Göttergrüße

Maria sprang aus dem Bett. »Komm mit, schnell!«

Sie eilte in das kleine Arbeitszimmer, in dem ihr PC stand.

»Vera musste in der Schule einmal ein Referat über griechische Mythologie halten. Die Hälfte davon habe ich geschrieben.«

»Von was redest du?« Arthur folgte ihr, in Unterhose und T-Shirt.

»Da gab es doch diesen Fährmann.« Maria setzte sich vor den Computer und schaltete ihn ein. »Der hat die Toten über einen Fluss gebracht. Und als Fährgeld hat man ihnen eine Münze in den Mund gesteckt.«

Sie ging ins Internet. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis die Suchmaschine ausspuckte, was sie wissen wollte.

»Siehst du, da steht es: der Obolus. Eine Münze von geringem Wert. Dafür hat der Fährmann die Verstorbenen über den Totenfluss Styx in das Reich der Toten gebracht. Die Münze hat man ihnen als Grabbeigabe unter die Zunge gelegt.«

Arthur beugte sich über ihre Schulter. »Du meinst, dafür war der Cent, den Lea Rinkner im Mund hatte? Das war das Geld für die Fähre?«

»Das würde doch passen. Und im Gedicht steht, er steigt aus dem ›Schattenreich‹. Das ist das Reich der Toten!«

»Gib es doch mal ein.«

Beide schauten gebannt auf den Bildschirm.

»Hier, ›Schattenreich‹, ›Ort der Toten‹, siehe ›Hades‹.« Maria klickte weiter. »›Hades, ein Begriff für die Unterwelt, aber auch für den Gott der Unterwelt.‹«

Sie las vor, von Hades, der eine Tarnkappe besaß und sich unsichtbar machen konnte, der Herrscher über das Reich der Toten war, in dem die Menschen nur als Schatten existierten.

Ein Reich, in dem keine Göttin mit ihm leben wollte, sodass er schließlich, von Einsamkeit getrieben, die schöne Persephone raubte und gegen ihren Willen zu seiner Frau machte.

Persephones Mutter, Demeter, die Göttin der Erdfruchtbarkeit, setzte Göttervater Zeus daraufhin unter Druck, dass er ein Machtwort sprechen und ihre Tochter wieder zu ihr zurückkehren lassen solle. Um ihrer Forderung etwas Nachdruck zu verleihen, ließ sie die Pflanzen auf der Erde nicht mehr wachsen, die Vegetation erstarb.

»Zeus hat dann entschieden, dass Persephone wieder zurück zu ihrer Mutter darf, aber nur, wenn sie in der Unterwelt noch nichts gegessen hat. Hatte sie aber. Vier Kerne eines Granatapfels.« Maria überflog die Zeilen auf dem Bildschirm. »Also einigten sie sich auf einen Kompromiss: Persephone muss jeweils vier Monate im Jahr im Schattenreich bei Hades bleiben, den Rest des Jahres darf sie zurück zu ihrer Mutter. Und diese vier Monate lang trauert Demeter und lässt auf der Erde nichts mehr wachsen. Deshalb haben wir dann Winter.«

Arthur verschwand und kam mit der Kopie des Gedichts wieder.

»Dann meint er das damit: ›Zur Braut sie genommen, zur Fähre geleitet, der Winter wird kommen, der Weg ist bereitet!‹ Er holt sich seine Braut, und deshalb wird es bei uns Winter.«

»Ja. Sieht ganz so aus, als würde unser Täter denken, er wäre Hades. Nur dass Lea Rinkner nicht zurückkehren wird, wenn der Winter vorbei ist.«

Noch während Maria es aussprach, stieg die Angst in ihr hoch, so als ob sie selbst in die Fluten des Totenflusses gestiegen wäre und Zentimeter für Zentimeter im kalten Wasser versinken würde.

Sie sah auf den Bildschirm. »Mengert hat recht.«

»Womit?«

»Der Täter hat einen an der Klatsche. Er ist verrückt, gestört.«

»Maria, du musst tun, was er verlangt! Du musst das im Radio verlesen lassen. Das Risiko ist zu hoch. Über seinem Gedicht steht ›Erster Akt‹! Das ist ganz klar eine Drohung. Wir dürfen ihn auf keinen Fall verärgern.«

Dieser Mensch benutzte sie. Er wollte, dass sie nach seiner Pfeife tanzten. Alles in Maria sträubte sich dagegen, zu tun, was er forderte.

»Er ist nicht berechenbar.« Arthurs Stimme klang beschwörend. »Jemand, der denkt, er wäre Hades, ist nicht berechenbar!«

Eine Stunde später wurde das Gedicht zum ersten Mal im Radio verlesen.

Bis drei Uhr morgens recherchierten sie im Internet. Maria wusste nicht mehr allzu viel über griechische Mythologie, aber nach dieser Nacht kannte sie sich wieder ganz gut aus mit Höllenhunden, den komplizierten verwandtschaftlichen Beziehungen der Götter untereinander und ihren endlosen Querelen.

Arthur war in aller Frühe nach Hause gefahren, angeblich weil er noch vor Dienstbeginn ins Mühltal zum Walken wollte. Maria vermutete allerdings, dass er versuchen wollte, Sabine zu erreichen – ohne dass sie ihm dabei zuhörte oder kluge Ratschläge erteilte.

In der Polizeidirektion setzte sie sich als Erstes mit den Pressesprechern zusammen. Maria hatte sie noch in der Nacht informiert. Inzwischen liefen schon Anrufe von Zeitungen und allen möglichen Sendern ein, und Maria war heilfroh, dass sie diesen Part an die Kollegen abgeben konnte.

