Der Angelhaken

»Mein Gott, Sie haben vielleicht einen Schritt drauf!«

Maria hastete Alsberger hinterher. Nachdem sie aus dem Marstall gekommen waren, hatte er ein Tempo vorgelegt, bei dem sie nur mit Mühe mithalten konnte.

»Was halten Sie von Lindnar?«, fragte sie.

»Etwas seltsam.« Alsberger drehte sich kurz zu ihr um und zog im Gehen den Autoschlüssel aus der Hosentasche. Dabei machte er ein Gesicht, als habe er gerade im Lotto gewonnen.

»Was strahlen Sie denn so, habe ich irgendetwas verpasst? Haben Sie in der Mensa auf dem Klo einen Hunderteuroschein gefunden?«

Alsberger eilte weiter voran, ohne zu antworten.

»Wenn Lea wirklich auswandern wollte, warum wissen wir davon noch nichts? Wenn es ihr so wichtig war, wird sie doch darüber geredet haben?«

»Sollte man denken.« Alsberger war schon am Auto und stieg ein.

»Vielleicht hat sie deshalb Englisch gelernt.« Maria hetzte zur Beifahrertür. »Was ist los, Alsberger? Weshalb so eilig?«

»Ich möchte nur möglichst bald die Lehrerin aus diesem Englischkurs anrufen. Vielleicht hat Lea Rinkner in dem Kurs etwas über ihre Pläne erzählt.«

»Bitte, bitte. Ich habe nichts dagegen.«

Den Rest der Fahrt war Alsberger schweigsam. Was immer Maria fragte, er antwortete mit ja, nein oder vielleicht.

Mengert schaute aus seinem Büro, sobald Maria die Abteilungstür aufgezogen hatte.

»Komm mal her!«, rief er ihr zu. »Ich habe einiges gefunden.«

Sie ging zu ihm. Auf dem Bildschirm seines Computers war ein Film zu sehen. Ein junger Mann, der mit ernster Miene Verse rezitierte.

»Wir haben ein richtiges Nest hier in Heidelberg. Jede Menge, die Gedichte schreiben.«

Maria beugte sich zum Bildschirm. »Und, wo verstecken die sich?«

»Die verstecken sich gar nicht. Ganz im Gegenteil. Manche tragen ihre Sachen sogar öffentlich vor. Zum Beispiel im ›dai‹. Schon mal was von Poetry-Slam gehört?«

Von Poetry-Slam nicht, aber das »dai« kannte Maria. So hieß das Deutsch-Amerikanische Institut in der Innenstadt, in dem allerlei kulturelle Veranstaltungen angeboten wurden. So konnte man bei einer Lesung mit Autoren diskutieren oder im Sprachkurs seine Englischkenntnisse auffrischen. Irgendwann war sie einmal mit Vera dort gewesen, in einem Film, über den sie sich hinterher die Köpfe heißgeredet hatten.

Mengert klickte durch die Webseiten.

»Hier, da haben sie geschrieben, dass es bei diesem Poetry-Slam um ›einen Wettstreit der Dichter und Poeten‹ geht. Jeder bekommt die gleiche Zeit, um sein Gedicht vorzutragen. Es gibt immer einen Sieger des Abends, und der wird durch den Applaus des Publikums bestimmt. Die haben eine Menge Aufzeichnungen im Netz liegen.«

»Und, jemand dabei, der sich wie unser Hades anhört?«

»Bis jetzt nicht. Aber das ist auch nur die Spitze vom Eisberg. Ich sag’s dir, in Heidelberg gibt es mehr Leute, die dichten, als uns lieb sein kann. Wahrscheinlich haben diese Romantiker hier irgendeinen Virus hinterlassen.«

Mengert rief eine andere Website auf. »Das neue Wunderhorn« war darauf zu lesen.

»Das hier ist ein Projekt vom Heidelberger Theater gewesen. Die beziehen sich sogar direkt auf die Romantiker. Da haben sie Geschichten, Lieder und Gedichte gesammelt, die Heidelberger geschrieben haben, weil dieser Brentano und der von Arnim das vor zweihundert Jahren angeblich so ähnlich gemacht haben. Bei denen waren es Volkslieder, die sie dann veröffentlicht haben. Das Buch gibt es heute noch: ›Des Knaben Wunderhorn‹.«

Maria las, was auf der Seite stand. Noch ein Gedicht und noch ein Gedicht und noch ein Gedicht.

