Siebter Tag

Die Katastrophe

Die Schicht im KK11 begann üblicherweise wie in den meisten deutschen Polizeistellen mit einer Koffeinorgie.

Da Judith Hofmann morgens als Erste im Präsidium war, übernahm sie das Auffüllen des neu angeschafften Kaffeeautomaten. Die Kollegen sollten sich schließlich gleich um ihre Arbeit kümmern können. Und damit sie das besonders gut taten, stellte Judith den Automaten auf die stärkste Stufe. Unter den Beamten hielten sich zähe Gerüchte, dass sie zusätzlich auch noch ein bisschen Speed aus der Asservatenkammer zwischen die Bohnen mischte, aber das konnte nie bewiesen werden.

Als der Automat einsatzbereit war und sich die ersten Gierigen um das Gerät versammelten, ging sie zurück in ihr Büro. Der Mann von der Poststelle war schon da gewesen und hatte einen großen Stapel mit Briefen auf ihren Schreibtisch gelegt, den sie an die Kollegen austeilen musste. Sie überlegte kurz, ob sie damit noch warten sollte, entschied sich aber dagegen. Konrad saß bereits in seinem Büro und würde bestimmt gleich wieder zu ihr rauskommen, um sie mit heruntergezogenen Mundwinkeln anzustarren. Darauf konnte sie getrost verzichten.

Also die Post.

Sie sortierte die Briefe beim Hinausgehen und begann, die einzelnen Büros abzuklappern. Dabei ergab sich immer Gelegenheit für das ein oder andere Schwätzchen, was sie gerne nutzte. Erstens, weil sie Rheinländerin war, und zweitens, weil sie das für wichtig hielt. Die Leute im KK11 taten oft genug mehr als das, wofür sie bezahlt wurden, da durfte eine gewisse Wärme in der Abteilung nicht fehlen.

Für Katharina Mehnert war ein brauner DIN-A4-Briefumschlag dabei. Sie stieß die Bürotür mit dem Ellbogen auf und ging hinein.

«Wunderschönen guten Morgen, junge Frau», grüßte sie. «Munter und voller Tatendrang?»

Ihre Kollegin saß, einen großen Pott Kaffee schlürfend, hinter ihrem Schreibtisch und sah noch nicht besonders fit aus. «Mensch, Judith, du hast ja eine unverschämt gute Laune. Willst du mich etwa provozieren?» Sie lächelte verschmitzt und stellte dann die Tasse ab. «Ich weiß auch nicht, aber ich glaube, bei mir geht die Frühjahrsmüdigkeit stufenlos in den Winterschlaf über. Nicht mal dein Kaffee hilft mehr richtig.»

«Das ist allerdings bedenklich!» Judith Hofmann reichte ihr lächelnd den Brief. «Vielleicht hilft ja die Post. Eine Gehaltserhöhung ist es aber nicht, die kommen in kleinen weißen Umschlägen.»

Katharina Mehnert griff nach dem Umschlag. «Soso. Ich hab gehört, die werden von rosa Brieftauben gebracht. Muss aber vor meiner Zeit gewesen sein.» Sie wollte den Brief schon zur Seite legen, als ihr etwas daran auffiel.

«Kein Absender?»

Judith Hofmann runzelte die Stirn. «Nee, aber er kam mit der externen Post, Briefmarken und Stempel sind ja drauf. Ein heimlicher Verehrer vielleicht?»

Katharina Mehnert zuckte mit den Schultern. «Das wüsste ich aber. Na, wir werden es ja gleich sehen.» Sie nahm ihre Schere, fädelte sie in den schmalen Spalt am Rand des Briefes ein und riss den Umschlag auf.

Sie sah hinein und erkannte ein einzelnes großes Foto. «Hm, vielleicht was aus Düsseldorf, ich hatte da was hingeschickt.» Sie zog das Bild heraus – dann weiteten sich ihre Augen.

«Allmächtiger!», presste sie hervor.

«Alles in Ordnung, Kathi?» Judith Hofmann fasste besorgt nach der Schulter ihrer Kollegin und sah auf das Bild.

«Oh Gott!»

Auf dem Foto baumelte eine junge Frau an einem Galgen. Sie hatte die Hände auf den Rücken gefesselt und eine Augenbinde umgelegt. Ihr Mund war vor Entsetzen weit aufgerissen, vielleicht war sie aber auch bereits tot und der offene Mund ein Produkt ihrer erschlafften Muskeln. Die Frau war schrecklich dürr und hatte ein Brautkleid und merkwürdige schwarze Socken an. Besonders bizarr an ihr war der weiße Brautschleier, den sie auf dem Kopf trug.

Die ganze Szenerie war ein einziges Bild des Grauens.

Doch das war noch nicht das Schlimmste.

Am furchtbarsten war die Kombination dessen, was auf dem Foto abgebildet war, und dem, was darunter stand.

So will ich dich haben, Katharina!

*

Keine zwanzig Minuten später war ein großer Teil des KK11 im sogenannten Wohnzimmer versammelt. Die Anspannung war geradezu mit Händen zu greifen, abgesehen von leisem Tuscheln und dem Klappern von Stiften war es so still wie selten im KK11. Alle blickten auf Greiner, der mit ungeduldiger Miene vorne stand und wartete, bis auch der letzte Beamte saß. Und das war an diesem Tag nicht Abel. Er war bereits früh da gewesen und hatte als einer der Ersten das Bild gesehen.

Er wusste, was ihnen bevorstand.

«Kollegen», begann Greiner, «ich habe euch zusammengetrommelt, weil es wichtige Informationen im Zusammenhang mit den Leichen vom Ginsterpfad gibt. Aus Gründen, die ihr gleich erfahren werdet, müssen wir der Sache ab sofort unsere volle Konzentration widmen. Das heißt, dass wir die MK Poseidon vermutlich vergrößern werden und daher jeder hier wenigstens grob wissen muss, womit wir es seit heute zu tun haben.» Ein Handy klingelte in der letzten Reihe, verstummte aber sofort, als Greiner einen mahnenden Blick in die betreffende Richtung warf.

«Um es möglichst kurz zu machen: Wir haben Grund zur Annahme, dass der Täter Kontakt zu Katharina Mehnert aufgenommen und sie bedroht hat. Wie und warum er ausgerechnet diese Kollegin ausgesucht hat, werden wir gleich diskutieren.»

Katharina Mehnert saß neben Hannah in der ersten Reihe und presste die Lippen zusammen. Ihr sonst so erfrischendes Lächeln war verschwunden, stattdessen starrte sie mit ernstem Gesicht zu Greiner.

Abel konnte sie verstehen. Ihm war das Lachen ebenfalls vergangen.

«Zuerst das Foto», sagte Greiner. «Danach sollte jedem klar sein, dass die Sache ernst ist.» Er drückte eine Taste auf dem bereitstehenden Laptop, sodass das Bild über den Beamer an die große Leinwand neben ihm geworfen wurde.

Sofort ging lautes Raunen durch den Raum, und die Beamten fingen an, lautstark miteinander zu diskutieren.

«Okay», sagte Greiner. «Die Botschaft ist also angekommen. Es gibt nun mehrere Dinge, um die wir uns ab sofort mit höchster Priorität kümmern müssen.» Er ging zum neben ihm stehenden Flipchart, nahm einen Stift in die Hand und begann zu schreiben.

«Erstens: leichter Personenschutz für Kommissarin Mehnert.» Als er sah, dass diese widersprechen wollte, winkte er energisch ab. «Egal, was Sie sagen möchten: Vergessen Sie es! Sie schlafen ab sofort im Hotel oder bei einer Kollegin. Alles andere wäre grob fahrlässig. Sie fahren außerdem auch nicht mehr alleine Auto, sondern haben immer Begleitung. Keine Widerrede!»

Katharina Mehnert nickte und schwieg. Ihr war klar, dass Greiner recht hatte.

«Zweitens: Woher kennt der Täter den Namen von Frau Mehnert, und wieso schickt er gerade ihr das Foto?»

Gute Frage, dachte Abel. Die meisten Polizisten konnte man aus gutem Grund nicht in Telefonbüchern finden und auf der Website des Präsidiums schon gar nicht. Wer einen Brief an eine bestimmte Beamtin schrieb, kannte sie von irgendwoher persönlich. Und wenn er richtig lag, gab es dafür nur eine Erklärung.

Hannah schien zum selben Ergebnis gekommen zu sein. Sie hob die Hand und blickte zu Katharina Mehnert. «Vielleicht fällt dir noch etwas anderes ein, aber für mich gibt es gerade nur eine Erklärung: Lehmann.»

Kommissarin Mehnert nickte. «Das sehe ich genauso.» Ihre Stimme klang belegt, und sie räusperte sich. «Wir haben uns ihm mit Namen vorgestellt, und wir haben ihn bewusst provoziert. Dass er angebissen hat, war mehr als offensichtlich.»

Greiner nickte. «Dass er so schnell reagiert hat, ist zwar erstaunlich, aber ich bin ansonsten ganz Ihrer Meinung. Er ist der Verdächtige Nummer eins. Und damit sind wir bei den letzten beiden Punkten, um die wir uns sofort kümmern müssen.» Er sah Abel an und nickte ihm zu. «Ich glaube, das ist jetzt Ihr Metier?»

Abel erhob sich. Wie immer hatte er wenig Lust, sich in den Vordergrund zu drängen, aber wenn es der Sache diente und die Besprechung abkürzen konnte …

Langsam ging er zu Greiner und stellte sich neben ihn. «Ja. Das eine ist eine sofortige Rund-um-die-Uhr-Beschattung von Lehmann. Aber der zweite Punkt ist fast noch wichtiger: Wer ist die junge Frau auf dem Bild?»

Er nahm den Laserpointer von der Ablage des Flipcharts.

«Bevor wir uns das Foto genauer anschauen, müssen wir darüber nachdenken, woher es überhaupt stammt. Theoretisch kann es sich ja um eine Datei aus den Abgründen des Internets handeln, die von Lehmann nur ausgedruckt wurde. Snuff-Bilder von Nekro-Fetischisten gibt es genug. Dann wäre die ganze Situation auf dem Foto also vielleicht gestellt, und wir müssten uns nur darüber sorgen, was darauf geschrieben wurde.»

Abel ließ den Blick über die Kollegen schweifen. Alle schauten ernst und dachten offenbar dasselbe wie er.

«Doch leider glaube ich nicht, dass das zutrifft. Dazu gibt es zu viele Parallelen zu unserem derzeitigen Fall. Die Leichen vom Ginsterpfad trugen ebenfalls Brautkleid und Schleier. Und dass der Gesuchte ein besonderes Verhältnis zu Füßen hat, dürfte auch jeder begriffen haben. Es ist also angebracht, davon auszugehen, dass es sich bei der jungen Frau um ein Opfer Lehmanns handelt.» Er schaute in die konzentrierten Gesichter der Beamten. «Die Frage ist jetzt eigentlich nur, ob es eines der früheren Opfer ist, oder – und jetzt komme ich zum entscheidenden Punkt – ob Lehmann in diesem Moment wieder jemanden in seiner Gewalt hat.»

Lautes Gemurmel. Die Leute hatten verstanden, worum es ging.

«In jedem Fall sollten wir uns jetzt das Foto gemeinsam ganz genau anschauen. Was sehen Sie darauf?»

Die Beamten konzentrierten sich auf das Bild.

«Die Frau hat die Beine leicht angewinkelt, außerdem sind keine Spuren von Exkrementen zu sehen. Also lebte sie zum Zeitpunkt der Aufnahme wahrscheinlich noch oder ist noch nicht lange tot», meldete sich Jörg Hansen. Abel schrieb das auf das Flipchart.

«Direkt unter ihr stehen zwei große Spiegel, solche zum Kippen wie in Ankleiden.» Horst Leingart rümpfte die Nase. «Schätze mal, er wollte ihr damit unter den Rock schauen. Aber warum steht er nicht einfach unter ihr? Da wäre seine ‹Aussicht› sicher besser gewesen.»

Abel nickte. «Gut erkannt. Ich glaube, wir haben es mit einem Spanner zu tun, und der Umweg über den Spiegel verstärkt für ihn das Gefühl, mit seinem Beobachten etwas Verbotenes zu tun. Und das steigert wiederum die Erregung, die ihm das Ganze bereitet. Dieses Verhalten zeugt natürlich von einer starken sexuellen Unreife, aber das ist bei solchen Tätern ja nun alles andere als die Ausnahme.»

Horst Leingart schüttelte den Kopf. «Na, auf das Täterpsychogramm bin ich ehrlich gespannt!»

Ganz hinten meldete sich eine ältere Kollegin. «Die Schlinge ist in einem Haken an der Decke befestigt und der Raum schätzungsweise drei Meter hoch. Damit fallen viele Häuser schon mal aus dem Raster, oder?»

Abel schaute auf das Bild und nickte. Das war tatsächlich etwas, das ihnen unter Umständen weiterhelfen konnte.

Katharina Mehnert meldete sich nun ebenfalls. «Die Wohnung von Lehmann hatte die heute üblichen zwei Meter vierzig, da brauchen wir schon mal nicht anzufangen.» Abel notierte auch das. Es gab also offensichtlich ein Versteck, wo Lehmann seinem grausamen Hobby nachging. Umso mehr musste man ihn beschatten, damit er sie vielleicht dorthin führte.

Hannah beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. «Man kann es zwar nur schlecht erkennen, aber ich glaube, die Wände sind aus Holz, oder?»

Alle starrten auf das Foto. Der Raum, in dem die junge Frau hing, war im Gegensatz zu ihr selbst schlecht ausgeleuchtet. Dennoch sah es so aus, als ob die Wand hinter ihr nicht tapeziert war, sondern aus Brettern bestand.

«Eine Waldhütte. Oder ein Gartenhaus. Aber dafür ist der Raum eigentlich zu hoch. Also eher etwas im Wald.»

«Moment mal», sagte Katharina Mehnert. «Hat schon jemand mit dem KK62 gesprochen? Vielleicht gibt es ja eine neue, passende Vermisstenmeldung?» Sie schaute die Runde, aber niemand meldete sich zu Wort. «Verdammt, das sollten wir rasch tun.»

Die anderen Beamten im Raum warfen sich aufgeregte Blicke zu. «Was ist mit dem Foto selbst», wollte Jörg Hansen wissen. «Wurde es schon untersucht?»

Bevor Abel etwas sagen konnte, hob Greiner die Hand. «Nein, Sie Spaßvogel, wir haben es in der halben Stunde, seitdem wir es kennen, noch nicht analysieren können. Aber es ist zusammen mit dem Briefumschlag per Kurier nach Düsseldorf unterwegs, damit das LKA es auseinandernimmt. Auf den ersten Blick handelt es sich jedoch um das Produkt eines handelsüblichen Fotodruckers.»

«Und warum nehmen wir diesen Lehmann nicht einfach fest?», setzte Hansen nach. «Ich meine, wir haben doch weiß Gott genug Hinweise darauf, dass der Brief von ihm stammt. Wenn wir ihn in die Mangel nehmen, wird er schon zusammenbrechen. Und das wäre allemal einfacher als der Aufwand mit der seiner Beschattung und dem Personenschutz für Kollegin Mehnert.»

Greiner runzelte die Stirn. «Sie haben den Grund gerade selbst genannt: Wir haben Hinweise, aber keine Beweise. Für einen Haftbefehl ist das viel zu wacklig. Weiterhin würden wir mit einer Festnahme das Leben der entführten Frau gefährden. Denn wenn Lehmann sich dazu entschließt, die Klappe zu halten, um seinen Hintern zu retten, dann möchte ich nicht dafür verantwortlich sein, dass sie irgendwo verhungert und verdurstet. Sie vielleicht?»

Hansen presste die Lippen zusammen und schwieg betreten.

«Gut, dann hätte das jetzt auch der Letzte verstanden.» Greiner klatschte in die Hände. «Ich beantrage ein MEK für die Überwachung Lehmanns. Sobald wir einen Zugriff machen müssen, übernimmt ein SEK – sofern wir das dann noch schnell genug herbekommen. Weiterhin werden wir alle Informationen sammeln, die wir über ihn kriegen können. Und die, die wir schon haben, schauen wir uns so lange und so genau an, bis wir herausfinden, wo er die Frau versteckt hat – und wenn wir dazu seine Akte in Atome zerlegen müssen.»

Er runzelte die Stirn. «Ach ja, und da wir gerade so schön beieinandersitzen, hier noch die Information für alle, dass gestern eine weitere Tote vom Ginsterpfad identifiziert wurde. Hansen, Sie waren inzwischen bei den Eltern dieses Opfers?»

«Ja, das war ich. Weiß Gott kein schöner Termin, kann ich Ihnen sagen, obwohl die Leute nach einer so langen Zeit natürlich schon mit dem Schlimmsten gerechnet haben. Elena Löw war bei ihrem Verschwinden vor sieben Monaten achtzehn Jahre alt. Aber die gute Nachricht ist schon mal, dass wir einen PC und sogar das Handy des Opfers sicherstellen konnten. Die Sachen gingen noch gestern Abend per Kurier ans LKA und – welch positive Überraschung! –, da hat doch tatsächlich jemand für uns eine Nachtschicht eingelegt.» Hansen legte eine Kunstpause ein.

«Mit welchem Ergebnis», grollte Greiner. «Ich will einfach nur das Ergebnis hören!»