Danach war Teambesprechung. Arthur und sie berichteten, was sie in der Nacht herausgefunden hatten. Zeile für Zeile sprachen sie noch einmal das Gedicht durch. Und das mulmige Gefühl, das Maria ergriffen hatte, machte sich auch in der Gruppe breit und sorgte für Anspannung.

Es war schon fast elf, als sie endlich zum Ende kamen. Maria beschloss, schnell rüber in die Bäckerei zu gehen. Das gemeinsame Frühstück am Morgen war ausgefallen, weil Arthur es so eilig gehabt hatte, und ihr Magen hatte schon mehrfach laut geknurrt.

Als sie zurückkehrte, saß vor der Polizeidirektion eine kleine Gestalt in einer dicken schwarzen Jacke am Rand des Wasserbassins und rauchte. Es war Cloe.

»Was machst du denn schon hier?«

Dass Cloe nicht mehr freiwillig auftauchen würde, damit hatte Maria gerechnet. Aber dass sie eine Stunde zu früh kam?

»Ich habe auf Sie gewartet. Der an der Pforte hat gesagt, Sie wären eben weggegangen.«

Cloe hatte tiefe Ringe unter den Augen und sah ganz danach aus, als hätte sie die halbe Nacht geweint. Sie zog an ihrer Zigarette, dann warf sie den Rest davon ins Wasserbassin.

»Hey«, fuhr Maria sie an, »was soll die Schweinerei!«

»Wieso, sind doch keine Fische drin, oder?«

Bei jedem anderen hätte Maria Provokation vermutet, bei Cloe hörte es sich an, als sei es eine völlig berechtigte Frage.

»Ich habe das im Radio gehört«, sagte Cloe, »das komische Gedicht von dem, der Lea umgebracht hat. Den ›Heidelberger Frauenmörder‹ haben sie ihn genannt. Glauben Sie, der bringt jetzt noch mehr um?«

Maria ging mit ihr hoch ins Büro. Auf dem Weg dorthin redete Cloe wie ein Wasserfall, spekulierte ohne Pause über den großen Unbekannten, den durchgedrehten Killer. Kommentare, alle gut dazu geeignet, eine Kripobeamtin schon vor Mittag in die Depression zu treiben.

»Was ist mit der Liste?«, unterbrach Maria sie.

»Meine Mutter hat den beiden Typen gesagt, dass ich am Montag den ganzen Abend zu Hause war.«

»Ich weiß. Und jetzt die Liste.«

»Brauchen Sie die denn überhaupt noch? Wo es doch so ein Irrer war?«

Maria streckte auffordernd die Hand aus. »Wir haben eine Abmachung, schon vergessen?«

Widerwillig zog Cloe den Reißverschluss ihrer Jacke auf und holte ein zusammengefaltetes Papier hervor.

»Aber ich beschuldige niemanden, damit das klar ist.«

»Davon war auch nie die Rede.«

Cloe ignorierte Marias ausgestreckte Hand, legte das Blatt vor sich auf den Schreibtisch und holte gleich noch etwas anderes aus ihrer Jacke. Eine Postkarte, die sie über den Tisch schob.

»Die ist für Sie«, sagte sie.

»Für mich?«

Auf der Karte war ein Esel zu sehen, der auf einer saftig grünen Wiese stand und neugierig in die Gegend schaute. Maria dreht die Karte um.

Cloe hatte einen Spruch quer über die Rückseite geschrieben: Groß ist, wer das Kleine übersehen kann.

»Wegen dem Dope, ich meine, weil Sie es vergessen haben«, erklärte Cloe. »Meine Mutter hätte mir die Hölle heißgemacht.«

Es war eine von der Art Karten, wie sie an der Pinnwand in Lea Rinkners Wohnung hingen.

»Kann ich mal für kleine Mädchen?«

Sie war aufgestanden, ohne auf eine Antwort zu warten. Maria zeigte ihr den Weg und ging zurück zu ihrem Büro.

Kaum war sie wieder dort, klopfte es, und Ferver kam herein, im Gesicht so grau, dass er sich kaum von seinem Anzug unterschied.

Die etwas farbenfroheren Zeiten in seinem Leben, die alle überrascht hatten, waren schon längst wieder vorbei, genauer gesagt seit sein Techtelmechtel mit einer recht temperamentvollen Dame unglücklich zu Ende gegangen war.

»Frau Mooser, wenn Sie einen Moment Zeit hätten.«

Normalerweise rief ihr Chef an, um sie zu sich zu bestellen. Wenn er zu ihr kam, dann musste es etwas sehr Wichtiges geben. Ferver setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch, die kahle Stirn vor lauter Sorgenfalten noch knittriger als sonst.

»Frau Mooser, ich bin etwas schockiert.«

»Das bin ich auch«, erwiderte Maria. »Wirklich ein sehr seltsamer Fall.«

»Nein, nein, das meine ich nicht. Ich meine die Sache mit Herrn Alsberger. Ich habe eben erfahren, dass er gestern am Tatort ohnmächtig geworden ist und beträchtlichen Schaden für die Ermittlungen angerichtet hat.«

»Wer erzählt denn so einen Mist?«

Sie wusste es schon vor Fervers Antwort: Es konnte nur Jantzek gewesen sein. Das waren also die Konsequenzen, die er angedroht hatte. Jantzek war zu Ferver gerannt und hatte sich über Alsberger beschwert.

