5
Nach diesem katastrophalen Schultag ging Michele direkt in ihr Zimmer, noch immer wie betäubt vor Schreck über den Verlust ihres Schlüssels. In ihrem Kopf drehte sich alles, während sie Rebeccas furchteinflößendes Auftauchen und die hoffnungsvollen und verwirrenden Augenblicke mit Philip in Gedanken noch einmal durchlebte. Es gab so vieles, auf das sie sich keinen Reim machen konnte. Sie sehnte sich schmerzlich danach, zu ihrem Philip aus dem 20. Jahrhundert zurückzukehren, sich ihm anvertrauen zu können und seine Antworten zu hören. Der Gedanke, sie könnte ihn womöglich nie wiederfinden, war zu viel für Michele, deshalb musste sie ihn mit aller Macht verdrängen, ebenso wie das Entsetzen, das sich in ihrer Magengrube zusammenbraute.
Sie rollte sich in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa ein und betrachtete die Porträts an den Wänden. Jedes der gerahmten Gemälde zeigte eine der früheren Windsor-Erbinnen; entstanden waren die Bilder jeweils anlässlich ihres Debüts, ihrer Einführung in die Gesellschaft – von Clara Windsor im Jahr 1910 bis zu Marion im Jahr 1991. Dankenswerterweise gab es kein Porträt von Rebecca. Michele fragte sich, ob ihre Großeltern es abgehängt hatten.
Wie immer fand Michele Trost darin, das Bild ihrer Mutter zu betrachten und zu sehen, wie ihr Lächeln strahlte und ihre Augen auf der Leinwand funkelten. In weiter Ferne hallte Marions Stimme in Micheles Erinnerung wider: »Sieh das Licht, nicht den Schatten.«
»Wenn du doch nur hier wärst«, flüsterte sie dem Porträt ihrer Mutter zu. Ein plötzlicher Stich der Trauer durchfuhr Michele, als sie an den Plan dachte, den sie sich am Vorabend für den Kampf gegen Rebecca zurechtgelegt hatte. Der erste Schritt sollte sein, alle Einzelheiten über die Beziehung zwischen ihr und Irving herauszufinden, um Rebeccas wahre Beweggründe aufzudecken. Als letzten Schritt wollte sie dann an den Zeitpunkt zurückreisen, an dem Rebecca und Irving zu Feinden geworden waren, um die Vergangenheit so zu verändern, dass ihr Rachefeldzug ein Ende nahm, bevor er überhaupt begann. Sich vorzustellen, in was für ein Zuhause sie zurückgekehrt wäre, wenn dieser Plan funktioniert hätte, erfüllte sie mit großem Kummer. Allein der Gedanke daran tat weh.
Wenn sie Rebeccas verräterischen Weg hätte durchkreuzen können, ehe er sie zu ihren Eltern führte, hätte sie vielleicht wieder einen Vater und eine Mutter gehabt – zusammen und lebendig. Aber jetzt, ohne den Schlüssel … war alles zu spät.
Es klopfte an der Tür.
»Herein«, sagte Michele lasch.
Die Großeltern kamen ins Zimmer; Walter hatte eine klobige, schwarze Videokamera dabei, die aussah, als stamme sie aus einem Achtzigerjahrefilm.
»Hi«, begrüßte sie die beiden und heftete sich ein Lächeln ins Gesicht. Sie hatte bereits entschieden, ihnen nichts von dem gestohlenen Schlüssel zu sagen. Da sie wusste, dass Dorothys Seelenruhe am seidenen Faden hing, befürchtete Michele, diese Information könnte ihr den Rest geben. Außerdem hatte sie den Verdacht, dass ihre Großeltern sie so weit wie möglich von Manhattan fortschaffen würden, sobald sie erfuhren, dass Michele nicht mehr über die Macht und den Schutz des Schlüssels verfügte. So hoffnungslos die momentane Situation auch aussah, Michele konnte New York nicht verlassen. Solange Rebecca hinter ihrer Familie her war, konnte sie nicht fortgehen. Sie war es ihren Eltern, ihren Großeltern und auch sich selbst schuldig, diese Schlacht ein für alle Mal zu beenden. Aber … wie sollte sie das ohne den Schlüssel schaffen, wenn ihr nur noch vier Tage blieben, bis Rebecca ihre volle menschliche Gestalt annahm?
