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Michele stand im Eingang des Speisesaals der Berkshire-Highschool, einer großzügigen Cafeteria mit runden weißen Tischen und dazu passenden Korbstühlen. Durch die Mitte des Saals verlief eine lange, gewundene Buffettheke, an der die Schüler Schlange standen, um sich ihr Mittagessen auszusuchen. Michele überflog die Reihen am Buffet, konnte aber keinen Philip Walker entdecken.

Der Rest des Vormittags war nur verschwommen an Michele vorübergezogen, vom Unterricht hatte sie kaum etwas mitbekommen. Obwohl sie Philip nicht mehr gesehen hatte, seit er sie vor dem Geschichtsraum hatte stehen lassen, spürte sie seine Gegenwart überall. Während ihr Englischlehrer die versteckten Botschaften in Shakespeares Der Sturm analysierte, war Michele nur körperlich anwesend, denn in ihrem benommenen Kopf lief wieder und wieder ihre kurze Begegnung mit Philip ab. Und während ihr Mathematiklehrer Analysis-Gleichungen an die Tafel schrieb, war Micheles Hirn damit beschäftigt, über ein viel komplexeres Problem nachzugrübeln: Wenn dieser Philip aus dem 21. Jahrhundert dieselbe Person war, mit der sie in der Vergangenheit zusammen gewesen war, wie konnte er sie dann nicht kennen? Und wenn er nicht derselbe Philip war, wie konnte er dann haargenau das gleiche Gesicht, den gleichen Körper, die gleiche Stimme und den gleichen Ring haben?

Beim Anstehen in der Essensschlange entdeckte sie ihn endlich. Er saß an dem Tisch, den die schöne Kaya Morgan mit ihrem hübschen, munteren Mädchentrio besetzte. Michele konnte den Blick nicht abwenden, als Kaya und ihre Freundinnen vor Philip schwatzten und kicherten. Ohne Zweifel wollte jede von ihnen als Erste ihren Anspruch auf den heißesten Neuzugang Manhattans geltend machen.

Obwohl sie erst kurze Zeit auf die Berkshire High ging, wusste Michele bereits, dass Kaya aus der Zwölften als der heißeste Fang galt, und sie konnte auch deutlich sehen, warum das so war. Kaya war halb Japanerin, halb Amerikanerin und stellte die anderen, gewöhnlicher aussehenden Mädchen der Berkshire High mit ihrer exotischen Schönheit in den Schatten. Mit ihrer Figur wäre sie ohne Weiteres als Victoria’s-Secrets-Model durchgegangen, außerdem war sie Kapitän der Mädchen-Leichtathletikmannschaft. Da ihre Mutter eine gefeierte moderne Künstlerin aus Japan und ihr Vater ein Nachfahre des legendären J. Pierpont Morgan höchstpersönlich war, bewegte sich Kaya sowohl in den vornehmen Kreisen des alten New Yorks als auch in den Künstlerzirkeln der Stadt. Michele hatte bisher nur ein paar Mal mit ihr gesprochen, und doch hatte sie Kaya auf Anhieb gemocht. Sie war nett und klug, nicht der Typ Mädchen, der sich auf seinem Aussehen und seinem Namen ausruht. Dementsprechend schwanden Micheles Hoffnungen, als sie beobachtete, wie Philip Kaya fasziniert anblickte. Wenn das ihre Konkurrenz war … Sie wollte gar nicht daran denken.

Trotzdem, rief sich Michele in Erinnerung, ist es ein Wunder, dass er hier ist. Auch wenn er sich aus irgendeinem Grund noch nicht an mich erinnert – er ist meinetwegen zurückgekommen, das weiß ich.

Als Philip ihren Blick quer durch den ganzen Speisesaal erwiderte, tat ihr Magen einen Sprung. Aber er sah genauso schnell wieder weg, als wäre sie einfach irgendein Mädchen. Michele wurde es eng um die Brust, langsam ging sie zu ihrem Tisch.

»Hey«, begrüßte Caissie sie, als sie an den Tisch kam. »Wie fühlst du dich?«

Michele stellte ihr Tablett ab und rang sich für Caissie und Matt, den Dritten im Bunde, ein Lächeln ab. Matt war Caissies bester Freund und ihr heimlicher Schwarm. »Mir geht’s gut. Was ist bei euch los?«

»Nicht viel, wir spekulieren nur über den Neuen«, gab Caissie zurück und sah Michele bedeutungsvoll an. »Weil Matt nämlich ein totales Strebergenie ist und fortgeschrittene Analysis bei den Zwölftklässlern belegt, konnte er sich ein bisschen mit Philip unterhalten.« Matt verdrehte die Augen, als sie zu ihm hinübersah. »Erzähl Michele, was du herausgefunden hast.«

»Also gut, aber wenn ihr auf ihn steht, muss ich euch warnen. Er scheint schon ziemlich eingespannt zu sein.«

Seinem Blick folgend, sah Michele, wie Kaya Philip gerade etwas ins Ohr flüsterte. Schnell richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Matt und Caissie, bevor sich das Bild in ihre Erinnerung einbrennen konnte.

»Was hast du über ihn herausgefunden?«, fragte sie wie betäubt.

»Nicht viel, nur dass er in die Zwölfte geht und gerade in das Apartmenthaus gezogen ist, in dem auch Kaya Morgan wohnt – du weißt schon, dieser Schickimicki-Osborne-Bau gegenüber der Carnegie Hall. Seine Eltern haben sich scheiden lassen, und deshalb ist er zusammen mit seiner Mutter aus Hyde Park hierhergezogen.«

Michele hielt den Atem an, während sie diese Fakten verdaute. Er geht in die Zwölfte. Das erklärte, warum sie ihn seit der Geschichtsstunde in keinem ihrer Kurse mehr gesehen hatte. Amerikanische Geschichte war eines der wenigen Fächer an der Berkshire, die für die elfte und zwölfte Klasse gemeinsam unterrichtet wurden.

