg, nachdem sie an einem der dunklen Holztische vor der Fensterfront Platz genommen hatten. »Wir müssen ja noch unseren verpassten Abend nachholen.«
Ja, den Abend, den er morgen mit der lieben Karin verbringen würde. Trieb ihn das schlechte Gewissen her?
Es war das erste Mal gewesen, dass Jörg sie zu sich nach Hause eingeladen hatte. Und dabei trafen sie sich nun schon etliche Wochen. Nicht allzu oft, aber doch so oft, dass man hoffen konnte, dass mehr daraus würde.
Maria hatte gedacht, dass dieser Abend vielleicht anders ablaufen würde als die anderen Treffen, bei denen sie freundschaftlich miteinander geplaudert hatten, in einer Gaststätte, einem Café, einem Restaurant, wo es nicht passte, zärtlich zu werden.
Sie trank an ihrem Kaffee, um ihm nicht ins Gesicht schauen zu müssen.
»Kino wäre prima, gerne.«
»Und, kommt ihr weiter? Was macht der Fall mit dem irren Dichter?«
Maria berichtete, froh, über etwas reden zu können, was ihren enttäuschten Gesichtsausdruck erklärte. Und froh, ihre dumpfe Angst um das kleine Mädchen mit jemandem teilen zu können.
Sie erzählte von Julie, von Lindnar, dem Gedicht an der Wand, seinem seltsamen Verhalten während des Verhörs, von ihrer Angst, dass er sie benutzte, um das Kind irgendwo sterben zu lassen.
»Das wäre in der Tat pervers.« Jörg schaute nachdenklich auf seine Kaffeetasse. »Pervers und genial. Er macht dich zur Komplizin.«
»Ich überlege, ob ich ihn laufen und überwachen lasse. Vielleicht führt er uns zu dem Mädchen.«
»Man könnte es zumindest versuchen. Wenn ihr Pech habt, gibt’s viel Aufwand für nichts. Aber wenn du es nicht tust, und deine Vermutung war richtig? Das wäre wohl die üblere Variante.«
»Da könntest du recht haben.«
Sie musste ziemlich frustriert geklungen haben, denn Jörg klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter.
»Nun lass mal nicht den Kopf hängen.«
Wie bei einem Pferd, dachte Maria. Gleich hält er mir bestimmt noch ein Zuckerstück hin. Sie schaute auf die Uhr.
»Ich muss wieder zurück.«
Als sie an der Theke vorbeigingen, blieb ihr Blick an den Croissants hängen. Im Rahmen der allgemeinen Friedensverhandlungen mit Alsberger wäre es vielleicht eine nette Geste, wenn sie zur Abwechslung einmal ihm etwas mitbringen würde.
»Warte mal einen Moment.«
Sie orderte eines der knusprigen Hörnchen. Während sie wartete, kam eine ehemalige Schulfreundin ihrer Tochter zur Tür herein.
Sie erkundigte sich nach Vera. Alles in bester Ordnung, heuchelte Maria.
»Bestellen Sie ihr einen Gruß von mir«, verabschiedete sich die junge Frau. »Schöner Tag noch.«
Jörg, der an der Tür gewartet hatte, drehte sich abrupt um und ging hinaus.
»Das tut mir jedes Mal in den Ohren weh«, beschwerte er sich, kaum dass sie draußen waren.
»Was denn?«
»Schöner Tag noch! Das heißt: Schönen Tag noch. Grammatikalisch ist das hier wirklich Diaspora.«
Maria war völlig überrascht. Jörg kam nicht von hier, das wusste sie ja. Ein Norddeutscher. Aber dass die Norddeutschen die Grammatikpäpste waren, das hatte sie noch nicht gewusst.
»Es ist doch nur nett gemeint.«
»Sicher, aber noch netter wäre es, wenn es sich nicht so grausam falsch anhören würde. Also, mach es gut, Maria. Ich melde mich noch mal wegen des Kinos.«
Wieder ein wohlwollendes Klopfen auf die Schulter. Keine Umarmung, kein Küsschen auf die Wange. Hatte sie die Pest, oder was?
Mit schnellen Schritten zog Jörg von dannen.
Maria schaute ihm hinterher. Schöner Tag noch!
Zurück in der Abteilung ging sie als Erstes zu Alsberger.