»Wenn wir alle überprüfen sollen, die bei diesem Theaterprojekt ein Gedicht geschrieben haben, dann lasse ich mich vorzeitig berenten«, sagte Mengert und sah dabei aus, als sei es ihm ernst.

Einer der Kollegen schaute herein, auf der Suche nach Maria. Man hatte recherchiert, aber leider noch nichts darüber herausgefunden, wie Katharina Barbara Förster ausgesehen hatte.

Sie redeten, planten, was zu erledigen war. Der Kollege sollte mit einem Notebook zu Sarah Szeidel in die Klinik fahren und mit ihr alle Bilder von den Poetry-Slam-Treffen durchsehen. Irgendwo musste man ja anfangen. Über das Einwohnermeldeamt sollte er sich ein Bild von Karel Lindnar besorgen und mitnehmen.

Becker kam dazu. Auch er auf der Suche nach Maria. Er hatte seine Strafarbeit erledigt und war in der Apotheke gewesen. Lea Rinkners Kalendereintrag im August Träume werden wahr – Corti macht’s möglich schien nichts mit knackigen Pharmavertretern zu tun zu haben. Am Tag des Eintrags war von der Firma, die das Asthmaspray »Corti-Pulmonale« herstellte, niemand dort gewesen. Auch kein Vertreter von einer anderen Pharmafirma.

»Ist erledigt. Können wir abhaken«, beendete Becker seinen Bericht.

Abhaken. Erledigen. Maria stutzte. Warum hatte Alsberger ihr eigentlich noch nicht Bescheid gegeben, was die Prüfung von Lindnars Alibi ergeben hatte?

Sie ging zu ihm hinüber. Als sie hereinkam, legte Alsberger gerade den Hörer auf.

»Ich habe diese Englischlehrerin erreicht«, sagte er. »Lea hat erzählt, sie wollte die Sprache besser lernen, weil in der Apotheke oft Amerikaner einkaufen würden. Aber die Kursleiterin hat gesagt, sie wäre außergewöhnlich interessiert gewesen. Vielleicht wollte Lea denen nur nicht auf die Nase binden, dass sie vorhatte auszuwandern.«

»Und, was ist mit Lindnars Alibi?«

Alsberger brauchte nicht zu antworten, Maria sah es ihm schon an: Er hatte sich überhaupt nicht darum gekümmert.

»Alsberger, so geht das aber nicht. Es ist doch wohl klar, dass Sie als Erstes das Alibi zu prüfen haben.«

»Ich wollte nur …«, begann er sich zu rechtfertigen.

»Ist mir egal, was Sie wollten.«

Sie schluckte den Rest hinunter. Jede boshafte Bemerkung, die sie ihm gegenüber machte, würde mit Sicherheit spätestens heute Abend bei Vera landen.

»Geben Sie mir die Nummer, dann regle ich es selbst.«

Mit dem Zettel in der Hand ging sie auf den Flur, wo sie fast mit Ferver zusammenstieß. Er hatte die bunte Tüte einer Buchhandlung in der Hand, die sich erfrischend von seiner grauen Gestalt abhob.

»Und, was Nettes zu lesen gekauft?«

Es konnte nie schaden, wenn man den Vorgesetzten dezent darauf hinwies, dass er in der Arbeitszeit auch nicht nur arbeitete. Vorsorge für den Fall, dass er sie irgendwann wieder einmal von seinem Fenster aus mehrfach an einem Tag in die gegenüberliegende Bäckerei laufen sah.

Leider machte er überhaupt keinen schuldbewussten Eindruck.

»Allerdings, Frau Mooser.«

Er zog aus der Tüte ein gelbes Reclamheftchen hervor: »Joseph von Eichendorff. Gedichte«, war darauf zu lesen.

»Ich habe von der Theorie des Kollegen Pöltz gehört.«

Wahrscheinlich hatte er einen der Kollegen ausgiebig ausgefragt oder, wie Maria schon einige Male vermutet hatte, eben doch eine Abhöranlage im Besprechungsraum installiert. Sie hätte ihn informiert, wenn denn Zeit gewesen wäre. Aber offensichtlich konnte sie sich das sparen.