»Er ist nicht ohnmächtig geworden. Er hat nur versucht, Herrn Maier festzuhalten, der am Ufer abgerutscht ist. Dabei ist er unglücklich gestürzt, das ist alles.«

»Die andere Version, Frau Mooser, ist die, dass Herr Alsberger ohnmächtig wurde, über die Leiche fiel und dabei auch noch Herrn Maier ins Wasser gestoßen hat.« Ferver schaute sie an, mahnend, wie ein Lehrer, der ein Kind beim Mogeln erwischt hatte. »Und dass Herr Alsberger dem Anblick einer Leiche nicht gewachsen ist, ist ja nun wirklich kein Geheimnis mehr.«

Deshalb also war Jantzek gestern so ausgerastet. Schon vorstellbar, dass die Sache für ihn genau so ausgesehen hatte, wenn er nur Alsberger im Blick gehabt hatte. Dann mochte es in der Tat den Anschein erweckt haben, als sei der nach vorn gefallen und an allem schuld.

Maria erklärte, redete von Perspektive, Aufmerksamkeitsfokus und hinterlistigen optischen Täuschungen. Ferver sah leider nicht so aus, als habe sie ihn überzeugt.

»Und die Geschichte, dass er mit dem Dienstwagen von der Straße abgekommen ist?«, fragte er.

»Herr Alsberger ist nur ausgewichen. Es war … er hatte kaum eine Wahl. Ein Tier auf der Fahrbahn.«

Ferver runzelte die Stirn.

Jetzt bloß nichts von einem kleinen Hasen erzählen.

»Es war ein … ein großes Tier. Ein Wildschwein. Der Wagen wäre hinüber gewesen, wenn Herr Alsberger ihn nicht ins Feld gelenkt hätte. Das ist vielleicht eine Plage mit diesen Biestern. Jetzt ziehen sie schon am helllichten Tag durch die Gegend.«

»So, so, ein Wildschwein.« Schon wieder hatte Ferver diesen Lehrerblick. »So heißen jetzt also die Tiere mit den langen Ohren.«

Maria spürte, wie sie rot wurde. Wie konnte sie nur so blöd sein. Sie hätte sich denken können, dass die Hasengeschichte längst die Runde gemacht hatte.

Ferver entging nichts, was in der Abteilung los war. Er war klein und unscheinbar, manchmal stand er hinter einem, und man bemerkte ihn erst, wenn all die Dinge ausgesprochen waren, die er nicht hören sollte. Hades mochte sich mit einer Tarnkappe unsichtbar machen, Ferver brauchte dazu nur einen grauen Anzug.

»Frau Mooser, es ist ehrenvoll, dass Sie Herrn Alsberger in Schutz nehmen. Aber ich erinnere mich noch gut an seine Anfangszeit hier. Sie haben damals sehr deutlich gemacht, dass Sie auf seine Mitarbeit lieber verzichtet hätten. Ich hielt das für Rivalität, Eifersüchteleien. Aber ich glaube, ich habe Ihnen unrecht getan.«

»Herr Alsberger hat sich seitdem gut gemacht. Ich bin mit seiner Arbeit sehr zufrieden. Kleine Pannen passieren doch jedem von uns einmal.«

Ferver schien ihr nicht wirklich zuzuhören.

»Vielleicht wäre er in einem anderen Dezernat besser aufgehoben. Oder in der Verwaltung«, murmelte er vor sich hin.

Natürlich wäre Alsberger gut in der Verwaltung aufgehoben, er wäre genial in der Verwaltung – aber wer würde dann ihre elenden Berichte schreiben? An wem sollte sie ihre Launen auslassen? Wer würde sie durch die Gegend chauffieren?

Alsberger hatte man ihr damals nur deshalb zugeteilt, weil irgendjemand mit Beziehungen ihm unbedingt einen Job bei der Kripo hatte verschaffen wollen. Bestimmt würde sie nicht noch einmal einen Assistenten bekommen.

Sosehr Alsberger sie auch manchmal nervte, weg sollte er nicht.

Maria lobte ihn über den grünen Klee, aber je mehr Anerkennendes sie sagte, umso mehr Falten zeigten sich auf Fervers Stirn.

»Frau Mooser«, sagte er schließlich in väterlichem Tonfall, »ich verstehe Ihre Misere, schließlich ist Herr Alsberger mit Ihrer Tochter liiert. Doch wenn er dieser Tätigkeit nicht gewachsen ist, tut man ihm auch keinen Gefallen damit, etwas schönzureden.«

»Fragen Sie doch jemanden, der neutral ist«, schlug Maria vor. »Zum Beispiel Herrn Maier. Er kann Ihnen bestätigen, dass er am Ufer abgerutscht ist und Herr Alsberger ihm nur helfen wollte.«

»Frau Mooser.« Ferver schüttelte den Kopf. »Herr Maier und Sie … nun, Sie wissen schon, was ich meine. Es scheint doch Kontakte über das rein Berufliche hinaus zu geben.«

Er hob abwehrend die Hand, bevor Maria auch nur den Mund aufmachen konnte.

»Das ist Ihnen natürlich völlig freigestellt. Aber erlauben Sie mir, dass ich doch meine Zweifel an Herrn Maiers Neutralität bei solchen, nun, sagen wir einmal, quasi familiären Dingen habe.«

Wer erzählte Ferver so etwas? Hatten die hier nichts anderes zu tun, als Klatsch und Tratsch zu verbreiten? Sie und Jörg waren über eine Umarmung bei der Begrüßung noch nicht hinausgekommen, und hier wurden sie schon als Paar verbucht?

Zum Glück gelang es Maria, ihren Ärger im Zaum zu halten.