»Hier, ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Maria hielt ihm die Tüte hin.
»Danke.« Er legte sie beiseite, ohne reinzuschauen.
Seine gute Laune vom Vormittag war dann wohl wirklich nur ein kleines Zwischenhoch gewesen.
»Alsberger, ich weiß, dass Sie noch sauer sind. Es wird aber auch nichts besser, wenn Sie jetzt allen hier mit Ihrer Ich-bin-beleidigt-Nummer auf die Nerven gehen.«
»Ich bin nicht beleidigt.«
»Was dann?«
»Sie wird wieder auftauchen«, sagte er mit finsterer Miene.
»Das Mädchen? Ja, das hoffe ich auch. Das hoffen wir wohl alle.«
»Ich hoffe es nicht, ich weiß es. Sie wird wieder auftauchen. Ganz bestimmt.«
»Und warum sind Sie sich da so sicher? Sind Sie jetzt das Orakel von Heidelberg?«
»Wenn sie nicht wieder auftaucht«, Alsberger hörte sich an, als gebe er sein Todesurteil bekannt, »dann werde ich meinen Dienst quittieren. Freiwillig.«
»Was soll denn der Quatsch?«
»Das wäre der Beweis, dass ich unfähig bin.«
»Alsberger, Sie sind doch nicht verantwortlich dafür, dass das Mädchen verschwunden ist. Keiner von uns ist auf die Idee gekommen, dass dieser Verrückte es auf das Kind abgesehen haben könnte.«
Wenn überhaupt jemand die Verantwortung dafür trug, dann war sie es. Hades hatte auf Sarah Szeidel gezeigt und direkt daneben zugegriffen, und sie war nicht einmal ansatzweise auf den Gedanken gekommen, dass so etwas passieren könnte.
Alsberger schien ihr gar nicht zuzuhören. »Sie wird zurückkommen«, sagte er.
»Frau Mooser?«
Maria drehte sich um. Ferver stand in der Tür, noch grauer im Gesicht als sonst.
»Bitte kommen Sie doch einmal in mein Büro. Herr Lindnar ist da.«
»Herr Lindnar? Der sitzt unten in der Arrestzelle!«
»Nein, nicht der Herr Lindnar. Der Vater des jungen Mannes ist hier. Mit einem Anwalt.«
Maximilian Lindnar musste nicht viel sagen. Schon wenn man ihn sah, wusste man, dass er nicht zu den Versagern zählte, zumindest nicht zu den offiziellen.
Herr Lindnar war einer der Menschen, die gewohnt waren, alles unter Kontrolle zu haben, und die sehr, sehr ärgerlich wurden, wenn ihnen das jemand streitig machte.
Auf dem dunkelblauen Anzug war nicht die kleinste Fluse zu entdecken, der Knoten der weinroten Krawatte saß exakt mittig, und die Ärmel des weißen Hemdes schauten genau den modischen einen Zentimeter unter dem Jackett hervor, der erlaubt war. Herr Lindnar ließ wissen, dass er eine Firma in Stuttgart besaß, seine Familie schon seit Generationen einen tadellosen Ruf habe.
Während er redete, waberte eine Atmosphäre von Geld und Macht durch den Raum.
Der Mitbewohner seines Sohnes habe ihn informiert. Man wisse, was Karel vorgeworfen werde Das sei völlig absurd. Er sei ein schwieriges Kind, das streite niemand ab, und doch sei er niemals zu einer solchen Tat fähig.
Der Anwalt berichtete von Karels instabiler Psyche. Man habe bereits zu früherer Zeit einen Psychiater konsultiert, Karel suche nach seiner Identität, was ihm naturgemäß schwerfalle in Abgrenzung vom überaus erfolgreichen Vater. Eine protrahierte Adoleszentenkrise.
Jugendliches Streben nach Aufmerksamkeit, das erkläre das Gedicht, das er offenbar an die Wand geschrieben habe. Aber ansonsten ein völlig harmloser Junge.
Man habe sich gefreut, dass Karel hier in Heidelberg etwas Boden unter den Füßen gewonnen habe. Eine Haft stelle, da er unschuldig sei, nur eine unnötige Gefährdung des labilen Jungen dar, die niemand verantworten könne.
