Achter Tag

Hannahs Nacht war eine einzige Katastrophe.

Nachdem sie erst ewig nicht einschlafen konnte, weil ihre Gedanken unablässig um das Frühstück mit einem möglichen Mörder kreisten, träumte sie später von Martin, wie er gemeinsam mit Lisa neue Möbel für ihr Haus aussuchte. Das Ergebnis war: Sie lag die halbe Zeit wach und dämmerte erst kurz vor dem Sonnenaufgang ein. Als ihr Handy sie weckte, schlug sie mit einer Faust auf das Display und hätte das Gerät am liebsten an die Wand geworfen.

Hundemüde schleppte sie sich ins Bad und duschte so kalt, wie sie es gerade noch aushielt. Nur unwesentlich frischer kam sie in ihr Zimmer zurück und wollte sich gerade anziehen – als ihr plötzlich einfiel, dass sie ja Greiner Bescheid geben musste! Sie wählte seine Mobilfunknummer, aber zu ihrer Überraschung ging er nicht an den Apparat.

Sie schaute auf die Uhr. Viertel vor sieben. Vermutlich war er gerade auf dem Weg ins Büro und hatte sein Telefon nicht in Griffweite. Sie wollte sich auf keinen Fall von ihm zurückpfeifen lassen. Aber sie brauchte seine Freigabe für die Aktion. Und wenn tatsächlich Lehmann im Café auftauchen sollte, wäre es nicht schlecht, wenn die Kollegen, die auf ihn angesetzt waren, wussten, was hier gespielt wurde. Sonst vermasselten sie noch die ganze Aktion. Wobei Hannah gerade gar nicht mehr so genau wusste, wie diese überhaupt aussehen sollte. Auf jeden Fall brauchte sie Rückendeckung.

Kurz entschlossen wählte sie Greiners Nummer im Präsidium. Bereits nach dem ersten Tuten wurde abgenommen.

«Büro Greiner, Hofmann.»

«Ah, hallo, Christ hier. Ist der Chef schon da?»

«Nein.» Hannah glaubte, eine gewisse Distanziertheit in ihrer Stimme zu hören. «Müsste aber gleich kommen. Kann ich was ausrichten?»

Sie überlegte schnell. «Ich schicke ihm jetzt gleich eine Mail. Sagen Sie ihm bitte, dass er die sofort lesen soll. Ich brauche heute Morgen noch seine Hilfe. Okay?»

«Klingt wichtig. Soll ich nicht lieber seine Stellvertretung …?»

«Nein, wenn er sowieso gleich da ist, reicht das.»

«Gut, wie Sie meinen. Ich werde es ihm sofort sagen, wenn er da ist.»

«Danke!» Hannah verabschiedete sich und legte erleichtert auf. Auf Judith Hofmann war hundertprozentig Verlass, sie konnte also wie geplant weitermachen. Sie klappte ihren Laptop auf und schrieb Greiner in wenigen Sätzen, wo und wann sie sich mit dem Facebook-Kontakt treffen wollte. Weiterhin bat sie darum, die Überwachungseinheit zu briefen, für den Fall, dass es tatsächlich Lehmann war, der auftauchte. Und falls nicht: Dass andere Kollegen für einen möglichen Zugriff vor Ort sein sollten. Aber keine Aktion ohne ihr Zeichen!

Zufrieden meldete sie sich ab. Jetzt konnte es losgehen.

*

Martin Abel wachte auf, als jemand an das Autofenster klopfte. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sich orientiert hatte, aber dann wusste er, wo er sich befand: auf einem Autobahnparkplatz an der A3 im Taunus, wo er auf der Heimfahrt völlig übermüdet herausgefahren und eingeschlafen war. Irgendwo hinter Rüsselsheim hatten ihn die Kräfte verlassen, und er wollte nur noch die Augen zumachen.

«Alles in Ordnung mit Ihnen?» Der Mann mit Schirmmütze und Truckerweste schaute besorgt zu ihm ins Auto, nachdem er das Fenster geöffnet hatte. «Sie sahen aus wie tot.»

«So fühle ich mich auch», antwortete Abel und rieb sich die Augen. Sein Blick fiel auf die Thermoskanne, die der Mann in der Hand hatte, was diesem nicht entging.

«Auch einen Schluck?» Der LKW-Fahrer wartete seine Antwort nicht ab, sondern schenkte ihm einen Becher voll und reichte ihm diesen ins Auto.

«Gott segne Sie», sagte Abel und verbrannte sich fast den Mund an dem Kaffee, so gierig trank er.

«Kann er machen, aber hoffentlich nicht schon hier auf der A3.» Der Trucker wartete geduldig ab, bis er ausgetrunken hatte, und ging dann mit einem freundlichen Winken zu seinem Fahrzeug. In Abel keimte die Hoffnung auf, dass dieser Tag nicht in einem solchen Desaster enden würde wie der davor.

Er schaute auf die Uhr. Kurz vor sieben. Wenn er sich beeilte, war er um acht oder halb neun im Präsidium. Er drehte den Zündschlüssel und fuhr langsam los.

Einen Anruf bei Hannah ersparte er sich lieber. Noch war er nicht in der Verfassung, einen weiteren Tiefschlag einzustecken.

*

Der Anruf kam genau in dem Moment, als Konrad Greiner seinen Wagen startete, um ins Präsidium zu fahren. Sein alter Diesel keuchte heute ein wenig länger als üblich, bis er in die Gänge kam, aber dafür hatte Greiner Verständnis – ihm ging es genauso.

Als er das Klingeln in seiner Jackentasche endlich registrierte, seufzte er und kramte sein Handy hervor. Bestimmt wieder ein Notfall, zu dem er persönlich irgendwo vor Ort zu erscheinen hatte. Er sah auf das Display und runzelte im nächsten Moment die Stirn.

«Ja, Greiner.»

«Konrad, mein Schatz, ich bin’s.»

«Helga? Du um diese Uhrzeit? Entschuldige, aber ich habe gerade wirklich keine Zeit für dich und deine Vorwürfe. Ich muss zur Arbeit und …»

«Ich will dir nichts vorwerfen», unterbrach ihn seine Noch-Ehefrau. «Ich habe die Unterlagen, die du mir dagelassen hast, durchgelesen und alles unterschrieben. Ich bin mit der Scheidung einverstanden.»

Ihm blieb für eine Sekunde die Spucke weg. «Wie bitte?», platzte es dann aus ihm heraus. «So einfach geht das plötzlich? Was ist denn in dich gefahren? Ich habe einen Vortrag über mein unmoralisches Verhalten erwartet.»

Helga Greiner schnaufte laut. «Ja, und vermutlich hättest du den auch verdient. Aber ich habe gerade ein paar klare Momente, was möglicherweise an den neuen Medikamenten liegt, die ich seit gestern bekomme. Und als ich über alles nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass ich niemanden an mich binden möchte, der mich im Grunde hasst.»

«Ich hasse dich nicht», protestierte er. «Es ist nur so, dass …»

«Ich will das nicht hören», unterbrach ihn Helga schrill. «Es schmerzt alles auch so schon genug. Wenn du die Scheidung willst, dann kommst du besser sofort vorbei und holst dir diese Unterlagen, sonst überlege ich es mir vielleicht noch anders.»

Er schaute schnell auf seine Uhr.

«Ich kann in zwanzig Minuten da sein. Ich fahre sofort los!»

«Tu das», sagte seine Noch-Ehefrau, und er konnte hören, wie ihre Stimme plötzlich brüchig wurde.

«Bis gleich. Bleib, wo du bist!»

Hastig legte er auf und warf sein Handy auf den Beifahrersitz. In der nächsten Sekunde drückte er das Gaspedal durch und lenkte den Wagen auf den kürzesten Weg zum Max-Adenauer-Stift.

Den Anruf bei Judith, dass er etwas später kommen würde, ersparte er sich. Er wollte nicht schon am frühen Morgen ihre in diesen Tagen so kühle, abweisende Stimme hören. Das hatte Zeit bis nachher, wo er ihr die ganze Geschichte erzählen konnte. Vielleicht änderte sich ihr Tonfall dann ja.

Mein Gott!, dachte Greiner, während er Richtung Süden fuhr. Vielleicht wird dieser Tag noch richtig gut!

*

Hannah Christ war der erste Gast im Café Sehnsucht. Die Bedienung hatte gerade aufgeschlossen und lächelte freundlich.

«Na, so hungrig? Da sind Sie bei uns genau richtig.»

«Sehr schön. Aber zuerst brauche ich den stärksten Kaffee, den Sie haben. Danach sehen wir weiter.»

«Wir rösten selbst. Und ich schätze, wir haben da was auf Lager, das Ihnen helfen kann.»

Hannah setzte sich in eine Ecke an einen Tisch für zwei Personen. Sie nahm den Platz mit dem Rücken zur Wand, sodass sie den Eingang im Auge behalten konnte. Sie stellte ihre Handtasche neben sich auf die Bank und schaute sich um. Das Café machte einen sehr gemütlichen Eindruck und hatte, soweit sie es an der ausliegenden Speisekarte beurteilen konnte, überwiegend Bio-Produkte und fair gehandelten Kaffee im Angebot. Ein dicker Pluspunkt in ihren Augen.

Die Bedienung brachte ihr den Kaffee und stellte die Tasse vor sie hin. «Hier ist Ihre Medizin, hat bisher immer geholfen», sagte sie grinsend. «Wollen Sie gleich Frühstück bestellen?»

Sie blickte zur Eingangstüre. «Nein, ich warte noch auf jemanden. Aber der Kaffee duftet wirklich verlockend. Ich schätze, das ist nicht mein letzter hier.»

Während die Bedienung zurück zur Küche ging, sah Hannah durch die Glasfront des Cafés auf die Straße. Inzwischen waren noch einige andere Gäste gekommen, die Hälfte der Tische war besetzt.

Doch Julian war noch nicht darunter. Oder zumindest niemand, der so aussah, wie auf dem Bild in seinem Profil. Und auch nicht Lehmann, dieses Schwein.

Hannah überlegte. Was, wenn es ein ganz anderer Typ ist? Woran erkenne ich ihn? Im Grunde konnte es jeder sein. Und würde er sofort wieder kehrtmachen, wenn er sah, dass eine ältere Version der Frau von dem Facebook-Profil auf ihn wartete? Oder war er schon da und erkannte sie nicht?

Unruhig ließ sie ihre Blicke über die Tische schweifen. Niemand außer ihr selbst saß allein am Tisch. Julian war also mit Sicherheit noch nicht hier. Dafür warteten draußen bestimmt schon die Leute vom Mobilen Einsatzkommando, die Greiner losgeschickt hatte, und beobachteten das Café.

Sie schaute auf die Uhr. Sie hatten acht Uhr vereinbart, und inzwischen war es bereits zehn nach. War das ein bescheuerter Scherz von ihm, oder hatte er nur die U-Bahn verpasst? Nachdenklich trommelte sie mit den Fingern auf dem Tisch.

Mein Gott, wie kann man nur so blöd sein, dachte sie schließlich. Ich sitze hier wie auf dem Präsentierteller und habe keine Ahnung, auf wen ich eigentlich warte. Wenn er nicht kommt, kann ich zusehen, wie ich mich bei Greiner für den unnötigen Einsatz des MEK entschuldige. Bis halb neun bleib ich, dann bin ich weg.

Ärgerlich über sich selbst leerte sie ihre Tasse und winkte der Bedienung, um Nachschub zu bestellen. Immerhin: Für den Kaffee hatte sich der Weg gelohnt.

*

Als Konrad Greiner schließlich ins Präsidium kam, war er bester Laune.

Helga hatte tatsächlich Wort gehalten und die Scheidungspapiere unterschrieben. Natürlich, bis zum Gerichtstermin konnte noch viel passieren, aber der erste Schritt war getan. Und er musste sich damit von Judith nicht mehr vorhalten lassen, dass ihm das mit ihr gar nicht so ernst war, wie er immer tat. Oh nein, er hatte verdammt noch mal endlich getan, was sie von ihm verlangt hatte, nämlich dem Teufel die Stirn geboten! Wenn sie jetzt noch zu ihrem Wort stand, lagen goldene Zeiten vor ihm. Er hoffte es wie nichts auf der Welt.