«Der Mann beim LKA wusste genau, wonach er zu suchen hatte», sagte Hansen. «Er hat die Festplatten sowohl des PCs als auch des Mobiltelefons gescannt und nach Auffälligkeiten gesucht. Dabei kam zunächst nicht Spannendes heraus, außer einer langen Adressliste mit Telefonnummern und Mailadressen, die wir jetzt durchgehen müssen. An ihre Kommunikation, die sie über Facebook abwickelte, kommen wir leider nicht ran.»

Greiner nickte. Facebook war gegenüber Ermittlungsbehörden ziemlich verschwiegen – es sei denn, man war Mitglied eines mit Abhöraktionen beauftragten Geheimdienstes. Da sah es Gerüchten zufolge anders aus.

«Richtig interessant wurde es aber, als der Kollege die beiden Datenträger mit der kaputten Festplatte von Carina Lenz verglich, die Herr Abel zur Untersuchung vorgelegt hatte.»

Hansen sah bedeutungsschwer die neben ihm sitzenden Kollegen an.

«Lassen Sie sich nicht die Würmer aus der Nase ziehen! Heraus mit den Informationen.»

«Der LKA-Spezialist konnte aus dem temporären Systemdateien die Facebook-Kontakte rekonstruieren und, siehe da, dort gab es eine Übereinstimmung.» Er sah sich triumphierend um. «Beide Mädchen hatten jeweils fast zweihundert sogenannte Freunde, aber nur einen einzigen gemeinsamen. Ich habe mir das Profil heute Morgen über meinen eigenen Zugang angeschaut und gesehen, dass es sich – angeblich – um einen jungen Mann handelt.»

«… von dessen Kontakten zwei Opfer eines Mordes wurden!» Hannah sprach aus, was in dieser Sekunde jedem durch den Kopf ging. «Das ist ein verdammter Zufall zu viel!»

Greiner nickte. «Ich denke auch, dass wir uns sofort darum kümmern müssen. Denn die Frage ist doch: Haben wir es mit einem weiteren Verdächtigen zu tun, oder – und das halte ich für wahrscheinlicher – ist das Ganze ein Fake-Profil von diesem Lehmann? Wir sollten das sofort untersuchen.»

«Das könnte ich doch erledigen», sagte Hannah. «Ich erstelle selbst ein Fake-Profil, das ins Opferschema passt, und schreibe diesen Mann an.»

«Ich helfe dir», sagte Katharina Mehnert. «Lass uns gleich loslegen – wenn Sie einverstanden sind, Greiner.» Beide schauten ihn an.

Der überlegte einen Moment, dann zuckte er mit den Schultern. «Wenn Sie sich das zutrauen, bitte. Ansonsten suchen Sie sich Hilfe bei den Kollegen von der Internetkriminalität, die kennen sich mit Fake-Profilen aus. Ich erwarte aber jeden Tag einen kurzen Bericht.»

«Wird gemacht.» Hannah nickte Katharina Mehnert freundlich zu, und diese lächelte zurück.

«Sehr gut, Hansen», sagte Greiner und klatschte in die Hände. «Also, wenn niemand mehr …»

Abel hob die Hand.

«Was ist denn nun noch», fragte Greiner. «Es gibt viel zu tun, und ich würde gern sofort damit loslegen.»

Abel zeigte auf das Foto, das immer noch auf die Leinwand projiziert wurde. «Wir haben einen Punkt vergessen zu besprechen.»

Greiner schaute ihn an und betrachtete das Bild noch einmal genauer. «Und der wäre», fragte er, als er nach einigen Sekunden zu keiner Erkenntnis gekommen war.

Abel deutete auf die Füße der Frau. «Die Socken. Er hat ihr schwarze Socken angezogen. Das passt nicht zum Rest der Kleidung und schon gar nicht zu den roten Schuhen.»

Greiner zuckte mit den Schultern. «Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, und über die modischen Neigungen eines Mörders mache ich mir nicht so viele Gedanken.»

«Das sind keine normalen Socken», sagte Abel. «Sieht mir stark nach Latex aus.»

Greiner schaute nochmals hin und runzelte die Stirn. «Okay, Sie haben recht», sagte er nach einer Weile. «Da gibt es einschlägige Läden hier in der Altstadt. Vielleicht haben wir ja Glück, und unser Mann hat sie nicht im Netz bestellt. Halte das allerdings für unwahrscheinlich.»

«Ja, sollten wir versuchen. Aber mir geht es um einen anderen Punkt. Schauen Sie noch mal genau hin.»

Greiner, der solche Anweisungen nicht gewohnt war – schon gar nicht vor versammelter Mannschaft –, zögerte einen Moment. Doch dann gab er sich einen Ruck und ging dicht an das Bild heran. Er betrachtete die schwarzen Socken und auch alle anderen Details.

Ihre glänzende Oberfläche.

Die Tatsache, dass sie beim Übergang in die roten Stöckelschuhe keine Falten warfen.

Den verkrampften Fuß der Frau. Greiner hatte ein gutes Auge, sogar für einen Polizisten.

Und plötzlich erkannte er, worauf Abel hinauswollte. «Scheiße.» Er berührte mit den Fingern vorsichtig die Projektion vor sich, gerade so, als ob er der Frau weh tun könnte. «Da ist eine Verfärbung der Haut direkt oberhalb der Socken.»

Abel nickte. «Ja. Und ich würde ein Jahresgehalt darauf verwetten, dass der Grund hierfür dieselbe Chemikalie ist wie bei den Wasserleichen vom Ginsterpfad.»

Er schaute zu den übrigen Beamten im Raum, die der Unterhaltung offenbar nur zum Teil folgen konnten. Er wollte sie auf keinen Fall weiter im Unklaren lassen.

«Der Mörder der Frauen vom Ginsterpfad hat die Haut ihrer Füße präpariert, damit sie sich nach dem Abschneiden besser hält. Und jetzt wissen wir auch, wie er das macht. Nämlich genauso wie auf diesem Foto.» Abel zeigte auf das Bild hinter sich.

«Er hat seinen Opfern die Latexsocken nicht angezogen, weil ihn das besonders erregt, sondern weil so die Chemikalie länger auf der Haut bleibt. Er bereitet die Frau, die hier in der Schlinge baumelt, also gerade darauf vor, ihre Füße abzuschneiden. Wenn das Foto aktuell ist, haben wir demnach allen Grund uns zu beeilen.»

*

Als sich die Besprechung auflöste, blieb Katharina Mehnert noch sitzen. Sie brauchte einen Moment mit sich allein, um das Erlebte sacken zu lassen. Um die professionelle Distanz zurückzugewinnen, die man bei so einem Fall unbedingt brauchte. Keine leichte Übung, denn der Entführer und vermutlich auch Mörder hatte ihr seine Aufwartung gemacht. Ein Kompliment, auf das sie gern verzichtet hätte.

Als sie sich schließlich erhob, bemerkte sie, dass Martin Abel neben ihr stand. Dieser große linkische Kerl, der gerade allen klargemacht hatte, mit was für einem Irren sie es zu tun hatten. Obwohl er sachlich geblieben war, hatte sie den Eindruck, dass auch er ordentlich an dieser Sache zu knabbern hatte. Seine Augen blickten traurig auf sie herab, fast als ob es ihm leidtäte, dass er das alles hatte sagen müssen.

«Sie gehen ins KK62

Sie zuckte mit den Achseln. «Ja, das sagte ich doch gerade. Wir müssen sofort die aktuellen Vermisstenfälle durchgehen, vielleicht erkennen wir bei den Vorgängen nun endlich einen Zusammenhang.» Obwohl sie wusste, wie wichtig diese Arbeit war, fühlte sie sich immer noch wie gelähmt.

«Darf ich mitkommen?»

Sie schaute ihn an. Plötzlich wirkte er ungeduldig, als würde er am liebsten gleich loslaufen, um die Sache voranzubringen.

«Natürlich. Es ist genauso Ihr Fall wie meiner», sagte sie, obwohl sie wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach. «Und Hannah?» Sie sah sich suchend im Raum um, doch sie waren allein.

Abel hob die Schultern. «Wir haben uns die Arbeit gerade ein wenig aufgeteilt. Sie kümmert sich schon um die Sache mit den sozialen Netzwerken, ich bin für das Grobe zuständig.»

«Okay.» Sie hatte das Gefühl, dass er in diesem Moment nicht ehrlich zu ihr war, aber sie ließ es dabei bewenden. Jeder Mensch hatte seine Geheimnisse, und niemand wusste besser als sie, dass Beziehungen manchmal kompliziert sein konnten.

Sie nahm ihre Unterlagen und ging zum Treppenhaus und von dort zum KK62. Abel folgte ihr wortlos.

Als sie das Kommissariat betraten, kam ihnen auf dem Gang Iris Schröder in dem langweiligen Kostüm entgegen, das sie jeden zweiten Tag zu tragen schien. Wenn man genau hinsah, konnte man zwar noch erkennen, warum sie einst dem Polizeipräsidenten den Kopf verdreht hatte. Aber ihr Haar war mittlerweile angegraut, ihre Figur füllig geworden. Eine gealterte Schönheit, die ihren Zustand hasste – meistens mit entsprechend schlechter Laune.

«Hallo, Iris, darf ich dich kurz stören? Wir müssten noch mal einen Blick in deine Akten werfen.»

Die Frau schaute ihre jüngere Kollegin einen endlosen Moment über ihren Brillenrand an. «Du störst nie», sagte sie schließlich, «und schon gar nicht, wenn du so attraktive Begleitung mitbringst.» Sie nickte in Abels Richtung.

«Ach so, natürlich», sagte Katharina. «Das ist Kollege Abel von der Operativen Fallanalyse beim LKA Baden-Württemberg. Er unterstützt uns im aktuellen Fall.»

Sie schaute überrascht zu, wie die beiden sich sehr ausdauernd die Hand gaben.

«So eine Unterstützung lasse ich mir gefallen», sagte die Leiterin der Vermisstenstelle des KK62. Ihr Blick tastete dabei jeden Zentimeter ihres Stuttgarter Kollegen ab. «Was wollt ihr denn noch wissen? Hansen war doch schon hier und hat uns gelöchert. Mein Gott, hat der genervt! Aber gründlich war er, das muss man ihm lassen.»

«Es gibt Neuigkeiten in unserem Fall», sagte Katharina Mehnert. «Wir müssen davon ausgehen, dass der Täter eine Frau in seiner Gewalt hat. Wir brauchen deshalb die Vermisstenmeldungen der, sagen wir, letzten zwei Monate.»

«Wenn es weiter nichts ist. Das können wir direkt in meinem Büro machen, ich bin ohnehin gerade dabei auszusortieren.»

Sie folgten ihr um die Ecke, wo sich ihr kleines Reich befand. Wie fast das ganze Präsidium war es recht spartanisch ausgestattet mit einem überschaubaren Schreibtisch und wenigen Stühlen. Die Arbeitsplatte des Tisches konnten sie nicht sehen, so viele Akten waren darauf gestapelt.

«Ja, ich mache ein bisschen Inventur», entschuldigte Schröder sich halbherzig. «Viele Fälle erledigen sich ja, ohne dass uns irgendwer etwas davon erzählte. Deshalb will ich jetzt die Datenbanken abgleichen, sonst schieben wir den Ballast ewig vor uns her.»

Sie setzten sich, und Schröder fing an zu suchen. «Die letzten beiden Monate, sagtest du …» Sie nahm einen Stapel und legte ihn auf den Boden, um an die Akten darunter heranzukommen. «Ah, hier sind schon mal die letzten vier Wochen.» Sie zog einen Ordner hervor und reichte ihn Katharina Mehnert. «Und hier der Monat davor.» Eine weitere Akte, die sie Abel gab. Der sah sie einen Moment unschlüssig an, dann legte er die Dokumente einfach zur Seite.

«So weit hinten brauchen wir nicht anzufangen. Ich will nur die letzte Woche. Alles andere ist irrelevant.» Katharina Mehnert blickte ihn überrascht an. «Wieso das denn? Sie haben doch selbst gesagt, dass wir nicht wissen, wie alt das Foto ist, das ich …» Sie stockte. «… das wir bekommen haben.»

Abel sah ihr in die Augen. «Stimmt. Aber ich habe das Gefühl, dass es speziell für Sie gemacht wurde. Das Bild war eine direkte Reaktion auf Ihren Besuch bei Lehmann. Sie waren bei ihm und haben damit etwas ausgelöst, was zu diesem Foto führte. Klar, es könnte tatsächlich alt sein – aber ich glaube es nicht.»

Iris Schröder sah sie fragend an, doch sie wich ihrem Blick aus. Die Leiterin zuckte mit den Schultern und suchte erneut ihren Schreibtisch ab.

«Bei den neuen Sachen trennen wir erst mal die Fälle, die sich meistens von selbst erledigen, von denen, wo wahrscheinlich Gefahr im Verzug ist, beispielweise bei kleinen Kindern. Von den letzteren haben wir aktuell nur einen Kindesentzug durch einen geschiedenen Vater, der seine kleine Tochter in einem Kaufhaus aus dem Kinderwagen gestohlen hat. Die tunesischen Behörden wurden schon um Amtshilfe gebeten, aber das wird in jedem Fall eine schwierige Kiste …»

«So was interessiert mich nicht», unterbrach Abel sie ungeduldig. «Zeigen Sie mir einfach die Fotos sämtlicher vermisster junger Frauen und Mädchen. Die können wir dann mit dem Bild von heute Morgen vergleichen.»

Katharina Mehnert fluchte innerlich, dass sie nicht selbst auf diese naheliegende Idee gekommen war.

«Okay. Hier sind schon mal die Fälle, die Jörg Hansen mitgenommen hatte.» Iris Schröder schob ihnen einen Stapel dünner Mappen zu. Sie blätterten jede davon gemeinsam durch und schauten sich die Fotos gründlich an.

«Nichts Brauchbares», kommentierte Abel. «Aber so jung, wie die Frau auf unserem Bild ist, hat sie bestimmt Angehörige, die sie vermisst gemeldet haben. Es muss also noch andere Fälle geben! Vielleicht nicht direkt in Köln, sondern in der Umgebung?»

Iris Schröder hob die Hände. «Pardon, aber da muss ich erst ein bisschen recherchieren.» Plötzlich runzelte sie die Stirn. «Das heißt, Moment mal, gestern ist doch noch etwas …» Sie fing hektisch an, in den Aktenstapeln auf ihrem Schreibtisch zu suchen, bis sie von ganz unten eine Mappe hervorzog.

«Bingo! Wusste ich’s doch!» Sie schlug die Unterlagen auf, nickte und reichte sie dann über den Tisch. Bevor Katharina Mehnert reagieren konnte, hatte Abel sie schon genommen und angefangen, darin zu blättern, bis er das Vermisstenbild fand.

«Verdammte Scheiße», stieß er hervor.

Katharina Mehnert nahm ihm vorsichtig die Mappe aus der Hand. Dann sah sie auf das Foto und verstand seine Reaktion.

«Schaut euch die langen Haare und diesen dünnen Körper an. Da ist keine Verwechslung möglich. Julia Peters», las sie dann vor. «Siebzehn Jahre, zwölfte Klasse, Gymnasium Nippes, wohnt in Riehl bei ihrer Mutter, von der sie gestern – gestern? – vermisst gemeldet wurde.»

Iris Schröder breitete entschuldigend die Hände aus. «Deshalb war sie auch noch nicht im letzten Raster dabei. Der Fall war da noch nicht bei uns, außerdem ist das ja gerade das Alter, in welchem sich die Vermisstenmeldungen meistens in kürzester Zeit von selbst erledigen. Wir sind als Teenager doch alle mal ohne zu fragen über Nacht weggeblieben …»

Abels Augen blitzten. «Da steht, dass sie als äußerst gewissenhaft gilt und bisher noch nie ungefragt woanders übernachtet hat. Da hätte man schon mal nachhaken können.»

Katharina hatte das Gefühl, dazwischengehen zu müssen. «Ich denke, wir sollten jetzt erst mal Greiner informieren, denn das verändert natürlich alles. Los, kommen Sie.» Sie stand auf und ging hastig zur Bürotür, doch Abel machte keine Anstalten, ihr zu folgen.

«Kann ich euch beide allein lassen, ohne dass ihr euch die Köpfe einschlagt?» Abel und Iris reagierten nicht, sondern musterten sich, als überlegten sie beide, sich gleich an die Gurgel zu gehen.

«Ganz, wie ihr wollt. Aber benehmt euch nicht wie Kinder.»

Katharina winkte mit der Akte und machte sich mit eiligen Schritten auf den Weg zurück ins KK12.

Sollten die beiden doch tun, was sie wollten. Greiner würde jedenfalls ganz schön Augen machen.

*

Abel wusste, dass Iris Schröder nach Vorschrift gehandelt hatte. Wenn eine Siebzehnjährige eine Nacht wegblieb, hatte das in den allermeisten Fällen damit zu tun, dass sie sich schon volljährig fühlte und dementsprechend handelte. Und mit achtzehn durften Menschen sowieso bleiben, wo und wie lange sie wollten. Da musste schon ein konkreter Hinweis auf eine Straftat vorliegen, um die überlasteten Behörden aufzuscheuchen.