»Wie hältst du dich, Liebes?«, fragte Dorothy, als sie sich neben Michele aufs Sofa setzte.
»Mir geht’s gut. Was ist mit euch? Was habt ihr mit dieser altmodischen Videokamera vor?«
Ihre Großeltern wechselten einen Blick.
»Sie hat deiner Mutter gehört«, sagte Dorothy.
Michele blieb der Mund offen stehen.
»Marion und Irving haben sich in einem Fotokurs kennengelernt. Beide liebten es, zu fotografieren und kleine Filme zu drehen«, erklärte Walter mit einem traurigen Lächeln. »Irving schien besonders von der Technik fasziniert zu sein. Die beiden haben das Haus und das Anwesen gern als Kulisse für ihre Kurzfilme genommen.« Er atmete tief durch. »Als Marion fortging, haben wir es nicht übers Herz gebracht, irgendetwas in ihrem Zimmer anzurühren, aber nachdem ein Jahr ins Land gezogen war, ließen wir schließlich die Haushälterin hinein, und sie fand Marions Camcorder. Wir haben versucht, ihn ihr zu schicken, aber Marion verweigerte die Annahme sämtlicher Pakete und schickte alle Briefe, die wir ihr schrieben, ungeöffnet zurück. Irving war verschwunden, und sie sprach nicht mehr mit uns. In der Kamera lag ein Videoband, aber … wir brachten es nicht fertig, es anzusehen. Es wäre zu schmerzhaft gewesen.«
Michele saß kerzengerade. »Moment! Heißt das, es gibt Videomaterial von meinen Eltern? Von beiden zusammen? Und ich kann es ansehen?« In diesem Augenblick lösten sich alle Angst und Enttäuschungen dieses Tages in Luft auf. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so aufgeregt gewesen war. »Ich werde meinen Vater wirklich sehen können, als echten Menschen, nicht nur auf einem alten Foto? Und Mom? Ich werde Mom wiedersehen?«
»Wir hätten dir wohl früher davon erzählen sollen«, räumte Dorothy ein. »Wir sind davon ausgegangen, dass es auch für dich zu schwer wäre. Aber da du jetzt alles weißt … nun, da dachten wir, es wäre der richtige Zeitpunkt.«
Mit einem zittrigen Lächeln griff Michele nach der Kamera. »Dass ich meine Eltern zusammen sehen kann, bedeutet mir alles, auch wenn es nur auf einem Video ist. Vielen, vielen Dank.«
Walter klappte das kleine LCD-Display der Kamera auf, ehe er Michele das Gerät reichte. »Das Band ist aus den frühen Neunzigern, deshalb können wir es auf keinem der Fernsehgeräte hier im Haus abspielen, aber du kannst es direkt auf der Kamera ansehen. Während du in der Schule warst, habe ich die Akkus aufgeladen, also brauchst du nur noch auf Play zu drücken.«
Ehrfurchtsvoll betrachtete Michele den Camcorder in ihren Händen. Obwohl sie diesen antiquierten Apparat nie zuvor gesehen hatte, überkam sie eine Woge der Nostalgie. Es war ein Relikt aus glücklicheren, einfacheren Zeiten. Beinahe konnte Michele die Gegenwart ihrer Mutter darin spüren; sie sah Marion direkt vor sich, wie sie durch das Windsor Mansion lief und dabei durch den Sucher spähte, um in einer Zeit, als Homevideos der letzte Schrei waren, stolz ihre eigenen Filme zu drehen. Wie sie den Camcorder so betrachtete, beschlich Michele das unheimliche Gefühl, dass er ihr etwas mitzuteilen hatte.