Sie redete und redete, lobte Alsberger nicht mehr ganz so auffällig, aber machte doch deutlich, dass er nützlich war, und überzeugte Ferver schließlich, mit irgendwelchen Schritten zu warten, bis die Ermittlungen in diesem Fall abgeschlossen waren.

Ferver bestand allerdings darauf, in den nächsten Tagen mit Alsberger zu sprechen und ihm seine Bedenken mitzuteilen, schließlich sollte der junge Mann nicht unvorbereitet mit einer Versetzung konfrontiert werden.

Zeit, das war es, was Maria haben wollte. Zeit, um Ferver davon zu überzeugen, dass Alsberger gute Arbeit leistete.

»Das Protokoll von der gestrigen Besprechung …« Ferver stand schon in der Tür und hatte sich noch einmal umgedreht. »Wer hat das geschrieben?«

Hatte sie die Unterschrift vergessen? Umso besser.

»Herr Alsberger, gestern Abend noch. Es war schon sehr spät, ich wollte nach Hause. Er ist netterweise noch geblieben und hat es erledigt. Obwohl er eine Verabredung hatte.«

Der erste Punkt für Alsberger. Wenn man ihr schon unterstellte zu lügen, dann sollte sie es auch tun. Was für ein Glück, dass sie sich noch mit diesem dämlichen Protokoll abgequält hatte.

Als ihr Chef zur Tür hinaus war, saß Maria eine Weile einfach nur da.

Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Ferver hatte Alsberger immer in Schutz genommen, wenn sie sich über ihn beschwert hatte. Vielleicht hätte sie ihrem Chef doch ab und zu mal etwas Positives über Alsberger erzählen sollen. Aber wie war das noch mit der Rivalität?

Ihr Blick fiel auf die Karte mit dem Esel. Sie musste weitermachen, Cloe stand schon seit Ewigkeiten draußen. Hatte das Mädchen irgendwann geklopft?

Auf dem Flur war Cloe nicht zu sehen. Das sah ganz danach aus, als sei sie gegangen. Wahrscheinlich war sie sauer, dass Maria sie hatte warten lassen. Es war ihr nicht zu verdenken, das Gespräch mit Ferver hatte lange gedauert.

Maria faltete das Papier auseinander, das Cloe auf ihren Schreibtisch gelegt hatte. Leider sah die Liste nicht so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Es stand kein einziges Wort darauf, dafür jede Menge Zahlen, fein säuberlich untereinandergeschrieben: 0622161…0622145… Telefonnummern? Was sollte das?

Sie suchte in ihren Unterlagen nach Cloes Handynummer und rief sie an. »Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht zu erreichen.« Na prima.

Ärgerlich wählte Maria die erste Nummer von Cloes Liste.

»HotWok – was können wir für Sie tun?«

»Wer ist da bitte?«

»HotWok, Lieferservice. Was dürfen wir Ihnen bringen?«

Nein, Maria wollte keine extragroße Portion gebratener Nudeln mit Huhn, auch wenn das heute im Angebot war.

Sie wählte die nächste Nummer.

»Pizzablitz Luigiano. Sie wünschen?«

Sie konnte sich schon fast denken, was sie weiter erwarten würde. Und sie hatte ganz richtig vermutet. Auch unter der nächsten Nummer erreichte sie einen Lieferservice, diesmal wieder asiatisch.

Wütend knallte Maria den Hörer auf.

Wollte Cloe sie an der Nase herumführen? Telefonnummern vom Pizzablitz für die gefräßige Kommissarin, damit ihr Assistent Arschberger nicht so oft zur Bäckerei laufen musste? War Clothilde Pettke wirklich so dumm, dass sie glaubte, sie könne mit der Kripo Spielchen treiben?

Marias Blutdruck war inzwischen so hoch, dass es in ihren Ohren pochte. Sie ging über den Flur zu Arthurs Büro und riss die Tür auf.

»Diese miese kleine …«, begann sie. Der Rest blieb ihr im Hals stecken.

Arthur schaute sie aus rot geränderten Augen an. Ganz offensichtlich hatte er geweint.

Erschrocken trat Maria an seinen Schreibtisch. »Was ist los?«

»Die Berichte sind da.«

Bemüht unauffällig schob er ein Blatt, auf dem er irgendetwas aufgeschrieben hatte, unter die Schreibtischunterlage.

»In Jantzeks Bericht steht, dass es keine brauchbaren Spuren gibt, weil ihr dort rumgetrampelt seid. Der Hausschlüssel vom Opfer war mit dem Metalldetektor nicht zu orten. Wahrscheinlich zu tief in den Neckarschlamm ›eingestampft‹, meint er.«

»Aber deswegen siehst du doch nicht so aus?«

Er senkte den Kopf. »Sabine war nicht zu Hause.«

So wie Arthur es sagte, vermutete Maria, dass er nicht nur angerufen hatte, sondern bei Sabine vorbeigefahren war.

»Vielleicht hat sie Frühdienst?«

»Das habe ich mir auch gedacht. Sie ist auch auf der Arbeit. Aber sie haben mir gesagt, sie hätte keine Zeit, ans Telefon zu kommen.«

»So eine dumme Kuh. Sie könnte wenigstens mal mit dir reden.«

»Ich schreibe ihr einen Brief.« Arthurs Stimme klang fast ein wenig trotzig. »Sabine ist ein guter Mensch, das weiß ich. Sie wird sich melden und mir alles erklären.«

Typisch Arthur, der niemandem böse sein konnte. Das würde dauern, bis er über die Sache mit Sabine hinweg war.

Ablenkung tat da vielleicht gut. Maria erzählte ihm von ihrem Ärger über Cloe Pettke.