»Eichendorff ist einer unserer größten Dichter, Frau Mooser. Wir sollten sehr genau prüfen, ob die stilistischen Ähnlichkeiten, die Herr Pöltz glaubt entdeckt zu haben, auch wirklich vorhanden sind. Einen Dichter wie Eichendorff in Zusammenhang mit einem solchen Irren zu bringen, das will gut bedacht sein.«

»Wir wissen schon, dass Eichendorff es nicht gewesen ist.«

Ferver zog die Augenbrauen ein klein wenig in die Höhe. Es reichte, um deutlich zu machen, dass er in diesem Punkt keinen Spaß verstand.

»Lesen Sie das. Und dann werden Sie sehen, Frau Mooser, dass das hier hohe Dichtkunst ist. Was dieser Verbrecher produziert, ist dagegen stümperhafte Schmiererei.«

»Herr Ferver, es ist mir wirklich völlig egal, ob der Täter gut oder schlecht …«

»Nein, es ist nicht egal«, fiel er ihr ins Wort. »Es ist wesentlich, sehr wesentlich sogar. Suchen Sie den feinsinnigen Poeten oder den schmierenden Proleten, Frau Mooser? Wie sieht Ihr Täterprofil aus?«

Er hob das kleine gelbe Buch hoch und hielt es ihr unter die Nase.

»Geht es Ihrem Täter wirklich um die hohe Kunst des Dichtens? Ist das seine primäre Intention? Ich habe die Texte von diesem Menschen doch gelesen. ›Einsamkeit zerstückelt das Herz‹. Was für eine Plattitüde! Eichendorff mag dem einen oder anderen etwas schwelgerisch erscheinen, aber solche Banalitäten finden Sie bei ihm nicht. Einen schmierenden Proleten, den suchen Sie, Frau Mooser! Keinen Poeten.«

Maria, die ein gutes Stück größer war als Ferver, hatte gar keine andere Möglichkeit. Sie musste die ganze Zeit auf seine Halbglatze schauen, eine glänzende, spiegelglatte Fläche, umrahmt von einem spärlichen Kranz dünner grauer Haare.

Ferver redete ununterbrochen weiter.

Spiegelgatt. Wie schaffte er das nur? Niveacreme? Babyöl? Möbelpolitur?

»… genau zu differenzieren. Ich hoffe, Sie haben das verstanden, Frau Mooser?«

»Ein wichtiger Gedanke. Ich werde ihn berücksichtigen.«

Die beste Möglichkeit, Ferver loszuwerden, war, ihm recht zu geben. Sie nahm ihm das Buch aus der Hand.

»Ich lese es, sobald ich Zeit habe.«

»Sie sollten es bald lesen, sehr bald!«

»Sicher. Aber jetzt muss ich einen wichtigen Anruf erledigen.«

Rasch verschwand sie in Richtung ihres Büros, sah aus den Augenwinkeln noch, wie Ferver mit seiner Tüte, in der offensichtlich mehrere Exemplare des kleinen gelben Buches waren, zu Mengert ging. Der würde sich bestimmt ganz besonders freuen.

Maria wählte die Nummer von Karel Lindnars Freundin.

Es dauerte, dann war eine Frauenstimme zu hören.

»Hallo?«

Tanja Vliegel war am Apparat, und Maria erklärte, wer sie war und was sie wollte.

»Bei mir?«, fragte die junge Frau. »Der hat tatsächlich gesagt, er wäre an dem Abend bei mir gewesen?«

»War er nicht?«

»Nein. Der war ganz bestimmt nicht bei mir. Und der kommt mir auch nicht mehr in die Wohnung. Ich bin froh, dass ich dieses Arschloch los bin.«

Tanja Vliegel schimpfte, so wie Frauen schimpfen, die man zu sehr gekränkt hat. Karel Lindnar sei völlig verpeilt, unzuverlässig und ein mieser Egoist.

Er hatte Tanja Vliegel mehrfach sitzen gelassen, war nicht erschienen, wenn er es sollte, dann wieder mitten in der Nacht aufgetaucht, hatte sie aus dem Bett geklingelt, um in ihrer Küche Spaghetti zu kochen, ihren Rotwein auszutrinken und wieder zu verschwinden.