»Ich kann nicht glauben, dass ich gleich meine Eltern sehen werde«, sagte Michele staunend. »Wollt ihr mitgucken?«
Die beiden schüttelten die Köpfe.
»Es ist noch immer … zu schwer für uns«, sagte Walter leise. »Aber wir möchten, dass du es anschaust. Du hattest nie die Chance, deine Eltern zusammen zu sehen. Du solltest es dir ansehen.«
»Danke. Ich kann euch gar nicht genug danken«, sagte Michele herzlich.
Sobald ihre Großeltern das Zimmer verlassen hatten, kuschelte sie sich auf dem Sofa zusammen; ihr Herz hämmerte erwartungsvoll, als sie auf den Startknopf drückte.
Das Band begann mit so viel Schnee und Rauschen, dass Michele einen furchtbaren Augenblick lang dachte, dass vielleicht überhaupt nichts anderes darauf wäre – doch dann erschien auf dem Vierzolldisplay das schöne Gesicht der jugendlichen Marion Windsor. Bei diesem Anblick zog sich Micheles Herz zusammen, und sie schlug sich die Hand aufs Herz. »Mom.«
Sie sah so jung aus, fast jünger als Michele selbst. Marions kastanienbraune Haare waren zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, der die Überschwänglichkeit ihrer Gesichtszüge betonte. Sie trug Jeans und ein rosa T-Shirt, und als sie sprach, klang ihre Stimme heller, als Michele sie je gehört hatte.
»Los geht’s«, sagte ihre Mutter in die Kamera. »Er wartet schon.«
Marion drehte die Kamera von sich weg und setzte das Windsor Mansion in Szene, während sie auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer und die große Treppe hinunterschlich. Ihre Taschenlampe war die einzige Beleuchtung in diesem Video.
»Ich muss ganz leise sein«, flüsterte Marion hörbar in die Kamera, als sie die Grand Hall durchquerte und einem dunklen Korridor folgte. »Mom und Dad würden allen Ernstes eine Stecknadel fallen hören!«
Lautlos öffnete sie die Tür zur Bibliothek und schlüpfte hindurch. Staunend beobachtete Michele, wie die junge Marion auf Zehenspitzen auf die verglaste Bücherwand am anderen Ende des Raums zuging und ihre Hände flach dagegen drückte. Das Regal schwang auf und offenbarte ein großes, klaffendes Loch.
»O mein Gott«, schrie Michele auf. Was war das?
Das Kamerabild fuhr näher heran, und Michele erkannte, dass das Loch in der Wand in Wirklichkeit ein dunkler, gemauerter Tunnel war, groß genug, um aufrecht darin stehen zu können. Zielstrebig kroch Marion hindurch und leuchtete mit der Taschenlampe voraus, bis ein zweiter Lichtstrahl auftauchte und Marion wie angewurzelt stehen blieb. »Schatz!«, rief sie mit aufgeregter Stimme.
Er trat ins Licht, und Michele rang nach Luft. Es war ihr Vater.
Irving Henry nahm Marion behutsam die Kamera aus der Hand und legte sie auf einem Mauervorsprung ab, ehe er die junge Frau in seine Arme zog. Klappernd fiel seine Taschenlampe zu Boden, als er Marion in die Luft hob.
Micheles Augen füllten sich mit Tränen. Es war das erste Mal, dass sie ihre Eltern zusammen sah. Die Liebe, die sie auf diesem Display sehen konnte, war so stark und ihre Eltern wirkten so lebendig, dass es ihr vorkam, als wären sie wieder da.
Michele starrte ihren Vater bewundernd an – sie konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich ihn selbst sah, statt nur ein uraltes Foto anzustarren. Er trug seine beste Imitation eines 1990er-Outfits: ein Pearl-Jam-T-Shirt zu Bluejeans und Converse. Trotzdem erkannte Michele in ihm den viktorianischen jungen Mann, der er in Wirklichkeit war – von seiner korrekten Haltung bis hin zu der altmodischen Färbung seiner warmen Stimme, wenn er Marions Namen flüsterte.