Er betrat sein Vorzimmer und nickte Judith freundlich zu. Sie sah auf, wie immer während der letzten Wochen mit diesem kühlen Blick in den Augen, den er so zu hassen gelernt hatte. Doch seine Laune verschlechterte sich nur wenig. Heute konnte ihn das nicht aus der Bahn werfen.

Er blieb vor ihrem Schreibtisch stehen. «Willst du gar nicht wissen, warum ich so spät dran bin?»

Sie blickte zurück auf ihren Bildschirm und las eine E-Mail. «Nein, das ist deine Sache. Aber du hättest dich abmelden sollen, denn Hannah Christ hatte schon ein dringendes Anliegen an dich.»

Er presste die Lippen zusammen. Plötzlich verließ ihn die Lust, ihr die frohe Kunde zu überbringen. «Und was wollte sie», fragte er stattdessen mit nun ebenfalls betont dienstlichem Tonfall.

Judith deutete auf ihren Bildschirm. «Ich habe ihre Mail noch nicht gelesen. Sie sagte, du sollst dich persönlich darum kümmern. Ich vermute allerdings, dass sie davon ausgegangen ist, dass du pünktlich kommst.» Sie warf ihm einen missbilligenden Blick zu. «Warte, ich öffne die Nachricht.» Sie klickte die entsprechende Zeile in seinem Posteingang an und drehte den Monitor zu ihm rüber. Er begann sofort zu lesen.

«Mist! Sie trifft sich gerade mit diesem Facebook-Verdächtigen und wollte, dass ich das Café überwachen lasse! Warum hast du nicht wie sonst meine Post gelesen und mich angerufen?»

«Das sagte ich doch bereits: Weil ich davon ausging, dass du pünktlich kommst!»

Er wollte etwas erwidern, aber dann winkte er ab. «Ruf sie sofort auf ihrem Handy an, los!»

Judith wählte Hannah Christs Nummer und schaltete den Lautsprecher ihres Telefons ein. Nach dem fünften Läuten wurde abgenommen. «Ja, Christ.»

«Gott sei Dank!» Er atmete erleichtert auf. «Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sind Sie noch in dem Café?»

«Ja, ich bin noch hier, und es ist alles bestens – außer dass mein Rendezvous nicht gekommen ist. Aber warum sind Sie denn so aufgeregt?»

Er sah Judith an, die seinen Blick fest erwiderte. «Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände habe ich Ihre Nachricht gerade erst gelesen. Ich konnte also keine Leute nach Ehrenfeld schicken, um das Café zu observieren.»

«Oh! Schön, dass ich das auch mal erfahre.» Hannah Christ schien alles andere als beunruhigt. «Inzwischen hat es sich aber erledigt, ich trinke nur noch diesen exzellenten Kaffee hier aus, dann komme ich ins Präsidium.»

«Sie bleiben, wo Sie sind, und lassen sich von uns abholen. Schlimm genug, dass Sie ohne Schutz dort sitzen müssen.»

«Ich bin kein kleines Kind. Außerdem ist hier ganz schön was los, und ich habe um die Ecke geparkt. Ich wüsste also nicht, wie mir etwas passieren sollte.»

Greiner dachte kurz nach. «Sind Sie da absolut sicher? Ich kann in einer Viertelstunde da sein.»

Hannah Christ lachte auf. «Ich denke, das Benzin können Sie sich sparen. Ich bin gleich bei Ihnen. Bis dann!»

Klick.

Greiner und Judith sahen sich an. «Gerade noch mal gutgegangen, was?», sagte er nach einer kurzen Pause.

Judith antwortete nicht, sondern sah wieder auf ihren Bildschirm.

«Dann geh ich mal in mein Büro», sagte er mürrischer, als er das für heute geplant hatte. «Nur damit du weißt, wo du mich findest.»

Sie zog die Augenbrauen hoch, doch dieses Mal war er es, der abweisend blieb. Wortlos verließ er das Vorzimmer und ging mit schweren Schritten zu seinem Arbeitsplatz.

Irgendwann war auch seine Geduld erschöpft.

*

Während Hannah das muntere Treiben im Café beobachtete und alle paar Sekunden einen Blick zur Eingangstüre warf, verfestigte sich die Gewissheit, dass sie umsonst hergekommen war. Vielleicht hatte Julian tatsächlich nur testen wollen, ob sie wie vereinbart zu einem Treffen mit ihm kam. In jedem Fall hatte sie sich umsonst eine schlaflose Nacht bereitet. Nach diesem Reinfall blieb nur die Hoffnung, dass er den Kontakt nicht abbrach.

Im nächsten Moment klingelte ihr Handy. Bestimmt wieder Greiner, der sich Sorgen macht. Sie schaute auf das Display und erkannte zu ihrer Überraschung Martins Mobilfunknummer. In einem Reflex hatte sie fast das grüne Tastenfeld gedrückt, doch in letzter Sekunde hielt sie inne.

Sie verspürte nicht die geringste Lust, ihm brühwarm von ihrem Fehlschlag im Café erzählen zu müssen – er war ja von Anfang an gegen dieses Treffen mit dem gemeinsamen Facebook-Kontakt der beiden toten Frauen vom Ginsterpfad gewesen. Außerdem konnte es aus ihrer Sicht nicht schaden, wenn sie ihn noch ein wenig schmoren ließ. Verdient hatte er es allemal. Sie rümpfte kurz die Nase, dann schaltete sie ihr Handy leise und steckte es in ihre Handtasche.

Während sie wieder zur Eingangstür blickte, schweiften ihre Gedanken von Julian und dem aktuellen Fall ab.

Die Tatsache, dass sie den gestrigen Abend hatte allein verbringen müssen und auch in diesem schönen Café ohne Martin saß, machte ihr zu schaffen. Die Probleme – oder DAS Problem! – zwischen ihnen waren so bedrohlich geworden, dass sie langsam, aber sicher Angst bekam, wohin das alles führte. Martin war mit seinen Gedanken ständig bei seiner Familie, zu der sie nicht gehörte. Solange dieser Punkt nicht geklärt war, stand daher immer etwas zwischen ihnen. Natürlich war es ganz normal, dass er sich um seine Kinder sorgte. Nur die Art und Weise, wie er Lisa mit Samthandschuhen anfasste und sie selbst ausgrenzte, fand sie eben manchmal zum Kotzen.

Mein Gott, irgendwie benehmen wir uns doch wie Kinder! Sie sah kurz auf ihre Handtasche mit dem Handy und war versucht, ihn zurückzurufen. Im nächsten Moment entschied sie aber, dass so etwas nicht am Telefon geklärt werden konnte. Sobald er wieder in Köln auftauchte, würde sie das erledigen, und zwar richtig. Ausreden durfte es keine mehr geben, dazu war ihr die Beziehung zu Martin viel zu wertvoll.

Eine weitere Tasse Kaffee später stand sie schließlich auf. Julian war nicht gekommen, und sie war schon gespannt auf die Begründung, die er ihr auf Facebook liefern würde. Falls er sich überhaupt noch einmal meldete, denn möglicherweise hatte er ja aus einem ihr nicht bekannten Grund das Interesse an einem Date verloren.

Sie winkte der Bedienung und bezahlte inklusive eines fürstlichen Trinkgeldes. Nachdem sie ihre Handtasche geschnappt hatte, ging sie aus dem Café auf die Körnerstraße hinaus. Instinktiv sah sie sich nach allen Seiten um und schaute auch in die Autos, die in der Nähe geparkt waren. Doch außer einer Handvoll Fußgängern, die vorbeihasteten, war niemand zu sehen.

Sie wandte sich nach links, sodass sie über die verkehrsberuhigte Grimmstraße in die Philippstraße gehen konnte, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Ein kurzer Spaziergang, der hoffentlich ihren Kopf von den düsteren Gedanken über ihre Beziehung befreien würde.

Sie ging langsam, um die wenigen Meter bis dorthin zu genießen. Die Luft in der Stadt war bereits ordentlich aufgeheizt, sodass sie sich heute Morgen für leichte Kleidung entschieden hatte – ein dünnes, ärmelloses Top und ein knapp knielanger, karierter Faltenrock. Julian wäre bestimmt begeistert gewesen, da sie dadurch fast wie ein Schulmädchen aussah. Aber so kam es wenigstens ihrem persönlichen Wohlbefinden zugute. Sie spürte den Luftzug der vorbeifahrenden Autos auf ihrer Haut und empfand dies als überaus angenehm.

Der kürzeste Weg von der Grimmstraße zu ihrem Wagen in der Philippstraße führte durch einen Spielpark neben einer Wohnanlage. Während nur einen Steinwurf weiter eine S-Bahn über die Gleise des Bahnhofs Ehrenfeld quietschte, ging sie an einem verlassenen Klettergerüst vorbei und genoss die unverhoffte Stille des leeren Parks. Der ideale Platz für ein Pärchen, um sich gegenseitig ein paar Entschuldigungen zuzuflüstern, dachte sie und verzog wehmütig den Mund. Irgendwie war es ja doch schade, dass Martin jetzt nicht hier …

«Hallo, Hannah», hörte sie plötzlich eine Stimme zu ihrer Linken.

Überrascht drehte sie sich zur Seite – und erblickte keine zwei Meter von sich entfernt einen großgewachsenen Mann, der auf einer Parkbank saß und sie angrinste. Er hatte seine Arme betont entspannt auf die Lehne der Bank gelegt und die Beine übereinandergeschlagen. Er war etwas füllig, und sie schätzte ihn auf gut fünfzig Jahre. Zu ihrer Verwunderung trug er trotz der Hitze einen langen Mantel.

«Wer sind Sie», fragte sie. Sie sah sich nach beiden Seiten um. «Und woher kennen Sie meinen Namen?»

Das Grinsen des Mannes wurde breiter. Er nahm das eine Bein vom anderen und setzte den Fuß auf den Boden. Sie schätzte Schuhgröße 48.

«Du siehst gut aus, Süße. Das offene Haar, das dünne Top … Nur blond bist du mittlerweile. Und hast ein bisschen gemogelt mit dem Alter, was? Aber das machen wir ja alle. Dachtest dir wohl, wenn der Gigolo erst mal da ist, klärt sich der Rest von selbst. Jetzt musst du allerdings mit mir vorliebnehmen. Zeig mir doch mal, was du Schönes unter deinem knappen Röckchen hast …»

Sie zuckte zusammen. Mein Gott, natürlich! «Sie sind das? Julian?» Sie sah ihn von oben bis unten an. «Na, kein Wunder sind Sie nicht ins Café gekommen. So, wie Sie aussehen, hätten die Sie da vermutlich nicht mal reingelassen.»

Der Mann schürzte die Lippen und lächelte dann. «Du bist ein freches Biest, Süße. Aber ich mag das, so kommt mehr Spannung in unsere Beziehung. Und das ist verdammt wichtig, sonst langweilen wir uns bald, und ich müsste die Sache mit dir vorzeitig beenden.» Er grinste wieder. «Nein, ich habe hier auf dich gewartet, weil ich lieber allein mit dir sein wollte. Willst du dich nicht ein bisschen zu mir setzen?»

Er nahm die Hände von der Parkbanklehne und schob sie in die Außentaschen seines Mantels, ohne sie aber aus den Augen zu lassen.

Sie beobachtete mit zunehmender Nervosität jede seiner Bewegungen. Dabei schwankte sie zwischen Neugier und aufkommender Angst. War der Mann vor ihr der Mörder oder bloß ein perverser Spinner?

«Nein, das möchte ich nicht», sagte sie so kontrolliert, wie sie konnte. «Sie sehen nämlich nicht besonders vertrauenserweckend aus. Aber vielleicht wollen wir ja in irgendein anderes Café gehen, und Sie überzeugen mich dort vom Gegenteil?»