Trotzdem. Wenn man sich nur eine Sekunde in die Eltern eines solchen Fast-Erwachsenen hineinversetzte, wusste man, was in ihnen vor sich ging. Sie hatten es verdient, dass man ihnen wenigstens versicherte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um ihr Kind zu finden.

Er hätte das als Vater zumindest erwartet. Entsprechend groß war sein Ärger.

«Wir wollten heute dort vorbeischauen und mit der Mutter reden», sagte Iris Schröder und zupfte nervös an ihrem Kostüm. «Mein Gott, Sie wissen so gut wie ich, dass man als Polizist Prioritäten setzen muss. Und ein Tag Verzögerung ist ja nun wahrlich nicht die Welt.»

Er wollte schon loslegen und der Frau klarmachen, was an einem einzigen Tag an schrecklichen Dingen passieren konnte, aber dann überlegte er es sich anders. Er schaute sie fest an.

«Sie können mir helfen, diesen Tag wieder reinzuholen.»

Schröder runzelte die Stirn. «Und wie soll das gehen?»

Er beugte sich nach vorn. «Geben Sie mir die Adresse der Mutter», sagte er dann. «Sie wollten die Frau heute ja ohnehin besuchen. Das kann genauso gut ich machen.»

Iris Schröder schüttelte den Kopf. «Nein, das können Sie nicht. Wir müssen den Fall und die Befragung offiziell aufnehmen. Das darf nur jemand aus der zuständigen Behörde tun, also bestimmt nicht Sie.»

Er zeigte auf den vollen Schreibtisch. «Seien Sie ehrlich. Wenn wir jetzt nicht zu Ihnen gekommen wären, wären Sie heute nie und nimmer bei den Leuten vorbeigegangen.» Die Leiterin der Vermisstenstelle wich seinem Blick aus. «Also vergessen Sie einfach unseren Besuch und geben Sie mir ein paar Stunden Vorsprung. Mehr brauche ich nicht.»

Schröder blickte auf den Aktenberg, der vor ihr lag. «Und was ist mit Greiner? Sobald Katharina Mehnert ihm die Mappe vorlegt, wird er die Frau sofort ebenfalls befragen wollen.»

Er nickte. Dann schaute er auf seine Armbanduhr und neigte abschätzend den Kopf. «Es ist kurz nach elf. Vor der Mittagspause macht sich da mit Sicherheit keiner mehr auf den Weg, das muss ja erst mal organisiert werden. Wenn ich sofort loslege, reicht mir das.»

Iris Schröder atmete lautstark aus. «Sie wollen es ja wirklich wissen.» Sie trommelte einen Moment mit den Fingern der rechten Hand auf ihrem Schreibtisch, dann holte sie einen Zettel hervor und schrieb etwas darauf. Mit einem letzten Zögern reichte sie ihm das Papier.

«Hier, Jennifer Peters heißt sie. Aber wenn jemand fragt: Die Adresse haben Sie sich vorhin aus der Akte gemerkt und nicht von mir. Greiner kann bei so etwas ziemlich ungemütlich werden. Okay?»

Wortlos nahm Abel den Zettel entgegen und stand auf. Als er die Bürotür erreicht hatte, drehte er sich noch mal um.

«Haben Sie Kinder?», fragte er.

Iris Schröder verzog irritiert das Gesicht. «Nein, wieso?»

Abel nickte. Nun verstand er, warum sie so und nicht anders gehandelt hatte. Sie hatte es einfach nicht besser wissen können.

*

Als Martin Abel über die Zoobrücke fuhr und unter sich den Rhein träge in Richtung Holland fließen sah, wurde ihm wieder einmal bewusst, was für ein kleines Rädchen er für den Lauf der Geschichte war. So wichtig ihm seine Probleme auch erschienen, so wenig änderten sie an den wirklich großen Dingen. Der Rhein jedenfalls war hier schon geflossen, als die Römer vor zweitausend Jahren diese Stadt gründeten. Anstatt sich jedoch ein Beispiel an der Ruhe dieses alten Stromes zu nehmen, fuhr Abel sämtliche inneren Kraftwerke hoch, um für alles Kommende gewappnet zu sein.

Gleich würde er nämlich mit der Mutter der jungen Frau reden, die sich in diesem Moment in der Gewalt des Mörders befand, den sie suchten. Eine einmalige Chance. Aber auch eine enorme Belastung. Er durfte nicht die winzigste Kleinigkeit übersehen, sonst war das Mädchen vermutlich verloren.

Er musste sofort mit der Frau reden. Aber auf seine Art. Allein.

Und vor allem vor Greiners Leuten.

Nichts gegen die Kölner Kollegen. Aber wenn sie der Mutter das Bild ihrer in der Schlinge hängenden Tochter erst einmal gezeigt hatten, wäre sie vermutlich tagelang traumatisiert und würde dichtmachen. Ein Gespräch mit Raum für Zwischentöne könnte er dann vergessen.

Er durfte also keine Sekunde verlieren. Er musste zu der Mutter, und zwar so schnell wie möglich.

Nach einer kurzen, rasanten Fahrt über die Amsterdamer Straße bog er in eine der Wohnstraßen am Riehler Gürtel ab. Vor einer großen, durchaus gepflegten Wohnanlage hielt er an und stieg aus. Nachdem er das Haus gefunden hatte, drückte er zwei Mal kurz auf die Klingel.

«Julia?» Die Stimme der Frau an der Sprechanlage klang aufgeregt.

«Nein. Abel von der Kripo.» Er vermied es bewusst, sich als Kölner Polizist auszugeben. Er wollte, so weit es eben ging, bei der Wahrheit bleiben. «Ich möchte mit Ihnen über Ihre Vermisstenmeldung sprechen.»

Ein kurzes Zögern, dann ein enttäuschtes Ausatmen. «Gut, ich mache auf.»

Der Türöffner summte, und Abel trat in den unangenehm kühlen Flur. Um nicht zu erfrieren, zog er instinktiv sein Jackett enger. Zu seinem weiteren Missfallen stellte er fest, dass das Haus keinen Aufzug hatte. Dies war wohl in den meisten Häusern dieser Gegend so, die im Zweiten Weltkrieg ohne größere Schäden davongekommen war. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als über das noch kältere Treppenhaus die zwei Stockwerke zur Wohnung der Vermissten hinaufzusteigen.

Als er leicht schnaufend oben ankam, stand die Mutter von Julia Peters bereits in der Wohnungstür. Erstaunt blieb er stehen. Die Ähnlichkeit mit der Tochter war geradezu verblüffend, auch wenn Jennifer Peters nicht so abgemagert war.

Was für eine wunderschöne Frau, dachte Abel. Gesunde Modellmaße. Mitte vierzig, wie er vermutete, mit leichten Fältchen um die Augen. Tolles Haar. Sie trug einen weißen Overall, der von einem breiten, dunklen Gürtel tailliert wurde. Erstklassig geschminkt. Dabei hatte sie das Make-up vermutlich gar nicht nötig, denn in Abels Augen hätte sie auch so aus dem Stand heraus jede beliebige Fernsehsendung moderieren können.

«Ich weiß, was Sie denken», sagte sie, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. «Manche hielten uns für Schwestern.»

Abel ging zu ihr und reichte ihr die Hand. Obwohl sie innerlich vor Angst zerfressen sein musste, erwiderte sie die Geste mit überraschend kräftigem Druck. Dabei sah sie ihm so fest in die Augen, dass er sich für einen Moment durchleuchtet fühlte.

Er räusperte sich. «Tut mir leid wegen eben.» Er machte eine Kopfbewegung die Treppe hinunter. «Das war ihr Klingelzeichen, nicht wahr?»

Julias Mutter presste die Lippen zusammen, wich seinem Blick aber nicht aus. «Ja. Sie drückt auch immer zwei Mal auf den Knopf, wenn sie ihren Schlüssel vergessen hat. Irgendwann kette ich ihn ihr mit einer Handschelle an.»

Abel erwiderte nichts, und schon gar nicht, auf was für einem Foto er vor nicht mal einer Stunde ihre Tochter gesehen hatte.

Jennifer Peters zeigte in den Flur und ließ ihn bis zum kleinen gemütlichen Wohnzimmer vorausgehen. Unterwegs kam er an der stilvollen Garderobe und dem edlen Telefontischchen aus dunklem Massivholz vorbei. Abel spürte sofort, dass er in einer besonderen Wohnung war. Zunächst konnte er es an nichts Bestimmtem festmachen, doch dann erkannte er, woran es lag.

Jedes Detail passte zueinander.

Die gelben Vorhänge und das orange Sofa.

Die vielen Familienfotos, die in silbernen Rahmen an der Wand hingen, und die antiken Kerzenleuchter auf dem Klavier.

Ja, sogar der kleine Flachbildfernseher und die Stereoanlage in der Wohnwand. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt. Jemand hatte sich eine Menge Gedanken gemacht, und mit Blick auf die durchkomponierte Erscheinung der Frau hatte Abel auch einen Verdacht, wer das war.

Er setzte sich auf das kuschelige Sofa, während Julias Mutter ohne zu fragen eine Karaffe Wasser und zwei Gläser holte. Keine ihrer Bewegungen war hektisch, alles an ihr wirkte unglaublich souverän und sicher. Er zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie in der Familie immer den ruhenden Pol dargestellt hatte.

Während sie die Sachen auf dem Couchtisch platzierte, nutzte er die Gelegenheit, die aufgehängten Bilder genauer zu betrachten.

Auf jedem davon war Julia abgebildet und auf jedem zweiten auch ihre Mutter.

Aber auf keinem einzigen ein Mann. Was ihn bei einer Frau ihres Kalibers ziemlich überraschte, denn normalerweise müssten die Kerle vor ihrer Tür Schlange stehen. So hätte zumindest er es getan, wenn er ihr privat und als Single begegnet wäre. Aber er hatte ja auch keine Angst vor starken Frauen – er brauchte sogar eine, die ihm Contra gab und ab und zu in den Hintern trat.

Jennifer Peters setzte sich und sah ihn erwartungsvoll an. Sie hielt die Oberschenkel so dicht beieinander, als ob sie einen Rock anhätte und sich gegen unverschämte Blicke absichern wollte. In ihrem weißen Overall sah das jedoch nicht schüchtern, sondern unglaublich anmutig und elegant aus.

«Dass sie allein gekommen sind, ist ein gutes Zeichen, oder?» Ihre Stimme klang beherrscht, aber für einen Moment war ihren Augen die Nervosität anzusehen. «Im Fernsehen bringen die Cops schlechte Nachrichten immer zu zweit.»

Er fluchte innerlich, denn er hatte nicht vorgehabt, ihr gleich die ganze Wahrheit ohne Vorwarnung um die Ohren zu hauen. Was er aber noch viel weniger wollte, war sie anlügen. Zumal sie sich offenbar bereits über alle Optionen Gedanken gemacht hatte.

Er sah Jennifer Peters fest in die Augen. «Wir gehen davon aus, dass Ihre Tochter noch lebt. Aber wir glauben, dass sie in der Gewalt eines Mannes ist.»

Jennifer Peters erstarrte einen Moment, dann nickte sie bedächtig und strich mit den Händen die Hosenbeine ihres Overalls glatt. Sie drehte den Kopf und blickte auf die an der Wand hängenden Fotos.

«Sie scheinen nicht überrascht zu sein», bemerkte er. «Haben Sie eine Ahnung, bei wem Ihre Tochter sein könnte?»

Julias Mutter verzog den Mund. «Sie wollte sich mit einem Mann treffen. Sie hat mir aber nicht verraten, um wen es sich dabei handelte. Ich glaube, sie kennt ihn von Facebook, aber auf welche Bekanntschaften trifft das heutzutage nicht zu? Seit sie dort aktiv ist, haben wir jedenfalls immer weniger miteinander gesprochen …»

Soziale Isolation durch soziale Netzwerke. Dieser scheinbare Widerspruch war für Abel von Anfang an so offensichtlich gewesen, dass er solchen Begleiterscheinungen der Neuzeit den Rücken zugekehrt hatte. Facebook war für ihn keine Errungenschaft, sondern ein überflüssiger Zeitdieb.

Er klopfte sich innerlich auf die Schulter. Er brauchte Facebook nicht, um sich sozial zu isolieren.

«Sie wissen also gar nichts über den Mann, den sie treffen wollte?»

Jennifer Peters schüttelte den Kopf. «Nur dass er angeblich erwachsen war. Aber das kann jeder behaupten. Ich glaube, sie hat ihn zum ersten Mal getroffen, denn sie kam mir ziemlich aufgeregt vor.»

Sie sah ihn an, und für eine Sekunde konnte er so etwas wie Verzweiflung in ihren Augen erkennen. Er überlegte, wie er ihr den Ernst der Lage beibringen konnte, ohne sie in Panik zu versetzen.

Du hast dein Leben lang alles im Griff gehabt, dachte Abel. Dein Aussehen, deine Wohnung und bestimmt auch deinen Job. Doch jetzt spürst du, dass nicht alles planbar ist. Man kann strampeln, hoffen und beten, damit alles so kommt, wie man es gern hätte, aber eine Garantie gibt es nicht. Das Leben selbst ist es, das unberechenbar ist – und das macht dir Angst.

Er hob die Schultern und räusperte sich. «Ihre Tochter ist in ernsthafter Gefahr», sagte er dann. «Wir wissen nicht, wo sie ist und wer sie gefangen hält, aber müssen das Schlimmste befürchten, wenn wir sie nicht bald finden.» Er sah, wie ihre Hände sich so fest zu Fäusten ballten, dass die Knöchel weiß hervortraten. «Ich kann Ihnen aber versprechen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um sie zu befreien. Wir haben eine ziemlich heiße Spur, brauchen aber noch dringend einige Informationen, um den Mann zu überführen.»

Ihre Fäuste lockerten sich. «Was für Informationen», fragte sie. «Wenn ich Ihnen irgendwie …»

Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. «Sie haben vorhin gesagt, dass sie in letzter Zeit nicht viel mit Ihnen gesprochen hat. Sie hatte also Geheimnisse. Mit wem hat sie die wohl am ehesten geteilt?»

Julias Mutter antwortete, ohne zu überlegen. «Da kommt nur ein Mensch in Frage: Lara Henning, ihre beste Freundin. Sie kennen sich schon aus der Grundschule und verbringen jede freie Minute miteinander.»

«Was ist Lara für ein Mädchen?»

«Ein ziemlich aufgewecktes.» Ein vorsichtiges Lächeln umspielte ihre Lippen. Offenbar schien sie an etwas Lustiges zu denken. «Wenn sie zusammen waren, brauchte ich mir um Julia keine Sorgen machen, denn Lara ist ziemlich taff. Sie hat immer alles im Griff.»

«Im Gegensatz zu Julia?»

Sie neigte den Kopf und verzog traurig den Mund. «Julia wäre in vielem gern so gewesen wie Lara. Überhaupt orientierte sie sich für meinen Geschmack viel zu sehr an anderen Leuten. Bei Lara war es die freche Klappe und bei mir …»

«Ihre Figur», vollendete er, als sie den Satz nicht fortführte.

Jennifer Peters zögerte einen Moment. Er sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, weiterzureden. «Ja, vermutlich», stieß sie hervor, «obwohl ich das weiß Gott nicht von ihr verlangt habe. Ich war früher eine ziemlich gute Leichtathletin, müssen Sie wissen, und hatte daher nie mehr als Konfektionsgröße 36. Julia wollte das auch erreichen, hat sich aber, als es über den Sport allein nicht klappte, auf das Hungern konzentriert. Sie hat in einem Jahr zwanzig Kilo abgenommen und dachte wohl, dass sie damit endlich etwas besser konnte als ich.» Sie hob die Schultern. «Das war dann wohl auch der Moment, wo wir den Kontakt zueinander verloren.»

Abel nickte. Niemand wusste so gut wie er, wie es sich anfühlte, wenn die Kommunikation mit den Kindern nicht mehr rundlief.

«Was ist mit Julias Vater?»

Jennifer Peters’ Augen bekamen einen wütenden Glanz, aber sie antwortete nicht. Stattdessen betrachtete sie die Bilder an der Wand und schüttelte dann den Kopf.

Er sah sie an und überlegte, warum diese wundervolle Frau so allein sein musste. Er wusste es nicht, aber manchmal genügten schon kleine Ereignisse, um einen Menschen vereinsamen zu lassen.

Er schaute auf die Uhr. Lange würde es nicht mehr dauern, bis Greiners Kavallerie anrückte, und dann sollte er weg sein. Wie wollte er die knappe Zeit bis dahin nutzen? Was wollte er dieser Frau noch entlocken und was ihr mitgeben als Vorbereitung auf das Kommende?

Er stand auf und räusperte sich. «Sie werden heute noch Besuch von anderen Kollegen bekommen. Und es wäre vielleicht besser, wenn Sie ihnen unsere Begegnung vorerst verschweigen. Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein: Ich wollte Sie zunächst alleine kennenlernen. Weil mich dieser Fall ganz besonders und persönlich trifft. Und weil ich kein Freund bin vom Standard-Procedere. Vielleicht können Sie das verstehen?»

Sie schaute ihn einen Moment lang schweigend an. In ihrem Blick lag eine Mischung aus Skepsis und Neugierde. Schließlich nickte sie.

«Ich kann nur eines sagen, Herr Abel. Und das ist, dass ich Ihnen vertraue. Ich danke Ihnen sehr für die Ehrlichkeit. Und für Ihr privates Engagement. Ich verstehe Sie ab jetzt als meinen Ansprechpartner in dieser Sache. Und hoffe, Sie werden mich nicht enttäuschen.»