Eine Gänsehaut überlief Micheles Arme, während sie ihre Eltern auf dem Bildschirm miteinander flüstern und lachen sah. Marion schmiegte den Kopf an Irvings Schulter, und er legte schützend die Arme um sie. Michele konnte nicht genug davon bekommen, die beiden zusammen zu sehen. Ihr fiel auf, dass ihr Vater mit seinem seitlich gescheitelten, hellbraunen Haar, den hellen, blauen Augen und dem ernsthaften Lächeln wie eine jüngere Version des früheren Hollywoodstars Paul Newman aussah.
Das ist mein Dad!, staunte Michele. Bis zu diesem Moment hatte sie sich nie eingestanden, wie viel Zeit ihres Lebens sie damit zugebracht hatte, sich einen Vater zu wünschen. Immer hatte sie sich danach gesehnt, ihn ihren Freundinnen als »Dad« vorzustellen und zu wissen, dass er für sie da wäre. Dass er ihr aufhelfen würde, wenn sie fiel, und sie am Tag ihrer Hochzeit zum Altar führen würde.
»Ich wollte nur sichergehen, dass du weißt, worauf du dich einlässt.« Als Michele diese eindringlichen Worte von Irving hörte, richtete sie sich auf und sah genauer hin.
»Natürlich weiß ich das«, antwortete Marion bestimmt. »Das alles hier brauche ich nicht – weder das Geld noch die Villa, überhaupt nichts von diesem Leben, wenn ich dafür nicht bei dir sein kann.«
»Aber Marion«, sagte Irving zögerlich, »du kennst mich seit zwei Jahren. Was ist, wenn du jetzt mit allem und jedem brichst, nur um festzustellen, dass dir gar nicht alles von dem gefällt, was du in mir siehst?«
»Nicht das schon wieder!«, sagte Marion und versetzte ihm einen spielerischen Stoß. »Wie oft muss ich es dir noch sagen? Ich liebe dich genau so, wie du bist. Ich werde nie jemand anderen wollen.«
»Bist du sicher?«, fragte er mit gesenkter Stimme. »Denn wenn ich die Gelegenheit hätte … würde ich jeden Tag und jede Sekunde mit dir verbringen.«
»Etwas anderes will ich doch auch nicht«, sagte Marion eindringlich, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Wenn dir solche Gedanken kommen, denk einfach an unser Lied.«
»Welches?« Irving grinste. »Du hast alles, was in diesem Jahr auf MTV lief, zu ›unserem Lied‹ erklärt.«
»Nein, unser richtiges Lied«, sagte Marion und begann in ihrer hoffnungslosen Stimme zu singen:
»Don’t go changing to try and please me.
You never let me down before …«
Irving lachte und sah voller Bewunderung zu, wie Marion aufsprang, um mitten in dem Geheimgang für ihn zu singen. Ihre unbändige Leidenschaft und der schiefe Gesang gaben eine so süße und ausgelassene Kombination ab, dass Michele unter Tränen kichern musste, während ihre Mutter völlig schräg schmetterte:
»I need to know that you will always be
The same old someone that I knew.
What will it take till you believe in me
The way that I believe in you?«
Am Ende des Songs hielt Irving sie in den Armen, und die beiden tanzten eine alberne Version eines Stehblues’, während sie das Lied von Billy Joel gemeinsam weitersangen.
»I just want someone that I can talk to.
I want you just the way you are.«
Unter wildem Gelächter brachten sie den Song zu Ende, und Irving küsste ihr Haar, während sie sich in den Armen lagen.