Der Mann, der sich Julian nannte, verzog den Mund. «Mir gefällt es hier besser. Ist doch ein lauschiges Plätzchen für zwei Verliebte, oder? Wir können uns endlich näherkommen, ohne dass uns jemand dabei zusieht. Ich weiß, dass du schon lange scharf auf mich bist, kannst es ruhig zugeben, Süße. Und erzähl mir endlich, was du unter deinem Röckchen anhast. Ich muss das jetzt wissen!»

Er richtete sich langsam auf und machte einen Schritt auf Hannah zu, sodass sie nur noch ein Meter trennte – eindeutig zu nahe, um sich von ihm nicht bedroht zu fühlen.

Denn erst jetzt bekam sie einen Eindruck davon, wie groß der Mann eigentlich war. Er maß noch ein paar Zentimeter mehr als Lehmann, war aber nicht so breit in den Schultern und dafür etwas schwammiger um die Hüften. Aber mit Sicherheit wog er mehr als doppelt so viel wie sie, sodass sie sich von einem Moment zum anderen ziemlich unbehaglich fühlte.

«Stopp!» Sie machte einen Schritt zurück. «Bleiben Sie stehen! Und nehmen Sie die Hände aus den Manteltaschen. Ich will sehen, was Sie damit machen.»

Der Mann lächelte sie von oben herunter an. «Du willst wissen, was ich mit meinen Händen mache? Kein Problem, ich zeige es dir.»

Im nächsten Moment öffnete er mit den immer noch in den Taschen steckenden Händen seinen Mantel. Der Mann machte einen schnellen Schritt auf sie zu und umklammerte sie mit seinen Händen. Da diese in den Taschen steckten, befand sie sich plötzlich innerhalb des Mantels und wurde von Julian mit brutaler Kraft an sich gepresst – ohne jede Möglichkeit, die Arme schützend nach oben nehmen zu können.

«Na, spürst du mich jetzt», fragte der Mann, und seine Stimme klang nun nicht mehr freundlich, sondern eiskalt.

Sie wehrte sich verzweifelt. Sie versuchte, ein Knie hochzuziehen, doch dafür stand sie viel zu dicht an dem Riesen. «Lassen Sie mich los! Ich bin Polizistin, und ich werde Sie festnehmen, wenn Sie nicht sofort die Finger von mir lassen!»

Der Mann grunzte. «Sicher, und ich bin James Bond.» Er bückte sich schnell und umfasste sie an der Taille. Immer noch an sich gepresst, hob er sie mit spielerischer Leichtigkeit hoch und begann sie in Richtung der geparkten Autos zu tragen. «Nein, meine Süße, ich habe andere Pläne mit dir. Wir beide machen uns jetzt einen schönen Tag und danach …»

Noch während sie sich das Grauen ausmalte, das hinter diesen Worten steckte, sah sie plötzlich einen großen Schatten. Im nächsten Augenblick wurde der Mann von einem harten Schlag erschüttert, und er ließ sie los. Da er immer noch seine Hände in den Manteltaschen hatte, stürzte er, ohne sich abfangen zu können, krachend auf dem gepflasterten Weg auf.

«Du mieser Dreckskerl! Haben wir dich endlich!» Erleichtert erkannte sie Martin Abel, der auf dem Rücken des Mannes saß und ihm beide Arme zwischen die Schulterblätter drehte.

Der Mann ächzte vor Schmerz. «Lassen Sie mich los! Ich war mit der Frau verabredet und wollte mich nur ein wenig mit ihr unterhalten!»

«Genauso sah es aus!» Abel zog ihm den Kopf an den wenigen Haaren hoch und hielt den Mund an sein Ohr. «Du bist hiermit festgenommen! Und wenn du nicht sofort ausspuckst, wo du Julia Peters versteckt hältst, wirst du dir wünschen, mir nie begegnet zu sein.»

Der Mann bäumte sich auf. «Was reden Sie da? Ich habe diese Julia nie getroffen! Wir waren verabredet, aber sie ist nicht zum vereinbarten Termin gekommen. Ich schwöre es!»

Abel sah auf ihn herab, und Hannah befürchtete schon, dass er gleich zuschlagen würde.

«Spar dir die Luft», sagte er dann aber stattdessen. «Du kannst das gleich alles dem Haftrichter erzählen. Mal sehen, was der dazu meint.»

Abel schaute sie an. «Ich habe gerade keine Hand frei. Würdest du also bitte dein Telefon wieder einschalten und Greiner durchgeben, wo wir uns befinden? Seine Leute sind beim Café und stellen dort gerade alles auf den Kopf.»

«Oh, verdammt …!» Sie biss sich auf die Oberlippe und griff in ihre Handtasche, die sie zu ihrer eigenen Überraschung während des Kampfes nicht losgelassen hatte. Mit immer noch zitternden Fingern kramte sie ihr Handy hervor. «Als du vorhin angerufen hast, wolltest du mir also sagen, dass ihr hierher unterwegs seid?»

«Richtig. Und dass du gefälligst warten sollst, bis ich bei dir bin! Erstens war alles andere viel zu gefährlich und zweitens …», er sah sie prüfend an, «hätte ich durchaus gern eine Tasse Kaffee mit dir getrunken. Meine letzte Nacht war verdammt kurz, und ich glaube, ich sollte dir erzählen, was dabei alles schiefgegangen ist.»

Sie sah auf ihn herab, wie er auf dem Rücken ihres Peinigers saß, und wusste im selben Augenblick, was zu tun war. Sie beugte sich zu ihm herab und streichelte seine Wange. «Und ich glaube, wir sollten uns beide ein bisschen was erzählen.» Sie zeigte auf den Mann unter ihm. «Du siehst ja, wohin dieser Unsinn führt.»

Abel kniff die Augen zusammen, erwiderte aber nichts darauf.

Sie richtete sich auf und wählte Greiners Nummer. Während sie mit ihm sprach, betrachtete sie Martin, wie er weiter den am Boden liegenden Riesen in Schach hielt. Dieser startete einen verzweifelten Versuch, sich aus dem Griff zu befreien, doch Martin drückte ihn mit einem kräftigen Ruck wieder nach unten.

Er hat wieder einmal recht behalten, dachte sie erleichtert. Wenn es darauf ankommt, ist er tatsächlich voll da.

Ihre Anspannung ließ erst dann endgültig nach, als sie zwei Minuten später die quietschenden Reifen des MEK hörte.

*
Vergangenheit

Eines Tages holte Horst den Schuhkarton hervor, den er im hintersten Winkel seines Kleiderschranks versteckt hatte. Schon lange hatte er ihn nicht mehr aufgemacht, sondern so getan, als ob er ihn vergessen hätte. Aber natürlich hatte er ihn nicht vergessen. Und auch nicht das, was sich darin befand. Es hatte auf ihn gewartet. Das spürte er genau.

Er setzte sich aufs Bett und nahm den Deckel ab. Nacheinander holte er die Dinge heraus, die ihm wichtig waren.

Das Messer, mit dem er Johannas Hamster die Beine abgeschnitten hatte, bevor ihn die Schlange fressen durfte.

Die Musikkassette, auf der er heimlich Mamas Schreie aufgenommen hatte, als Vater wieder einmal über sie hergefallen war. Das Klatschen seiner Hände in ihrem Gesicht, sein animalisches Brüllen. Die Wut, die in diesen Momenten in ihm hochkochte, sagte ihm, dass sein Vater dafür eines Tages bezahlen würde.

Und zuletzt das Buch. Er hatte es damals, als Mutter es ihm vermacht hatte, ungelesen zu seinen anderen Schätzen gesteckt. Es dauerte lange, bis er genügend Mut zusammenbrachte, um es wieder in die Hand zu nehmen. Der Gedanke an ihren Tod war für ihn noch immer mit großen Schmerzen verbunden. Aber er hatte es ihr versprochen, und nichts hätte ihn davon abbringen können, sein Versprechen zu erfüllen!

Die Geheimnisse des alten Ägypten. Was wollte ihm seine Mutter damit sagen?

Als er das Buch aufschlug, konzentrierte er sich zuerst auf die Bilder. Er hatte immer noch ein wenig Probleme mit dem Lesen, daher war das reich bebilderte Buch ideal für ihn.

Auf den ersten Seiten wurden die Bauwerke der Ägypter erklärt. Die Tempel. Die Sphinx. Und natürlich die gigantischen Pyramiden. Horst war verblüfft, als er verstand, dass ihr einziger Zweck darin bestand, den toten Herrschern ein Leben nach dem Tod zu ermöglichen. Die Ägypter mussten sich ihrer Sache dabei verdammt sicher gewesen sein, sonst hätten sie niemals diesen unglaublichen Aufwand betrieben.

Wenige Seiten weiter wurde dann vom Fund des jungen Pharaos Tutanchamun erzählt. Er war nach seinem Ableben in einem aufwendigen Verfahren präpariert worden, um ihn auf das Totenreich vorzubereiten. Fasziniert las er, wie die Priester zunächst das Gehirn ihres verstorbenen Herrschers verquirlten und dann über die Nasenlöcher ein Loch durch das Siebbein bohrten und die Hirnmasse mit einem Haken herauszogen. Danach füllten sie den ganzen Körper mit konservierenden Substanzen.

Salböl aus verschiedenen Harzen, Bienenwachs und Erdpech zur Erhaltung des vom Gehirn befreiten Schädels.

Palmwein, aromatische Essenzen, Weihrauch und Myrrhepulver für die leergeräumte Bauchhöhle.

Und schließlich Natron und Räuchersubstanzen, um dem Körper die Flüssigkeit zu entziehen.

Das war es also gewesen, was seine Mutter gemeint hatte, als sie ihm das Buch geschenkt hatte! Die alten Ägypter waren der Beweis dafür, dass es ein Leben nach dem Tod gab. Der ganze Aufwand mit den Grabmälern. Die Verstümmelung des eigenen Körpers – von den Pharaonen meist zu Lebzeiten noch selbst angeordnet. So etwas tat man nicht, wenn man nicht absolut sicher war, dass es ein Danach gab! Mutter war demnach also tatsächlich nicht tot. Sie war jetzt nur, wie sie es selbst gesagt hatte, woanders.

Ein beruhigender Schauer lief über seinen Rücken. Woanders, dachte er noch einmal. Dahin gehören sie alle.

*

Martin Abel saß mit Hannah im kleinen Besprechungszimmer, um die Lage zu sondieren.

Es war später Nachmittag, und die Zeit seit der Festnahme des Mannes in Ehrenfeld war mit der Vorführung beim zuständigen Richter zur Erlangung eines Haft- und Durchsuchungsbefehls vergangen. Die Personalien konnten anhand seiner mitgeführten Papiere problemlos festgestellt werden. Er hieß Armin Häußler und war in Longerich gemeldet – was vielleicht auch erklärte, warum er sich am Ginsterpfad offenbar so gut auskannte.

Während sich einige Beamte seine Wohnung vornahmen, brachte das bloße Eingeben seines Namens die polizeilichen Datenbanken zum Glühen. Zum einen war der Mann mehrfach wegen Spannerei angezeigt worden. Ob in Freibädern, in Saunen oder nachts vor Schlafzimmerfenstern – er schien keine Gelegenheit auszulassen, Frauen nachzustellen. Manchmal hatte er eine Kamera dabeigehabt, oft stand er einfach hinter irgendwelchen Büschen und holte sich einen runter. Dabei unauffällig zu bleiben, war ihm nicht zuletzt wegen seiner Größe schwergefallen. Man hatte ihn mehrfach ertappt und erkennungsdienstlich behandelt.

Das war das Eine. Solange man niemandem dabei weh tat oder die gemachten Fotos im Internet veröffentlichte, hätte man das noch als vergleichsweise harmlose Machenschaften eines sexuell Gestörten bezeichnen können.

Dummerweise war Voyeurismus aber oft der Anfang von Schlimmerem. Quasi der Startschuss, auf den die härteren Sachen folgten.