»Gib mir die Liste, ich telefonier sie mal durch«, war alles, was Arthur dazu zu sagen hatte. »Ach, und die von der Technik haben hier etwas abgegeben. Das hat die Spusi in der Mülltonne vor Lea Rinkners Haus entdeckt. Ihre Fingerabdrücke sind drauf.«

Er reichte ihr einen großen braunen Umschlag.

Maria zog ein Blatt hervor, das in einer Klarsichthülle steckte. Es waren Papierfetzen, die man wie ein Puzzle wieder zusammengesetzt hatte.

Ein Gedicht, in einem Stil geschrieben, der ihr bekannt vorkam:

Schönste der Schönen, die mein Herz betört,

befruchtet von der Schlange, die dein Schreien nicht hört.

Der Einsamkeit Klaue, todbringend die Pein,

der Bräutigam kann länger nicht ohne dich sein.

Nun erlischt der Sonne wärmender Strahl,

erlöst werd’ ich endlich von grausamer Qual.

Es ist an der Zeit, die Nebel steigen,

komm, Gottesbraut, komm, zum Hochzeitsreigen.

Maria hielt es Arthur hin. »Und das zeigst du mir erst jetzt, spinnst du?«

»Ich … Ich …« Er schwieg.

Er hatte gar nicht in den Umschlag hineingeschaut. Weil er den Kopf nur mit Sabine voll hatte. Und viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, Liebesbriefe zu schreiben.

Maria kannte Arthur seit einer halben Ewigkeit, aber zum ersten Mal war sie richtig wütend auf ihn.

»Weißt du eigentlich, was das heißt?«, fragte sie.

Arthur las, was auf dem Blatt stand. »Na, die Schlange, das ist vielleicht …«

»Das meine ich nicht. Der Täter hat Lea Rinkner diesen Brief zukommen lassen. Das heißt, er kannte sie!«

Also kein Irrer, zumindest keiner, der im Busch hockte und über irgendeine beliebige Frau herfiel! Der Mörder hatte Lea gekannt. Es war ihm genau um diese eine Frau gegangen, um Lea Rinkner.

Vielleicht ein Bekannter. Ein Freund. Das würde ihre Chancen, den Täter zu finden, erhöhen.

Maria las den Begleitbrief der Technik. Lea Rinkners Fingerabdrücke waren auf den Papierfetzen, aber eben nur ihre. Sie hätte es sich denken können. Auf dem Brief an den Radiosender waren auch keine Abdrücke zu finden gewesen. Ein selbstklebender Umschlag, keine DNA-Spuren.

Der Täter war vorsichtig. Bei allem Seelenschmerz hatte er zumindest gut im Auge, was er tun musste, um keine Spuren zu hinterlassen.

»›Bräutigam‹, schreibt er und ›Gottesbraut‹. Das passt genau zu dieser Hades-Geschichte.« Arthur hatte sich über das Papier gebeugt und studierte sorgfältig Zeile für Zeile. »Und mit ›todbringend die Pein‹ hat er angekündigt, was passieren würde. Er meinte seinen Schmerz damit, seinen Kummer, weil er so einsam ist. Sein Schmerz bringt Lea Rinkner den Tod.«

»Es ist mir völlig egal, ob der einsam ist oder nicht.«

Es brodelte in Maria. Je länger sie über dieses Geschreibsel nachdachte, desto wütender wurde sie. Am liebsten hätte sie es wieder zerrissen und weggeworfen.

Natürlich mussten sie sich mit diesem Gedicht beschäftigen, es auseinanderpflücken, jede Zeile sorgfältig prüfen, ob es irgendeinen Hinweis auf den Täter gab.

Und sie mussten es veröffentlichen.

Zumindest mussten sie bekannt geben lassen, dass das Opfer einen Brief mit einem Gedicht bekommen hatte, bevor es ermordet wurde. Und etwas über die Art des Gedichts sagen. Sie hatten gar keine andere Wahl. Alles andere wäre fahrlässig.

Wenn irgendeine Frau einen solchen Brief bekam und Opfer dieses Irren würde, und die Kripo hatte nicht gewarnt – nicht auszudenken, was dann los war. Abgesehen davon, dass Maria ihres Lebens nie mehr froh werden würde.

»›Der Einsamkeit Klaue‹. Ein starkes Bild, was? Sehr emotional.« Arthur hing mit der Nase über dem Papier. »Mengert hat gar nicht so unrecht, finde ich. Der Stil erinnert schon ein bisschen an die Dichter der Romantik. Da ging es doch vor allem um Leidenschaft, Sehnsucht, die großen Gefühle. Und schwärmten die nicht auch für Mythen? Ich habe da mal einen Artikel in der Zeitung gelesen, dass die ein Faible für so etwas hatten.«

»Von mir aus können die schwärmen, für was die wollen.«

»Also, ich finde, dieser Hades bringt seine Gefühle gut rüber. ›… erlöst werd’ ich endlich von grausamer Qual.‹ Man kann doch richtig spüren, wie verzweifelt er ist.«

»Jetzt hör schon auf, Arthur«, fuhr Maria ihn an. »Dieses Schwein manipuliert uns, merkst du das nicht? Er lässt uns an seinen Fäden tanzen, wie Marionetten. Wir müssen seinen Mist veröffentlichen, und die ganze Stadt spricht über nichts anderes als über ihn. Er bekommt alles, was er will.«

Arthur nickte. »Aber einsam ist er trotzdem. Und das Fatale an der Sache ist, er wird es auch bleiben. Und deshalb, Maria, wird er weitermorden. Er bringt eine Frau um, aber damit ändert er ja nichts, er bleibt einsam. Nur in dem Moment, in dem er über sie herfällt, dieser letzte Moment, in dem sie ihm voller Angst in die Augen blickt, in dem ihre Seelen sich im Kampf begegnen, das ist vielleicht der Moment, in dem seine Einsamkeit verschwindet.«