Seine Eltern haben sich gerade scheiden lassen. Bei diesen Gedanken überkam sie schmerzliches Mitgefühl. Philip hatte seinen Vater und seine Heimatstadt verlassen müssen, um in einer fremden Stadt ganz neu anzufangen – genau wie sie, nachdem ihre Mutter gestorben war.

Er lebt im gleichen Haus wie Kaya, im Osborne. Deshalb wirkten die beiden so vertraut miteinander, obwohl heute sein erster Tag an der Berkshire war. In Micheles Bauch bildete sich ein Kloß aus Neid, als sie sich vorstellte, wie die beiden jeden Tag nach der Schule gemeinsam zum selben Apartmenthaus gingen. Und dieser Name, das Osborne … kam ihr so bekannt vor.

»Woher kenne ich das Haus?«, fragte sich Michele laut.

»Das Apartmenthaus ist eines der Wahrzeichen dieser Stadt«, erklärte Caissie in ihrem gebildeten Tonfall.

Wenn hier jemand ein Strebergenie war, dachte Michele, während sie zuhörte, dann war es Caissie, nicht Matt.

»Es wurde 1885 eröffnet und bestand aus Luxuswohnungen für die reichen New Yorker Familien, die sich ein ›Leben wie im Hotel‹ wünschten, statt große Villen zu unterhalten – wie die, in der du lebst. Später allerdings, im 20. Jahrhundert, wurde es als Wohnsitz von Künstlern und Musikern bekannt.«

Michele richtete sich auf ihrem Stuhl auf. »Wirklich? Von wem zum Beispiel?«

»Nun, Leonard Bernstein hat dort die West Side Story geschrieben«, erklärte Caissie. »Die Legende besagt, dass die Feuertreppe des Osborne vor dem Fenster seines Musikzimmers verlief und er dadurch auf die Idee gekommen ist, die Balkon-Szene von Maria und Tony dort spielen zu lassen.«

»Okay, während ihr zwei eure Geschichtsstunde abhaltet, hole ich mir noch ein paar Pommes«, verkündete Matt.

Kaum war er vom Tisch aufgestanden, flüsterte Caissie: »Bist du jetzt überzeugt? Dieser Neue ist nicht dein Philip von 1910, er ist ein ganz normaler Kerl aus dem Staat New York.«

Davon abgesehen hat er mir selbst gesagt, dass er es nicht ist, fügte Michele in Gedanken hinzu. Und trotzdem wollte – konnte – sie es nicht ganz glauben.

***

Nach der Schule rutschte Michele auf den Rücksitz des schwarzen SUVs der Windsors; Fritz, der Chauffeur der Familie, hatte im Wagen auf sie gewartet, um sie nach Hause zu fahren. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, von einem ganzen Haus voll Personal bedient zu werden, und es kam ihr auch nicht weniger surreal vor, jeden Tag in diese palastartige Villa nach Hause zu kommen. Nachdem Geld in ihrer Kindheit und Jugend stets knapp gewesen war, fühlte sie sich nun, da sie die glanzvolle Seite des Lebens kennenlernte, zwischen Freude und Verlegenheit hin und her gerissen. Sie hatte den Eindruck, nichts von alledem zu verdienen, und fand außerdem, dass ein derart übertriebener Lebensstil eigentlich für jeden zu viel des Guten war. Zudem wurde sie fortwährend daran erinnert, dass sich ihre Mutter von dieser luxuriösen Lebensweise distanziert hatte.

Aber inzwischen hatte sie besonders Fritz und die Haushälterin Annaleigh sehr ins Herz geschlossen. Die beiden kümmerten sich um Michele und sorgten sich darum, ob sie in ihrem neuen Leben auch glücklich war.

Von der Highschool in der Upper East Side fuhr Fritz Richtung Süden, vorbei an den berühmten New Yorker Museen und den opulenten Hotels, bis sie das aus weißem Marmor erbaute Windsor Mansion in der Fifth Avenue erreichten, das sich stolz vor dem spektakulären Anblick des Central Parks erhob. Noch immer weiteten sich Micheles Augen jedes Mal vor Staunen, wenn der Wagen die schmiedeeisernen Eingangstore passierte und sie das Anwesen mit seinen korinthischen Säulen und dem Palazzo-Design in voller Pracht erblickte. Bei seiner Erbauung im Jahr 1887 hatte das Windsor Mansion als eine der größten architektonischen Errungenschaften Amerikas gegolten. Über 120 Jahre später fand Michele es nicht weniger Ehrfurcht einflößend.

Als sie hinter Fritz aus dem Wagen stieg, sah sie im Fenster des Haupteingangs etwas, das sie unwillkürlich verharren ließ: eine schwarz gekleidete Gestalt, eingehüllt in einen nebelartigen Schleier, die sie eingehend musterte.

Micheles Handflächen wurden feucht, und Panik brodelte in ihrer Brust, als sie erkannte, dass es die gleiche Gestalt war, die sie kurz nach Philips Ankunft in der Schule gesehen hatte – bevor sie ohnmächtig geworden war.

»Was … wer … ist das?«, stammelte sie und wandte sich nervös zu Fritz um.

Der Chauffeur sah sie skeptisch und verwirrt an. »Wovon sprechen Sie, Miss?«

Michele deutete direkt geradeaus. »Dort – diese Person oder das Etwas im Fenster. Sehen Sie es nicht?«

Fritz blickte zum Fenster und drehte sich dann mit besorgter Miene wieder zu ihr um. »Ich sehe nichts.«

Sie sah Fritz scharf an. Wie war es möglich, dass er dieses seltsame Wesen nicht sah? Und plötzlich kam ihr ein unglaublicher Gedanke, als sie sich daran erinnerte, wann sie selbst unsichtbar geworden war: Vielleicht ist es ein Zeitreisender.