Es hatte damit geendet, dass sie ihn im »Mohren« gesehen hatte, mit einer anderen, nachdem er sie eine Stunde zuvor angerufen und verkündet hatte, dass er leider nicht kommen könnte, weil er an einem Referat arbeiten würde.

Tanja Vliegel beteuerte, Karel Lindnar in dieser Woche überhaupt noch nicht gesehen zu haben. Das würde sie auch gern jederzeit zu Protokoll geben.

Als Maria auflegte, war ihre Hand schweißnass. Deshalb hatte Lindnar also gezögert, als es um sein Alibi ging. Er hatte sie belogen, und er hatte schlecht gelogen.

Er hatte eine Frau genannt, die sie ohne Weiteres auffinden würden, und dazu noch eine, die so wütend auf ihn war, dass sie ihn niemals decken würde.

Wenn man schon ein Alibi erfinden musste, dann gab es jede Menge bessere Möglichkeiten. Ausreden, die schwerer nachzuprüfen waren, die Zeit verschafften.

Alsberger hatte alle Daten Lindnars akribisch auf dem Zettel notiert. Die Adresse, eine Handynummer, die Nummer des Festnetzanschlusses.

Maria wählte Lindnars Handynummer, ließ es klingeln, wieder und wieder.

Was machte jemand, der so besessen war wie dieser Hades, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlte? Im besten Falle haute er einfach ab. Oder er nutzte die Zeit, die ihm bis zur Verhaftung blieb, um zu tun, was er noch vorhatte.

Sie versuchte es noch einmal, diesmal unter dem Festnetzanschluss.

»Ja, hallo?« Die Stimme eines jungen Mannes, leider nicht die von Lindnar.

»Mooser hier. Ich würde gerne Karel Lindnar sprechen, ist er da?«

»Ja, der ist hier. Auf jeden Fall ist der hier.« Der junge Mann klang ziemlich genervt. »Warten Sie, ich geh mal klopfen.«

Im Hintergrund erklang Musik, dumpf und laut. Der Name »Karel« wurde einige Male gerufen. Dann war die Stimme des jungen Mannes wieder zu hören.

»Tut mir leid«, sagte er. »Der macht nicht auf. Soll ich etwas ausrichten?«

»Nein, nicht nötig.«

Sie würden sowieso in zehn Minuten vor der Haustür stehen.

Lindnar wohnte in der Rohrbacher Straße, eine der Südachsen, die aus der Innenstadt herausführten und die entsprechend viel befahren waren. Längs der Straße gab es allerlei Lokale und Geschäfte und das Kino, in dem Maria erst vorletzte Woche mit Jörg gewesen war.

Der Altbau, in dem Karel Lindnar lebte, machte schon von außen den Eindruck, als sei eine Renovierung seit Längerem überfällig.

Mengert war mitgekommen, weil Alsberger angeblich etwas Wichtiges erledigen musste. Maria vermutete stark, dass er mit Vera Kaffee trinken war.

Sie drückte auf die Klingel, über der auf einem kleinen weißen Stück Papier nicht nur Lindnars, sondern noch drei weitere Namen standen. Die Autos rauschten vorbei, der Türsummer war kaum zu hören. Ein leises Brummen, dann gab die Haustür nach.

»Wer ist denn da?«

Ein paar Stockwerke höher erschien ein Kopf über dem Treppengeländer.

Maria antwortete nicht, sie ging einfach hoch, der Musik nach, die mit jedem Treppenabsatz lauter wurde.

Im dritten Stock stand ein junger Mann in Jeans und weißem T-Shirt wartend in einer der Wohnungstüren.

»Was wollen Sie denn?«

»Mooser, Kripo Heidelberg. Und das ist mein Kollege, Herr Mengert«, schnaufte Maria, als sie die letzten Stufen erklommen hatten. »Wir möchten zu Herrn Lindnar.«

Die Musik kam aus der Wohnung, und hier oben war sie so dröhnend laut, dass sie schon vor der Tür kaum noch normal miteinander reden konnten.

»Na, dann versuchen Sie Ihr Glück mal. Aber ich glaube nicht, dass Sie viel Erfolg haben werden.« Der junge Mann trat zurück, um sie hereinzulassen. »Haben Sie nicht eben auch angerufen?«

»Habe ich.«

Er zeigte auf eine der Türen, die in dem langen, hohen Flur zu sehen waren.