»Sag mal, fängst du jetzt an, durchzudrehen, oder was?« Maria sah ihn entsetzt an. »Gut, dass ich dich schon so lange kenne, sonst würde ich noch auf die Idee kommen, du schreibst diesen Kram.«

»Ich bitte dich, Maria, das hatten wir doch schon mal! Ich kann mich eben nur sehr gut in ihn einfühlen. Und wenn ich es wäre, wäre das sehr schlecht für euch. Mich würdet ihr nie kriegen.«

Die Tür ging auf, Alsberger kam herein. Er schaute zur Kaffeemaschine, die auf der Fensterbank stand. »Gibt es keinen Kaffee?«

»Kaffee nicht, aber Neues vom Täter.« Maria zog Arthur das Blatt weg und reichte es Alsberger. »Lea Rinkner hat es bekommen, bevor sie ermordet wurde.«

In ihrem Büro klingelte das Telefon. Sie lief über den Flur zu ihrem Zimmer.

»Ja, Mooser.«

»Ich bin’s, Cloe. Ihre Nummer war in meiner Anrufliste.«

Na, die kam ihr gerade recht.

»Cloe! Wie außerordentlich nett, dass du dich noch einmal meldest«, begrüßte Maria sie bissig.

»Sie hören sich an, als wären Sie sauer.«

»Ich höre mich nicht nur so an, ich bin sauer. Auch der dümmste Esel lässt sich nicht gern an der Nase herumführen. Was soll dieser Mist mit der Liste? Das Telefonbuch abschreiben können wir auch selber.«

Einen Moment war Stille.

»Sie haben das nicht verstanden«, kam es vom anderen Ende.

»Was?«

»Die Liste. Sie haben sie nicht verstanden. Ich sollte doch alles aufschreiben, was mir zu Lea einfällt. Alle Nummern haben etwas mit Lea zu tun.«

»Ach, auch die HotWok-Hongkongnudel?«

»Lea hat da immer bestellt. Und am zweitliebsten hat sie sich Pizza bei Luigiano geholt. Ich habe mit dem Essen angefangen. Danach kommt Fitness, Schönheit – das ist der Friseur und das Nagelstudio – dann die Kneipen, in die sie gegangen ist, dann so lose Bekannte und zum Schluss die Freunde. Der Wichtigkeit nach geordnet.«

»Und was soll das, bitte schön?«

»Ich habe doch gesagt, ich schwärze niemanden an. So kann ich immer sagen, dass ich keinen Namen genannt habe.«

Maria schaute auf die Liste, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Die letzte Nummer darauf, die wichtigste nach Cloes Sortierung, war die, die gerade auf ihrem Display angezeigt wurde.

Maria redete Cloe ins Gewissen. Sie telefonierten fast eine Stunde lang. Es war mühsam, um jede Information musste sie feilschen. Aber am Ende wusste sie einiges mehr. Nichts Brisantes, aber ein Anfang.

Die Telefonnummern, die für sie interessant waren, gehörten zu einem Kellner, der in Lea verliebt gewesen war, zu einem Studenten, mit dem sie geflirtet hatte, und zu zwei Exfreunden.

Maria hatte gerade den Hörer aufgelegt, als Alsberger zu ihr kam, das Blatt mit dem Gedicht in der Hand.

Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, ihm von ihrem Gespräch mit Ferver zu erzählen, von Jantzeks Beschwerde und dem, was daran hing. Sie musste es ihm sagen, und zwar bevor Ferver es tat. Alles andere wäre unfair.

»Alsberger, ich muss mit Ihn…«

Aber er ließ sie gar nicht ausreden.

»Hier: ›befruchtet von der Schlange, die dein Schreien nicht hört‹. Wir haben es noch einmal nachgelesen. Zeus war der Vater der Persephone und hat sie, getarnt als Schlange, befruchtet. Seine eigene Tochter! Als Hades sie dann raubt und sie um Hilfe ruft, ignoriert Zeus es. Der eigene Vater! Verstehen Sie?«

»Nein, tut mir leid, verstehe ich nicht.«

Alsberger hatte das Blatt mit dem Gedicht vor sie gelegt und deutete auf die ersten Zeilen.

»›Befruchtet von der Schlange‹! Von Zeus. Vom eigenen Vater! Inzest, das könnte doch das Thema sein, das hinter alldem steckt. Das Motiv! Missbrauch! Vielleicht hat Rinkner seine Tochter irgendwann missbraucht, und sie wollte ihn jetzt anzeigen.«

»Inzest war unter den Göttern gang und gäbe, Alsberger. Und wenn Sie, statt um die Ecke zu denken, geradeaus gedacht hätten, dann wäre Ihnen vielleicht aufgefallen, dass unser Täter glaubt, er wäre Hades und nicht Zeus.«

»Erinnern Sie sich an das Bild, das über dem Küchentisch von Lea Rinkner hing. Ein kleines Mädchen, das Angst hat. Dieser bedrohlich aussehende Mann. Vielleicht ist das ein Bild für die Bedrohung, die von ihrem Vater …«

»Sie machen immer das Gleiche. Sie picken sich einen raus, der war es dann. Und dabei bleibt es, komme, was kommen mag«, unterbrach Maria ihn barsch. »Lernen Sie eigentlich nie dazu? Glauben Sie allen Ernstes, dass Rinkner so ein Gedicht geschrieben haben könnte? Der kriegt doch nicht mal drei Sätze hintereinander raus. Rinkner ist fertig, der ist am Ende. Er hat versucht sich aufzuhängen, weil er den Tod seiner Tochter nicht verkraftet. Reicht das nicht?«

»Er hing aber nicht am Strick, er lag darunter!«

»Hier, machen Sie sich eine Kopie.« Sie hielt ihm Cloes Liste hin, bemüht um einen normalen Tonfall. »Und organisieren Sie, dass die Kollegen alle Personen, zu denen diese Telefonnummern gehören, über ihre Beziehung zu Lea Rinkner befragen. Vielleicht kommen Sie dann ja noch mal auf andere Gedanken.«

Alsberger presste die Lippen zusammen, nahm die Liste und verließ wortlos ihr Büro.