Einen Moment lang schauten sie sich direkt in die Augen. Eine bemerkenswerte Frau, dachte Abel. Und ab jetzt eine Verbündete.

«Möchten Sie sich noch Julias Zimmer ansehen?», fragte sie schließlich.

Abel stand auf und strich sich die Hose glatt. «Ich danke Ihnen sehr, Frau Peters. Aber ich befürchte, die Zeit drängt. Unser Gespräch ist noch nicht zu Ende. Doch jetzt sollte ich so schnell wie möglich Kontakt mit Julias Freundin aufnehmen. Könnten Sie mir bitte die Adresse von Lara Henning notieren?»

«Ja, natürlich. Einen Moment bitte.» Jennifer Peters stand ebenfalls auf, nahm einen Zettel vom Tisch und schrieb, ohne nachdenken zu müssen. Abel verfolgte fasziniert die geschmeidigen Bewegungen ihrer rotlackierten Fingernägel. Sie war wahrlich kontrolliert bis in die Fingerspitzen. «Hier. Ist gleich um die Ecke», sagte Julias Mutter und reichte ihm das Papier.

Abel bedankte sich und ging zögernd zur Tür. Er hasste sich jetzt schon dafür, sie so überstürzt verlassen zu müssen. Wie gern hätte er sich noch länger mit ihr unterhalten, um sie auf das vorzubereiten, was ihr in den nächsten Stunden und Tagen bevorstand – egal wie die Sache ausging. Er spürte, dass sie dies gut hätte gebrauchen können. Die wenigen Sekunden, die sie ihn hinter ihre perfekte Fassade hatte blicken lassen, genügten, um ihm zu zeigen, wie zerbrechlich sie eigentlich war.

Als er an der Tür stand, gab er ihr fast ein wenig schüchtern die Hand. Auf seiner Zunge lagen ein paar belanglose Worte, die ihnen den Abschied leichter machen sollten, als ihm noch etwas einfiel.

«Fast hätte ich es vergessen», sagte er. «Haben Sie ein Bild von Ihrer Tochter für mich? Kann sein, dass ich es ein paar Leuten zeigen muss.»

Sie schien fast erfreut, denn ihre Miene erhellte sich. «Natürlich. Warten Sie, ich bin gleich wieder da.»

Sie verschwand in einem Zimmer – Julias Zimmer? –, das vom Flur abzweigte, und er hörte eine Schranktüre schlagen. Er schaute ungeduldig auf seine Uhr, doch schon wenige Sekunden später stand sie mit einem Fotoalbum in der Hand wieder bei ihm.

«Hier ist alles drin, was sie während der letzten Jahre gesammelt hat. Nehmen Sie, was Sie brauchen.» Sie ging mit ihm zurück ins Wohnzimmer und legte das Album auf den Couchtisch. Wie selbstverständlich setzte sie sich neben ihn, und sie begannen, gemeinsam darin zu blättern.

Abel erkannte sofort den Fehler im System. Während die Bilder auf dem ersten Dutzend Seiten noch fein säuberlich eingeklebt waren, kam es mitten im Album plötzlich zu einem Bruch. Davor sah er ein fröhliches Mädchen, das der Beschriftung der Seiten nach zwischen zwölf und vierzehn Jahren alt gewesen sein musste und keine Gelegenheit zum Lachen ausgelassen hatte. Die kleine Julia war geradezu hinreißend, und der damals noch vorhandene Babyspeck stand ihr hervorragend.

Danach war dieses zauberhafte Kinderlachen wie mit einem Messer herausgeschnitten, und die Fotos lagen nur noch lieblos zwischen den leeren Seiten.

Zunächst wusste er nicht, woran das lag, aber dann bemerkte er, dass Julias Mutter an der betreffenden Stelle zwei Seiten anstatt nur einer umgeblättert hatte.

«Moment», rief Abel und wollte zurückblättern. «Was war da?»

Sie legte ihre Hand auf das Album und schüttelte bestimmt den Kopf. «Nichts, was Sie interessieren muss.» Abel hatte den Eindruck, dass sie zitterte.

Er sah sie fest an. «Ich will nicht indiskret sein, aber ich glaube, ich sollte alles wissen, was mit Ihrer Tochter zu tun hat. Jemand hat Julia ausgesucht, weil sie genau so ist, wie sie ist. Das muss ich verstehen können, sonst kapiere ich vielleicht nie, warum er sich so für sie interessierte.» Er wollte ihre Hand beiseiteschieben, doch erst nach einigen Sekunden erlahmte ihr Widerstand, und sie gab das Album frei. Mit zusammengepressten Lippen drehte sie sich zur Seite und hielt sich eine Hand vor den Mund.

«Ja», sagte sie leise. «Ich bin nicht immer so stark. Es gab schon einmal etwas, bei dem ich ihr nicht so helfen konnte, wie sie es gebraucht hätte. Wie es einfach meine verdammte Pflicht als Mutter gewesen wäre!» Auch wenn sie von ihm wegblickte, konnte Abel die Tränen sehen, die sich auf die Reise über ihre Wangen begaben. «Jetzt scheint sich das Ganze zu wiederholen. Sie braucht meine Hilfe, und ich sitze hier herum und warte ab, was die Polizei tut. Ist das nicht verdammt wenig für eine Mutter?» Sie ließ ihre Hand sinken und krallte sich in das Polster des Sofas. «Na los, schauen Sie ruhig nach, wie schwach ich in Wirklichkeit bin!»

Abel berührte die oberste Seite des Albums mit den Fingerspitzen. Plötzlich zögerte er, sie umzudrehen. Hier schien der Punkt gekommen, an dem er nicht weitergehen wollte. Etwas war mit dieser Familie passiert, das sie in ihren Grundfesten erschüttert hatte und auseinanderzureißen drohte. Hatte er wirklich das Recht, sich hier einzumischen, nur weil es die winzige Möglichkeit gab, dass ihm dieses Wissen weiterhelfen konnte?

Sein Zeigefinger schob sich unter das erste Blatt des Albums. Prüfend rieb er das Papier zwischen den Fingern, um seine Dicke zu fühlen.

Er sah zu Jennifer Peters. Sie schaute ihn an und presste die Lippen aufeinander. Ihre Gegenwehr war verschwunden.

Oder wollte sie sogar, dass er nachsah?

Er gab sich einen Ruck und blätterte um.

*

Auf der linken Seite Julia, wie sie in der Halle des Kölner Hauptbahnhofs einen großen Rollkoffer hinter sich herzog. Jemand hat mit kindlicher Handschrift ein Datum darübergeschrieben. Gut drei Jahre waren seitdem vergangen, Julia war also vierzehn. Daneben ein Bild von einem Mann in Abels Alter. Smarter Typ. Athletische Figur. Julias Vater? Er stieg mit dem jungen, aber bereits groß gewachsenen Mädchen in einen Zug, beide winkten der Fotografin – Julias Mutter? – zu. Einen Arm hatte er um ihre Taille gelegt, was ihr nicht zu behagen schien. Es war das letzte eingeklebte Foto, die nächsten Bilder lagen lose zwischen den Seiten. Abel nahm sie und schaute eines nach dem anderen durch. Sein Mund wurde trocken.

Woran erkennt man das Grauen, wenn es sich nicht offen zeigt? Es waren Blicke und kleine Gesten. Aber manchmal konnte so etwas brutaler sein als deutlich sichtbare Spuren von Misshandlung und Gewalt.

Eine einsame Hütte an einem See. Eine dänische Flagge neben dem Bootssteg verriet, wo die Aufnahme gemacht wurde. Harmonischer Vater-Tochter-Urlaub.

Dann Julia an einem Steg, ihre Füße baumelten im Wasser. Ihre Haare zerzaust, das Gesicht zur Kamera gewandt, aber der Blick war gesenkt. Sie schien sich unendlich unwohl zu fühlen in ihrem knappen Bikini. Und Abel verstand.

Ein weiteres Bild. Und noch eines. Ein Stadtausflug: Vater und Tochter vor einem Denkmal. Offenbar aufgenommen von einem Fremden, den man um das Foto bat. Das seltsame Lächeln im Gesicht des Vaters, als er seinen Arm besitzergreifend um Julias Hüfte legte. Der Blick des Mädchens war so leer, wirkte so gebrochen, dass es Abel einen Schauer über den Rücken jagte.

«Ich schwöre, ich habe es nicht gewusst!» Die Stimme der Mutter überschlug sich fast. «Er sagte, die blauen Flecken kämen von einem Fahrradunfall. Und Julia hat bloß geschwiegen. Aber ihr Blick hat mir alles gesagt. Eine Woche später habe ich ihn rausgeworfen …» Sie schlug die Hände vors Gesicht und schwieg.

Kinder im Stich zu lassen, ob wissentlich oder nicht, war das Schlimmste überhaupt. Abel kannte dieses Gefühl nur zu gut. Er dachte an Emilia, den diffusen Verdacht gegen Georg, der in ihm schwärte. Und seine verunglückte Tochter Sarah, deren Schicksal er nicht hatte abwenden können …

Die Entführung Julias brannte nun wie Säure in dieser offenen Wunde. Er begriff, dass er dieser Frau und ihrer Tochter helfen musste. Vielleicht konnte er so einen Teil seiner eigenen Schuld, seines eigenen Versagens abtragen.

Abel umfasste sanft ihre Handgelenke, zog ihre Hände vom Gesicht, schaute ihr fest in die Augen. «Die Angst um Julia muss unglaublich schmerzhaft für Sie sein.»

Sie nickte, spürte, dass neben ihr endlich ein Mensch saß, der begriff, was in ihr vorging.

«Verstehen Sie nun, warum ich wie gelähmt bin», fragte sie mit brüchiger Stimme. «Ich habe Julia schon einmal im Stich gelassen und dadurch fast verloren. Das darf nicht noch mal passieren. Wenn sie stirbt, sterbe ich auch!»

«Sie brauchen sich keine Sorgen mehr um Ihre Tochter machen», sagte er, und seine Stimme klang anders als noch vor ein paar Minuten. «Ich verspreche Ihnen, dass ich um sie kämpfen werde, als ob es mein eigenes Kind wäre. Sie werden sie lebend wiederbekommen, das schwöre ich.»

Wortlos stand er auf. Als er die Wohnzimmertüre erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um. Er räusperte sich, denn das Reden fiel ihm unglaublich schwer. «Egal was passiert, Sie können sich auf mich verlassen. Okay?»

Jennifer Peters nickte. Und Abel drehte sich um und ging.

Spätestens jetzt ist es mein persönlicher Fall geworden, dachte Abel. Ich werde alles tun, um Julia heil zurückzubringen.

*

Hannah Christ und Katharina Mehnert hatten sich in einem Café in der Hohe Straße verabredet, keine zweihundert Meter vom Dom entfernt. Hannah war nicht entgangen, wie sehr die Situation Kathi zu schaffen machte. Dazu kam noch der enorme Druck, unter dem sie alle standen. Das Mädchen auf dem Foto war inzwischen als Julia Peters identifiziert worden. Sie befand sich ganz offensichtlich in diesen Minuten in der Gewalt eines Mörders, und man musste jeden Moment mit dem Schlimmsten rechnen. Greiners Leute waren bereits bei der Mutter, um alle wichtigen Informationen über Julia zusammenzutragen. Ein Mobiles Einsatzkommando überwachte Lehmann, in der Hoffnung, dass er sie zum Versteck seines Opfers führte. Mehr konnte man momentan wohl nicht tun.

Ihre Aufgabe war es jetzt, der anderen Spur nachzugehen: dem gemeinsamen Facebook-Kontakt der beiden identifizierten Toten vom Ginsterpfad.

Hannah war als Erste da und wählte einen Tisch draußen auf der Straße. Sie bestellte einen Cappuccino, packte Laptop und Surfstick aus und ging online. Auf Facebook hatte sie rasch das Profil des mysteriösen Freundes gefunden, der sich in den Kontakten von Carina Lenz und Elena Löw fand. FreiWie DerSüdwind, wie er sich genannt hatte. Wie originell!

«Ist der Platz noch frei?» Überrascht sah sie auf und schaute in Katharina Mehnerts lächelndes Gesicht. Tapferes Mädchen, dachte Hannah.

«Für schöne Frauen immer», sagte sie und klopfte mit einer Hand auf den leeren Stuhl neben sich. «Ich hab uns schon mal den Traumknaben rausgesucht.»

«Wow, das nenn ich mal sweet», meinte Katharina und zeigte auf das Profil-Bild. «Von dem würde ich auch keine Freundschaftsanfrage ablehnen. Bisschen dünn vielleicht, aber da kann man ja was machen.»

«Scheint unsere beiden Mädchen jedenfalls nicht gestört zu haben. FreiWie DerSüdwind – auch ganz schön bezeichnend. Bei einem Mädchen, das unter Selbstzweifeln leidet und sich nicht verstanden fühlt, kommt alles, was mit Freiheit zu tun hat, sicher gut an.»

Sie begannen, sich durch das Profil des Unbekannten zu klicken. «Seine Freundesliste hat er leider verborgen», stellte Katharina Mehnert fest. «Schade. So hätten wir vielleicht herausfinden können, ob auch Julia Peters unter den Kontakten ist.»

«Sofern sie unter Klarnamen bei Facebook aktiv war», gab Hannah zu bedenken. «Wer weiß schon, welchen Profilnamen sie benutzte? Möglicherweise hatte sie sogar mehrere. Okay, dann wollen wir mal …» Hannah loggte sich aus, und Katharina schaute sie fragend an.

«Warum machst du das? Gerade jetzt, wo es interessant wird.»

Hannah lachte. «Gleich wird es noch viel interessanter. Wir basteln uns jetzt ein Fake-Profil, auf das er mit Sicherheit anspringt, wenn es unser Mann ist.»

«Da bin ich gespannt. Aber erst mal Kaffee, die Nacht war wieder mal viel zu kurz.»

Während Katharina Mehnert nach der Bedienung Ausschau hielt, registrierte sich Hannah mit einem neuen Profil, in dem sie sich als die siebzehnjährige Schülerin Hannah Kessler ausgab. Als Foto nahm sie eines aus ihrer Zeit auf der Polizeischule, als sie in einem Anflug modischer Verwirrung ihre Haare schwarz gefärbt hatte. Offenbar stand der Unbekannte ja auf solche Frauen. Als sie damit fertig war und ihr Profil bestätigt hatte, loggte sie sich ein.

Der Kaffee, den die Bedienung gebracht hatte, war bereits leer und eine zweite Tasse bestellt. Katharina konnte offenbar tatsächlich ein bisschen Koffein gebrauchen.

«Und was jetzt», fragte sie neugierig.

«Ganz einfach. Wir betreiben ein wenig Konversation.» Sie ging auf das verdächtige Profil und öffnete dort das Nachrichtenfenster. Ohne lange zu überlegen, schrieb sie: «Hey, interessantes Profil. Bin neu in der Stadt. Kannst du mir was empfehlen?»

Katharina verzog zweifelnd das Gesicht. «Ist ja nicht gerade einfallsreich. Ob er da anbeißt?»

«Keine Sorge. Ich kann durchaus noch ein paar Gänge zulegen.»

In der nächsten Sekunde leuchtete links oben das Zeichen für eine Freundschaftsanfrage auf. Sie schauten sich überrascht an. «Äh, das ging ja schnell», sagte Hannah und klickte auf das Symbol. «Tatsächlich! Er hat uns eine Anfrage geschickt!»

Katharina Mehnert blickte perplex auf den Monitor. «Dafür, dass er gerade Julia Peters in seiner Gewalt hat, scheint er ja eine Menge Zeit zu haben.»

«Vielleicht ist das der besondere Kick für ihn», meinte Hannah düster. «Mit den Händen noch am einen Opfer und mit den Gedanken schon beim nächsten.»

Sie akzeptierte die Freundschaftsanfrage, öffnete das Chat-Fenster und schickte ein «Danke!» hinterher.

«Keine Ursache!», meldete sich ihr Gesprächspartner. «Du bist neu hier? Kenn ich. Da kann man ein paar Tipps gebrauchen.»

«Wie einfühlsam», sagte Hannah und schrieb: «Danke!!! Wie heißt du???»

Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis die Antwort kam. «Nenn mich Julian», schrieb der Unbekannte. «Das machen alle meine Freunde.»

«Cool! Kenne mich in Köln wirklich noch nicht aus. Wo geht man abends hin? Und wo kann man bei der Hitze mal schwimmen gehen? Aber bitte kein überfülltes Freibad!»

Katharina Mehnert sah Hannah anerkennend an. «Wenn er darauf nicht anbeißt, dann weiß ich auch nicht.»

Julian ließ sich mit seiner Antwort Zeit, und wenn nicht das grüne Lämpchen im Chat-Fenster geleuchtet hätte, wäre Hannah fast schon davon ausgegangen, dass er sich abgemeldet hätte. War sie vielleicht doch zu weit gegangen und hatte ihn mit ihrer Direktheit verschreckt?