»Das da vorne ist sein Zimmer. Karel hat heute wieder seine fünf Minuten. Die dauern bei ihm nur leider meistens einen halben Tag. Wegen ihm fliegen wir hier noch alle raus.«

Hämmernde Bässe, elektronisch verzerrte Töne. Sie mussten fast schreien, um sich zu verständigen. Schon leise hätte Maria diese Musik nicht ertragen, in dieser Lautstärke war sie die reine Folter.

Sie nickte Mengert zu. Der klopfte an Lindnars Zimmertür, drückte die Klinke herunter, aber es war abgeschlossen.

»Herr Lindnar, Kripo Heidelberg, machen Sie bitte auf!«, rief Mengert.

Es passierte nichts, die Bässe wummerten weiter.

Mengert versuchte es noch einmal in höflicher Weise, dann bollerte er mit der Faust so auf die Tür, dass sie kurz davor war, nachzugeben.

»Kripo!«, brüllte er. »Machen Sie die Tür auf!«

Ein paar Sekunden geschah nichts, dann wurde es plötzlich still. Noch eine Weile und man konnte hören, wie der Schlüssel von innen umgedreht wurde.

Karel Lindnar steckte den blonden Schopf zur Tür heraus. Er schaute Mengert irritiert an, sah dann Maria, die hinter ihm stand.

»Ach, Sie sind das. Tut mir leid, ich hatte wohl die Musik ein bisschen zu laut gestellt.«

»Idiot«, kommentierte sein WG-Kollege, drehte sich um und verschwand in einem der hinteren Zimmer.

Lindnar öffnete einen Spaltbreit die Tür, schlüpfte heraus und zog sie sofort wieder hinter sich zu.

»Bei mir sieht es saumäßig aus. Besser, Sie sehen das nicht, Sie wären entsetzt«, sagte er und ging voraus in den Flur. »Hier hinten ist die Küche, da können wir rein. Sie sind bestimmt wegen der Sache mit Tanja da, was?«

Die Küche, in die er sie führte, erfüllte alle Vorurteile, die man gegen eine WG-Küche nur haben konnte. Es war kaum vorstellbar, dass es irgendwo noch saumäßiger aussehen konnte als hier.

Der Herd war mit einer bräunlichen Kruste überzogen, der Boden davor reichlich mit irgendwelchen Essensresten bekleckert. Auf dem Tisch stapelten sich dreckige Teller und Pappkartons mit Pizzaresten, gekrönt von etlichen Kippen, die man auf den Salamischeiben ausgedrückt hatte. Überall lagen Zeitungen herum, dazwischen halb leere Becher, einige mit kleinen grünlichen Inseln, die darin schwammen.

Lindnar räumte ihnen die Sitzbank frei, die vor dem Fenster stand.

»Wir haben mit Frau Vliegel gesprochen.« Maria wischte ein paar Cornflakes weg, bevor sie sich setzte. »Sie hat uns erzählt, dass Sie am Montagabend nicht bei ihr waren. Frau Vliegel ist sich da sehr sicher.«

»Ja, das ist mir dann auch eingefallen, dass das nicht stimmen kann. Dass ich bei Tanja war, muss so zwei Wochen vorher gewesen sein. Da habe ich was durcheinandergeworfen.«

»Und, wo waren Sie dann am Montagabend?« Mengert, der auf der Küchenbank wie ein Riese wirkte, verschränkte die Arme, wahrscheinlich eine Vorsichtsmaßnahme, um nicht am Tisch festzukleben.

Karel Lindnar hatte sich ihnen gegenübergesetzt. Beiläufig schob er Teller und Pappkartons beiseite, so als müsse er für etwas Platz schaffen.

»Ich habe schon überlegt, wo ich war«, sagte er. »Aber …«

Er verstummte. Im Zeitlupentempo begann er mit dem Zeigefinger irgendeinen Krümel über den Tisch zu schieben, erst nach links, dann nach rechts, dann wieder zurück. Scheinbar gedankenlos. So wie jemand, der während des Telefonierens kleine Karos auf den Notizblock malte.