Die andere Sache, die man in den Datenbanken gefunden hatte, war daher auch nicht mehr so harmlos. Der Mann war innerhalb der letzten vier Jahre fünf Mal wegen sexueller Nötigung angezeigt worden. Der letzte Fall lag gerade mal ein halbes Jahr zurück, als er in die Toilettenräume einer Schule eingedrungen war und sich dort einem verängstigten, achtjährigen Mädchen nackt gezeigt und es bedrängt hatte. Nur das beherzte Eingreifen einer Lehrerin hatte vielleicht Schlimmeres verhindert. Der Mann war geflohen, konnte aufgrund der eindeutigen Beschreibung aber identifiziert und verhaftet werden.

In der nachfolgenden Gerichtsverhandlung traf er offenbar auf einen gnädigen Richter, der ihn vor die Wahl einer Haftstrafe oder Sexualtherapie stellte. Natürlich hatte er sich für die Therapie entschieden, wo er laut den Unterlagen aber bis heute nicht aufgetaucht war. Was er stattdessen tat, wusste jetzt jeder im KK11 und ganz besonders Hannah Christ.

Irgendwann ging die Tür auf, und Greiner kam herein. Er nickte grüßend in die Runde und setzte sich zu ihnen. Die Vorsicht, mit der er es tat, ließ auf unliebsame Erlebnisse mit den labilen Büromöbeln im Präsidium schließen. Er legte seine mächtigen Hände auf den Besprechungstisch und seufzte. «Ich habe gerade den Bericht der Kollegen bekommen, die die Wohnung unseres Freundes durchsucht haben. PC und Handy sind auch grob ausgewertet, sie waren glücklicherweise nicht passwortgeschützt. Es sind jede Menge Spanner-Bilder drauf, der Kerl war wirklich unglaublich aktiv. Ansonsten allerdings absolute Fehlanzeige. Wir haben kein einziges Foto von Julia Peters gefunden und auch keines irgendeiner anderen magersüchtigen Frau mit Brautschmuck, die an einem Galgen hängt. Er hat extrem viel fotografiert, doch man erkennt eindeutig, dass die Frauen das nicht bemerkt haben. Keine inszenierten Bilder.»

«Vielleicht hat er ein zweites Handy oder eine Kamera, die wir bisher nicht gefunden haben», gab Abel zu bedenken.

Greiner zuckte mit den Schultern. «Ja, vielleicht. Aber für wie wahrscheinlich halten Sie das? Nein, ganz ehrlich: Ich glaube, Häußler ist nicht unser Poseidon. Wir sind auf der falschen Spur.»

«Auf der falschen Spur?» Abel spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Auch wenn er selbst immer an Lehmann als Täter geglaubt hatte, so war er doch spätestens in dem Moment nachdenklich geworden, als der gerade Festgenommene zugegeben hatte, dass er mit Julia Peters verabredet gewesen war. Das konnte kein Zufall sein. Das durfte es nicht!

Er überlegte einen Moment. «Soll ich ihn mir mal vornehmen?» Seine Füße wippten unruhig auf und ab, während er sprach.

Greiner schaute ihn kritisch an. «Sehen Sie sich dazu in der Lage?» Er deutete auf Hannah. «Ich meine, der Kerl hat Ihre Partnerin angegriffen, da neigt man schon mal zu gewissen Überreaktionen. Das ist wie beim Fußball. Da soll der gefoulte Stürmer auch nicht den Elfmeter schießen.»

Abel nickte. «Von diesem Grundsatz habe ich noch nie etwas gehalten. Wenn man von jemandem eins auf die Schnauze bekommt, ist man maximal motiviert, es demjenigen heimzuzahlen. Das kann doch nur von Vorteil sein. Oder?»

«Es sei denn, der Schuss geht daneben. Oder sogar nach hinten los. Und nur falls Sie es vergessen haben: Wenn er doch unser Mann ist, befindet sich gerade ein Mädchen in seiner Gewalt, das dringend unsere Hilfe braucht. Wenn Sie das versieben, ist es vielleicht zu spät für sie.»

Abel erhob sich. «Irgendwo im Subtext habe ich gerade ein ‹Legen Sie los› gehört.» Er sah kurz zu Hannah und nickte Greiner dann zu. «Wo ist er?»

Greiner seufzte. «In Hansens Büro», sagte er dann. «Ich gebe Ihnen zehn Minuten, aber bauen Sie bloß keinen Mist! Klar?»

«Würde mir nie in den Sinn kommen.» Er machte, dass er aus dem Besprechungszimmer kam, bevor Greiner es sich anders überlegen konnte.

Denn natürlich hatte er recht. Abel war heute durchaus in der Stimmung, Fehler zu begehen. Zu viel war während der vergangenen Tage passiert. Sein Denken und Handeln wurde inzwischen von einem einzigen Bild beherrscht: Julia Peters in irgendeinem Kellerloch wartete darauf, dass ihr Entführer die Sache zu Ende brachte.

Als er den Gang betrat, zog er sein Jackett enger. Er näherte sich Hansens Büro mit vorsichtigen Schritten und spreizte dabei die Hände wie Charles Bronson kurz vor dem entscheidenden Duell mit Henry Fonda in Spiel mir das Lied vom Tod. Er liebte diesen Film, denn letztendlich siegte darin das Gute über eine Übermacht von Bösewichten. Ein beliebter Traum eines jeden Polizisten, der aber leider viel zu selten Realität wurde.

Abel streckte sich noch einmal, dann drückte er energisch die Klinke herunter und trat ein.

Der geschniegelte Hansen und Horst Leingart saßen an ihrem Tisch, gegenüber von ihnen Armin Häußler, die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gesichert. Sogar sitzend wirkte er riesig, auch wenn er jetzt längst nicht mehr so selbstbewusst schien wie noch wenige Stunden zuvor in dem kleinen Park in Ehrenfeld. Leingart schrieb gerade etwas auf einen Block, und Hansen deutete mit einem Stift auf Häußler, als Abel das Büro betrat. Beide sahen überrascht auf.

«Kann ich mal kurz mit unserem Gast allein sein?» Abel deutete auf die offene Tür. «Der Chef hat es erlaubt», fügte er hinzu, als er sah, dass Hansen etwas erwidern wollte. Leingart runzelte die Stirn, stemmte sich dann jedoch an der Tischplatte hoch. «Lassen Sie aber noch was von ihm für uns übrig. Bis jetzt war er nicht sehr gesprächig.» Er warf den Stift auf seine Unterlagen und gab Hansen einen Wink. «Kommen Sie, ich gebe Ihnen einen Kaffee aus.»

«Ich trinke gar keinen Kaffee», protestierte der und blieb sitzen.

Leingart rümpfte die Nase. «Dann brühe ich Ihnen eben einen Grünen Tee auf. Los – oder merken Sie nicht, dass Sie stören?» Er quetschte sich an Abel vorbei und trottete in Richtung Kaffeeküche. Hansen folgte ihm widerwillig in einigen Metern Abstand.

Abel schloss die Tür hinter den beiden und sah auf Armin Häußler herunter. Der erkannte ihn offensichtlich und schien sich nicht gerade über das Wiedersehen zu freuen. Abel ließ ihn nicht aus den Augen, während er sich auf Leingarts Stuhl setzte. Er verschränkte die Arme und sprach kein Wort, sondern ließ einfach die plötzliche Stille in dem Raum auf sein Gegenüber wirken. Stille war für die meisten Menschen ein Zustand unangenehmer Leere, die sie durch eigenes Handeln auszufüllen versuchten.

Häußler war da keine Ausnahme. Schon nach wenigen Sekunden wand er sich förmlich unter Abels Blicken und wartete fast sehnsüchtig darauf, dass dieser etwas sagte. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus.

«Was ist? Macht’s Spaß, mich so anzugaffen?» Seine Stimme war schrill und unkontrolliert.

Abel gab ihm noch eine halbe Minute, in der er regungslos dasaß und ihn weiter anstarrte. Als er den Eindruck hatte, dass Häußler ausreichend verunsichert war, atmete er laut aus und beugte sich nach vorn. Er schaute auf seine Uhr.

«Ich habe genau fünf Minuten, um mit Ihnen zu reden, doch ich glaube, Sie haben nicht einmal die verdient. Für alle Kollegen steht nämlich bereits fest, dass Sie der Mörder sind, den wir suchen.»

Häußler schnappte nach Luft. «Mörder?»

«Natürlich. Sie waren mit Julia Peters verabredet, das haben Sie ja schon zugegeben. Und dieses Mädchen wurde entführt und befindet sich an einem unbekannten Ort in der Gewalt eines Mannes, der bereits einige andere Frauen ermordet hat. Wir sind sicher, dass Sie dieser Mann sind.»

Häußler schluckte. «Das ist doch Irrsinn! Ich bin kein Mörder!»

Abel lachte auf. «Sicher. Dummerweise hatten Sie auch mit zwei anderen Opfern dieses Mörders über Facebook Kontakt. Ich denke, der Richter wird eins und eins zusammenzählen können und Sie lebenslang in den Bau schicken. Okay, das wird ein Indizienprozess, aber die Hinweise sind erdrückend, und Sie werden schwerlich Ihre Unschuld beweisen können.»

Häußler rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum und warf mit einer schnellen Kopfbewegung die fettigen Haarsträhnen nach hinten. «Wie oft soll ich es noch sagen? Ich bin kein Mörder! Gut, ich wollte mich mit Julia treffen, die Kleine hat mich aber auch so was von angemacht, da konnte ich einfach nicht widerstehen. Ich schwöre aber, dass ich nur ein bisschen mit ihr rummachen wollte. Zu unserem Date ist sie leider nicht gekommen.»

«Und was ist mit Carina Lenz?» Abel behielt seinen harten Ton bei. «Sie findet sich ebenfalls in Ihrer Freundesliste. Haben Sie mit ihr etwa auch ein bisschen ‹rumgemacht›? Nur zur Info: Jemand hat ihr die Füße abgeschnitten und den Rest von ihr in einem See am Ginsterpfad versenkt. Sie wohnen gar nicht weit weg davon, wie mir gerade einfällt.» Er schüttelte den Kopf. «Nein, Sie kriegen lebenslänglich, so viel ist sicher. Und Sie wissen bestimmt, dass Typen wie Sie nicht gerade die Lieblinge der Knastgemeinde sind.»

Häußler versuchte, sich aufzurichten, wurde von Abel zurück auf den Stuhl gedrückt. «Sie können mich doch nicht in den Knast stecken, nur weil ich die zufällig auch kannte!», protestierte er zunehmend verzweifelt. «In was für einem Land leben wir denn?»

Abels Blick wurde eiskalt, und er nahm eine bedrohliche Haltung ein. «In einem Land, in dem Männer wie Sie sich in Schultoiletten schleichen und an kleine Mädchen ranmachen! Glauben Sie mir, ich hätte gute Lust, Ihnen allein schon deshalb höchstpersönlich die Eier abzuschneiden. Aber das überlasse ich lieber Ihrem zukünftigen Zellengenossen. Sie können jedenfalls sicher sein, dass Ihnen dieser Vorfall und die Tatsache, dass Sie Ihre Therapie nicht angetreten haben, vor Gericht das Genick bricht. Und ich bin ein glücklicher Mann, wenn Sie für immer von der Straße weg sind.»

Er lehnte sich zurück. «Nein, Sie kriegen lebenslänglich und vermutlich auch noch anschließende Sicherheitsverwahrung.» Er tat so, als ob er überlegte. «Sie sind über fünfzig, wenn Sie Glück haben, kommen Sie also mit fünfundsiebzig wieder raus – wenn Sie im Knast überhaupt so alt werden.»

Armin Häußler rollte aufgeregt mit den Augen. Offenbar riefen Abels Aussagen über den Gefängnisalltag lebhafte Phantasien in ihm hervor. «Ich weiß, dass ich …», stammelte er. «Dass ich … anders bin als andere Männer, aber ich würde nie jemandem weh tun. Verdammt, es muss doch einen Weg geben, meine Unschuld zu beweisen!»