Doch plötzlich erschienen die nächsten Zeilen von ihm. «Mit Clubs kenne ich mich nicht besonders gut aus, aber die Badeseen hab ich hier alle schon durch – auch die verschwiegenen, wo man wirklich für sich ist. Wenn du möchtest, kann ich dir welche zeigen …»

Die beiden Frauen ballten triumphierend ihre Fäuste. «Hab ich dich!», rief Hannah. «So, und jetzt machen wir Nägel mit Köpfen.» Sie bewegte ihre Finger spielerisch über der Tastatur ihres Laptops wie eine Klavierspielerin, die sich vor einem großen Konzert warm machte.

Sie überlegte kurz und schrieb dann: «Wenn du meinst …?!? Bin eigentlich immer ein bisschen vorsichtig … Aber wie ein Triebtäter siehst du mir nicht gerade aus ;-)))))»

Wieder warteten sie. Julian schien zu überlegen, aber dann erschien die Schreib-Blase, die anzeigte, dass er zu texten angefangen hatte. Er ließ sich Zeit, dann kam die Antwort.

«Ich finde es gut, dass du nicht jedem beliebigen Typen im Netz vertraust. Man liest ja immer wieder schlimme Sachen. Aber ich bin auch einfach mal so vertrauensvoll, dich für das hübsche Mädchen auf dem Profilbild zu halten und für keinen Exhibitionisten, lol.»

«Gewitzter Typ», meinte Hannah. «Entweder bloß ein netter Junge, oder er weiß tatsächlich, was er macht.» Sie schrieb: «Hast recht. Wir sind einfach beide nett zueinander. Und am Badesee trifft man in der Regel weniger Freaks als in irgendeinem Club. Müssen uns ja nicht gleich um Mitternacht treffen :-)))»

Die nächste Nachricht von ihm überraschte sie allerdings.

«Muss aufhören, melde mich noch mal. Kisses, Julian.»

Eine Sekunde später erlosch das grüne Symbol in dem Chat-Fenster, und der Unbekannte hatte die Unterhaltung tatsächlich beendet.

«Mist, verdammter!» Katharina Mehnert verzog unwillig den Mund. «Wir waren so dicht dran!»

Hannah lehnte sich enttäuscht zurück. «Es wäre auch zu schön gewesen! Aber okay, wir dürfen nichts überstürzen. Gut Ding braucht eben manchmal eine Weile.»

Sie überlegte einen Moment und antwortete dann: «Kein Problem, Julian. Melde dich, sobald du Zeit hast, gern auch per SMS. Kisses – Hannah.» Sie gab noch ihre Handynummer an und schickte die Nachricht ab.

Immer noch verärgert klappte sie ihren Laptop zu und sah dann zu Katharina. «So, ich hoffe, der Kerl meldet sich rechtzeitig. Jetzt können wir nur noch abwarten und beten.»

*

Konrad Greiner machte dieses Mal keinen Umweg über den Blumenladen am Bahnhof. Er hatte seinen besten Anzug und eine Krawatte an, was zusammen mit der Schachtel Pralinen aus dem Restaurant des Präsidiums als Zeichen seiner Aufmerksamkeit reichen musste. Er nahm den kürzesten Weg nach Marienberg und presste dabei das Gaspedal zeitweise so durch, dass es fast das Bodenblech seines Wagens durchdrückte. Nichts würde ihn heute aufhalten. Nichts!

Am Max-Adenauer-Stift parkte er den Wagen, stieg sofort aus und eilte für seine Verhältnisse behände über die Straße. Er ging an der Pforte vorbei, orientierte sich kurz und bog dann nach links in den Trakt mit den Wohnungen ab. Als er die richtige Tür erreicht hatte, holte er noch einmal tief Luft und wollte gerade die Klinke drücken, als plötzlich eine Stimme hinter ihm rief: «Moment, Herr Greiner!»

Er drehte sich um und erblickte Frau Steincke, die Pflegedienstleiterin des Stifts, die mit einem Medikamentenwagen aus dem gegenüberliegenden Raum kam. Die quirlige Frau um die fünfzig hätte der Figur nach seine Schwester sein können, ihre Oberarme standen im Umfang den seinen jedenfalls in nichts nach.

«Ist sie da?» Greiner wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Ich wollte sie mal wieder besuchen. Ist ja schon eine Weile her …»

Frau Steincke taxierte ihn von oben bis unten, seine besondere Aufmachung war ihr nicht entgangen. «Nur besuchen, oder haben Sie noch mehr vor? Sie ist die letzten Tage nicht in bester Verfassung, müssen Sie wissen. Wir mussten die Medikation umstellen, sie bekommt jetzt noch stärkere, sonst käme sie gar nicht mehr aus ihrem Tief heraus.»

Auch das noch! «Ich werde schon aufpassen», log er und winkte mit den Pralinen, die er bei sich trug. «Ihre Lieblingssorte. Das wird sie bestimmt bei Laune halten.»

Frau Steincke verzog kritisch den Mund. «Wie Sie meinen.» Mit schweren Schritten schob sie ihren Wagen zum nächsten Zimmer und verschwand darin.

Greiner holte tief Luft und betrat den Raum. Der Gestank von Urin und Desinfektionsmitteln raubte ihm fast den Atem. Mit bis zum Hals klopfendem Herzen ging er zu dem Rollstuhl, der am Fenster stand, und setzte sich auf das Bett daneben.

«Hallo, Helga. Na, wie geht es dir?» Er versuchte, so fröhlich wie möglich zu klingen, war über den Klang seiner Stimme aber entsetzt.

Helga Greiner starrte noch ein paar Sekunden aus dem Fenster und drehte dann den Kopf zu ihm um. «Konrad», sagte sie, als sie ihn schließlich erkannte. Sie sprach langsam, die Psychopharmaka zeigten Wirkung. «Das ist ja schön, dass du mich besuchst. Ich hatte schon Angst, dir sei bei deiner Arbeit etwas zugestoßen. Aber es hat niemand aus dem Präsidium angerufen. Und wer sollte meinem lieben Konny auch etwas antun wollen? Bestimmt warst du einfach nur zu beschäftigt, um vorbeizukommen. Stimmt’s, mein Schatz?»

Greiner räusperte sich. «Ja, natürlich. Im Amt geht es momentan wirklich drunter und drüber. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen. Kennst mich ja.» Wütend biss er sich auf die Unterlippe. Mein Gott, was rede ich nur für einen Stuss! Komm endlich zur Sache!

«Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.» Er legte ihr die Pralinenschachtel auf den Schoß. «Hier, die magst du doch so.»

Sie sah auf die Packung hinunter. «Dass du daran gedacht hast …» Sie streckte eine Hand nach ihm aus, um ihn an der Wange zu streicheln, aber er wich ihr aus.

Sie runzelte die Stirn. «Was ist los?» Ihre Stimme klang plötzlich verärgert. «Du willst doch irgendwas von mir, oder? Bist du nur gekommen, um mich wieder wegen der Scheidung zu fragen? Oh, ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass ich recht habe!» Sie drehte ihr Gesicht zum Fenster.

Er versuchte, ruhig zu bleiben. «Helga, irgendwann müssen wir darüber reden. Wir leben jetzt schon so viele Jahre getrennt, da hat man auch solche Dinge zu regeln.»

Seine Frau winkte energisch ab. «Nicht heute! Mir geht es nicht gut. Siehst du das nicht? Ich glaube, die Pfleger mischen mir etwas in das Essen, damit sie an meine Ersparnisse kommen. Aber da sind sie an der falschen Adresse. Ich habe alles in meine Unterwäsche gestopft, da können sie lange suchen!»

«Helga, es tut mir leid, aber ich …»

«Ist es wegen dieses pummeligen Flittchens aus dem Präsidium?» Ihre Stimme bebte, und aus ihrem Mund trat Speichel aus. «Wer weiß, wie lange du mich schon mit ihr betrügst. Sie hat dir von Anfang an schöne Augen gemacht, damit sie dich rumkriegt und uns auseinanderbringt!»

Er schlug mit einer Faust auf den Metallrahmen des Betts, sodass es erzitterte. «Jetzt reicht es mir aber, Helga! Judith ist kein Flittchen, sondern der gütigste Mensch, der mir jemals begegnet ist. Und wir beide waren längst getrennt, als sie bei mir angefangen hat zu arbeiten, also …»

Seine Frau winkte verächtlich ab. «Das würde ich an eurer Stelle auch behaupten. Bestimmt bumst ihr schon jahrelang hinter meinem Rücken herum!»

Er war kurz davor zu explodieren. Anstatt aber wie bei seinen früheren Besuchen aus dem Zimmer zu stürmen und draußen etwas kaputt zu schlagen, schaffte er es, seine Wut herunterzuschlucken. Mit mühsam kontrollierter Stimme begann er zu sprechen: «Helga, es tut mir wirklich leid, dass du so krank geworden bist. Viele Jahre lang habe ich mir die Schuld dafür gegeben, aber heute weiß ich, dass eine Depression eine Krankheit wie jede andere ist. Es war Pech, dass es gerade dich erwischt hat, aber es hat nichts mit mir zu tun und schon gar nicht mit unserer Trennung. Das war einige Zeit zuvor. Ich werde mich daher nicht weiter um dich kümmern und immer wieder von dir runterziehen lassen. Das sollen ab sofort deine Geschwister übernehmen, die hoffentlich mehr Distanz zu der ganzen Sache haben als ich.»

Greiner griff in die Innentasche seines Jacketts und holte einen Brief hervor. «Hier ist ein Schreiben meines Anwalts, in dem er das weitere Vorgehen bis zur Scheidung auflistet. Das Einfachste wäre, wenn wir ihm unser gemeinsames Mandat übertragen, aber es steht dir natürlich frei, einen eigenen Rechtsbeistand zu suchen. Sollte ich innerhalb der nächsten vier Wochen nichts von dir hören, reiche ich allein die Scheidung ein. Das dauert zwar länger, aber es wird funktionieren.»

Seine Frau starrte auf irgendetwas draußen hinter der Fensterscheibe und schien es mit ihren Blicken aufspießen zu wollen. Greiner schnaufte schwer, aber auch erleichtert, dass er es endlich hinter sich gebracht hatte. Nach ein paar endlosen Sekunden stand er auf, um sie allein zu lassen. Kurz hatte er den Impuls, ihr einen versöhnlichen Klaps auf die Schulter zu geben, riss sich aber zusammen.

Er hatte die Tür schon fast erreicht, als ihn ihre Stimme nochmals zusammenzucken ließ. «In guten wie in schlechten Zeiten! So heißt es doch, oder? Das sind jetzt offensichtlich die schlechten Zeiten, und du lässt mich einfach im Stich.»

Erneut kochte sein Gewissen in ihm hoch, aber nur für einen Moment. Dann ging er tief in sich, um das Gefühl zu suchen, das die Ehe mit Helga in ihm hinterlassen hatte.

«Wir hatten ausschließlich schlechte Zeiten, Helga», sagte er betrübt und drückte die Türklinke herunter. «Und das muss ein Ende haben.»

So schnell er es mit seinem massigen Körper schaffte, verließ er seine Frau und eilte auf die Straße hinaus. Aber sicher vor ihren Angriffen fühlte er sich erst, als er die Tür seines Wagens geschlossen und die Zentralverriegelung betätigt hatte.

*

Als Abel am frühen Abend das KK11 betrat, war es dort merkwürdig still.

Kein Hintergrundrauschen von Druckern und Faxgeräten, kein Herumgerenne mit Aktenstapeln vor der Brust. Es war Ruhe eingekehrt in den Bienenstock.

Abel konnte sich nur einen Grund vorstellen für diese intensive Ruhe: Greiner war nicht mehr da. Sobald der Chef die Brücke verließ, atmeten alle spürbar auf, schalteten einen Gang runter. Das war ein Naturgesetz, dem sich auch die Polizei nicht entziehen konnte.

Mit unsicheren Schritten ging er zu dem kleinen Büro, in dem sie einquartiert worden waren. In seiner Mappe hatte er noch etwas Paracetamol. Vielleicht konnte das ja …

Als er die Tür öffnete, erblickte er zu seiner Überraschung Hannah, die konzentriert an ihrem Laptop zu arbeiten schien. Sie schaute zunächst nur kurz auf, runzelte dann jedoch die Stirn und betrachtete ihn genauer. «Was ist denn mit dir passiert? Hat dich ein Zug überrollt?»

Er ging zu seinem Schreibtisch und ließ sich langsam auf den Stuhl sinken. Er sah einen Moment aus dem Fenster und dann zu ihr hinüber.

«Wir müssen Lehmann festnehmen», stieß er hervor. «Sofort! Es ist die einzige Möglichkeit, um Julia Peters zu retten. Wer weiß, was sie in diesem Augenblick alles durchmacht?»

Hannah sah ihn verdutzt an. «Woher der plötzliche Sinneswandel? Wir wollten ihn doch beschatten lassen, damit er uns zu dem Mädchen führt. Wenn wir ihn festnehmen, finden wir sie womöglich nie.»

Er schlug mit der Faust auf den Tisch. «Mein Gott, ich weiß eben, dass wir es tun müssen!» Hannah zuckte erschrocken zurück. «Sie ist schon zu lange in seiner Gewalt», fuhr er fort, ruhiger und um Kontrolle bemüht. «Wir dürfen sie keine Sekunde länger im Stich lassen. Verstehst du das?»

Hannah blickte ihm in die Augen und wusste vermutlich im selben Augenblick, dass er ihr nicht alles sagte. Seine geliebte Hannah, die in seinem Gesicht lesen konnte wie in einem offenen Buch. In den wenigen Tagen, seit sie hier waren, hatte er mehr Geheimnisse vor ihr geschaffen als in der ganzen Zeit zuvor. Wie konnte er ihr das nur antun?

«Mach dir keine Sorgen. Wenn Lehmann unser Mann ist, wird er uns zu seinem Opfer führen. Das MEK ist am Ball. Wir werden ihn auf frischer Tat ertappen und das Mädchen befreien.» Sie lehnte sich zurück. «Kathi und ich haben in der Zwischenzeit diesem Facebook-Romeo auf den Zahn gefühlt. Du erinnerst dich?»

Er nickte abwesend.

«Wir haben Kontakt zu ihm aufgenommen, und er war tatsächlich kurz davor, sich mit mir zu verabreden!» Sie klang euphorisch, aber er schaffte es nicht, sich davon anstecken zu lassen. «Als ich ihm schrieb, dass ich schwimmen gehen will, hat er sofort gesagt, dass er in Köln jeden Badesee kennt.»

«Du denkst, es handelt sich dabei um Lehmann? Und wenn schon, das würde unseren Verdacht ja nur bestätigen.»

«Richtig», rief Hannah. «Aber was ist, wenn wir es mit einem ganz anderen Mann zu tun haben und bisher auf dem völlig falschen Dampfer sind? Du weißt, wir können das nicht ausschließen. So gut Lehmann auch in unser Raster passt, wir müssen auch dieser Möglichkeit nachgehen.»

Er schüttelte den Kopf. «Denk an die Sache mit den Füßen. An die herausgebissenen Fleischstücke und den toten Hasen im Gefrierschrank. Das kann kein Zufall sein.»

«Das behaupte ich auch gar nicht», erwiderte sie. «Aber wir müssen die andere Spur trotzdem verfolgen.» Sie sah ihn abschätzend an und verschränkte die Arme. «Außerdem habe ich das Gefühl, dass du dich irgendwie in die Sache verrannt hast und nicht mehr klar denken kannst. Ich weiß zwar nicht, wieso, vermute jedoch, dass es in irgendeiner Form mit Lisa zu tun hat.» Sie rümpfte die Nase. «Ich für meinen Teil werde mich allerdings weiterhin nicht von Emotionen leiten lassen, sondern sachlich weiterarbeiten.»

Für eine Sekunde dachte Abel schon, dass in ihm diese hilflose Wut hochkochen würde, die er beim Anblick von Julias Fotos verspürt hatte. Doch plötzlich war er zu müde, um aufzubrausen.

«Gut», sagte er nur. «Dann geh dieser Sache nach, aber versprich mir, dass du dich nicht in Gefahr begibst.»

«Ich passe auf mich auf, mach dir da mal keine Sorgen.»

Ihre Stimme klang normal, und ihr neutraler Gesichtsausdruck verbarg, was sie wirklich dachte.

«Und was gibt es sonst Neues?», fragte er, um diesen Themenkomplex zu verlassen. «Vom LKA müssten doch endlich mal ein paar Informationen kommen.»

Hannah sah ihn noch einen Moment nachdenklich an, dann nahm sie einen Stapel Papier von ihrem Schreibtisch und blätterte darin. «Düsseldorf war sogar schon richtig fleißig. Der Brief an Kathi Mehnert brachte aber leider wenig neue Erkenntnisse. Die Briefmarke wurde nicht mit Speichel abgeleckt, sondern mit Wasser angenässt. Also keine DNA-Spuren. Fingerabdrücke: ebenfalls Fehlanzeige. Immerhin spricht diese Vorgehensweise dafür, dass der Täter vorbestraft ist und davon ausgeht, wir könnten ihn in unseren Datenbanken finden. Das graphologische Gutachten ist noch in Arbeit, doch mit dessen Bewertung muss man ja ohnehin vorsichtig sein. Gedruckt wurde das Foto übrigens mit einem Canon Pixma, älteres Modell, ist in den letzten Jahren zigtausend Mal in Deutschland verkauft worden …»

Sie nahm ein anderes Blatt aus dem Stapel. «Die Kleidung der toten Frauen vom Ginsterpfad ist nun ebenfalls untersucht. Alle Brautkleider, Handschuhe und Schleier sind jeweils identisch und stammen von H&M. Das bringt uns also wohl auch nicht weiter. Es sei denn, wir bekommen von dort die Daten sämtlicher Käufer, die mit EC-Karte bezahlt haben, und ackern uns da durch. Die Kleider kosten übrigens gerade mal fünfzig Euro. Besonderen Wert auf Qualität hat der Täter offenbar nicht gelegt.»