Die Hitze kam mit einem Schlag, als habe jemand neben ihr einen Gasofen entzündet, züngelte ihren Hals hoch, über ihr Gesicht, über die Schläfen, bis in die allerletzte Haarwurzel. Höllenfeuer.

Vielleicht war die Verwaltung doch der bessere Platz für Alsberger. Keine Streitigkeiten mehr, kein Ärger.

Maria ging zum Fenster und riss es weit auf.

Hades, Zeus, Inzest, Hölderlin, Bräute, Dichter, Säufer. Ihr Körper schien zu verglühen. Sie pumpte sich voll mit der kühlen Herbstluft, so lange, bis sie endlich wieder klar denken konnte.

Arthur mochte vielleicht recht damit haben, dass es ein einsamer, verzweifelter Mensch war, der den Mord an Lea Rinkner begangen hatte. Hades, der Unglückliche, der Ungeliebte.

Aber in einem irrte Arthur, da war sie sich sicher. Es würde kein weiteres Opfer geben.

Hades hatte nur eine Braut.

*

Sarah bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Bitte, Julie, mach voran, ich muss zur Arbeit.«

Es war schon fast halb sechs, sie musste sich beeilen, wenn sie noch pünktlich kommen wollte. Aber Julie trödelte, wie üblich.

»Komm, die Oma wartet schon. Du willst doch nicht, dass die Oma traurig ist, weil wir zu spät kommen. Julie, bitte!«

Julie hatte sich steif gemacht wie ein Brett, als Sarah ihr die Jacke anziehen wollte. Dann musste Julie unbedingt noch den Teddy mitnehmen, dann den Hasen. Dann sollten es die roten Schuhe sein, dann doch die blauen.

Sarah stand unten im Flur, Julie oben an der Treppe. Endlich setzte sie sich in Bewegung. Sarah wartete. Am liebsten hätte sie ihre Tochter angeschrien. Sie könnte sie auch einfach packen und hinuntertragen, aber sie wusste, dass es alles nur noch schlimmer machen würde.

Schritt für Schritt kam Julie im Schneckentempo die Stufen herunter, den Hasen an sich gedrückt, den Trotzteufel im Genick. Sie summte ein Lied, scheinbar harmlos, als ob alles in bester Ordnung und die Welt eine große Wiese mit tausend gelben Butterblumen wäre. Und an jeder musste man mindestens einmal stehen bleiben, um daran zu schnuppern.

Nicht hinschauen, dachte Sarah, sonst bringe ich sie um.

Ob das normal war, dass man auf sein Kind so wütend sein konnte?

Sarah öffnete die Haustür und schaute, ob Post da war. Meistens steckte nichts Erfreuliches im Briefkasten. Rechnungen, irgendetwas, was man nicht haben wollte. Aber das war immer noch besser, als bei Julies Protestaktion zuzusehen.

Im Haus gegenüber stand die Nachbarin hinter der Gardine. Super, da hatte sie das passende Publikum, wenn sie gleich versuchen würde, Julie auf den Fahrradsitz zu kriegen. Bei uns hätte es das früher nicht gegeben. Vielleicht sollten Sie mal …

Die Alte war eine Giftspritze. Aber immer noch besser die als der Widerling, der früher gegenüber gewohnt hatte. Einer, der immer ein bisschen zu nah kam, wenn man mit ihm redete. Und wie der manchmal gekeucht hatte. So ein geiler alter Sack.

Die Gardine im Fenster auf der anderen Straßenseite bewegte sich, Sarah grüßte. Sollte die Alte ruhig mitbekommen, dass sie dahinten nicht unsichtbar war.

Unten an jedem Briefkasten waren drei kleine Schlitze, sodass man von außen erkennen konnte, wenn etwas darin war. Ein Brief! Sarah konnte ihn sehen, hell, weiß.

Sie schloss den Kasten auf, griff nach dem Umschlag. Keine Anschrift, kein Absender. Sie öffnete ihn. Ein sorgfältig gefaltetes Blatt steckte darin.

Das Summen hatte aufgehört. Im Haus war es völlig still. Was war jetzt los?

Sarah schaute in den Flur, die Treppe hoch.

Julie hatte sich auf eine der Stufen gesetzt und betrachtete verträumt ihre blauen Schuhe.

»Verdammt noch mal, Julie! Jetzt mach endlich voran!«

Julie schaute hoch, ihre Unterlippe begann leicht zu zittern.

»Und fang jetzt bloß nicht an zu heulen! Ich habe wirklich keine Lust auf dein Theater.«

Das war es. Julie erhob sich langsam, steckte den Stoffhasen zwischen die Gitterstäbe des Geländers, um ihn dann, wie von wissenschaftlicher Neugier getrieben, fallen zu lassen und interessiert hinterherzuschauen.