Abel schüttelte verächtlich den Kopf. Im nächsten Augenblick runzelte er die Stirn.

«Was …», fragte Häußler aufgeregt. «Nun sagen Sie schon! Haben Sie eine Idee?»

Abel winkte ab. «Nein, das würde nur funktionieren, wenn Sie tatsächlich nichts zu verbergen hätten. Und das glaube ich Ihnen ja so wenig wie alle anderen hier.»

«Aber ich BIN unschuldig!» Häußler war vollkommen außer sich. «Was muss ich tun, um Sie und den Richter davon zu überzeugen, dass ich niemanden umgebracht habe … Ich tue doch alles, was ich kann!»

Abel zögerte scheinbar und schaute Häußler einen Moment nachdenklich an. Dann machte er sich am neben ihm stehenden Dienst-PC von Jörg Hansen zu schaffen. Er öffnete den Internet-Browser und ging dort die Adresse einer ihm inzwischen bestens vertrauten Seite ein. Anschließend drehte er den Monitor in Häußlers Richtung und sah ihm kalt in die Augen.

«Es gibt nur einen Weg, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen», sagte er. «Nennen Sie mir die Zugangsdaten zu Ihrem Facebook-Account, damit wir alle Nachrichten lesen und kontrollieren können, was Sie mit den Mädchen geschrieben haben. Nur so können wir ganz sicher sein, dass Sie es nicht waren.»

Häußler lehnte sich zurück und der Schweiß auf seiner Stirn formte sich zu dicken Tropfen. «Das … kann ich nicht», stammelte er dann. «Das geht Sie nichts an. Das ist meine Privatsphäre, die niemanden außer mir …»

«Privatsphäre.» Abel nickte bedächtig. «Ist das nicht das, was Sie bei Ihren nächtlichen Ausflügen zu den Schlafzimmerfenstern fremder Leute systematisch verletzt haben?» Er stand auf und machte einen Schritt in Richtung Tür. «Tja, dann wünsche ich Ihnen schon mal viel Spaß im Bau. Ich hoffe für Sie, dass Sie eine Einzelzelle bekommen, sonst wird’s ungemütlich.» Er nahm die Klinke in die Hand und drückte sie herunter.

«Halt!» Abel sah, wie Häußler mit den Kiefern mahlte. Im nächsten Moment sackte der große Mann in sich zusammen. Er starrte leer vor sich hin und nickte dann. «Gut. Ich gebe Ihnen meine Zugangsdaten. Aber dann möchte ich endlich, dass Sie mich nicht mehr wie einen Verbrecher behandeln!»

Abel erwiderte nichts darauf. Er hatte einfach keine Lust, Häußler klarzumachen, dass nicht nur Mord ein Verbrechen war, sondern auch alles andere, was Menschen auf die eine oder andere Art verletzte. Stattdessen setzte er sich zurück an den Schreibtisch und loggte sich in den Facebook-Account ein.

Was er dort zu lesen bekam, sprengte alle Dimensionen.

*

Der Nobelitaliener in der Nähe des Doms gab sich wirklich alle Mühe, Abel auf andere Gedanken zu bringen. Er wählte für ihn und Hannah einen Tisch in einer romantischen Nische des Restaurants, er erbot sich, Abel das überflüssige Jackett abzunehmen, – was dieser natürlich nicht hergab – und schließlich kredenzte er ihnen als Gruß aus der Küche einen kleinen, aber liebevoll mit Meeresfrüchten garnierten Salat.

Abel starrte auf die fingernagelgroßen Tintenfischchen auf seinem Teller und blickte dann zum Kellner. «Haben die gerade noch gelebt?»

Der drahtige Mann mit weißer Schürze warf sich in die Brust. «Naturalmente, Signore! Noch vor fünf Minuten. Bei uns kommen nur frische Sachen auf den Tisch.»

Er schob den Teller weg. «Entschuldigung, mir ist heute nicht nach totem Viehzeug. Haben Sie auch etwas Vegetarisches?»

Der Kellner erstarrte für einen Moment, nickte dann aber beflissen und überreichte jedem von ihnen eine Speisekarte. «Die Spinatlasagne könnte ich empfehlen. Ist garantiert ohne … Viehzeug.»

«Was ist denn mit dir los?» Hannah sah ihn überrascht an. «Ohne deinen täglichen Brocken Fleisch gehst du doch sonst nicht ins Bett.»

Er zuckte mit den Schultern. «Da hatte ich auch noch nicht die Facebook-Nachrichten von diesem Häußler gelesen. Heute vertrage ich nur noch leichte Kost.»

Er bestellte die empfohlene Lasagne und dazu ein Bier, Hannah Spaghetti carbonara und einen Frascati. Der Kellner trollte sich und brachte die Salate zurück in die Küche, bestimmt nicht ohne sich dort über den merkwürdigen Gast an Tisch 12 auszulassen.

«Ich muss mich bei dir bedanken, dass du mir da aus der Patsche geholfen hast», sagte Hannah, als die Getränke vor ihnen standen. «Als dieser Riese mich packte und fortschleppen wollte, dachte ich schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Du kamst wirklich in allerletzter Sekunde.»

Er zuckte mit den Schultern. «Keine Ursache. Das ist doch normal, wenn man den anderen liebt und vorher Riesenscheiße gebaut hat.»

Hannah schmunzelte. «Schön, dass du das einsiehst. Aber wie zur Hölle hast du es überhaupt geschafft, frühmorgens schon wieder in Köln zu sein und exakt zum richtigen Zeitpunkt in dem Park in Ehrenfeld aufzutauchen?»

«Lisas Gastfreundlichkeit hielt sich nach meinem Auftritt merkwürdigerweise in Grenzen. Und da bin ich eben gleich wieder zurückgefahren. Als ich dann von der Autobahn aus mit Greiner telefonierte, sagte er mir, dass du dich gerade ohne Polizeischutz mit dem Hauptverdächtigen treffen willst. Dass er nicht aufgetaucht war, hielt ich für eine Finte, also habe ich dich angerufen, um dir zu sagen, dass du auf mich oder Greiners Leute warten sollst. Aber du bist ja leider nicht ans Telefon gegangen …»

«Oh. Verstehe.» Hannah presste betroffen die Lippen zusammen.

«Genau. Also habe ich Greiner mit dem Teufel gedroht, dass er doch noch ein Einsatzkommando losschickt. Ich selbst bin natürlich auch direkt zum Café gefahren und war noch vor Greiners Leuten dort. Als ich gesehen habe, dass du schon weg warst, wurde ich ziemlich nervös, aber eine Kellnerin konnte mir zum Glück den Tipp geben, dass du nach links abgebogen bist. Tja, zwei Minuten später hab ich dem Häußler eins auf die Mütze gegeben.»

«Und wie, mein Held. Tja, da hast du mal wieder richtig kombiniert.»

«Wie gesagt, ich habe zuvor ja auch genug Scheiße gebaut.»

«Du gibst also zu, dass du an allem schuld bist? Nicht, dass ich daran gezweifelt hätte, aber so ein kleines Geständnis würde mir schon guttun.»

Er hatte diese Situation kommen sehen, doch das hieß nicht, dass sie ihm leichtfiel. Er räusperte sich «Ja, ich gebe es zu. Ich war da wohl wenig feinfühlig, was die Sache mit meiner Familie anging.» Er sah auf und merkte an Hannahs Augen, dass er etwas vergessen hatte. «Mit meiner alten Familie meine ich natürlich!» Er überlegte einen Moment, ob er von dem Besuch bei Julias Mutter erzählen sollte, brachte es dann aber doch nicht über die Lippen. «Ich habe nur noch diese beiden Kinder», sagte er stattdessen. «Und deshalb muss ich alles tun, um sie zu beschützen, weißt du?»

Hannah griff nach seiner Hand. «Jetzt weiß ich es. Aber ich finde, du hättest mir früher sagen sollen, was in dir vorgeht. Dann hätte ich dich vermutlich besser verstanden. Oder?»

Er hob ungemütlich die Schultern. «Ja, vermutlich. Als ich Emilia in Gefahr glaubte, dachte ich jedenfalls, diesmal alles besser machen zu müssen. Meiner Kleinen durfte einfach nichts geschehen … gerade weil ich damals bei Sarah nichts habe tun können. Kannst du das verstehen?»

«Natürlich. Und wenn ich das alles früher gewusst hätte, hätte ich dir sicherlich zur Seite gestanden, anstatt dich zu nerven. Kannst du das verstehen?»

«Na sicher – bis auf deine Eifersucht auf Lisa. Die war wirklich leicht übertrieben. Findest du nicht auch?»

Hannah bis sich auf die Unterlippe. «Okay, gut … Vertrauen gehörte in den letzten Tagen wohl nicht zu meinen Kernkompetenzen. Würde sagen, es steht unentschieden zwischen uns, was idiotisches Verhalten angeht. Ein Grund mehr, das alles zu vergessen und uns auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Richtig?» Sie drückte seine Hand fest.

«Schätze, du hast recht. Haken wir es ab, genauso wie wir Armin Häußler als Täter abhaken können.»

Hannah sah ihn an. «Du glaubst, er ist zu so was nicht fähig?»

Er zuckte mit den Schultern. «Ich weiß nicht, was er getan hätte, wenn er seinen Plan hätte durchführen können. Aber in der Vergangenheit war er einfach nur ein perverser Spanner, der jungen Frauen nachgestellt hat. Und glaube mir, ich habe alle seine Nachrichten auf Facebook durchgelesen, und das waren Hunderte. Er versuchte wirklich, mit jeder anzubandeln, die das über ihre Profileinstellungen nicht unterbunden hat, es ist echt unglaublich. Bei denen, die Köln als Wohnort angegeben haben, war er natürlich besonders fleißig. So gesehen ist der Zufall gar nicht mehr so groß, dass alle drei Mädchen auf seiner Freundesliste stehen.»

Abel nahm einen großen Schluck von seinem kühlen Bier und spürte, wie gut ihm das tat. Er räusperte sich. «Dieses Mädchen in der Schultoilette und du, ihr wart die Ersten, bei denen er handgreiflich wurde. So gesehen zeigte die Gefahrenkurve bei ihm tatsächlich nach oben. Er verliert langsam die Kontrolle über seine Triebe. Aber davor gab es nichts Vergleichbares. Ich vermute bei ihm gewisse sexuelle Unzulänglichkeiten. Deshalb traut er sich nur an unerfahrene Frauen ran. Und bei dir war es dann wohl einfach der günstige Moment.»

Hannah schaute zur Decke und schien sich ein Bild ins Gedächtnis zu rufen. «Unzulänglichkeiten … Ja, das könnte hinkommen.» Sie sah ihn an. «Wir stehen also wieder ganz am Anfang mit unseren Ermittlungen? Ist es das, was du mir sagen willst?»

Er lehnte sich zurück. Zunächst war ihm derselbe Gedanke durch den Kopf gegangen, doch dann wurde ihm klar, dass sie alles andere als mit leeren Händen dastanden.

«Die Sache mit Facebook können wir begraben, aber wir haben Lehmann. Bei ihm hat doch alles wunderbar gepasst, bis auf die Tatsache, dass er die Leute vom MEK noch nicht zu Julia Peters geführt hat. Für heute bin ich wirklich bedient, aber morgen ist ein neuer Tag. Da lassen wir uns etwas mit ihm einfallen.» Er sah sie entschlossen an. «Und ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich das Mädchen finden werde!»

«So mag ich das», sagte Hannah. «Das ist mein Martin. Durch nichts kleinzukriegen.» Sie tätschelte liebevoll seine Hand. «Komm, lass uns nach Hause gehen. Ich hab dich schon viel zu lange nicht mehr gespürt.»

Er hob die Augenbrauen. «Und meine Lasagne?»

«Die lassen wir uns einpacken. Schätze mal, dass dieser noble Laden das hinbekommt.»