Michele stieß ein nervöses Lachen aus. »Wow, das ist seltsam. Ich … Es muss ein Schatten oder so was gewesen sein.«

Fritz runzelte die Stirn und musterte sie gründlich. »Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?«

Sie zwang sich zu einem beiläufigen Tonfall. »Es geht mir gut, ehrlich. Vielleicht brauche ich nur ein neues Rezept für meine Kontaktlinsen.«

Als sie Fritz beklommen ins Haus folgte, lüftete sich der neblige Schleier, und das Wesen am Fenster war mit einem Mal deutlich zu erkennen. Es war ein echter Mensch – ein Mädchen etwa in Micheles Alter. Sie hatte ihnen noch immer den Rücken zugekehrt und starrte aus dem Fenster, so dass Michele nur aufgetürmte, glänzend schwarze Haare über einer hochgewachsenen Figur sah, die in ein burgunderfarbenes Kleid aus dem 19. Jahrhundert gehüllt war.

Es gibt also noch andere Zeitreisende außer mir … und meinem Vater. Die Erkenntnis traf Michele mit voller Wucht, und bei dem Gedanken an Philip begann ihr Herz schneller zu schlagen. Wenn diese Fremde in Windsor Mansion eine Zeitreisende war … vielleicht war Philip dann auch einer? Aber das würde noch nicht erklären, warum er sie nicht kannte. Bei ihren eigenen Zeitreisen hatte sich Michele immer an alles erinnern können.

»Entschuldige bitte«, sagte sie leise, sobald Fritz außer Hörweite war. »Wer bist …«

Doch bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, begann die Erscheinung des Mädchens zu flimmern und löste sich in Luft auf. Eine kalte Welle der Angst überrollte Michele. Irgendetwas sagte ihr, dass dieses Mädchen seine Identität vor Michele hatte verbergen wollen.

Was war das? Was um alles in der Welt geht hier vor?, überlegte Michele fieberhaft. Konnte sie ihrem Instinkt trauen, und das Mädchen war eine Zeitreisende? Oder war sie einfach verrückt geworden, als Philip Walker bei ihr in der Schule aufgetaucht war – Halluzinationen inklusive?

»Michele, hi!«

Annaleigh, die Haushälterin in mittleren Jahren, platzte in Micheles panikartige Gedanken, als sie das Zimmer betrat.

»Hey, Annaleigh.«

Annaleigh blickte Michele mit ihren hellblauen Augen prüfend an. »Geht es dir gut? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Vielleicht habe ich das.

»Oh, es geht mir gut.« Während sie das sagte, fiel ihr auf, dass sie schon den ganzen Tag allen möglichen Leuten versicherte, dass mit ihr alles in Ordnung sei. Was war nur mit ihr los? Sie atmete tief durch, nicht weniger verwirrt als vorher, aber fest entschlossen, wenigstens so zu tun, als wäre alles normal – so lange, bis sie es selbst glaubte. »Wie läuft es hier?«

»Ganz gut, glaube ich. Heute Nachmittag war mir aufgefallen, dass deine Großmutter Atemnot hatte. Dein Großvater und sie selbst schienen sich nichts dabei zu denken, aber ich habe ihm zugeredet, damit er sie zum Arzt bringt. Sie sind gerade vor zehn Minuten weg.«

Michele schluckte schwer. »Glaubst du, es geht ihr gut?«

»Natürlich«, sagte Annaleigh tröstend. »Den Arztbesuch habe ich nur vorgeschlagen, um ganz sicher zu gehen.«

Michele nickte hoffnungsvoll. Trotz der Streitigkeiten, die es wegen ihres Umzugs nach Windsor Mansion mit ihren Großeltern gegeben hatte, hatte sie die beiden lieb gewonnen. Sie waren die einzige Familie, die sie auf der Welt hatte, und auch wenn Michele wusste, dass sie älter wurden, konnte sie sich nicht vorstellen, sie irgendwann zu verlieren.

»Ich soll ausdrücklich dafür sorgen, dass du dich bis zu ihrer Rückkehr nicht vom Fleck rührst«, erklärte ihr Annaleigh mit einem schiefen Lächeln. »Sie waren ziemlich bestimmt. Hoffentlich hattest du noch keine Pläne, irgendwo hinzugehen.«

»Keine Pläne«, sagte Michele. »Die beiden haben sich einen guten Tag ausgesucht, um mich einzusperren.« Für einen kurzen Moment flammte die Sorge auf, diese Forderung könnte etwas mit dem Gesundheitszustand ihrer Großmutter zu tun haben, aber sie verdrängte den Gedanken und erinnerte sich an die zahlreichen anderen Fälle von Überfürsorglichkeit, die sie seit ihrem Einzug bei Walter und Dorothy erlebt hatte.

Michele stieg die gewundene, mit rotem Teppich ausgelegte Marmortreppe hinauf, die zu ihrem Zimmer führte. Im zweiten Stock angelangt, beugte sie sich kurz über das Geländer und warf einen Blick hinunter in das prächtige Foyer, aus dem sie gerade gekommen war. Die sogenannte Grand Hall war wie eine offene Piazza gestaltet und bildete das Zentrum der Villa. Marmorsäulen ragten bis zu den vergoldeten, handbemalten Decken empor, und vornehme Chaiselonguen und Sessel waren um einen großen, mit gemeißelten Ornamenten versehenen Kamin arrangiert. Porträts der Hausherrn zierten die Wände, und unter der Haupttreppe befanden sich eine Bronzestatue und ein glitzernder Springbrunnen. Jedem Besucher der Villa klappte beim Betreten der Grand Hall die Kinnlade herunter, und auch nach den drei Monaten, die Michele inzwischen hier lebte, überkam sie noch immer die gleiche Ehrfurcht.

Der außergewöhnlichste Ort in der Villa war für sie allerdings ihr eigenes Zimmer, denn das hatte vorher ihrer Mutter und den Windsor-Töchtern eines ganzen Jahrhunderts gehört.