«Oder er hatte nicht das Geld dazu», meinte Abel. «Was wiederum zu den einfachen Verhältnissen Lehmanns passen würde. Und warum soll er auch mehr ausgeben, wenn er hinterher sowieso alles in einem See versenkt?»

Hannah zuckte mit den Schultern und sah auf ihre Unterlagen. «Mit den Folien, in denen die Opfer eingewickelt waren, ist man auch weitergekommen. Es gibt sie nur bei zwei Baumarktketten. Greiner hat bereits jemanden auf die Sache angesetzt. Mal sehen, vielleicht haben wir ja Glück.»

«Ja, vielleicht.» Er sah wieder aus dem Fenster und hörte nur mit einem Ohr zu. Möglicherweise hatte Hannah recht, und sie waren einer wichtigen Sache auf der Spur. Folien gaben ermittlungstechnisch oft erstaunliche Dinge her. Aber das war Sache der Fachleute vom LKA. Für ihn selbst drehte sich in diesem Moment alles um das entführte Mädchen.

Entführt und missbraucht. Unweigerlich kam ihm in den Sinn, was Jens Rosenbaum und Emilia bei ihren letzten Anrufen über Georg berichtet hatten …

«Schön, dass du mir so interessiert zuhörst», durchdrang Hannahs Stimme seine Grübeleien. «Bist mit deinen Gedanken wohl gerade etwas weiter südlich in der Republik. Na ja, warum auch nicht, ist schließlich ’ne schöne Ecke da. Aber wem sag ich das. Hast ja auch lange genug da gewohnt.»

Er sah sie an und überlegte, an welcher Stelle er und sie die gemeinsame Fahrtrichtung in ihrem Leben verlassen hatten. Nur vorübergehend, wie er hoffte, doch im Moment unübersehbar. Lag es wirklich daran, dass er sich zu sehr um seine alte Familie kümmerte? War es überhaupt möglich, sich zu sehr um seine Familie zu kümmern?

Er glaubte nicht. Seine Kinder hatten die größtmögliche Aufmerksamkeit verdient. Und Lisa? Sie war die Mutter und über eine lange und intensive Zeit mit ihm verbunden. So etwas konnte man nicht einfach ausschalten, nur weil eine neue Partnerin ein bisschen empfindlich reagierte.

Er rieb sich das Gesicht und versuchte, die richtigen Worte zu finden, mit denen er Hannah seine Situation klarmachen konnte. Und natürlich seine Gefühle, für die sie sich vermutlich besonders interessierte.

Er wollte gerade ansetzen, ein paar versöhnliche Sätze sagen, als sein Handy klingelte.

Drecksteil!, dachte er – doch dann erkannte er die Nummer. Hastig drückte er auf das grüne Tastenfeld.

«Ja?»

«Papa!»

«Emilia!» Aus den Augenwinkeln sah er, wie Hannah die Lippen zusammenpresste. «Das ist ja schön, dass du anrufst! Was …?»

«Papa, Georg sagt, dass du uns nie wieder besuchen kommst. Stimmt das?»

Von einer Sekunde zur anderen richteten sich auf seinem Rücken sämtliche Haare auf. «Was sagst du da, mein Schatz? So ein Unsinn! Natürlich werde ich euch besuchen!»

«Er hat das aber gerade beim Abendessen gesagt!»

«Das hat er bestimmt nicht so gemeint. Ich bin bald wieder bei euch, ich verspreche es dir.»

«Und wann? Ich weiß gar nicht mehr richtig, wie du aussiehst.»

Abel presste Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand gegen seine Nasenwurzel. «Na, Schätzchen, ich bin doch der mit den vielen Stoppeln im Gesicht und den Zotteln auf dem Kopf! Dein Brummbär!»

«Ja, und wann kommst du?»

«Bald, mein Schatz, bald. Ich werde mit deiner Mama reden, dann komm ich ganz schnell zu dir. Gibst du sie mir bitte mal?»

«Sie ist nicht da.»

«Was? Wo ist sie denn?»

«Mit einer Freundin shoppen und was trinken. Sie hat gesagt, das kann dauern.»

«Okay, dann sage heute stattdessen ich dir gute Nacht. Ist doch auch mal was Schönes, oder?»

Er hörte, wie Emilia die Nase hochzog. «Ja, aber nachher kommt noch Georg zum Kuscheln.»

Die Alarmglocken in seinem Kopf dröhnten. «Zum Kuscheln?»

«Ja, das macht er manchmal. Aber nur, wenn Mama nicht da ist.»

Abel atmete mehrmals tief ein und aus. «Emilia, das ist jetzt ganz wichtig: Tut er dir dabei vielleicht irgendwie weh?»

Seine Tochter antwortete nicht sofort, aber er konnte ihren lauten Atem über das Telefon hören. «Vielleicht …», sagte sie so leise, dass er es gerade noch verstehen konnte.

Sein Herz setzte für eine Sekunde aus. «Okay, mein Schatz.» Er schaute hektisch auf seine Armbanduhr. «Ich telefoniere jetzt gleich mit deiner Mama und regle das. Dir wird nichts passieren, das verspreche ich. Und wenn er dir noch mal weh tut, dann sag einfach, dass du mich angerufen hast. Ich bin sicher, dass er dann aufhört. Okay?»

Stille. Keiner von ihnen wollte auflegen.

«Ich hab dich lieb», stieß Abel schließlich hervor.

«Hab dich auch lieb.» Klick.

Abel ließ für einen Moment das Handy sinken und schloss die Augen. Lieber Gott, lass das nicht wahr sein!

Fieberhaft begann er, in seinem Handyadressbuch nach Lisas Mobilnummer zu suchen. Seine Finger zitterten, als er den Kontakt wählte.

«Was wird das, wenn es fertig ist?» Hannah sah ihn stirnrunzelnd an.

Er hob nur die Hand und starrte in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung zurück. Geh ran, Lisa. Verdammt, geh ran!

Die Mailbox – Scheiße. Verzweifelt wartete er auf den Piepton.

«Lisa, du musst sofort nach Hause gehen und mit den Kindern verschwinden», brüllte er mit sich überschlagender Stimme in das Telefon. «Oder ruf die Polizei und lass Georg festnehmen. Er hat Emilia angefasst! Verstehst du? ANGEFASST! Ruf mich sofort zurück – BITTE

Wütend warf er das Telefon auf den Tisch und sprang auf. «Verdammt! Das Arschloch betatscht Emilia, und meine Frau ist shoppen! Ich glaube, ich spinne!»

«Was redest du da?», fragte Hannah perplex.

Abel zeigte auf das Handy. «Georg! Er vergreift sich an meiner Tochter! Ich hab doch gleich gewusst, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Erst die Sache mit dem Midazolam-Handel und jetzt das. Oh Gott, wie konnte ich nur so blind sein!»

«Midazolam-Handel?»

Er nickte. «Ich habe ihn überprüfen lassen. Er kauft in großem Umfang ein Narkotikum, angeblich für seine Praxis zur Sedierung von Patienten. Aber in Wahrheit verkauft er das Zeug über eine Scheinfirma als Droge. Ziemlich billige Nummer für jemanden mit seinem Einkommen, oder?»

Hannah schaute ihn entgeistert an. «Du hast Georg also aus privatem Interesse durch die Polizeicomputer gejagt. Das ist verboten, wie du sicher weißt, aber schön, dass ich auch mal davon erfahre. Und jetzt beschuldigst du ihn, dass er sich an Emilia ranmacht. Kann es sein, dass du mit allen Mitteln versuchst, deinen Nebenbuhler aus dem Weg zu räumen?»

«Wie bitte?» Abel konnte es nicht glauben. «Ich mache mir Sorgen um meine Kinder, und du hältst mir vor, dass ich eifersüchtig auf den Typen meiner Exfrau bin? Mein Gott, ich habe wirklich andere Probleme, als mir das anzuhören!»

Wütend nahm er sein Handy, wählte Lisas Nummer, landete aber wieder auf der Mailbox. Er schaute auf seine Armbanduhr und ging in dem winzigen Büro auf und ab wie ein Tiger in einem viel zu kleinen Käfig.

Verflucht, was soll ich nur machen?

Er sah Hannah an, die hinter ihrem Schreibtisch saß und ihn abwartend beobachtete.

Er blickte erneut auf die Uhr und schnaufte.

Es gab nur einen Weg.

«Ich muss da jetzt hin», stieß er hervor.

«Wohin?»

«Zu Emilia. Sie braucht Hilfe – sofort!»

Hannah nickte. «Wieso überrascht mich das jetzt nicht? Ist ja auch quasi um die Ecke. Aber hast du schon mal auf die Uhr gesehen?»

Abel nickte. «Das sind knapp vierhundert Kilometer. Wenn ich Vollgas gebe und es keinen Stau gibt, schaffe ich das in drei Stunden.»

Hannah schüttelte den Kopf. «Entschuldigung, aber du tickst doch nicht richtig. Bis du dort bist, ist Lisa doch längst selbst wieder zu Hause. Ich male mir zudem gerade ihr und Georgs Gesicht aus, wenn du bei ihnen mitten in der Nacht aufkreuzt! Das wird bestimmt nett. Außerdem – so wie du drauf bist, schaffst du es höchstens bis zum nächsten Brückenpfeiler.»

Er zuckte mit den Schultern. «Ich kann nicht anders. Das bin ich meinen Kindern schuldig. Wenn du selbst welche hättest, würdest du das verstehen.» Hastig kontrollierte er die Taschen seines Jacketts nach Autoschlüsseln und Brieftasche.

Hannah schüttelte den Kopf. «Du kannst nicht anders, weil du immer noch an Lisa hängst. Das sieht doch ein Blinder.» Sie verschränkte die Arme und funkelte ihn wütend an. «Und was das Thema Kinder betrifft, hast du mich ja noch nicht mal gefragt!»

Er eilte zur Tür. «Wie kommst du nur auf einen solchen Schwachsinn? Ich habe gerade wirklich andere Probleme, als mir das anzuhören.» Er öffnete die Tür und sah sie einen Moment lang vorwurfsvoll an. Dann war er raus auf den Gang.

«Wie ich darauf komme?», rief sie ihm nach. «Du hast Frau und nicht Exfrau gesagt.»

Er hielt mitten in der Bewegung inne. «Ich habe was?»

Hannah starrte ihn an und strahlte plötzlich eine eisige Ruhe aus. «Vorhin, nachdem du bei ihr auf die Mailbox gesprochen hast, sagtest du, meine Frau ist shoppen. Nicht Exfrau! Das drückt doch klarer aus als alles andere, wie du wirklich noch von ihr denkst. Oder?»

Er wollte etwas erwidern, hielt dann aber den Mund. Nicht der richtige Moment. Ich muss Prioritäten setzen. Zuerst der Notfall mit Emilia, dann Hannah. Mit ihr kann ich mich morgen noch genauso gut streiten.

«Ich bin einfach nur in Panik», sagte er müde. «Da redet man schon mal schlampig.» Er holte tief Luft, um noch irgendetwas Versöhnliches zu sagen, aber ihm fiel nichts Angemessenes ein. Er machte eine halbherzige Handbewegung, die so etwas wie ein entgegenkommendes Winken darstellen sollte – aber sie reagierte nicht.

«Ich muss jetzt fahren, sonst dreh ich durch.»

Mit einem letzten Blick auf seine geliebte Hannah verließ er das Büro, um sich auf den Weg in seine alte Heimat zu machen. Er ahnte bereits, dass er dabei nur das eine Gefühlschaos gegen ein anderes tauschen würde.

*

Die Fahrt nach Süden wurde für Abel zur Hölle.

Mit jedem Kilometer, den er in die dunkler werdende Nacht hineinfuhr, wuchsen seine Befürchtungen, was ihm am Ende seiner Reise erwarten würde. Aber eines war klar: Er würde alles tun, um Emilia zu schützen. Nachdem er Julias Schicksal so hautnah vor Augen geführt bekommen hatte, kannte seine Entschlossenheit, seine eigene Tochter vor allem Unheil zu bewahren, keine Grenzen. Gnade Gott, wer ihr auch nur ein Haar krümmte!

Bald fing es an zu regnen, Sekunden später ergoss sich ein ungeheurer Wolkenbruch auf die Windschutzscheibe. Abel musste sich voll konzentrieren, um das Tempo bei der schlechten Sicht halten zu können. Nach einer Stunde konnte er seine um das Lenkrad gekrallten Hände nicht mehr spüren. Vorbeihuschende Raststätten, blaue Schilder und Kilometerangaben, bald war alles nur noch verschwommen. Während die Doors im CD-Player Riders on the Storm spielten, verringerte sich sein Blickfeld mit dem letzten Tageslicht zu einem schmalen Band aus Rücklichtern.

Minimale Lenkbewegungen bei maximaler Geschwindigkeit, alles ging wie von selbst. Das Profil der Reifen krallte sich in den nassen Fahrbahnbelag und schob den Wagen mit atemberaubender Schnelligkeit seinem Ziel entgegen. Abels Sinne arbeiteten währenddessen mit einer Effizienz, die ihm im normalen Leben nur selten möglich war. Nur in den unterwegs befindlichen Baustellen, in denen er abbremsen musste, wachte er fast irritiert aus dieser Konzentration auf – um im nächsten Moment den Blick wieder zu senken und das Gaspedal bis zum Anschlag durchzudrücken.

Als er irgendwann das Stuttgarter Kreuz erreichte, hatte er es wie durch ein Wunder geschafft, heil und ohne geblitzt zu werden, bis hierher zu kommen. Er bog rechts auf die A81 in Richtung Singen ab und fuhr wie auf Autopilot in Böblingen raus.

Als er kurz vor Mitternacht an der Kreuzung nach der Ausfahrt stoppte, wo er nach Steinenbronn abbiegen musste, kam er zum ersten Mal wieder ein wenig zur Besinnung. Er realisierte, dass er gerade etwas Außerordentliches, vielleicht sogar Absurdes tat. Gleichzeit erkannte er aber auch, dass sein Handeln tatsächlich die einzige Möglichkeit für ihn darstellte, um nicht weitere Schuld auf sich zu laden.

Er atmete tief durch und fuhr langsam los in Richtung Steinenbronn. Ab jetzt gibt es kein Zurück mehr. Heute Nacht wird etwas geschehen, das für Klarheit sorgt. Das spüre ich mit jeder Zelle meines Körpers.

Er hielt zwanzig Meter vor Lisas Haus, von wo er einen guten Einblick in den Garten hatte. Er blieb einen Moment sitzen und beobachtete das von der Straßenlaterne nur schwach beleuchtete Gebäude. Die Rollläden waren nur teilweise heruntergelassen, sodass er Licht in der Küche und im Wohnzimmer erkennen konnte. Bewegungen sah er dort aber keine. War Georg etwa oben bei Emilia?

Mit geballten Fäusten stieg er aus und näherte sich der Thuja-Hecke, die das Grundstück fast vollständig umgab. Die letzten beiden Anrufe seiner Tochter dröhnten dabei wie ein zu laut eingestelltes Tonband in seinem Kopf.

Auch hier hatte es geregnet. Die Feuchtigkeit hing noch in der Luft, und Wasser stand auf der Straße. Der Regen hatte die Nacht ein wenig abgekühlt, sodass Abel sein Jackett enger zog. In der weitgehend dunklen Straße parkten nur eine Handvoll Fahrzeuge – Lisas Wagen war nicht darunter. Georgs Zweitwagen, ein Porsche Cayman, stand dagegen auf der Hofeinfahrt vor der Garage.

Alles wirkte still und friedlich.

Doch Abel hatte seinen Glauben an einen Zusammenhang zwischen Stille und Frieden längst verloren. Wo es keinen Laut gab, war der Tod meistens näher, als man dachte.

Er ging um das Haus herum, um die Vorderseite zu kontrollieren. Über der Eingangstüre war das Fenster zu Emilias Zimmer. Sein Puls beschleunigte sich. Dort oben lag seine Tochter. Der Rollladen war halb unten, und er glaubte, ein schwaches Licht zu erkennen. Ganz sicher war er sich aber nicht.

Er rüttelte an der Haustür, aber natürlich war sie verschlossen. Also ging er durch den Garten zur Rückseite des Hauses, aber auch mit der Terrassentür hatte er kein Glück. Als er durch das Fenster in das halb beleuchtete Erdgeschoss blickte, konnte er auf dem Wohnzimmertisch eine Weinflasche und daneben ein halbvolles Glas entdecken. Der Fernseher war eingeschaltet, und er sah, wie sich darin eine nackte Frau auf einem Motorrad räkelte. Abel konnte sogar den Sender erkennen und war wieder einmal überrascht, was sich alles als «Sportfernsehen» verkaufen ließ.

Georg sah sich abends also anregende Filme an. Das war okay, wenn die Hausherrin nicht da war und er einsam und verlassen seine Gefühle ausleben wollte.