»Du bist das Beste, was mir in dieser Welt begegnet ist«, erklärte er ihr liebevoll. »Und glaub mir, ich bin viel herumgekommen.«
»Genau, von deiner Wohnung in der Bronx bis nach Manhattan ist es ja eine halbe Weltreise«, scherzte Marion, die Wangen vor Freude gerötet. Irving erwiderte nichts darauf, doch Michele wusste, was er gemeint hatte. Bei seiner Reise durch die Zeit, durch mehr als hundert Jahre, hatte ihn Marion Windsor von allen am tiefsten beeindruckt.
Plötzlich füllten schwarz-weiße Punkte das Display aus. Enttäuschung legte sich über Micheles Miene, als ihre Eltern verschwanden. Der weit entfernte Klang ihres Lachens hallte noch in ihren Ohren. Es war ein Geschenk, die beiden zusammen zu sehen, wenn auch nur auf dem Videoband. Trotzdem war die Erinnerung daran, dass sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater nicht mehr da waren und sie nie alle drei eine Familie sein würden, so schmerzhaft, dass sie kaum noch denken konnte. Dann fiel Michele der Geheimgang aus dem Video ein, und sie verspürte einen Stich der Hoffnung. Ihre Großeltern konnten nichts davon gewusst haben, denn sonst hätten Marion und Irving nicht riskiert, mitten in der Nacht dort erwischt zu werden. Hatten ihre Eltern womöglich noch weitere Hinweise hinterlassen, ohne es zu ahnen?
Michele sprang vom Sofa auf, schnappte sich die kleine Taschenlampe, die sie unter ihrem Bett aufbewahrte, und lief eilig die Treppen hinunter zur Bibliothek. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie sich der verglasten Bücherwand näherte. Plötzlich befiel sie die Angst, ihre Großeltern hätten irgendwie von diesem Durchgang erfahren und ihn verschließen lassen.
Bitte mach, dass er noch da ist, betete Michele. Mit angehaltenem Atem drückte sie mit beiden Händen gegen die Scheibe, wie sie es in dem Video bei Marion gesehen hatte – und die Wand schwang auf.
Michele schlug die Hand vor den Mund, als sich direkt vor ihren Augen der dunkle Steintunnel aus dem Video auftat. Am ganzen Leib vor Aufregung zitternd, kletterte sie langsam hinein. Sofort bemerkte sie den Duft eines Eau de Colognes … ein klassischer Herrenduft. Etwas, das man vielleicht im 19. Jahrhundert getragen hatte.
»Dad?«, flüsterte sie. Hoffnung keimte in ihr auf. »Bist du hier?«
Sie schritt tiefer in den Tunnel und schaltete die Taschenlampe ein, bevor die Dunkelheit sie ganz verschlucken konnte. Weil der dünne Lichtstrahl alles andere als hell war, tastete sie sich mit einer Hand an der Ziegelmauer entlang.
»Dad, kannst du mich hören?«, rief sie hilflos und kam sich dabei ein bisschen albern vor.
Nachdem sie etwa 800 Meter gegangen war, stellte Michele fest, dass sie das Ende erreicht hatte, an dem sich eine kleine hölzerne Tür befand. Kurz darauf blickte sie zum Himmel hinauf und atmete die Nachmittagsluft. Sie hielt die Tür offen, damit sie wieder in den Gang zurückkam, und als sie den Hals reckte, erkannte sie, dass sie sich unter der großen Rasenfläche hinter dem Windsor-Haus befand. Wer sollte einen solchen Tunnel anlegen?, fragte sich Michele, als sie wieder in den Gang kroch.
Schweren Herzens ging sie zur Bibliothek zurück. Ohne die lebhafte, herzliche Gegenwart ihrer Eltern fühlte sie sich einsamer denn je.
Plötzlich blieb sie mit dem Fuß an etwas hängen. Sie fing sich an der Wand ab, um nicht hinzufallen, leuchtete mit der Taschenlampe auf den Boden – und erstarrte.
Zu ihren Füßen lag eine Schachtel – eine Schachtel, auf der in altmodischen Buchstaben Marions Name stand.