Er sah Hannah an und begriff zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder, was für eine unglaubliche Frau er sich da geangelt hatte. Die ganzen Streitereien der letzten Zeit … Er konnte sich weiß Gott etwas Schöneres mit ihr vorstellen. Er erhob sich schnell. «Wenn ich es recht überlege, ist es mir egal, ob die das hinbekommen oder nicht. Auf geht’s, die Hormone rufen.»

Zusammen eilten sie aus dem Restaurant, im festen Vorsatz, sich auf dem Weg ins Hotel durch keinerlei Ereignisse irgendwelcher Art aufhalten zu lassen.

Aber was sollte heute schon noch von Belang geschehen?

*

Als Julia Peters aufwachte, wusste sie, dass sie den Terror nicht mehr lange durchhalten konnte. Da es kein Hell und Dunkel in ihrer Kammer gab, hatte sie keine Ahnung, wie viele Tage sie schon in der Gewalt dieses Verrückten war. Aber sie spürte, dass sie ihre Grenzen erreicht hatte. Es fehlte nur noch wenig, und ihre Psyche würde dem Ganzen ein Ende bereiten.

Seit ihr Entführer sie in allerletzter Sekunde von dem Galgen heruntergeholt hatte, war sie fast ununterbrochen in ihrer kleinen Kammer eingesperrt gewesen. Zwei Mal noch hatte er sie aus diesem finsteren Loch gezerrt und ausgiebig Fotos von ihr gemacht. Dabei hatte sie immer das Brautkleid, den Schleier und die Augenbinde tragen müssen, und jedes Mal hängte er sie in der Schlinge auf, bis sie ohnmächtig wurde.

Darüber hinaus musste sie drei Mal ihre Füße durch das Loch stecken, damit er sie mit der scharf riechenden Flüssigkeit behandeln konnte. Einmal konnte sie den Blick auf eine braune Laborflasche mit dem Aufdruck Glutar-Aldehyd erhaschen, wusste mit diesem Begriff aber nichts anzufangen. Aber es klang definitiv gefährlich.

Da ihre Haut unter den schwarzen Gummistrümpfen, die sie ständig tragen sollte, wie verrückt juckte, zog sie diese sofort nach jeder Behandlung aus und erst wieder an, wenn er ihre Füße wieder einschmieren wollte. Bis jetzt hatte er das offenbar noch nicht bemerkt, aber irgendwann würde der Schwindel bestimmt auffliegen. Irritiert stellte sie dabei fest, dass die Haut unter den Strümpfen einen ledernen Glanz angenommen hatte.

Das Schlimmste stand ihr aber offenbar erst noch bevor. Beim letzten Fototermin hatte er sich ihr nämlich nackt gezeigt, und sie spürte, dass dies ein Test war, ein Probelauf für etwas viel Grausameres, woran sie nicht zu denken wagte. Und ihre Zeit lief ab …

Die Klappe in der Tür wurde so unvermittelt aufgerissen, dass sie zusammenzuckte. Ängstlich zog sie sich zu der einen Seite ihrer Kammer zurück, wobei sie vorsichtig den Boden abtastete, um nicht versehentlich auf die Schlange zu treten. Diese hatte immer wieder ihre Nähe gesucht, ihr aber zum Glück nichts getan.

Etwas wurde durch die Klappe geschoben. Stille. Warten. Da sie inzwischen wusste, wie ungehalten er werden konnte, wenn sie seine Befehle nicht befolgte, kroch sie zur Luke und inspizierte im schwachen Licht von draußen, was er ihr dieses Mal gebracht hatte.

Das Kleid. Natürlich das Kleid. Und der Brautschleier und die Augenbinde.

Aber da waren noch drei weitere Dinge. Zum einen ein Blatt Papier, zum anderen ein Paar roter Lackschuhe und Handschellen. Zitternd nahm sie den Zettel in die Hand und las.

Zieh alles an. Wenn du es tust, ist heute unser Tag. Wenn du es nicht tust, bist du tot. Kappiert?

Kappiert mit zwei p. In einer anderen Situation hätte sie über diesen Rechtschreibfehler vielleicht gelacht, aber nicht jetzt. Heute also wollte er Ernst machen. Wenn er sich ihr letztes Mal schon nackt gezeigt hatte, was würde er dann heute mit ihr tun? Sie presste die Lippen zusammen und begann zu weinen.

Ein heftiger Schlag gegen die Tür erinnerte sie daran, dass der Unbekannte eine Antwort von ihr verlangte. Sie klopfte zur Bestätigung schwach gegen das Holz, und im nächsten Moment wurde die Klappe mit einem lauten Knall geschlossen. Ganz leise hörte sie sich entfernende Schritte und ein Rasseln, vermutlich von Schlüsseln in einem Türschloss.

Julia legte die Hände vor ihr Gesicht. Bald würde er zurückkommen, und wenn sie dann nicht so wie von ihm gewünscht vorbereitet war, würde er sie seine Wut spüren lassen. Was sollte sie nur tun? So durfte es einfach nicht zu Ende gehen …

Angestrengt überlegte sie, was sie unternehmen konnte. Ihn zu überrumpeln, brauchte sie vermutlich gar nicht erst zu versuchen, dazu war er ihr körperlich viel zu überlegen. Also musste sie sich befreien, bevor er zurückkam. Aber womit?

Sie versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was sie in der Dunkelheit der Kammer bereits alles ertastet hatte.

Der Garderobenschrank! Da muss doch etwas Brauchbares drin sein … Sie tastete vorsichtig die Wand ab, bis sie mit einer Hand gegen die Kante des Schrankes stieß. Sie öffnete ihn und prüfte erneut seinen Inhalt.

Unten standen einige Paar Schuhe, in der Mitte auf einem schmalen Brett Bürsten und weiter oben Kleiderbügel. Sie wollte den Schrank schon wieder enttäuscht schließen, als ihr plötzlich etwas in den Sinn kam.

Das ist es!

Julia war wie elektrisiert. Aufgeregt nahm sie alle Kleiderbügel aus der Garderobe und breitete sie in der Dunkelheit vor sich aus. Sorgfältig tastete sie die Metallhaken der Bügel ab und nahm den aus dem dünnsten Material in die Hand. Ja, das konnte tatsächlich funktionieren! Jetzt brauchte sie nur noch …

Sie befühlte die Tür des Garderobenschranks und fand zu ihrer Erleichterung ein Schlüsselloch. Sie nahm den Kleiderbügel und steckte das Ende des Metallhakens hinein. Dann zog sie den Bügel so fest nach hinten, dass der Haken vorne geradegebogen wurde. Mit zitternden Händen tastete sie ihn erneut ab.

Noch ein kleines Stück, dann könnte es passen!

Sie wiederholte den ganzen Vorgang und prüfte erneut die Form des Hakens. Ja, nun standen die vorderen zwei Zentimeter im rechten Winkel zum restlichen Haken. Sie hatte einen Dietrich!

Hastig krabbelte sie zur Tür und kniete sich davor hin. Während sie mit einer Hand den Kleiderbügel hielt, tastete sie mit der anderen die Position des Schlüssellochs ab. So schnell sie konnte, steckte sie das gebogene Ende des Hakens hinein und versuchte durch sanftes Antesten des Widerstands herauszufinden, wie tief sie ihn hineinschieben musste. Als sie schließlich dachte, die richtige Position gefunden zu haben, drehte sie den Kleiderbügel mit einem kräftigen Ruck nach links.

Mit einem lauten Knacken sprang die Tür auf.

*

Das kleine Ding ist gut verwahrt und gesichert. Eingeschüchtert, wie es ist, wird es alles tun, was du von ihm verlangt hast.

So wie die anderen. Es wird die Sachen anziehen und darauf warten, bis du zurückkehrst. Dann ein kleiner Gnadenfick und danach –

Während des Heimwegs zurück zur Wohnung denkst du über die Entsorgung nach. Das lustvolle Kribbeln in deinem Bauch wird immer stärker. Zu Hause hast du das Messer. Bisher hast du allen Bräuten die Füße damit abgeschnitten, also muss es auch dieses Mal so laufen.

Du willst gerade über die Straße zur Wohnung gehen, als dir ein Auto auffällt. Du hättest es nicht gesehen, wenn du vom Haus zur Straße gegangen wärst, aber aus deiner jetzigen Richtung siehst du es.

Und du weißt sofort, dass etwas damit nicht stimmt.

Es parkt im Halteverbot, und das Fenster auf der Fahrerseite ist halb heruntergelassen.

Aber das ist nicht das Auffälligste an dem Wagen. Was ihn von allen anderen Fahrzeugen in der Nähe abhebt und dich den Atem anhalten lässt, ist etwas anderes.

In dem Auto sitzen zwei Männer, von denen einer mit einem Fernglas den Eingang beobachtet und der andere ein Handy am Ohr hat.

Dir ist sofort klar, was das bedeutet.

Du bist aufgeflogen. Die Bullen sind dir auf den Fersen!

*

Julias Herz setzte für einen Moment aus vor Erleichterung.

Ich bin frei! Mein Gott, ich habe es geschafft!

Ihre Hände zitterten, als sie den Kleiderbügel vorsichtig auf den Holzboden legte. Jetzt bloß kein falsches Geräusch mehr machen … Sie richtete sich auf und öffnete dann langsam die Tür.

Der fensterlose Raum, in den sie blickte, war etwa so groß wie ihre Kammer und fast genauso dunkel. Trotzdem konnte sie erkennen, dass er verlassen war. Auf der linken Seite erkannte sie die schmalen Umrisse einer Tür, vermutlich die, die in den Raum führte, in dem sie aufgehängt worden war. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, und sie wandte sich schnell nach rechts.

Hohe Schränke und Regale an den Wänden mit einer Menge merkwürdig geformter Glasbehälter und Gerätschaften. Daneben eine Werkbank mit einem Schraubstock und diversen, an der Rückwand befestigten Werkzeugen. Die Ecke dahinter konnte Julia nicht einsehen. Ob sich dort die Tür nach draußen befand?

Vorsichtig drang sie dorthin vor, beide Hände wie eine Schlafwandlerin nach vorn gestreckt, um in der Dunkelheit nicht gegen etwas zu stoßen, das sie übersehen hatte. Sie ging hinüber zu den Regalen und tastete sich daran entlang weiter.

Ihre Finger stießen gegen einen länglichen Glasbehälter. Er hatte die Form eines kleinen, schmalen Aquariums mit Deckel. Wie im Traum griff sie danach und ging mit dem Gesicht nah heran, um die Beschriftung lesen zu können. «Carina Lenz» stand darauf und ein Datum, nur wenige Monate zuvor. Dann erkannte sie auch, was im Inneren in einer Flüssigkeit schwamm.

Sie presste die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Ein Fuß! Ein Mädchenfuß, wie meiner!

Im nächsten Moment begriff sie, was die Behandlung ihrer eigenen Füße und die Gummistrümpfe bedeuteten.

Sie sollte vorbereitet werden. Ihr Entführer wollte ihr ebenfalls die Füße abschneiden.

Gütiger Gott, an welchen Irren bin ich hier nur geraten?

Sie lief hektisch zu der hinteren Ecke des Raumes – und prallte im nächsten Augenblick gegen eine Tür. Die Klinke, wo ist die Klinke!? Da war sie. Aber die Tür war verschlossen. Verdammt! Tränen der Verzweiflung schossen ihr in die Augen, während sie sich gegen das Holz stemmte und an der Klinke rüttelte. Nicht das. Nicht jetzt, wo ich es fast geschafft hab …

Plötzlich ein knirschendes Geräusch, und sie kippte nach vorn. Ins grelle Tageslicht, auf weichen, Gras bewachsenen Boden.

Ihre Augen brannten vor Helligkeit.

Sie schaute sich um, weiße Teilchen tanzten in ihrem Blick. Oh Gott, ich bin draußen. Ich bin frei! Da war eine Wiese, Blumen. Geradezu unberührte Natur. So schön … ging es ihr durch den Kopf.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie splitternackt war. Sie hatte das Brautkleid nicht angezogen, weil sie sich schnell befreien wollte. Nun war sie hier draußen und musste ohne Kleidung Hilfe suchen.