Zuerst hatte der Anblick der Zimmerflucht sie erschüttert, weil sie sich ihre bescheidene Mutter beim besten Willen nicht in diesen Räumen vorstellen konnte. Sie waren in Lila und Weiß gehalten und wären mit den zierlichen Möbeln aus dem 18. Jahrhundert, dem geräumigen Ankleidezimmer, einem Marmorbad und einem Wohnzimmer, groß genug, um eine kleine Party darin zu schmeißen, einer Prinzessin würdig gewesen. Doch als sie den Schlüssel ihres Vaters entdeckt hatte und in die Vergangenheit gereist war, hatte sie drei beeindruckende Windsor-Töchter aus früheren Zeiten kennengelernt. Diese hatten Michele gezeigt, dass ihr Name für etwas Wichtigeres als Geld oder Privilegien stand. In der Blutlinie der Windsor-Mädchen lagen Leidenschaft, Stärke und der Wunsch, sich aus den beengenden Zwängen und Einschränkungen zu befreien. Michele hatte gesehen, wie sie für ihre Träume kämpften und ihre Stellung und ihr Vermögen für das Gute einsetzten. Hatte sie sich früher für ihre verheimlichte Familienzugehörigkeit geschämt, so empfand sie heute eine Woge von Stolz, wenn sie die Porträts der Frauen betrachtete, die vor ihr in diesem Zimmer gewohnt hatten.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, öffnete sie die oberste Schublade ihres Mahagonischreibtischs und holte eine kleine Schachtel heraus. Obwohl sie den Inhalt der Schachtel in- und auswendig kannte, verspürte sie beim Anheben des Deckels noch immer ein erwartungsvolles Kribbeln.

Sorgsam in der Schachtel verstaut lagen Ausschnitte aus dem Leben eines Mannes, darunter ein Zeitungsartikel aus dem Gesellschaftsteil der New York Times des Jahres 1910, den Michele in der öffentlichen Bibliothek eingescannt hatte. Er enthielt einen atemlosen Bericht über den Halloween-Ball der Windsors – auf dem Philip und sie sich kennengelernt hatten. Neben dem Artikel waren grobkörnige Schwarz-Weiß-Fotos von den bedeutendsten Gästen des Balls abgedruckt, und Micheles Herz zog sich jedes Mal zusammen, wenn sie den achtzehnjährigen Philip neben seiner Verlobten Violet Windsor stehen sah. Trotz der schlechten Bildqualität konnte sie seinen Gesichtsausdruck klar erkennen. Er blickte in die Ferne, die Augen unverwandt auf einen Punkt gerichtet. Seine ganze Aufmerksamkeit galt jemandem, der sich hinter der Kamera befand, und wenn Michele das Foto betrachtete, wusste sie, dass sie es war, die er ansah.

Unter dem Zeitungsausschnitt lagen Philips handgeschriebene Noten zu einem der Lieder, die er und Michele 1910 gemeinsam geschrieben hatten. »Bring die Farben zurück.« Sie hatte den Text geschrieben und er die Musik komponiert, und über diese Komposition, mit der sie einander mehr sagten, als es Worte allein vermocht hätten, hatten sie sich ineinander verliebt.

Ganz unten in der Schachtel lagen Erinnerungsstücke an Philips späteres Leben unter seinem Pseudonym Phoenix Warren, dem berühmten Komponisten und Pianisten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ein Foto von 1940 aus einer alten Ausgabe des Life-Magazins zeigte ihn in den mittleren Jahren mit lässigem Gesichtsausdruck. Er hielt eine Goldene Schallplatte in der Hand, die er für seine Symphonie Michele erhalten hatte – das Lied, das Marion Windsor auf den perfekten Namen für ihre Tochter gebracht hatte. Noch immer rieselte Michele eine Gänsehaut über den Nacken, wenn sie daran dachte.

Das letzte Stück in der Schachtel war seine Todesanzeige vom 12. Dezember 1992. Er hatte ein langes, erfülltes Leben gehabt, genau wie er es Michele bei ihrer letzten Begegnung versprochen hatte. Aber er hatte nie geheiratet, und Michele wurde das Gefühl nicht los, dass er den Rest seiner Tage nach ihr gesucht hatte. Hatte ihn diese Suche schließlich hierhergeführt? Oder war dieser neue Philip Walker nur sein Nachfahre?

Als Michele den Deckel wieder auf die Schachtel legte, dachte sie, dass es vielleicht jemanden gab, der die Antwort auf das alles kannte: ihr Vater. Nur seinetwegen war sie überhaupt in der Lage, durch die Zeit zu reisen. Aber Irving Henry war in der Vergangenheit verschollen und wusste nichts von Micheles Existenz.

Ich kann in die Vergangenheit reisen, rief sich Michele in Erinnerung. Ich kann ihn suchen.

Der Gedanke begeisterte sie und jagte ihr zugleich Angst ein. Ihr Vater war die wichtigste Person aus ihrer Vergangenheit. Auf diese Begegnung musste sie gut vorbereitet sein.

***

Als die Uhr sechs schlug und damit die Abendessenszeit im Hause Windsor ankündigte, war Michele noch immer in ihre Internetrecherche vertieft: Sie suchte nach allem, was sie über den Philip Walker der Gegenwart finden konnte. Während die meisten Menschen heutzutage ihr Leben praktisch vor der ganzen Welt online ausbreiteten, war Philip im Internet fast so schwer greifbar wie im echten Leben. Sie fand ihn auf keiner Social-Network-Seite, und da er einen der verbreitetsten Nachnamen des Landes trug, brauchte sie Stunden, um all die Suchergebnisse durchzugehen, die sie zu anderen Philips führten. Als sie gerade mit einem entmutigten Seufzen von ihrem Schreibtisch aufstand, ging auf ihrem Handy piepsend eine SMS ein. Caissies Name erschien auf dem Display.

In der Nachricht stand: Könnte er Philips Urgroßneffe oder so was sein? Das würde die Ähnlichkeit erklären.

Aber Philips Familie lebte in dem Glauben, er sei in den 1920ern verstorben. Er wäre nicht einfach so wieder aufgetaucht, um einem von ihnen den Ring zu geben, dachte Michele. Es gab keine Erklärung – nur die unbestreitbare Tatsache, dass sie heute in genau dieselben Augen geblickt hatte wie damals im Jahr 1910.

Langsam und in Gedanken versunken begab sie sich zum Speisezimmer, doch als sie eintrat und ihre Großeltern sah, wurde sie jäh in die Gegenwart zurückgerissen. Offensichtlich war irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung.