Nicht okay war es, wenn er sich nach dem Ansehen solcher Filme zum Kuscheln in Emilias Bett legte. Abels Blutdruck stieg, und er wollte sichergehen, dass das heute nicht passierte.

Leise ging er wieder zur Vorderseite des Hauses und schob die Restmülltonne aus ihrer Nische neben der Garage. Ihr Kratzen auf den Pflastersteinen war erschreckend laut. Abel musste eine Weile tasten, bis er gefunden hatte, was er suchte. Doch dann hörte er ein metallisches Klappern und wusste, dass sich in seiner alten Heimat nicht alles geändert hatte. Lisa platzierte hier immer noch einen Schlüssel für den Fall, dass die Kinder überraschend früher aus der Schule kamen und sie vielleicht noch nicht zu Hause war.

Oder eben, falls der besorgte Vater Angst um das Wohl seiner Tochter hatte und bei seiner Exfrau einbrechen wollte. Wie oft hatte er ihr gesagt, dass ein Polizist niemals dermaßen billige Verstecke wählen würde, da hätte sie ja gleich den Platz unter einem Blumentopf nehmen können. Doch heute war er froh über ihre Sturheit.

Er nahm den Schlüssel, ging zur Tür und schloss vorsichtig auf. Damit sie beim Aufspringen nicht klickte, zog er sie dabei fest am Griff. Dann war er im Haus und betrat lautlos den Flur.

Für einen Moment dachte er daran, dass er sich in diesen Sekunden genauso benahm, wie die Mörder, mit denen er in seinem Beruf zu tun hatte. Im nächsten Augenblick wischte er diesen Gedanken weg und konzentrierte sich auf das, was vor ihm lag.

Dieser vertraute Geruch … Von einer Sekunde zur anderen fühlte er sich wieder zu Hause und hätte blind alle Türgriffe und Lichtschalter gefunden. Instinktiv ließ er das Licht aus, um seine Sinne möglichst scharf zu halten.

Rechts das Gäste-WC. Die Tür stand einen Spalt weit offen, dahinter – Dunkelheit. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten bewegte er sich auf dem weichen, dämpfenden Läufer zum Ende des Flurs, wo es ins Wohnzimmer ging. Durch die Milchglastür drang schwaches Licht zu ihm. Er öffnete sie und stellte sich in den Türrahmen.

Genau gegenüber von ihm auf der anderen Seite des Raumes befand sich jetzt der Zugang zur Terrasse. Weiter links war die Küche und davor die Couch und der Fernseher, auf dem die nackte Frau auf dem Motorrad inzwischen Gesellschaft von einem ebenfalls unbekleideten Mann erhalten hatte. Ihrem Verhalten nach schienen sie sich näher zu kennen.

Abel machte einen Schritt in das Wohnzimmer und lauschte. Der Kühlschrank sprang leise an, und an der Wand tickte die alte Uhr, die er vom Bauernhof seiner Eltern mitgebracht hatte.

Von Georg aber immer noch keine Spur.

Plötzlich hörte er im Obergeschoss etwas poltern. Emilia! Sein Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. Hastig öffnete er den Zugang zum Treppenhaus und eilte hinauf. Zum Glück hatte das Haus eine Betontreppe. Nichts knarzte und nichts knackte.

Oben angekommen blieb er einen Moment stehen. Nirgendwo auf dieser verkommenen Welt kannte er sich besser aus als an exakt diesem Ort. Halb links war das Schlafzimmer. Der Ort, wo er sich früher mit Lisa geliebt und jetzt Georg seine Rolle übernommen hatte. Die Tür stand offen, und dahinter war es dunkel.

Halb rechts war Phillips Zimmer und ganz rechts – das von Emilia.

Links befand sich das Bad. Er sah schwaches Licht unter der Tür hervordringen. Langsam ging er darauf zu und blieb davor stehen. Heute wird abgerechnet, Georg. Du bist zu weit gegangen. Viel zu weit …

Abel umfasste die Klinke, um dem Zahnarzt seine Aufwartung zu machen, als er plötzlich hinter sich ein Geräusch hörte. Er fuhr herum – und blickte in Georgs verständnisloses Gesicht. Lisas neuer Lebenspartner schloss gerade die Tür zu Emilias Zimmer hinter sich. Sein durchtrainierter Oberkörper war nackt, er trug nur eine Jogginghose.

In einer Hand hielt er eine Rolle Küchenpapier …

*

Nachdem Abel aus dem Präsidium gestürmt war, hielt es auch Hannah dort nicht mehr aus. Sie ging zu den nahe gelegenen Köln-Arcaden, um wenigstens einen Moment unter normalen Menschen zu sein. Während ihr Leben immer komplizierter wurde, schien hier der übliche Wahnsinn zu herrschen, wie man ihn in den meisten Einkaufszentren kurz vor Feierabend vorfand. Vielleicht konnte sie das ja beruhigen oder zumindest von dem Chaos in ihrem Innern ablenken.

Ohne lange zu überlegen, setzte sie sich in das Sushi-Restaurant und bestellte eine Kleinigkeit, obwohl sie eigentlich keinen Hunger hatte. Aber vielleicht konnte sie das ein bisschen beruhigen.

Als sie eine halbe Stunde später die Arcaden wieder verließ, fühlte sie sich tatsächlich ruhiger. Das Gewusel in der Shopping-Meile hatte sie abgelenkt. Überall nur herausgeputzte Damen in neuen Klamotten, die spazieren getragen werden mussten. Hannah las in ihren Gesichtern und erkannte, dass sie derzeit offenbar die einzige Frau in Köln war, die schlechte Laune hatte.

Zurück auf dem Hotelzimmer ließ sie sich kraftlos aufs Bett fallen. Mein Gott, was für ein Tag! Nach ein paar Minuten, in denen sie versuchte, nicht an Martin zu denken, raffte sie sich auf und ging ins Bad. Sie duschte ausgiebig und legte sich danach wieder aufs Bett. Mehr aus Gewohnheit fuhr sie ihren Laptop hoch, schaltete gleichzeitig aber auch den Fernseher ein.

Fernsehen stumpft ab, dachte sie. Ist im Prinzip also genau das, was ich jetzt brauche.

Sie dimmte das Licht und ergötzte sich daran, wie ein Rudel Möchtegern-Promis im Regenwald Känguru-Hoden aß und in Kakerlaken badete. Schon nach wenigen Minuten kamen ihr ihre Probleme kleiner und unbedeutender vor – zumindest im Vergleich zu den Verrückten dort auf dem Bildschirm.

Nachdem sie dem Treiben bis zum bitteren Ende zugeschaut hatte, schaltete sie das Gerät aus. Sie wollte schon das Licht löschen, als sie merkte, dass der Laptop noch in Betrieb war. Sie überlegte kurz, ob sie den Deckel zuklappen sollte, entschied sich dann aber doch anders. Das alte Polizistenleiden, dachte sie – man ist einfach immer im Dienst.

Sie ging online und loggte sich dann ohne große Erwartungen in ihr Fake-Profil bei Facebook ein. Sie hatte den Posteingang direkt vor Feierabend zum letzten Mal kontrolliert. Und wer sollte einer Schülerin, die sie laut ihrem Profil ja angeblich war, um diese Uhrzeit noch schreiben?

Nicht zu glauben. Drei neue Nachrichten. Und vier Freundschaftsanfragen. Sie ignorierte die Anfragen und schaute gleich in die Nachrichten. Zwei waren von Männern, die sie nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte – ihre sexuellen Neigungen präsentierten sie für Hannahs Geschmack ein wenig zu vordergründig.

Die andere Nachricht ließ sie allerdings sofort wieder hellwach werden. FreiWie DerSüdwind hatte geschrieben, und zwar etwas, dass sie aufrecht im Bett sitzen ließ.

«Mache morgen blau», schrieb er. «Lust auf ein spontanes Frühstück?»

Hannah war wie elektrisiert. War das die Chance, den Mörder der beiden Toten vom Ginsterpfad und Entführer von Julia Peters zu stellen? Sie sah, dass der Unbekannte online war, und schrieb sofort zurück. «Hab keinen Bock auf Schule, ist eh nur Mathe und Sport. Was schlägst du vor?»

Die Reaktion kam prompt. «Hey, schön, dass du da bist! Wie wäre es mit dem Café Sehnsucht in Ehrenfeld? Macht um 8 auf und ist saugemütlich. Gute Musik, leckeres Essen … Du bist natürlich eingeladen. Also?»

Café Sehnsucht – welch passender Name, dachte Hannah. Aber ein öffentlicher Ort war in jedem Fall das Beste, das ihr passieren konnte, denn so war eine Gefahr für sie ausgeschlossen.

«Bin dabei! Ich freue mich schon auf die nette Abwechslung!»

«Ganz meinerseits», antwortete der Unbekannte. «Und ich bringe eine Überraschung mit. Du wirst es nicht bereuen.»

Na, warten wir doch erst einmal ab, wer von uns mehr überrascht sein wird. Sie schrieb: «Ich mag Überraschungen. Freu mich! Kisses + gut Nacht!» Dann loggte sie sich aus.

Sie war nun hellwach, ihr Herz klopfte heftig. Morgen früh kam es möglicherweise also zum entscheidenden Treffen mit dem Täter. Ob es Lehmann war, der dort auftauchte? Oder ein vollkommen Unbekannter?

Sie überlegte einen Moment, wen sie darüber informieren sollte, und zögerte plötzlich. Sie wollte in jedem Fall daran beteiligt sein und Greiner unter keinen Umständen die Möglichkeit geben, sie durch eine andere Person zu ersetzen oder den Unbekannten mit einem Sondereinsatzkommando zu erschrecken. Dazu hatte sie zu viel Energie in die Sache investiert.

Also entschied sie, dem Leiter des KK11 erst morgen früh Bescheid zu geben. Das war immer noch reichlich Zeit, um Unterstützung zu organisieren, aber sie blieb in jedem Fall im Spiel.

Zufrieden mit ihrem Entschluss stellte sie ihren Handy-Wecker auf sechs Uhr und löschte das Licht.

Dummerweise war sie plötzlich überhaupt nicht mehr müde.

*

«Was zur Hölle …?» Georg starrte Abel an wie einen Geist.

«Was machst du in Emilias Zimmer?», unterbrach ihn Abel. Er machte einen Schritt auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. «Warst du etwa kuscheln, du mieses Arschloch?»

Georg fing sich schnell. «Was ich hier mache, geht dich einen Scheiß an. Im Gegensatz zu dir wohne ich nämlich hier. Aber was du in einem fremden Haus treibst, würde mich ehrlich interessieren. Ich wusste gar nicht, dass man als Bulle überall einfach so einbrechen kann.»

Abel machte noch einen Schritt. «Wenn Gefahr im Verzug ist, darf ich fast alles. Zur Not sogar dir die Fresse polieren. Also los, sag schon: Was hast du in Emilias Zimmer gemacht?»

Georg schaute ihn mit dem Interesse an, das man einer Fliege zukommen ließ, bevor man sie zermatschte. «Du scheinst nicht zu begreifen. Ich wohne hier und mache daher in jedem Zimmer genau das, worauf ich Lust habe. Auch bei deiner Tochter.»

«Auch ein bisschen wichsen? Ach nee, dazu brauchst du ja diese Schmutzfilme aus dem Fernsehen.» Abel zeigte auf Emilias Zimmertüre. «Oder was ganz Junges, richtig? Ich habe übrigens gelesen, dass zu viel Midazolam impotent macht. Du solltest vielleicht ein bisschen sparsamer damit umgehen.»

Sein Gegenüber lief nun doch rot an. «Bei mir läuft wenigstens noch was», stieß er hervor. «Bei dir war da in den letzten Jahren eher Betriebspause angesagt, wie ich hörte. Dein junges Betthäschen wird sich vermutlich ziemlich langweilen. Aber vielleicht kümmere ich mich auch mal um die, wenn es zeitlich passt.»

Abels Faust war so schnell in Georgs Gesicht, dass der nicht mehr reagieren konnte. Ein scharfer Schmerz durchzuckte seine Fingerknöchel, und Lisas neuer Partner knallte rücklings gegen den Türrahmen.

«Du …!» Fassungslos betastete er seinen blutenden Mund und spuckte einen abgebrochenen Schneidezahn auf das Eichenparkett. «Das war ein sauteures Implantat, du Wichser!»

Im nächsten Moment stürzte er sich mit einem gewaltigen Satz auf Abel.

Beide krachten zusammen auf den harten Fußboden, Georg oben und Abel auf dem Rücken liegend. Bevor Abel einen Arm zur Abwehr heben konnte, hatte ihn bereits ein Schlag aufs Jochbein getroffen. Sein Kopf wurde zur Seite gerissen, und Georg konnte noch einen Treffer landen, dieses Mal aufs Kinn. Im nächsten Augenblick legte er seine Hände um Abels Hals und drückte mit aller Kraft zu.

Georg war durchtrainierter – aber Abel wütender. Und er kannte eine Menge fieser Tricks, die einem in so einer Situation nützlich sein konnten. Einer der wenigen Vorteile einer miesen Kindheit. Er musste nur seinen Instinkten freien Lauf lassen, dann drangen diese wie von selbst in ihm nach oben und suchten sich einen explosiven Weg ins Freie.

Wütend bäumte Abel sich auf und stieß seinen auf ihm sitzenden Gegner mit beiden Armen nach oben. Dadurch konnte er ein Knie unter Georgs Unterkörper ziehen, diesen hochdrücken und das zweite Knie nachziehen. Im nächsten Moment stieß er ihn mit beiden Armen und Beinen und all der Wut, die ihn ihm steckte, nach hinten, und Georg schlug krachend gegen die Badezimmertür. Mit einem dumpfen Ächzen landete Lisas neuer Partner auf dem Boden.

Abel richtete sich auf. «So, und jetzt mach ich dich endgültig fertig.» Er drehte sich um und packte Georg an den Schultern, um ihn für seinen nächsten, finalen Schlag in Position zu bringen – als hinter ihm eine scharfe Stimme ertönte.

«Keine Bewegung, oder ich schieße!»

Überrascht hielt er mitten in der Bewegung inne.

«Lisa!» Er ließ die Hand sinken. «Gut, dass du kommst. Ich …»

«Was zur Hölle machst du hier?», unterbrach ihn seine Exfrau. Sie stand mit der auf sie zugelassenen Walther P1 im Anschlag auf der Treppe und zielte auf seinen Kopf. «Ich dachte, es wären Einbrecher im Haus!»

Sie betrachtete die Szenerie genauer. «Was ist überhaupt los hier? Habt ihr euch etwa geprügelt?»

Georg, der immer noch nach Luft ringend am Boden lag, richtete sich langsam auf. «Das Schwein ist hier eingedrungen», keuchte er. «Und über mich hergefallen.» Mühsam schob er sich aus Abels Reichweite und spuckte dann einen blutigen Klumpen aus. «Keine Ahnung, was in ihn gefahren ist!»

Abel fuhr herum. «Du missbrauchst meine Tochter und willst wissen, was in mich gefahren ist? Warte, ich …!» Er holte erneut aus.

«Halt! Was redest du da für einen Schwachsinn?» Sein Gegner wich erschrocken zurück. «Ich betatsche Emilia nicht. Mein Gott, ich kümmere mich um sie, als ob es meine eigene Tochter wäre!»

«Und was hast du gerade mit der Küchenpapierrolle in ihrem Zimmer gemacht?» Abel verlor die Kontrolle über seine Stimme.

«Na, Kotze aufgewischt.» Georg sah erst zu ihm und dann zu Lisa. «Sie hat ein bisschen neben das Bett gereihert, und das hab ich weggemacht. Hast du damit etwa ein Problem?»

Abel hätte sich am liebsten erneut auf Georg gestürzt. «Vor einer Minute hat das aber noch anders geklungen. Gib dir keine Mühe. Emilia hat mich angerufen, ich weiß Bescheid.»

Lisa ließ jetzt endlich die Pistole sinken «Emilia hat dich angerufen? Wieso …»

In nächsten Moment wurde von innen die Badezimmertür geöffnet, und seine Tochter kam mit kleinen, vorsichtigen Schritten herausgetippelt. Es versetzte ihm einen Stich, als er sie in ihrem rosa Nachthemd plötzlich vor sich stehen sah.

«Wieso streitet ihr denn so laut?» Sie zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Ärmel ab. Eine Sekunde später erkannte sie ihn. «Papa!» Sie rannte auf ihn zu und umarmte ihn herzlich.

«Emilia, mein Schatz», brachte er mühsam hervor und drückte sie fest. «Alles wird gut. Jetzt kann dir nichts mehr passieren.»

Ihr Griff lockerte sich ein wenig, aber sie ließ ihn nicht los.

«Mir ist nicht gut, Papa. Georg hat gesagt, dass ich eine Magen-Darm-Grippe habe, aber mir ist einfach nur übel.»

Abel sah Emilia irritiert an. «Und sonst fehlt dir nichts?»

Seine Tochter zuckte verlegen mit den Schultern. «Ich muss dauernd aufs Klo.»

«Siehst du», rief Georg und rieb sich das schmerzende Kinn.

Abel biss sich auf die Unterlippe. Wenn er recht überlegte, hatte Emilia ihm ja nie gesagt, dass Georg sie angefasst hatte. Sie hatte den Aussagen, die er ihr aus Sorge um sie in den Mund gelegt hatte, nur nicht widersprochen. Weil sie wollte, dass er nach Steinenbronn kam? Er blickte in ihr Gesicht und wusste im selben Moment, dass sie nicht missbraucht worden war. Gottverdammt!