Wie hypnotisiert starrte Maria auf seine Hand, konnte den Blick nicht mehr davon lösen. Es waren Spritzer darauf. Rote Spritzer, von einer getrockneten Flüssigkeit. Ein kräftiges, dunkles Rot.

Sie schaute hoch. Ihre Blicke trafen sich. Lindnar wusste genau, was sie gesehen hatte.

»Ich habe wirklich ein schlechtes Gedächtnis«, sagte er und lächelte. »Das ist wie mit der Küche. Ich wäre am Wochenende dran gewesen, aufzuräumen. Habe ich doch total vergessen. Aber das hier, das ist gar nichts gegen mein Zimmer.« Seine Stimme wurde leise, fast flüsternd, als verrate er ein Geheimnis. »Wenn Sie mein Zimmer sehen würden, Sie wären entsetzt. Sie wären so entsetzt.«

Was sollte das? Wollte der, dass sie in sein Zimmer gingen?

Es klang wie ein Auftrag: Geh hin und sieh nach! Sieh nach, was da so entsetzlich ist. Sieh nach, weshalb ich rote Spritzer auf der Hand habe. Sieh nach, weshalb die Musik so laut sein musste.

»Dann schauen wir uns Ihr Zimmer doch einmal an, Herr Lindnar.« Maria stand auf.

»Verstehe ich nicht ganz«, Mengert rutschte von der Bank, »aber bitte.«

Sie gingen den Flur entlang. Vor der Zimmertür blieb Lindnar stehen und drehte sich zu Maria um.

»Und Sie sind sich ganz sicher, dass Sie es sehen wollen?«

Er stand da mit verschränkten Armen.

Arthurs Prophezeiung. Maria konnte an nichts anderes denken. Die nächste tote Braut, in einem Raum mit Rosenblüten auf dem Boden.

»Gehen Sie zur Seite.«

Maria öffnete die Tür.

Das Zimmer lag im Halbdunkel, das Rollo am Fenster war ein Stück herabgelassen. Ein Wollteppich bedeckte die Holzdielen, vor dem Fenster stand ein Schreibtisch mit einem Computer, an der Wand ein breites Bett, von dem eine Steppdecke herunterhing.

»Ach du Scheiße!« Mengert hatte es als Erster entdeckt.

Auf der Wand rechts neben der Tür waren mehrere Zeilen zu sehen, in großer Schrift, rot, über eine Fläche von anderthalb Metern. An einigen Stellen war die Flüssigkeit nach unten getropft, blutrote Rinnsale, bis zum Boden hin.

Mordnacht

Es war, als hätt das Böse

die Erde kalt berührt,

hätt still, ohn’ viel Getöse,

die Liebste mir entführt.

Schwarzvogel überm Neckar,

die Wogen rauschten leis,

der Himmel glänzte sternklar,

die Luft war kalt wie Eis.

Und ihre Seele kämpfte,

wollt bleiben, wollt nicht fliegen,

doch Tod die Schreie dämpfte,

musst sterben, kannst nicht siegen.

»Als Vorlage habe ich die ›Mondnacht‹ genommen.« Lindnar fuhr sich durch die Haare, den Blick stolz auf sein Werk geheftet. »Sie interessieren sich doch für Eichendorff? Ich habe es umgeschrieben. Am schwierigsten fand ich die letzten vier Zeilen. Da muss ich noch etwas dran arbeiten.« Er stützte die Hände in die Seiten. »Und, wie finden Sie es? Nicht schlecht, was?«

Er hob ein Blatt auf, das auf dem Boden lag. »Im Original geht das so: ›Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst, daß sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst. Die Luft ging durch die Felder, die Ähren wogten sacht …‹«

»Womit haben Sie das geschrieben?«, fragte Maria.

»Womit? Na, mit einem Pinsel.«

»Ich will wissen, was das ist! Farbe?«

Karel Lindnar trat einen Schritt auf die Wand zu und betrachtete die Schrift.

»Acryl«, sagte er. »Oder vielleicht doch nicht? Warten Sie, jetzt fällt es mir wieder ein.« Er drehte sich zu ihr um, das Gesicht voller Spott und Hohn. »Ich glaube, das ist Jungfernblut mit Spucke.«

Es war kein Blut, mit dem Lindnar das Gedicht an die Wand geschrieben hatte. Es war ordinäre Acrylfarbe, so wie man sie in jedem Bastelgeschäft bekam. Maria hatte geschnüffelt und geschnuppert. Das, was Lindnar da für seine Wandmalerei benutzt hatte, roch eindeutig nach Farbe.