Denn wenn sich herausstelle, wovon auszugehen sei, dass der Junge mit der Sache nichts zu tun habe, und er Schaden durch diese Angelegenheit nehme, würde man sich gezwungen sehen, rechtliche Schritte einzuleiten, um die Angemessenheit des polizeilichen Vorgehens prüfen zu lassen.
Ferver versuchte, sich einzuschalten, aber es war kaum möglich, den Monolog des Anwalts zu unterbrechen.
Das einzig Richtige wäre in Anbetracht der Umstände, Herrn Lindnar junior sofort aus der Haft zu entlassen und über die ganze Angelegenheit Stillschweigen zu bewahren.
Maria spürte das starke Bedürfnis, über den Tisch zu langen und Herrn Lindnars Krawatte ein bisschen schief zu ziehen.
»Ich würde mich gern einen Moment mit meinem Vorgesetzten beraten«, sagte sie stattdessen mit dem unterwürfigen Lächeln auf dem Gesicht, das wohl erwartet wurde.
Ferver warf ihr einen überraschten Blick zu. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass sie Maximilian Lindnar samt Anwalt in Grund und Boden stampfen würde. Das hätte sie normalerweise auch getan, aber diesmal war es besser, eine Faust in der Tasche zu machen.
Sollte Maximilian Lindnar ruhig weiterhin denken, er hätte alles unter Kontrolle. Er lieferte ihr einen guten Anlass, das zu tun, wofür sie sich schon vorher entschieden hatte: Sie würde Karel Lindnar laufen lassen.
Maria erklärte Ferver, was sie vorhatte. Er war einverstanden, wenn die Staatsanwaltschaft zustimmen würde.
Während sie telefonierte, lief Lindnars Anwalt nervös auf dem Flur auf und ab, Maximilian Lindnar aber stand da wie die deutsche Eiche in Person.
Als Maria wusste, dass alles klappen würde, teilte sie die frohe Botschaft mit. Nach gründlicher Prüfung sei man aufgrund der Informationen, die sie nun hätten, zu dem Schluss gekommen, dass es besser sei, Karel zu entlassen.
Seiner labilen Psyche wolle man schließlich keinen Schaden zufügen, der Verdacht gegen ihn habe sich nicht erhärten lassen, und unnötigen Ärger wolle auch niemand.
Es müssten nur noch einige Formalitäten erledigt werden, dann könne Karel gehen. Warten lohne sich nicht, Herr Lindnar senior habe sicher Besseres zu tun.
Es dauerte noch zwei Stunden, bis alles organisiert war. Dann ließ Maria Karel Lindnar holen.
»Mein Alter war da, stimmt’s?«, war seine Reaktion auf die Mitteilung, dass er gehen konnte. »Und, hat er sich ordentlich aufgeregt?«
»Nein, er wirkte ganz gelassen.«
»Wie üblich. Mr. Obercool.«
»Er konnte uns davon überzeugen, dass Sie …«, Maria bemühte sich um ein Lächeln, »nun, sagen wir es einmal so: dass Sie ein zahnloser Tiger sind.«
Karel Lindnar verzog verächtlich die Mundwinkel.
»Oh ja«, sagte er. »Zahnloser Tiger. Klar.«
»Geht es darum, Herr Lindnar? Ist das alles eine Show, um den coolen Papa mal so richtig aus der Fassung zu bringen?«
Der junge Mann presste einen Moment die Lippen zusammen, sodass sie fast weiß wurden.
»Sie haben noch etwas gut bei mir«, sagte er dann. »Sonst wäre ich jetzt wohl sehr böse auf Sie. Aber ich muss Ihnen dankbar sein. Durch Sie habe ich mein wirkliches Talent entdeckt. Irgendwann einmal werden Sie stolz darauf sein, mich gekannt zu haben.«
»Sicher, der neue Dichterfürst, ich weiß. Sie können jetzt gehen, Herr Lindnar. Bitte.«
Maria machte eine Handbewegung zur Tür hin.
Karel Lindnar stand langsam auf. Er war schon fast draußen, als er sich noch einmal umdrehte.
»Wissen Sie, was zahnlose Tiger am liebsten fressen?« Der spöttische Ausdruck war auf sein Gesicht zurückgekehrt. »Kleine Mädchen. Die sind noch so schön zart.«
Damit zog er die Tür von außen zu.