Sie überlegte einen Moment fieberhaft. Erst lauschte sie, und als sie nichts hörte, rannte sie in die Hütte zurück, aus der sie gerade gekommen war. Julia eilte in die Kammer, die so lange ihr Gefängnis dargestellt hatte, und holte das Kleid. Noch während sie es über den Kopf zog, lief sie bereits wieder durch den Vorraum mit der Werkbank. Von dort hastete sie durch die Tür hinaus in die wunderbare Freiheit des Gartens – und prallte gegen den muskulösen Oberkörper eines groß gewachsenen Mannes.

«Du Miststück wolltest also abhauen», sagte er mit tiefer Stimme. Dann traf sie ein Schlag, so heftig, dass sie zur Seite kippte. Sie schrie, doch er stellte ihr einfach einen Fuß in den Nacken und presste sie zu Boden, bis ihr die Luft wegblieb. Dann packte er sie an den Haaren und schleifte sie zurück in die Hütte. Sie hörte, wie er eine Schublade aufzog und etwas darin suchte. Dann riss er ihren Kopf grob nach hinten.

«Eigentlich sollten wir heute heiraten, meine Kleine», sagte er, «aber leider ist etwas dazwischengekommen, und wir müssen umdisponieren.» Eine Sekunde später hielt er ihr ein feuchtes Tuch vors Gesicht, und sie spürte, wie ihr schwindelig wurde.

«Ich muss jetzt noch etwas erledigen, du wirst daher erst einmal eine Weile schlafen», waren die letzten Worte, die sie von ihm hörte. «Wenn alles gutgeht, sehen wir uns bald wieder. Dann holen wir alles nach, was wir heute versäumt haben. Alles!»

Noch während sie versuchte, darüber nachzudenken, was er damit meinen könnte, driftete ihr Geist endgültig ins Land der Träume.

*
Vergangenheit

Jetzt war er also allein. Allein mit seinem Vater.

Seine Zimmertür schloss er immer ab, nachdem er eines Nachts davon aufgewacht war, dass etwas Nasses, Warmes in sein Gesicht plätscherte. Der Alte stand am Bettrand, wie üblich stockbesoffen. Er hatte seinen Schwanz in der Hand und pisste ihm leise lachend ins Gesicht. Horst hatte nach ihm geschlagen, aber der Alte hatte nur gelacht. Und war nach draußen gewankt.

Ein paar Tage später, als sein Vater besoffen auf dem Sofa pennte, hatte Horst sich an ihn rangeschlichen.

Ganz leise. Ganz langsam.

Der Alte hatte die Baumwolldecke, unter der er immer schlief, fast zärtlich über seinen Oberkörper gelegt, über seine nackten Arme.

Horst ging in die Küche und holte eine Plastiktüte und Klebeband. Das Schwein schlief ganz fest. Und merkte nicht, wie Horst ihm die Tüte über den Kopf zog.

Ganz sachte, ganz langsam. Und sie dann sorgsam verklebte.

Sein Atem kondensierte am Plastik. Und plötzlich schreckte er panisch auf. Aber da hatte Horst sich schon auf seinen Oberkörper gesetzt. Das Schwein strampelte und japste, aber die Arme waren in der Decke verknäult. Sein Sohn, dieser Klotz, hielt ihn schön unten. Wie lange dauerte es, bis ein Mensch erstickte? Zwei Minuten? Vielleicht fünf? Jedenfalls schrie er wie am Spieß. Horst blieb die ganze Zeit ganz ruhig. Und spürte, wie ein Lächeln seinen Mund spannte.

Als das Zappeln nachließ, stand er schließlich auf. Und riss ihm die Tüte vom Kopf. Während sein Alter keuchte und sich krümmte, packte er seinen Schwanz aus und ließ es warm und leise auf seinen Kopf plätschern.

«Wage es nicht noch einmal», sagte er mit einer Stimme, die ihm selbst nicht bekannt vorkam. Dann ging er zurück in sein Zimmer.

Von da an waren die Fronten geklärt. Aber das Bemerkenswerteste war, dass sein Vater ihn seitdem nicht bloß mit Hass in den Augen betrachtete. In seinem Blick lag auch etwas wie Anerkennung.

Seine Zimmertür schloss Horst trotzdem weiterhin ab.

*

Fast jede Nacht träumte er von seiner Schwester. Und mit jedem Tag wuchs der Hass auf sie. Diese Schlampe. Er konnte sich auf gar nichts anderes mehr konzentrieren. In seinem Kopf arbeitete es ständig. Ein regelrechtes Kino war das. Mit Bildern von dem, was er ihr antun würde. Wie er sie bestrafen würde für das, was sie ihm angetan hatte. Aber wie sollte er sie bloß finden?

Manchmal meint es der Zufall gut mit uns. Und Horst Lehmann war ein regelrechtes Glückskind. Glückskind – so hatte ihn seine Mutter immer genannt. Horst, du bist mein kleines Glückskind. Irgend so was in der Art.

Die Sache nahm ihren Anfang bei einem der nächtlichen Streifzüge, die er hin und wieder unternahm. Er liebte diese Ausflüge, weil er sich dadurch älter fühlte, als er tatsächlich war. Aufgrund seiner Größe wurde er nämlich meistens problemlos in Lokale und Bars gelassen. Als er eines Nachts in einer Kneipe ein kleines Bier bestellte, traute er seinen Augen nicht.

Der Mann, der ihm sein Getränk über den Tresen schob, war kein anderer als der Typ, der Johanna damals abgeholt hatte!

Horst stand da wie versteinert und hatte Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren und sofort alles kurz und klein zu schlagen.

Sein Gegenüber brauchte einen Augenblick länger, doch dann fiel auch bei ihm der Groschen. Er starrte Horst ein paar Sekunden an und schien zu überlegen, wie er reagieren sollte. Dann verzog er spöttisch den Mund und stemmte beide Hände auf die Theke.

«Ah, der kleine Bruder», stellte er fest. «Wie geht’s denn so? Habe gehört, dein Alter säuft immer noch wie ein Loch.»

Horst presste die Zähne zusammen. «Ja, das tut er. Aber ist kein Problem, ist eh zu nichts nütze.» Er hob den Kopf und sah dem Mann ins Gesicht. «Genauso wie meine Schwester.»

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. «Bist du noch sauer wegen deines kleinen Haustiers? Na ja, ich fand es auch nicht gut, als sie die Schlange in die Mikrowelle gesteckt hat. Es hat richtig geknallt, als ihr erst die Augen und dann die Gedärme explodiert sind. Mein Gott, hättest Johanna hören sollen, wie die gelacht hat …»

Horst rutschte von dem Barhocker herunter und richtete sich auf. Der Kerl hinter der Theke war fast genauso groß wie er, aber deutlich schmächtiger. Obwohl Horst längst nicht volljährig war, hatte er keine Zweifel, mit Johannas Freund fertigzuwerden. Wütend stellte er sich vor, wie er ihn nach der Arbeit in der Bar abfing und ihm auf einem einsamen Hinterhof sämtliche Gräten brach.

«Sollen wir mal testen, ob deine Eier auch knallen, wenn sie platzen?», fragte er kühl.

Er sah, wie der Kerl hinter dem Tresen bleich wurde. Offenbar hatte ihm Johanna genug von ihrem Bruder erzählt, um ihm Angst zu machen.

«Entspann dich, du kannst deine Eier behalten», sagte Horst mit einem kalten Grinsen. «Sag mir nur, wo meine Schwester steckt, dann siehst du mich nie wieder. Also?»

Der Typ wischte mit einem Tuch die Theke ab. Ein alter Trick, um Zeit zu gewinnen und nicht beeindruckt zu wirken.

«Na, warum auch nicht», sagte er schließlich. «Wir sind ohnehin nicht mehr zusammen. Die Schlampe hat sich eine eigene Bude genommen und arbeitet jetzt in einer Boutique. Wobei arbeiten vermutlich übertrieben ist für das, was sie tut. In Wirklichkeit lässt sie sich von so einem alten Sack aushalten, der ihr die ganzen Klamotten bezahlt, die sie täglich da rausschleppt. Allein für ihre Schuhe brauchte sie vermutlich bald ein eigenes Zimmer!»

Schuhe. Horst war gern bereit, sich diese anzusehen.

«Wo sie wohnt, weiß ich nicht genau, aber die Boutique ist in der Schildergasse. ‹Go in› heißt der Laden, was sich aber vermutlich mehr auf ihren Unterleib bezieht, wenn du verstehst, was ich meine.» In gespielter Eile sah der Kerl sich um. «So, nun muss ich aber, mein Chef schaut schon komisch. Richte der Schlampe einen Gruß von mir aus.»

Horst trank langsam sein Bier aus und spürte mit jedem Schluck, wie die Erregung in seinem Körper wuchs.

Endlich war es so weit. Er würde von Johanna alles bekommen, was er sich je gewünscht hatte.

Und sie im Gegenzug das, was sie verdiente.

*

Als Horst seiner Schwester am Tag nach dem Kneipenbesuch auflauerte und sie von der anderen Straßenseite aus beim Betreten der Boutique beobachtete, lief ihm ein Schauer über den ganzen Körper.

Ihr Anblick war für ihn geradezu – faszinierend.

Wie früher schon hatte sie einen auffallenden, knallroten Lippenstift gewählt. Es war Sommer, und ihre Kleidung war entsprechend knapp. Die luftige, weiße Bluse betonte ihre üppige Oberweite mehr, als dass sie sie verhüllte, und der kurze, rot-schwarz karierte Rock zeigte genügend Bein, um jede Männerphantasie auf Hochtouren zu bringen.

Und natürlich die roten Schuhe. Diese unglaublich erregenden, hochhackigen Schuhe.

Horst drehte sich schnell weg, als sie zu ihm herübersah. Er hatte sich ziemlich verändert, seit sie ausgezogen war. Sein dunkles, lockiges Haar trug er nun schulterlang, und durch seine breiten Schultern fiel die Größe seines Kopfes nicht mehr sonderlich auf. Aber man wusste ja nie. Also verdrückte er sich hinter einer Hausecke und blieb dort stocksteif stehen, bis sie am frühen Nachmittag die Boutique wieder verließ.

Sie merkte nicht, dass sie verfolgt wurde, und erkannte ihn auch nicht, als er in der U-Bahn nur zwei Reihen hinter ihr saß.

Entsprechend leichtsinnig ging sie auf dem kürzesten Weg zu dem alten Mietshaus, wo ein Klingelschild verriet, in welcher Etage sie wohnte.

Er blieb vor dem Haus stehen und schaute nach oben. Hab ich dich!, dachte er beschwingt. Jetzt konnte es losgehen. Zu seiner Überraschung war er nicht nervös, sondern geradezu gespenstisch ruhig.

Am nächsten Morgen wartete er so lange vor dem Haus, bis sie es verließ und zur Arbeit stöckelte. Er drückte einfach alle Klingeln, bis jemand an die Sprechanlage ging. «Paketdienst!», rief er, und sofort wurde der Summer betätigt. Er betrat den Flur mit den Briefkästen, blieb dort aber eine Weile stehen, bis auch der letzte neugierige Nachbar seine Tür wieder geschlossen hatte.

Dann ging er ins Hochparterre und öffnete Johannas Wohnung mit einem biegsamen Edelstahlblech, das die Türfalle zurückschob. Hättest mal besser abgeschlossen! Mit einem schnellen Blick ins Treppenhaus betrat er das Reich seiner Schwester.

Verbotenerweise hier zu sein, erregte ihn. Und er hatte ihr eine kleine Überraschung mitgebracht.

Er schaute sich gründlich in jedem Zimmer um, inspizierte sämtliche Schubladen und Schränke. Seine Schwester besaß tatsächlich eine Unmenge an Schuhen. Er bekam ganz schwitzige Hände, als er sie berührte. Wehmütig erkannte er aber auch einige Dinge, die Johanna aus der elterlichen Wohnung mitgenommen hatte und zum Teil schmerzhafte Erinnerungen in ihm hervorriefen.