Aber Lindnars Äußerung über das Jungfernblut hatte es ihr leicht gemacht, bei der Staatsanwältin die Erlaubnis für eine Hausdurchsuchung zu bekommen. Gefahr im Verzug. Wer wusste schon, was sich bei jemandem, der angeblich mit Blut Gedichte an die Wand schrieb, im Keller fand.

Maria hatte einen Wagen geordert und Lindnar zur Polizeidirektion bringen lassen. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, seinem Mitbewohner noch zuzurufen, dass er unter Mordverdacht stehe.

»Die denken, ich wäre der Killer vom Neckar. Ruf meinen Alten an! Sag ihm, ich wäre der neue Dichterfürst!«

Mengert war mitgefahren. Karel Lindnar würde erst einmal in die Arrestzelle gebracht werden. Die anheimelnde Atmosphäre dort würde hoffentlich seinem Gedächtnis etwas auf die Sprünge helfen. Vielleicht fiel ihm ja noch ein, wie er den Montagabend verbracht hatte.

Maria wartete in der Wohnung auf die Kollegen. Bevor sie Lindnar noch einmal vernahm, musste sie wissen, ob sie irgendetwas Konkretes gegen ihn in der Hand hatte.

In der WG-Küche klapperte Geschirr. Lindnars Mitbewohner stand mit blassem Gesicht an der Spüle und ließ Wasser ins Becken laufen, wohl in der Absicht, etwas Ordnung ins Chaos zu bringen. Und Spülen beruhigte, das kannte Maria auch.

»Ich glaube nicht, dass er jemandem etwas antun würde«, sagte er, als sie zu ihm in die Küche kam.

»Seit wann kennen Sie Karel?«

»Er ist seit ungefähr einem Jahr hier. Karel ist manchmal schwierig, aber eigentlich ist er ein netter Kerl.«

Der nette Kerl vom Zimmer nebenan. In der Tat, ganz so sah er aus. Solange er den Mund nicht aufmachte. Denn wenn er ihn aufmachte, dann redete er sich um Kopf und Kragen.

Ob das alles zum großen Auftritt gehörte?

Hades, der der Polizei auf der Nase herumtanzte? Der sich gezielt in Verdacht brachte, um weitere Punkte im Wettstreit zu sammeln? Der schon jetzt wusste, dass sie ihn würden ziehen lassen müssen, weil in seinem Zimmer nichts zu finden war außer Comic-Heftchen und einer Bibel?

Oder war Lindnar einfach nur ein Spinner, der seine Chance gewittert hatte, einmal in seinem Leben unter Mordverdacht zu geraten und sich damit wichtigzutun?

Maria schaute auf die Uhr. Die Kollegen ließen sich Zeit.

»Und wie ist Karel, wenn er schwierig ist?« Sie setzte sich auf die Bank.

»Chaotisch, er hält sich an keine Regeln. Deshalb haben wir oft Krach mit ihm. Und er steigert sich in alles rein. Wenn Sie mit Karel über irgendetwas diskutieren, kann er überhaupt nicht mehr aufhören. Der diskutiert so lange, bis er völlig wirr im Kopf ist.«

»Wirr? Was meinen Sie damit?«

»Er verliert den Faden, verzettelt sich. Chaos im Kopf.« Der junge Mann versenkte den ersten Stapel Teller im Spülwasser. »Für den ist das Studium nichts. Und bei diesem ganzen Palaver jetzt mit Bachelor und Master, da müssen Sie so reinklotzen, das bekommt der nicht hin. Karel ist superintelligent, der kann Ihnen tausend Ideen in zehn Minuten produzieren, aber seine Creditpoints schafft der nie. Ich glaube, der macht das mit dem Studium nur für seine Eltern.«

»Schreibt er Gedichte?«

Überrascht drehte der junge Mann sich um.

»Gedichte? Also, davon habe ich bisher nichts mitbekommen.«

Marias Handy klingelte. Mengert meldete sich aus der Polizeidirektion.