Hinter ihnen ging plötzlich die Türe zu Phillips Zimmer auf, und sein Sohn kam sich die Augen reibend in den Flur. «Geht das nicht leiser? Ich kann nicht schlafen, wenn ihr einen solchen Lärm macht.»

Lisa verbarg ihre Pistole hinter ihrem Rücken und sah auf ihn herab. «Ich will jetzt endlich wissen, was hier gespielt wird, was du hier machst und wie du überhaupt ins Haus gekommen bist. Deinen verrückten Anruf auf meiner Mailbox habe ich gehört. Martin, es ist mir nicht entgangen, dass du mit Georg nicht klarkommst. Aber musst du ihn gleich verprügeln?» Ihr Blick wanderte aufgeregt zu ihrer Tochter. «Und du, Emilia. Wieso hast du Papa angerufen, und was hast du ihm erzählt?»

Emilia ließ ihre Arme sinken. «Na, Georg hat ein paar Mal gesagt, dass Papa uns nie wieder besuchen wird. Und da hab ich ihn angerufen und gefragt, ob das stimmt.»

«Aber du hast ihm nicht gesagt, dass Georg dir etwas antut?»

Emilia schaute auf den Boden. «Nein.»

Lisa runzelte die Stirn – und plötzlich verstand sie, wie alles gelaufen war. «Aber du hast ihm auch nicht widersprochen, als er diese Idee hatte. Richtig?»

Emilia schwieg.

«Na gut», sagte Lisa und atmete auf. «Das hätten wir schon mal geklärt.» Sie wandte sich Georg zu. «Und wieso hast du ihr erzählt, dass ihr Papa sie nie wieder besuchen darf? Wie kommst du nur auf einen solchen Schwachsinn?»

Georg starrte Emilia an. «Das hab ich doch gar nicht so gesagt, Kleine. Ich meinte nur, dass er gerade sehr viel zu tun hat und daher in nächster Zeit nicht kommen kann. Das hast du bestimmt falsch verstanden.»

«Nein, du hast gesagt, dass er nicht mehr vorbeikommen darf, weil er zu viel trinkt und deshalb nicht so lange Auto fahren darf.»

Alle Blicke richteten sich auf Georg. «Stimmt das, Georg?» Lisas Stimme war scharf wie eine Rasierklinge. «Hast du das so gesagt?»

Georg wich ihrem Blick aus. «Na ja …» Er drehte unbehaglich den Kopf zur Seite.

Lisa sah ihn lange an. «Mein Gott», stieß sie dann kopfschüttelnd hervor. «Mit was für Idioten habe ich es hier eigentlich zu tun?»

Ihr Blick wanderte zurück zu Abel. «Du bist hier also mit Gewalt eingedrungen und hast nichts Besseres zu tun, als Georg aufgrund eines Hirngespinstes vor den Kindern niederzuschlagen. Mein Gott, Martin, du hast dich wirklich kein bisschen geändert.» Sie holte tief Luft und rang um Fassung. «Bitte verschwinde jetzt sofort aus meinem Haus, sonst kann ich für nichts garantieren.»

Abel stand auf. Er hatte ein gutes Gespür dafür, zu erkennen, wann er verloren hatte, und jetzt war es wieder mal so weit. Er ging zu Phillip, wuschelte ihm liebevoll durch das Haar und machte dann dasselbe bei Emilia. Anschließend ging er an Lisa vorbei die Treppe hinunter.

Als er bereits halb unten war, drehte er sich noch einmal um. «Ach, Lisa, wenn du dich von dem Schrecken meines Besuchs erholt hast, dann frag deinen Schatz doch mal nach einer Firma namens Sedomaxx. Aber wunder dich nicht, wenn er es danach eilig hat, ein paar Steuern nachzuzahlen.» Er blickte zu Georg hinauf, der immer noch auf dem Boden saß und ihn plötzlich mit aufgerissenen Augen anstarrte. Mit schweren Beinen nahm Abel die letzten Stufen und verließ das Haus.

Neuer Rekord, dachte er, während er über die dunkle Straße zu seinem geparkten Wagen ging. Mit so vielen Leuten habe sogar ich es mir noch nie an einem einzigen Tag versaut.

*
Vergangenheit

Seit der Sache mit der Schlange hatte Johanna erkennbaren Respekt vor ihm. Wo es nur möglich war, ging sie ihm aus dem Weg, und wo es nicht möglich war, hielt sie den Mund und ließ ihn Ruhe. Da er jetzt zudem eine Ringelnatter in einem Terrarium hielt, hatte sie sich auch keinen dieser haarigen kleinen Scheißer mehr zugelegt, der ihm den Atem hätte abschnüren können. Obwohl sie gerade erst achtzehn geworden war, ließ sie gegenüber ihren Eltern keine Gelegenheit aus, ihren baldigen Auszug zu verkünden. Horst hatte derweil seine Lektion gelernt. Ein gewisses Maß an Gewalt zahlte sich aus. Permanentes Sichunterordnen hingegen brachte bloß Unheil.

Und als hätte diese Selbstermächtigung auch seinen Körper motiviert, begann er zu wachsen. Von der Sonderschule auf die Hauptschule hatte er es mit Mutters Hilfe geschafft. Aber so oft wie früher konnte sie ihm jetzt nicht mehr helfen. Und er wollte das auch gar nicht. Dass er im Unterricht oft nicht mitkam, war ihm auch ziemlich egal. Er liebte seine Träumereien. Und die Hänseleien der anderen waren ihm spätestens egal, als er die meisten um gut einen Kopf überragte. Denn damit änderte sich auf dem Schulhof alles. Plötzlich war er kein Verlierer mehr, sondern jemand, vor dem andere den Schwanz einzogen oder zumindest so viel Respekt hatten, ihm nicht dumm zu kommen. Jungs, die ihn früher fertiggemacht hatten, suchten nun sogar seine Nähe und machten einen auf dicke Kumpels.

Als einmal die Mutter von einem Jungen bei ihnen zu Hause anrief, weil er den kleinen Scheißer vermöbelt und um sein Butterbrotgeld erleichtert hatte, klopfte sein Vater ihm anschließend anerkennend auf die Schulter. Und schenkte ihm sogar ein abgegriffenes Pornoheft. Kurz hatte er so etwas wie Stolz gefühlt. Aber als Horst den enttäuschten Blick seiner Mutter sah, hätte er Vater am liebsten ins Gesicht geschlagen.

Seine Mutter. Um sie sorgte er sich immer mehr. Denn was ihm während seines Wachstumsprozesses nicht entging, war, dass zugleich etwas Seltsames geschah. Mit jedem Zentimeter, den er zulegte, und mit jedem Kraftzuwachs seiner Muskeln schien seine Mutter ein wenig zu schwinden. Die früher so rundliche Frau verlor immer mehr an Gewicht. Zunächst waren nur ihre Wangen eingefallen, aber dann wurde ihr ganzer Körper dünner. Ihre bisher kräftigen Armen verwandelten sich in Ärmchen und ihre Beine in dürre Stangen.

Eines Tages ging sie zu seiner Überraschung nicht wie üblich zur Arbeit, sondern blieb im Bett liegen. Später am Nachmittag rief sie dann Horst und Johanna zu sich und bedeutete ihnen, sich neben sie aufs Bett zu setzen. Da Johanna das Kopfende wählte, nahm er das andere Ende. Fasziniert starrte er auf die dürren Füße seiner Mutter, die unter der Decke hervorlugten.

«Kinder», sagte sie mit seltsam brüchiger Stimme. «Hört mir bitte gut zu. Ich werde euch bald allein lassen müssen. Ich habe etwas im Bauch, das mich von innen auffrisst, wisst ihr. Die Ärzte haben gesagt, dass ich nicht mehr lange bei euch bleiben kann.»

Horst hörte die Stimme seiner Mutter so dumpf, als ob sie durch einen rauschenden Wasserfall sprechen würde. Er war unfähig, sich nur einen Zentimeter zu rühren. Seine Schwester dagegen kniff die Augen zusammen und kontrollierte kritisch den Lack auf ihren Fingernägeln.

Ihre Mutter hustete. «Ihr müsst jetzt also zusammenhalten, versprecht mir das! Außerdem habe ich mit eurem Vater geredet, er wird sich mehr um euch kümmern, darauf hat er mir sein Wort gegeben. Und ich werde von da oben natürlich auch gut auf euch aufpassen.» Mit einem warmen Lächeln und Tränen in den Augen zeigte sie zur Zimmerdecke.

Als sie anschließend liebevoll Johannas Wange streicheln wollte, wich diese ihr aus. «Hauptsache, du hast alles gut für uns organisiert, was», stieß seine Schwester hasserfüllt hervor. Dann drehte sie sich um und stürmte aus dem Zimmer. «Viel Spaß dort oben», rief sie beim Hinausgehen. «Ich komme auch ohne dich klar!»

Betroffen beobachtete Horst seine Mutter, ihren geschockten Gesichtsausdruck, als sie Johanna hinterhersah. Obwohl alles in ihm nach ihrer Liebe schrie, schaffte er es nicht, sie in den Arm zu nehmen. Stattdessen umfasste er ihr Sprunggelenk, das so unglaublich schmal geworden war. Wie dünn und zart es sich anfühlte – und wie zerbrechlich. Am liebsten hätte er den Fuß fest an seine Wangen gepresst, aber er hatte Angst, ihn zu zerdrücken.

Unbändige Wut auf Johanna stieg in ihm hoch. Wie konnte sie Mama nur so im Stich lassen! Erst zerstörte sie ihre Liebe zu ihm, und dann spuckte sie auf ihre Gefühle. Wenn Mama eines Tages nicht mehr da sein sollte, dann wirst du dafür bezahlen!, schwor er sich.

Ein heftiger Hustenanfall seiner Mutter durchbrach seine Gedanken. Sie nahm ein Taschentuch vom Nachttisch und wischte sich damit den Mund ab. Als sie es zurücklegte, sah Horst, dass es dunkel war vor Blut.

«Mama, ich …» Sein Hals war wie zugeschnürt, und er musste alle Kraft aufwenden, um wenigstens diese beiden Worte hervorzubringen.

«Es ist schon gut, mein Kleiner.» Sie räusperte sich, um den blutigen Schleim aus ihrem Hals zu bekommen. «Ich komme klar damit. Aber um dich mache ich mir Sorgen. Was wird aus dir, wenn ich nicht mehr da bin und sich niemand mehr um dich kümmert? Deine Schwester ist selbst zu unreif und dein Vater …»

Sie zuckte betrübt mit den Schultern. Doch dann erhellte sich ihre Miene für einen Moment, und sie nahm ein großes Buch von ihrem Nachttisch. Sie legte es vor ihn auf das Bett und ließ ihre dürren Finger darauf liegen. Horst las den Titel, der darauf stand.

Die Geheimnisse des alten Ägypten.

Ratlos betrachtete er die Pyramide, die darunter abgebildet war.

«Ich weiß, dass du nicht gerne liest», sagte seine Mutter zu ihm. «Du kannst es nicht so gut, weil dein Gehirn während meiner Schwangerschaft mit dir zu wenig Sauerstoff bekommen hat. Aber in diesem Buch sind viele Bilder, die dir den Text erklären werden. Also tu mir den Gefallen und lies es. Du wirst dann sehen, dass die Menschen schon vor vielen tausend Jahren wussten, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Wenn ich also irgendwann nicht mehr da bin, dann bin ich nicht einfach weg, sondern nur woanders. Du kannst deshalb sicher sein, dass ich von irgendwoher auf dich aufpasse. Okay, mein Schatz? Versprichst du mir das mit dem Buch?»

Unfähig, auch nur ein Wort zu sagen, nickte er stumm.

Ein erneuter, noch heftigerer Hustenanfall schüttelte ihren dünnen Körper. Horst sah, wie ihr Gesicht rot anlief, während sie mit ihrem Blut zwei Taschentücher durchtränkte. Als sie endlich wieder zur Ruhe kam, rang sie nach Atem, und Schleim rasselte in ihrer Luftröhre.

«Lass mich jetzt bitte allein, Junge. Du sollst das nicht sehen.» Sie versuchte ein herzliches Lachen, aber ihm entging nicht, dass es nur noch Schmerzen waren, die sie beherrschten.

Sein Kopf war leer, und er wusste nicht mehr, wie er in sein Zimmer gekommen war, als er sich schließlich auf sein Bett warf und weinte. Als irgendwann keine Tränen mehr kommen wollten, drehte er sich auf den Rücken und starrte zur Decke.

Das Buch hatte er achtlos neben sich gelegt.

Zwei Wochen später auf der Beerdigung seiner Mutter war Horst der Einzige, der eine Blume ins Grab warf. Sein Vater stand teilnahmslos und vom Alkohol benebelt neben dem ausgehobenen Loch, und Johanna war erst gar nicht gekommen. Der Pfarrer hielt eine nüchterne Rede, der man anmerkte, dass er die Verstorbene nicht gekannt hatte. Horst war trotzdem froh darüber, denn so wurden an diesem Tag ausschließlich positive Dinge über sie erzählt, was ihm das einzig Angemessene erschien.

Drei Monate nach diesem Ereignis bemerkte er eine gewisse Veränderung in Johannas Verhalten. Ihre Laune schien sich von einem Tag auf den anderen deutlich zu verbessern, sie lachte plötzlich wieder und sah sehr zufrieden aus. Eine weitere Woche später – er kam gerade von der Schule nach Hause – begegnete ihm an der Wohnungstüre ein fremder junger Mann. Er trug zwei schwere Koffer, mit denen er wortlos an ihm vorbei nach draußen ging. Hinter ihm folgte Johanna mit drei großen Ikea-Tüten und einem triumphierenden Lächeln im Gesicht. Obwohl er inzwischen deutlich größer war als sie, zeigte sie zum ersten Mal seit langem keine Furcht vor ihm.

«Viel Spaß in eurer Männer-WG», sagte sie. «Jetzt ist der Abschaum der Familie ja endlich unter sich.» Sie drängte sich an ihm vorbei und grinste ihn dabei so hämisch an wie seit langem nicht mehr. So wie früher, dachte er. Soll sie doch gehen, dachte er grimmig. Er würde sie bestimmt nicht vermissen!

Als er in sein Zimmer kam, sah er sofort, dass etwas nicht stimmte: Der Deckel seines Terrariums war zur Seite geschoben, und die Ringelnatter weg.

Schnell bückte er sich und schaute unter seinem Schrank und in jeder Ecke nach, doch die Schlange blieb unauffindbar. War sie etwa aus ihrer Behausung ausgebüxt und in ein anderes Zimmer geflohen? Nein, sowohl das Terrarium als auch die Tür hielt er immer peinlich genau geschlossen, hier war ihm bestimmt kein Fehler unterlaufen. Also wo …

Plötzlich fiel ihm das hämische Grinsen seiner Schwester ein, mit dem sie ihn zum Abschied bedacht hatte. Sollte etwa sie …

Alles, nur das nicht! Mit zittrigen Knien eilte er aus seinem Zimmer und stellte die ganze Wohnung auf den Kopf. Da sein Vater nicht da war, brauchte er auch nicht leise zu sein. Er rückte alle Möbel beiseite, riss sämtliche Schubladen auf und durchsuchte auch Johannas ehemaliges Zimmer bis in die kleinsten Ritzen – nichts! Seine Ringelnatter war und blieb verschwunden.

Unendliche Wut stieg in ihm auf. Wenn seine Schwester die Schlange tatsächlich mitgenommen oder irgendwo ausgesetzt haben sollte, würde sie ihn endgültig kennenlernen!

Als er schließlich vor Anstrengung und Wut schnaufend in der Küche stand und überlegte, wie er sich an Johanna rächen könnte, bemerkte er aus den Augenwinkeln einen hellen Fleck, der dort nicht hingehörte. Er drehte den Kopf und sah auf der Arbeitsplatte das in die Jahre gekommene Mikrowellengerät stehen. Mama hatte es gekauft, damit die Kinder sich nach der Schule schnell etwas warm machen konnten, falls sie noch nicht zu Hause und Papa nicht in der Lage zum Kochen sein sollte.

An seiner Tür hing ein viereckiger weißer Zettel, den dort jemand mit Klebestreifen befestigt hatte.

«Mittagessen», stand drauf, und: «Fünf Minuten bei 800 Watt reichen für einen echten Schlangenfraß. Lass es dir schmecken, Ballonkopf!» Die Handschrift seiner Schwester war nicht zu verkennen.

Alles in Horsts Bauch verkrampfte sich zu einem eisigen Klumpen.

Ein übler Geruch nach altem Essen lag in der Luft, wie ihm wegen der Aufregung erst jetzt bewusst wurde. Zunächst wollte er schreiend davonlaufen und irgendetwas mit bloßen Fäusten zertrümmern. Doch dann nahm er alle Kraft zusammen und öffnete das Gerät, indem er auf den seitlichen Türöffner drückte.

Mit einem lauten Klack! sprang ihm die Tür entgegen.

In der nächsten Sekunde stieg sein kompletter Mageninhalt in einem heftigen Schwall seine Speiseröhre hinauf, und er übergab sich röchelnd auf den Küchenboden.

Als er sich hustend wieder aufrichtete, schrie jede Zelle in ihm nach Rache.

*