Sarah stopfte den Brief in ihre Jackentasche und lief die Treppe hoch.

»Jetzt ist Schluss, jetzt reicht es!«

Was schon seit dem Mittag bedrohlich wie eine Gewitterwolke über ihnen geschwebt hatte, bahnte sich seinen Weg.

Sarah schimpfte, Julie klammerte sich mit beiden Händen am Geländer fest. Sarah löste Finger um Finger, Julie schrie, Tränen strömten wie ein Sturzbach über das Gesicht, das sich zornesrot einfärbte, als stecke der Satan persönlich in dem kleinen Körper.

Natürlich kamen sie zu spät. Natürlich war ihre Mutter sauer.

Sarah fuhr mit dem Rad zur Arbeit, es war schneller, als auf die Straßenbahn zu warten.

Sie beeilte sich, hetzte den ganzen Abend lang. Vom Tisch zurück an die Theke, von der Theke zurück an den Tisch, von Tisch eins zu Tisch sieben, von Tisch sieben zu Tisch fünf und wieder an die Theke. Bringen Sie mir noch … Kann ich bitte … Ich hätte gerne …

Aufregung waberte durch den Gastraum. Gesprächsfetzen, die sich immer um das gleiche Thema drehten. Eine Frau war ermordet worden, man hatte sie aus dem Neckar gezogen. Der Mörder hatte ihr ein Gedicht geschickt, bevor er sie umgebracht hatte.

Durchgedrehter Professor, ein Bekloppter, einer aus der Klapse. Bestie, Monster. Arme Frau. Abgestochen, vergewaltigt, gevierteilt, in kleine Stücke gehackt.

Sarah konnte es irgendwann nicht mehr hören. Sie dachte an ihre Tochter. Julie hatte den Kopf weggedreht, als sie ihr einen Abschiedskuss geben wollte.

Um elf Uhr suchte der Wirt den Sender im Radio und stellte laut. Es war totenstill im Raum. Die Verse des Mörders: Erster Akt. Einsamkeit quält, zerstückelt das Herz …

Weiter ging es im Gastraum: Killerdichter, perverser Schmierfink, Monster, widerliches Schwein.

Um eins konnte sie endlich gehen. Draußen war es seltsam hell. Sarah schaute zum Himmel. Riesig hing der Vollmond über der Stadt.

Sie löste das Sicherheitsschloss ihres Fahrrads und machte sich auf den Heimweg. Ob sie sich nicht besser ein Taxi nehmen wolle, hatte der Wirt gefragt. Wo doch dieser Verrückte noch frei rumlaufe. Ob er es denn bezahlen würde, hatte Sarah ihn gefragt. Dieser Idiot.

Seltsamerweise war sie heute gar nicht müde. Vielleicht lag es am Mond, der wie eine riesige Scheibe am Himmel schwebte und die Nacht so gar nicht Nacht sein lassen wollte.

Mal wieder so richtig versumpfen. Warum nicht, wenn sie sowieso eine Rabenmutter war. Sie musste Julie ja erst morgen früh wieder abholen.

Früher war sie abends oft durch die Altstadt gebummelt, hatte ganze Tage mit ihren Freundinnen bei Starbucks verbracht. Und manchmal waren sie nach Mannheim in die »Alte Feuerwache« gefahren.

Das Trinkgeld war heute nicht schlecht gewesen. Warum sollte sie eigentlich immer jeden Cent auf die Seite legen? Julie mochte ja doch die Oma am liebsten.

Die Ampel schlug um auf Rot. Sarah hielt. Sie war schon einmal erwischt worden, als sie nachts mit dem Rad bei Rot über eine Ampel gefahren war. Die hatten ihr doch tatsächlich sechzig Euro abgeknöpft.

Hatte sie ihr Portemonnaie eigentlich eingesteckt? Sie hatte das Trinkgeld hineingetan und es auf die Theke gelegt. Und dann?

Sarah griff in ihre Jackentasche. Da war es, Gott sei Dank. Ihre Hand berührte noch etwas anderes. Den Umschlag, den sie zu Hause aus dem Briefkasten gezogen hatte. Julies Wutanfall hatte alles andere unwichtig werden lassen.

Sie zog das Papier heraus und faltete es auseinander. Es war gar kein richtiger Brief, es waren nur ein paar Zeilen, untereinandergeschrieben.

Sarah las Vers um Vers, ihre Augen flogen immer schneller über das Geschriebene. Voll Sehnen, voll Hoffen, voll Bangen, will sterben vor Lieb und Verlangen …

Es stand kein Name darunter.

Hinter ihr das leise Quietschen einer Fahrradbremse. Sarah drehte sich um. Da stand jemand, keinen Meter entfernt, ein Bein auf dem Boden abgestützt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

Mann oder Frau? Nicht einmal das konnte sie erkennen.

Der Brief. Das war ein Gedicht.

Jemand hatte ihr ein Gedicht geschrieben!

Perverser Schmierfink. Monster. Arme Frau. Abgestochen, vergewaltigt, gevierteilt, in kleine Stücke gehackt.

Warum hatte sie nicht ein Taxi genommen?

Ein dunkles Räuspern.

Das war er.

Sarah stieg auf das Rad, trat mit aller Kraft in die Pedale. Sie musste weg, fliehen, schneller sein.

Der Schmerz traf ihren Körper völlig unvorbereitet. Ein Schrei, seltsam weit entfernt, und doch war es ihre eigene Stimme. Blut, das warm über ihre Haut lief.

Ein Gesicht, halb verdeckt von einer Kapuze, das sich bleich zu ihr herabbeugte.

Der Mond, dachte Sarah. Das muss der Mond sein.