»Hier gibt es Neuigkeiten. Eben hat eine Frau angerufen, die in dem Haus lebt, wo die Rinkner gewohnt hat. Bei Lea Rinkner ist anscheinend jemand eingebrochen. Das Siegel wurde beschädigt, und an der Tür ist Holz abgesplittert.«

»Wann war das?«

»Weiß sie nicht. Ist ja die Dachwohnung, da kommt normalerweise keiner vorbei. Die Frau wollte etwas vom Speicher holen, da hat sie es gesehen. Macht ganz den Eindruck, als hätte unser Täter noch etwas beiseiteschaffen müssen.«

Jantzeks Leute hatten diese Wohnung von oben bis unten auf den Kopf gestellt. Sollten sie wirklich etwas übersehen haben, was auf den Täter hätte hinweisen können?

»Schick zwei der Kollegen hin. Sie sollen sich die Fotos und die Bestandsliste besorgen, die von der Wohnung angefertigt wurden, und prüfen, ob irgendetwas fehlt. Und sie sollen in der Nachbarschaft fragen, ob jemandem etwas aufgefallen ist.«

Nachdenklich drückte Maria das Gespräch weg. Es klingelte sofort wieder.

»Ja, was denn?«

Aber es war nicht noch einmal Mengert.

Die Stimme einer älteren Frau war zu hören, schrill vor Angst.

»Sie ist weg!«

»Wer spricht denn da?«, fragte Maria.

»Er hat sie!« Ein Schluchzen. »Er … er hat sie geholt!«

»Wer ist da?«

»Szeidel«, kam es stammelnd vom anderen Ende. »Ulrike Szeidel. Sie ist weg! Er wird sie umbringen, ich weiß es. Und es ist meine Schuld! Es ist alles nur meine Schuld!«

Jetzt erkannte Maria die Stimme wieder. Es war die Mutter von Sarah Szeidel.

»Sarah?«, rief Maria in den Hörer. »Sarah ist verschwunden?«

»Nein!« Ein erneutes Aufschluchzen. »Nicht Sarah. Julie! Meine Enkelin. Die Kleine. Die Kleine ist weg!«

Es war, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Magen versetzt. Für einen Moment glaubte Maria, keine Luft mehr zu bekommen.

Der Brief, den Sarah Szeidel in ihrem Briefkasten gehabt hatte! Die Münze, die der Täter ihr hatte zukommen lassen. Es ging doch immer nur um Sarah Szeidel! Wieso das Kind?

In fünf Minuten sei man da, versicherte Maria, bestimmt würde Julie bald wieder auftauchen. Aber es gelang ihr nicht, Ulrike Szeidel zu beruhigen.

»Und, ist was Schlimmes passiert?«, fragte der junge Mann am Spülbecken, der wohl ihr entsetztes Gesicht gesehen hatte.

»Nein, nein. Alles in Ordnung. Aber ich muss weg. Die Kollegen kommen sicher gleich.«

Maria hastete aus der Wohnung. Noch während sie die Treppe hinunterlief, holte sie ihr Handy hervor und rief Mengert an.

»Lies mir das Gedicht von diesem Hades noch einmal vor. Das, was an Sarah Szeidel ging.«

»Was ist denn?«, fragte Mengert.

»Ihre Tochter ist verschwunden.«

»Oh nein, das darf doch nicht wahr sein!«

»Hol dieses Gedicht!«

Es dauerte, dann kam Mengert wieder an den Hörer.

»Da steht doch nur etwas von ›Braut‹ drin, oder nicht?« Maria hörte selbst die Unsicherheit in ihrer Stimme. »Er holt sich seine Braut! Da steht doch kein Wort von einem Kind?«

Mengert las – das Wort »Kind« kam in diesem Gedicht gar nicht vor, das Wort »Braut« allerdings auch nicht.

»Die zweite Strophe, lies sie noch einmal vor!«

»Das mit der Maid?«

»Nun lies schon!«

»Also, da steht: ›Werd folgen dir, du süße Maid, werd spüren, ob du bist bereit. Werd dich umfangen, dich berühren, ins Reich der Schatten dich entführen.‹«

Süße Maid. Konnte er damit ein kleines Mädchen meinen?

Kleine süße Maid?