Nie zuvor hatte Michele gesehen, dass sich ihre Großeltern gehen ließen. Ihre kerzengerade, stolze Haltung zeugte von ihrer königlichen Erziehung und schien ihre Persönlichkeit anzukündigen, wann immer sie ein Zimmer betraten. Aber als Michele an diesem Abend in der Tür des Speisezimmers mit den Marmorsäulen stand, fand sie Walter und Dorothy müde und gebeugt in ihren Stühlen vor. Dorothy zitterte, und Walter raunte ihr etwas ins Ohr.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie, obwohl sie fürchtete, die Antwort auf diese Frage bereits zu kennen. »Was hat der Arzt gesagt?«

Die beiden sahen auf und versuchten ihre Gesichtszüge zu glätten, um eine gefasste Miene vorzutäuschen.

»Gesundheitlich geht es mir gut«, sagte Dorothy mit zittriger Stimme. »Es waren die Nerven. Zum Arzt sind wir nur Annaleighs wegen gefahren. Sie ist so freundlich und sorgt sich sehr um uns.«

»Was hat deine Nerven so beansprucht?«, fragte Michele, als sie ihren Platz auf der gegenüberliegenden Seite des langen Eichenholz-Esstischs einnahm.

Bevor die beiden antworten konnten, kam das Küchenmädchen Martha mit einer dampfenden Suppenterrine herein. In diesem Moment fiel Micheles Blick auf das Fotoalbum, das zwischen ihren Großeltern auf dem Tisch lag, und beinahe hätte sie hörbar nach Luft geschnappt.

Seit dem Tag ihres Einzugs bei Walter und Dorothy hatte Michele das Gefühl gehabt, dass die beiden etwas vor ihr verbargen. Sooft sie Michele ansahen, legte sich die Last dieses Geheimnisses wie ein Schatten auf ihre Gesichter und brachte ihre Unterhaltungen ins Stocken. Den ersten wichtigen Hinweis darauf, was sie vor ihr geheim hielten, hatte sie am Abend vor einem Klassenausflug nach Newport entdeckt, als sie in der Bibliothek ebendieses uralte Fotoalbum der Windsors gefunden hatte und, als sie es aufschlug, auf ein Schwarz-Weiß-Bild von Irving Henry gestoßen war. Es zeigte ihn als Anwalt der Familie, etwa um 1900. Die nervöse Reaktion ihrer Großeltern, als sie Michele mit dem Fotoalbum vorfanden, bestätigte ihre Vermutung: Sie hatten gewusst, dass Micheles Vater ein Zeitreisender aus der Vergangenheit war, und hatten es ihr verheimlicht.

In den vergangenen Tagen hatte sie stets auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um ihren Großeltern mitzuteilen, dass sie die Wahrheit kannte … aber bis heute hatte sie sich nicht überwinden können, es auszusprechen. Sie hatte Angst, an dieses Geheimnis ihrer Großeltern zu rühren, und sie fürchtete sich vor ihren Reaktionen, wenn sie erfuhren, dass auch sie eine Zeitreisende war.

Michele starrte auf den abgegriffenen Ledereinband des Albums, auf dem die Worte Familienchronik der Windsors, 1880–1910 eingeprägt waren. Von ihren Zeitreisen wusste Michele, dass Walters Cousine Stella Windsor die alten Fotos zu einem Album zusammengestellt hatte – als Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern im Jahr 1940. Sie selbst hatte darin bisher nur das eine Bild von ihrem Vater gefunden, aber jetzt kam ihr in den Sinn, dass es noch weitere geben könnte. Bei diesem Gedanken beschleunigte sich ihr Puls. Nachdem Martha gegangen war, räusperte sich Micheles Großvater nervös.

»Wir haben dir etwas zu sagen.«

Mit angehaltenem Atem blickte Michele die beiden an.

»Trägst du ihn?«, fragte Dorothy plötzlich mit merkwürdig überdrehter Stimme.

»W-was soll ich tragen?«

»Den Schlüssel!«

Michele starrte ihre Großmutter in ungläubigem Schweigen an.

»Sie weiß, dass du ihn hast – sie weiß, wer du bist – und sie wird vor nichts zurückschrecken, um dich zu vernichten. Du bist nicht sicher vor ihr, zumindest wenn du ihm auch nur ein bisschen ähnlich bist – aber du darfst den Schlüssel nicht aus den Augen lassen. Er ist vielleicht dein einziger Schutz.«

Eisig lief es Michele den Rücken hinunter, sie brachte kein Wort heraus. Eine Weile lang war außer Dorothys stoßweisen, verängstigten Atemzügen kein Laut im Zimmer zu hören.

»Vor wem bin ich nicht sicher?«, flüsterte Michele.

Bei dieser Frage krümmte sich Dorothy schluchzend zusammen und raufte sich die Haare. Der Anblick ließ Michele erschaudern, ihr Herz raste.

»Was ist? Was ist denn los?«, fragte sie verzweifelt.

Walter beugte sich auf seinem Stuhl zu Dorothy hinüber, um ihr über den Rücken zu streichen. »Es ist gut, meine Liebe … Es wird wieder gut.« Mit gequälter Miene wandte er sich wieder Michele zu. »Diese Sache macht deiner Großmutter schon seit siebzehn Jahren zu schaffen. Ich hatte gehofft, es wäre vorbei, und wir müssten nie mit dir darüber sprechen. Aber ich fürchte, wir können dich nicht mehr länger im Dunkeln lassen.«

»Du bist in Gefahr«, heulte Dorothy.

Wie erstarrt musste Michele mit ansehen, wie ihre kultivierte Großmutter völlig die Fassung verlor. Dieser Anblick war Furcht einflößender als alle Worte.