Als sich Michele auf die Knie sinken ließ, hatte sie Gänsehaut am ganzen Körper. Noch bevor sie die Schachtel öffnete, wusste sie, dass sie von ihrem Vater stammte. Mit zitternden Händen nahm sie den Deckel ab und fand drei in Leder gebundene Bücher und ein handbeschriebenes, vergilbtes Blatt Papier. Die Schrift war so alt und verblasst, dass Michele die Augen zusammenkneifen und das Papier gegen das Licht ihrer Taschenlampe halten musste, um die Worte lesen zu können.
Meine liebste Marion,
seit zwanzig furchtbaren Tagen warte ich nun hier auf dich – seit dem Moment, als ich gezwungen wurde, in eine Welt zurückzukehren, in der ich nicht mehr leben kann. Ich bin zu nichts anderem fähig, als die Tür anzustarren und darauf zu warten, dass du hindurchgelaufen kommst. Mit jedem Augenblick, in dem du es nicht tust, verfluche ich mich für meine Entscheidung. Ich fürchte mich davor, mein Leben ohne dich verbringen zu müssen.
Jetzt weiß ich, dass es ein entsetzlicher Fehler war, mich dir nicht anzuvertrauen. Ich war sicher, der Schlüssel würde dich zu mir bringen, sobald du ihn findest – und jetzt befürchte ich, dass ich mich geirrt habe und dich nicht mehr erreichen kann. Meine einzige Hoffnung ist, dass du hierher, an unseren geheimen Treffpunkt, zurückkehrst und die Antworten findest, die ich für dich hinterlasse. Ich bete jeden Tag dafür – und dafür, dass du mir vielleicht vergeben kannst, wenn du meine Geschichte gelesen hast.
Ich werde dir nichts mehr vorenthalten. Hier wirst du alles über mich erfahren, was ich dir schon von Anfang an hätte sagen sollen. Ich weiß, es wird ein Schock für dich sein, und es tut mir leid … Ich hätte dich darauf vorbereiten sollen. Bitte glaube mir, wenn ich dir sage, dass alles, was ich getan habe, ob es nun richtig oder falsch war, nur deinem Schutz und deiner Sicherheit dienen sollte.
Ich liebe dich, jetzt und in alle Ewigkeit.
Irving Henry
Als sie zum Ende des Briefs kam, war Micheles Blick von Tränen verschleiert. Ihr Vater konnte nicht geahnt haben, dass Marion ihren Eltern die Schuld an seinem Verschwinden geben und nie wieder nach Hause kommen würde. Sie malte sich aus, wie er den Rest seines Lebens Höllenqualen gelitten haben musste, während er voller Ungewissheit auf sie wartete. Hätte Mom das hier bloß gefunden!, dachte Michele. Der Kummer schnürte ihr die Kehle zu.
Sie ließ den Brief sinken und griff in die Kiste. Als Erstes holte sie ein ledergebundenes Buch ohne Titel heraus. Neugierig schlug sie den Band auf. Das Handbuch der Zeitgesellschaft.
Was um alles in der Welt ist die Zeitgesellschaft?
Sie blätterte auf die nächste Seite, auf der nichts zu sehen war als die Zeichnung einer Uhr, umringt von einer kleinen Krone.
Auf dem Grund der Schachtel lagen zwei Tagebücher, auf denen Irvings Name stand, das erste war mit 1887–1888 datiert, das zweite mit 1991–993. Jeder andere hätte beim Anblick dieser beiden Tagebücher gedacht, es müsste ein Scherz sein und sie könnten nie und nimmer derselben Person gehören. Aber Michele kannte die Wahrheit.
1888 – in diesem Jahr sind Irving und Rebecca zum letzten Mal zusammen fotografiert worden, erinnerte sich Michele, als sie rasch das Tagebuch der Jahre 1887–1888 zur Hand nahm. Sie musste so viel wie möglich herausfinden – bevor es zu spät war.