»Warum gehst du nicht nach oben und legst dich hin, während ich mit Michele spreche«, schlug Walter ruhig vor. »Du wirst noch ganz krank, wenn du dir solche Sorgen machst. Versuch dich etwas auszuruhen.«

»Nein.« Dorothy atmete tief durch. Obwohl sie noch immer zitterte und ihre Augen gerötet waren, schien sie ihre Beherrschung ein Stück weit zurückzugewinnen. »Ich muss dabei sein.«

»Sagt mir bitte einfach, was los ist«, bat Michele mit erstickter Stimme. »Im Moment kann ich mir nur das Schlimmste ausmalen.«

Walter nickte langsam, und Michele versuchte sich gegen das zu wappnen, was nun auf sie zukam.

»Vor etwa einem Monat hast du in diesem Fotoalbum ein Bild von Irving Henry gesehen«, sagte er. »Wir haben dir gesagt, er sei niemand Wichtiges, nur der frühere Anwalt der Familie – aber das war gelogen. Wir mussten lügen, weil wir glaubten, dich dadurch zu schützen.«

»Ich wusste es«, flüsterte Michele. »Ihr habt die ganze Zeit gewusst, wer er in Wirklichkeit war, richtig?«

»Wie hast du davon erfahren?«, fragte Walter scharf. »Wir dachten immer, Marion hätte nichts davon gewusst.«

»Das hat sie auch nicht. Es ist eine lange Geschichte, aber ich habe es herausgefunden, als … als ich das hier gefunden habe.« Sie umklammerte die Kette mit dem Schlüssel. »Er hatte ihn Mom hinterlassen, aber sie ist nie dahintergekommen, was es damit auf sich hatte, und hat ihn all die Jahre lang in ihrem Bankschließfach aufbewahrt. Ich fand ihn nach ihrem Tod.« Michele holte den Schlüssel unter ihrer Bluse hervor. Sein Anblick löste bei ihren Großeltern eine deutliche Reaktion aus. Aus Walters Gesicht wich alle Farbe, und Dorothy umklammerte die Lehnen ihres Stuhls, während sie mühsam versuchte, normal zu atmen.

»Bis heute haben wir uns immer voller Sorge gefragt, ob du vielleicht wie er bist. Aber wir haben nie Gewissheit gehabt«, sagte Walter, Angst und Staunen mischten sich in seiner Miene. »Hast du … hast du ihn gesehen?«

»Einmal«, gab Michele zu. »Für einen Sekundenbruchteil … im Jahr 1925. Aber wir haben nicht miteinander gesprochen, und ich wurde sofort wieder in meine Zeit zurückversetzt.« Beinahe hätte sie hinzugefügt, dass sie 1944 bei der Beerdigung ihres Vaters gewesen war und dort ihren Großvater als kleinen Jungen gesehen hatte, aber sie hatte das Gefühl, dass diese Information zu viel für die beiden sein könnte.

Walter schloss die Augen und versuchte sich zu sammeln. Dann schlug er eine neue Seite in dem Fotoalbum auf. »Das ist dein Vater zu der Zeit, als wir ihn kennenlernten – als er anfing, mit Marion auszugehen.«

Michele beugte sich über das Foto, um einen lange ersehnten Blick auf ihren Vater werfen zu können, den sie nie kennengelernt hatte. Als sie das Bild betrachtete, zog sich ihr Herz zusammen. Wie er mit seinem breiten Lächeln vor einem Weihnachtsbaum in der Grand Hall stand, war Irving Henry der vollkommene Inbegriff von jungenhaftem Aussehen und Charme. Er trug gewelltes Haar und einen Schnurrbart, was ihm erst recht das Aussehen eines perfekten viktorianischen Gentlemans verlieh. Doch am meisten berührten Michele die Ähnlichkeiten zwischen seinem Gesicht und ihrem eigenen, die trotz der schlechten Qualität des alten Fotos von Weihnachten 1887 zu erkennen waren.

»Von ihm habe ich meine Grübchen«, flüsterte sie. »Ich habe seine Nase. Und … wir haben das gleiche Lächeln.«

»Es hat uns völlig überrumpelt, als wir dich zum ersten Mal sahen«, sagte Dorothy leise. »Natürlich siehst du deiner Mutter ähnlich … aber du hast auch so viel von ihm.«

Michele vertiefte sich in die Aufnahme und versuchte sich seine Gesichtszüge einzuprägen.

»Irving ist in diesem Haus zur Welt gekommen und wuchs bei den Dienern auf«, verriet Walter. »Er war der Sohn des Butlers, und selbst nachdem sein Vater Byron gestorben war und er auf ein Internat ging, kehrte er an den Feiertagen ins Windsor Mansion zurück. Zwar war es in jenen Tagen sicherlich ungewöhnlich, wenn Bedienstete mit der Familie, für die sie arbeiteten, befreundet waren, doch der Butler bekleidete die höchste Position im Haushalt, und die Windsors respektierten Byron. Sein Sohn Irving wuchs zusammen mit der Tochter des Hauses, Rebecca, auf.« Walters Miene verhärtete sich, als er umblätterte. »Wie ich von den wenigen Verwandten erfahren habe, die sie noch von damals kannten, soll sie schon immer ein merkwürdiges Mädchen gewesen sein, das niemand mochte. Trotzdem scheinen sie und dein Vater sich einmal sehr nahe gestanden zu haben.«

Michele starrte das Foto an, auf das Walter so grimmig blickte, und schlug ungläubig die Hände vor den Mund.

Das Bild zeigte ein Mädchen mit dunklen, seelenlosen Augen, das weder jung noch alt zu sein schien. In einem langen Satin-Kleid mit ausgeprägter Tournüre stand es im Salon des Windsor Mansion, den Kopf zur Seite gewandt. Hoch aufgetürmte schwarze Locken umrahmten ihr scharf geschnittenes Gesicht.

Michele taumelte ein Stück zurück.

»Das ist sie«, würgte sie. »Heute … hat mich der … der Geist von jemandem verfolgt. Ich konnte das Gesicht nicht klar erkennen, aber ich weiß … das war sie!«

»Sie hat es getan, Walter«, stöhnte Dorothy. »Sie ist schon hinter Michele her.«

Walter fasste Michele an den Schultern. »Sieben Tage lang kann sie dir nichts tun. Sie kann dich verfolgen und dir Angst einjagen, aber ihre volle körperliche Gestalt und Stärke erhält sie erst, wenn sie sieben Tage lang in unserer Zeit war. Deshalb müssen wir dich sofort aus der Stadt bringen …«

»Moment.« Verstört blickte Michele von ihrem Großvater zu ihrer Großmutter. »Woher wisst ihr das alles? Und … warum? Warum sollte jemand aus den 1880ern mir etwas antun wollen?«

Als ihr ein Bild auf der anderen Seite des Albumblatts ins Auge fiel, verstummte sie abrupt. Sie trat näher, um es genauer betrachten zu können, und etwas Kaltes, Klammes nistete sich in ihrer Magengegend ein. Diese Aufnahme aus dem Jahr 1888 zeigte Rebecca und Irving eng aneinandergedrängt und mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Stufen der großen Treppe.

»Das ist das letzte Foto, auf dem sie gemeinsam zu sehen sind«, erklärte Walter. »Im Laufe des Jahres 1888 ist etwas geschehen, weshalb sich Rebecca plötzlich gegen deinen Vater gewandt hat und ihn fortan hasste. Für den Rest ihres Lebens – und darüber hinaus. Bis heute wissen wir nicht, was es war.«

»Als Marion ihn 1991 mit nach Hause brachte, um ihn uns vorzustellen – damals nannte er sich Henry – sahen wir in ihm nichts weiter als einen höflichen Teenager, der einfach nicht in der gleichen Liga spielte wie unsere Tochter. Wir hielten es für eine harmlose junge Romanze und taten nichts, um sie zu verhindern. Aber die Sache wurde ernst. Und dann tauchte auf einmal Rebecca auf.« Bei der Erinnerung daran verzog Walter gequält das Gesicht. »Direkt vor unseren Augen nahm diese Frau Gestalt an, und das Jahrzehnte nach ihrem Tod – kann man sich etwas Entsetzlicheres vorstellen? Trotz alledem schaffte sie es irgendwie, unser Vertrauen zu gewinnen. Sie gehörte zur Familie, und noch dazu war sie eine Zeitreisende. Sie konnte beweisen, wer Irving wirklich war, sie zeigte uns diese Fotos und verriet uns, was Irving vor Marion geheim hielt. Danach haben wir Rebecca instinktiv geglaubt, als sie sagte, er würde unsere Tochter ins Verderben führen.

Wir wussten, dass Marion uns nicht glauben würde, wenn wir es mit der Wahrheit versuchten. Vielleicht hatten wir auch Angst, es wäre ihr egal – sie liebte Irving so sehr, dass wir befürchteten, sie würde ihm überallhin folgen, sogar in eine andere Zeit. Deshalb wehrten wir uns nicht gegen Rebecca, als sie uns mit ihren Drohungen dazu bringen wollte, ihr dabei zu helfen, die beiden auseinanderzubringen.« Walter senkte beschämt den Kopf. »Ich war auf Irvings Beerdigung gewesen. Ich wusste, dass er eigentlich seit 1944 hätte tot sein müssen – deshalb war es nicht schwer, Rebeccas Worten zu glauben, er sei eine Abartigkeit und seine Verbindung mit unserer Tochter würde entsetzliche Konsequenzen haben. Sie sagte, wir müssten die beiden trennen, bevor sie ein Kind bekommen konnten. Davon war sie völlig besessen – ununterbrochen warnte sie uns davor, was geschehen würde, wenn du zur Welt kämest.«

Mit schwacher Stimme meldete sich Dorothy zu Wort. »Wir haben Irving Geld geboten, damit er Marion verließ. Er wollte es nicht annehmen, aber als wir ihm schließlich die Nachricht unterbreiteten, dass wir wussten, wer er war, und dass Rebecca bei uns aufgetaucht war … nun, am Tag darauf verschwand er ohne ein Wort. Aber es war alles umsonst. Marion hat uns nie verziehen, und wir haben sie so früh verloren. Dabei hatten wir genau das durch die Zusammenarbeit mit Rebecca verhindern wollen.« Dorothy vergrub das Gesicht in den Händen. »Und jetzt, siebzehn Jahre später, kommt sie deinetwegen zurück. Das ist unser schlimmster Albtraum. Aber wir werden nie wieder auf diese hasserfüllte Kreatur hören. Wir wissen, dass die ganze Zeit sie der wahre Feind war.«

»Du sollst wissen, dass wir uns die ganze Zeit zutiefst um dich gesorgt haben«, sagte Walter sanft. »Wir haben dir nur Dinge verschwiegen, weil wir glaubten, keine andere Wahl zu haben.«

Michele ergriff die Hände ihrer Großeltern.

»Ich kann mir kaum vorstellen, was ihr in diesen Jahren durchgemacht haben müsst«, sagte sie. »Es tut mir so leid zu hören, was Rebecca euch und meinen Eltern angetan hat. Aber wir werden nicht zulassen, dass sie gewinnt.« Vor Wut knirschte Michele mit den Zähnen, als sie begriff, dass ohne diese wahnsinnige Zeitreisende alles in ihrem Leben gänzlich anders verlaufen wäre. Sie wäre mit beiden Eltern und ihren Großeltern aufgewachsen, Marion hätte Michele nicht als Alleinerziehende großziehen müssen – und vor allem wäre Michele jetzt nicht mit sechzehn Jahren Waise.

»Rebecca hat meine ganze Familie zerstört«, flüsterte sie, als ihr das ganze Ausmaß des Grauens bewusst wurde. Sie hob den Blick und sah ihre Großeltern an. »Was will sie mir antun?«

Walter und Dorothy sahen einander an, und es entstand eine quälende Stille, weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten.

»Sie will meinen Tod, richtig?«, fragte Michele unumwunden.

Nach einer Pause sagte Walter: »Aber vergiss nicht, im Augenblick kann sie dir noch nichts tun. Deshalb müssen wir dich von hier fortbringen. Wir können uns gut vorstellen, wie sehr du dein altes Zuhause und deine Freunde vermissen musst, daher haben wir One-Way-Tickets für einen Flug nach Los Angeles gebucht. Wir können dort bleiben, bis die Gefahr vorüber ist.«

»Nein«, sagte Michele entschlossen. »Rebecca terrorisiert meine Familie schon länger, als ich auf der Welt bin. Egal, wohin ich gehe, sie wird mich finden. Deshalb muss ich vorbereitet sein, wenn es so weit ist. Ich muss diese Sache zu Ende bringen.«

»Aber … wie kannst du nur?«, sprudelte Dorothy hervor. »Wie kannst du hierbleiben, wenn sie im Haus herumspukt? Wie kannst du zur Schule gehen und so tun, als wäre alles wie immer, wenn dir vielleicht nur noch sieben Tage bleiben? Wenn wir fortgingen, wäre wenigstens …«

»Es würde nichts ändern«, unterbrach Michele sie. »Woher wissen wir, dass sie uns nicht einfach dorthin folgt? Es gibt nur eine Lösung: Ich muss einen Weg finden, sie aufzuhalten – endgültig.« Während sie sprach, wunderte sich Michele darüber, wie ruhig sie klang, obwohl ihr Leben sich von jetzt auf gleich in einen Horrorfilm verwandelt zu haben schien. Aber bei dem Gedanken an ihre Familie, die Rebecca ihr genommen hatte, überwanden Wut und Entschlossenheit ihre Angst. Plötzlich füllte Philips Gesicht ihre Gedanken aus, und in diesem Moment erfasste sie die Sehnsucht, am Leben zu bleiben, um bei ihm zu sein. Diese Sehnsucht war so überwältigend, dass Michele glaubte, alle Hindernisse auf ihrem Weg bewältigen zu können.

Michele nahm das Album an sich und blätterte darin, bis sie auf das Bild von ihrem Vater stieß, auf dem sie ihn damals zum ersten Mal gesehen hatte: sein Firmenporträt aus dem Jahr 1900. Auf diesem Foto war er einunddreißig, aber in seinen Augen lag eine Schwere, die ihn älter wirken ließ. Der fröhliche Junge von 1887 war kaum noch zu erkennen.

»Was ich nicht verstehe, ist Folgendes: Wenn die Freundschaft zwischen Irving und Rebecca 1888 endete, warum arbeitete er dann so viele Jahre später noch für die Familie?«, wollte Michele wissen.

»Das Merkwürdigste ist, dass dieses Foto von Irving ursprünglich gar nicht in dem Album war«, sagte Dorothy mit gedämpfter Stimme. »Es ist erst in den 1990er Jahren aufgetaucht, am Tag nach seinem Verschwinden.«

»Wir haben Nachforschungen in der Familie angestellt, um so viel wie möglich über Rebecca und Irving herauszufinden«, fuhr Walter fort. »Das war nicht einfach, da inzwischen so gut wie jeder verstorben war, der die beiden damals gekannt hatte. Aber wir konnten mit ihrer Nichte Frances Windsor sprechen.«

Bei diesem Namen durchfuhr Michele ein Ruck des Wiedererkennens. Sie hatte die kleine Frances, die 1910 noch Frankie genannt wurde, bei ihrer Begegnung mit Clara Windsor gesehen. Frankie war Claras jüngere Schwester.

»Frances war über neunzig, als wir sie ’93 besuchten, aber sie hatte noch immer ein gutes Gedächtnis. Rebecca war die Schwester ihres Vaters George gewesen, und sie erinnerte sich an ihre Tante als seltsames, unfreundliches schwarzes Schaf der Familie. Rebecca hat nie geheiratet und nichts aus ihrem Leben gemacht. Frances erinnerte sich, dass sie ständig auf mysteriöse Reisen ging und manchmal mehrere Jahre am Stück verschwunden war. Nach dem Tod ihrer Eltern erbte George dieses Haus, und Rebecca zog in eine Stadtvilla am Washington Square, aber sie war nur noch selten in der Stadt. Frances zufolge hatte sie anscheinend nie viel mit der Familie zu tun haben wollen. Man sah sie nur bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie die Bälle im Hause Windsor besuchte. Irving hingegen kam der Familie immer näher, während sich Rebecca von ihr entfernte. Wie Frances berichtete, erschien er stets zu früh, wenn er rechtliche oder geschäftliche Angelegenheiten mit ihrem Vater zu besprechen hatte, und hielt sich auch nach den Treffen noch eine Weile im Hause auf – so, als würde er auf jemanden warten.« Walter holte tief Luft. »Ich habe mich immer gefragt, ob es Marion war, auf die er gewartet hat – ob sie der Grund dafür war, dass er immer in der Nähe blieb.«

Michele schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. »Hat mein … mein Vater Rebecca je wieder gesehen?«

»Nicht, dass jemand davon wüsste. Rebecca war nur selten in der Gegend, und zu den Gelegenheiten, bei denen sie nach Windsor Mansion zurückkehrte, muss sich Irving ferngehalten haben. Laut Frances war er zwar immer zu den Feiertagen und Partys im Haus eingeladen, ist aber nicht ein Mal zu einem solchen Anlass erschienen.«

»Ich muss ihn finden«, verkündete Michele. »Mein Gefühl sagt mir, dass … dass er weiß, was zu tun ist.«

Von dieser Idee entsetzt, schnappte Dorothy hörbar nach Luft. »Aber wenn du ihn findest, könntest du Rebecca direkt in die Falle gehen. Sie lebt in seiner Zeit!«

»Keine Sorge. Ich werde nichts unternehmen, bevor ich nicht mehr weiß und einen … einen Plan gemacht habe.«

Walter drückte ihre Hand. »Wir werden dir helfen. Wir stehen das gemeinsam durch.«

Michele atmete tief durch. Als sie die Besorgnis auf den Gesichtern ihrer Großeltern sah, fragte sie sich, ob sie sich einer Illusion hingab, wenn sie glaubte, es in diesem Jahrhunderte umfassenden Krieg mit einem Feind aufnehmen zu können, von dessen Existenz sie bis heute nichts geahnt hatte.

Aber andererseits … blieb ihr gar keine Wahl.