Im Schlafzimmer wurde es dann noch interessanter. Hier treibst du es also … In einer billigen Kommode fand er ihre Unterwäsche. Einer Eingebung folgend holte er jeden Slip heraus und leckte ihn an der Innenseite ab. Der Gedanke, dass die nächsten Tage sein Speichel ihre Fotze berühren würde, erzeugte in seinem Schritt eine überwältigende Hitze.

Mit einem kleinen Schraubenzieher manipulierte er die Verschlüsse des Schlafzimmerfensters, sodass er es über die im Hinterhof des Hauses stehenden Mülltonnen jederzeit aufdrücken konnte.

Bevor er die Wohnung verließ, sah er sich ein letztes Mal darin um.

Ja, dachte er. Ein guter Platz, um seiner Jeanny zu zeigen, was für einen Fehler sie begangen hatte.

*
Gegenwart 21.50 Uhr, Köln-Bilderstöckchen

«Ich glaube, das wird heute nichts mehr.» Dieter Neubert nahm das Fernglas herunter und griff nach der Thermoskanne im Fußraum vor sich. Ohne den Hauseingang aus den Augen zu lassen, schraubte er den Deckel herunter und goss diesen mit Kaffee halb voll. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, hob er das Fernglas wieder hoch und seufzte.

«Denke, du hast recht», sagte Joachim Müller, der neben Neubert auf dem Fahrersitz saß. «Bis jetzt hat er seinen Arsch noch nicht weiter als bis zum Supermarkt bewegt. Wenn das so weitergeht, verschimmeln wir hier noch, bevor etwas passiert.»

Neubert schlürfte am Kaffee. «Aber nicht mehr heute. In zehn Minuten kommt die Ablösung. Soll die sich doch …»

Er verstummte, denn plötzlich sah er einen Schatten am Haus. Er kam die Kellertreppe hoch, die sich an der Seite der Wohnanlage befand, und verschwand sofort um die Ecke außer Sichtweite der beiden MEK-Beamten.

«Scheiße, da war was.» Neubert stellte hastig den Kaffee ab.

«Wo?» Müller starrte zum spärlich beleuchteten Eingang des Hauses. «Ich sehe nichts.»

«Neben dem Haus. Da ist gerade jemand aus dem Keller gekommen.»

«Lehmann?»

Neubert zuckte mit den Schultern. «Kann sein. Er war jedenfalls ziemlich groß.» Er überlegte fieberhaft, was nun zu tun war. «Gib mir das Handy. Los!»

Wenige Sekunden später hatte er Bernd Drilling, den Leiter der Besonderen Aufbauorganisation in der Leitung. «Ich konnte ihn nicht sicher erkennen», berichtete er schnell, «aber es könnte passen. Sollen wir weiter den Eingang im Auge behalten oder dem Mann folgen?»

«Die Ablösung ist fast schon bei euch», sagte Drilling. «Das Haus ist also höchstens fünf Minuten unbewacht. Ich schicke außerdem Verstärkung, schaut ihr so lange zu, dass ihr hinterherkommt. Hoffentlich findet ihr ihn überhaupt noch! Verdammt!»

Noch während Dieter Neubert auflegte, startete Joachim Müller den Wagen. Dann rasten sie um die Wohnanlage herum und suchten die Gegend mit ihren Blicken nach der verdächtigen Person ab.

Sie hofften inständig, dass sie den Davoneilenden im Halbdunkel überhaupt noch finden würden.

*
Einige Zeit später

Es dauerte exakt drei Sekunden, bis Greiner das Klingeln seines Handys registrierte, aber dann war er hellwach.

«Ja?»

«Bernd Drilling hier, guten Morgen, Konrad.»

«Meine Güte! Wusste gar nicht, dass du die Nachtschicht hast.»

«Hab ich auch nicht. Aber meine Leute haben mich geweckt. Es gibt Neuigkeiten. Und was für welche.»

Greiner richtete sich auf. «Wegen der Observation?»

«Genau. Das glaubst du im Leben nicht, was ich dir jetzt erzähle.»

Und Bernd Drilling berichtete über die Ereignisse, seit Neubert und Müller dem unbekannten Schemen an Lehmanns Wohnort gefolgt waren.

Greiner schnaufte heftig. «Mein Gott, mir wird gleich übel. Und eine Verwechslung ist unmöglich?»

«Keine Chance», sagte Drilling. «Meine Leute sind ihm bis nach Hause gefolgt. Ich hätte ihn am liebsten gleich aus dem Verkehr gezogen, aber die Entscheidung liegt natürlich bei dir. Also, was sollen wir tun?»

Greiner presste die Lippen zusammen. Die ganze Zeit hatten sie auf so ein Ereignis gehofft, und nun, als es endlich da war, war er dermaßen schockiert, dass er sich erst einmal sammeln musste.

Dennoch. Nun gab es keine andere Möglichkeit mehr, und irgendwie war er doch froh, dass endlich Bewegung in die Sache kam.

«Zugriff», sagte er dann. «Zugriff, so schnell wie möglich.»

*

Es war immer noch stockdunkel, als sich die vier zivil aussehenden Einsatzfahrzeuge ihrem Ziel von Köln-Kalk kommend näherten. Obwohl ein Teil der Mannschaft erst vor einer knappen Stunde aus dem Schlaf gerissen worden war, waren alle hochkonzentriert, als letzte Absprachen über die Vorgehensweise vor Ort getroffen wurden.

Die Verteilung der Aufgaben. Die einzusetzende Ausrüstung. Und die genaue Kommandostruktur.

Ralf Tust, der großgewachsene Kommandoführer des SEK mit dem markanten Schnurrbart, war ein sehr erfahrener Beamter. Das hieß aber nicht, dass er sich von den Routineabläufen einlullen ließ. Wenn sie in das Haus eindrangen, durfte nichts dem Zufall überlassen werden und jeder Handgriff sitzen, egal was sie dort erwartete.

An der Longericher Straße fuhren die Fahrzeuge langsamer werdend in das Wohnviertel ein. Eine Häuserecke vor dem Zugriffspunkt stellten sie ihre Wagen ab. Tust winkte den beiden Leuten vom KK11 zu, die in einem Fahrzeug auf der anderen Straßenseite saßen. Sie waren bereits vorangefahren und würden den Fall nach dem SEK-Einsatz übernehmen, denn das Kriminalkommissariat war ja ihr Auftraggeber für diese Aktion.

Alle Männer des Sondereinsatzkommandos zogen ihre Sturmhauben und Helme über, zwei der Männer kontrollierten zusätzlich zu ihrer Pistole vom Fabrikat SIG Sauer auch noch je eine Benelli Shotgun. Die Schutzwesten hatten sie bereits vor der Abfahrt angelegt.

Tust wartete, bis der Letzte seiner Leute ein Okay signalisiert hatte. Dann gab er das Zeichen für den Einsatz.

Die neun Männer stiegen aus ihren Fahrzeugen und eilten über die dunkle und menschenleere Straße auf das Zielobjekt zu. Die Eingangstür des Mehrfamilienhauses war nicht abgeschlossen und ließ sich problemlos mit einem kleinen, biegsamen Blech öffnen. Sie drangen in das Haus ein und hatten wenige Sekunden später die betreffende Wohnungstür erreicht.

Die Männer des SEK arbeiteten präzise wie ein Uhrwerk. Während einer von ihnen die Ramme bereithielt, standen zwei weitere direkt neben der Tür, um diese mit der Hand nach dem Aufbrechen am Zurückfedern zu hindern. Einer der Beamten lauschte kurz an der Tür, dann nickte er Ralf Tust zu.

Jemand war in der Wohnung.

Tust hob den Daumen. Nun durfte keine Moment mehr gezögert werden, denn jede zusätzliche Sekunde konnte von der Zielperson dazu genutzt werden, sich zu bewaffnen oder zu fliehen.

Die vermummten Beamten hoben ihre Pistolen, und er gab dem Mann mit der Ramme ein Zeichen. Dieser nahm Schwung und schlug dann mit voller Kraft gegen den metallenen Türknauf.

Der Knall hallte durch das leere Treppenhaus wie Gewitterdonner. Während vor ihm die Türe aufflog, machte der Mann mit der Ramme einen Schritt zur Seite, um das Gerät abzulegen und nicht im Weg zu stehen. Im selben Moment drangen die anderen bereits an ihm vorbei in die Wohnung ein und brüllten laut: «Polizei!» In Sekundenschnelle, aber trotzdem gründlich, kontrollierten sie alle Räume, bis sie als Letztes das Schlafzimmer stürmten.

Keine zwei Meter neben der Tür stand ein in Pyjamahose und weißes Unterhemd gekleideter, riesiger Mann, der ihnen entgegenstarrte. Er hatte sich nach vorn gebeugt und mit beiden Händen in die oberste Schublade einer Kommode gegriffen.

Tust, der an vorderster Stelle in den Raum eingedrungen war, hatte keine Ahnung, was sich in der Schublade befand und wonach der Mann gerade griff.

Aber der Kommandoführer des SEK hatte den Eindruck, dass der Mann dort etwas hervorholen wollte. Und da Tust weder sich, geschweige denn seine Leute in Gefahr bringen durfte, reagierte er so, wie er es für solche Fälle gelernt hatte.

«Hände hoch, sofort!», brüllte er den Riesen an und richtete seine Pistole auf ihn.

Normalerweise vermochte ein lautstark und forsch auftretendes SEK jeden einzuschüchtern, doch der Mann machte keinen Mucks. Auch die anderen ins Zimmer drängenden Beamten, die ihn sofort umstellten, schienen ihn nicht zu beeindrucken. Er ließ seine Hände da, wo sie waren, und sah die Eindringlinge weiter an.

«Hände hoch, habe ich gesagt! Los, los, los!», brüllte Tust.

Keine Reaktion.

Eine kleine Kopfbewegung genügte als Zeichen, und die zwei hinter dem Mann stehenden Beamten griffen an. Während der eine mit einem kräftigen Schlag die Arme des Mannes aus der Kommode nach oben schlug, trat ihm der andere die Beine weg, sodass er mit einem lauten Poltern auf den Boden knallte. Gleichzeitig wurde die Schublade dabei zugeschoben. Keine Sekunde später drehten sie den Koloss auf den Bauch und zogen seine Hände hinter den Rücken. Mit geübten Bewegungen legte ihm einer der SEK-Beamten Handschellen an.

«Was soll der Mist?», rief der Mann jetzt wütend. «Was macht ihr Ärsche in meiner Wohnung, verdammt?»

«Schön ruhig bleiben», sagte Tust und kniete sich zu ihm herunter. «Dann haben wir es gleich hinter uns.» Er tastete den Mann ab, fand jedoch nichts Verdächtiges bei ihm. «Er ist sauber», informierte er seine Kollegen und erhob sich wieder. Die beiden Leute, die den Mann überwältigt hatten, stellten ihn jetzt wieder auf die Beine.

«Die anderen Zimmer sind auch alle sicher», erklärte der Beamte, der gerade den Raum betrat. «Es ist niemand sonst anwesend, und Waffen haben wir auch nicht gefunden.»

«Das hab ich doch gesagt!», rief der gefesselte Mann. «Bindet mich los und verschwindet, ihr Wichser!»

«Immer schön höflich bleiben», sagte Tust kühl. «Und wir verschwinden von hier bestimmt nicht ohne dich. Klaro?» Im nächsten Moment fiel sein Blick auf die Kommode, vor der der Mann gestanden hatte, als sie hereinkamen.

War nicht gerade noch die oberste Schublade offen gewesen? Und was hatte der Mann dort hervorholen wollen?

Tust stellte sich vor die Kommode. Er war es gewohnt, hundertprozentig zu arbeiten, alles andere war ein Spiel mit dem Leben. Dazu gehörte auch die gründliche Durchsuchung der Zielobjekte und vor allem die Eigensicherung. Die anderen Zimmer waren ohne Ergebnis gecheckt worden, aber da der Mann sich in diesem Raum aufgehalten hatte, als sie die Wohnung stürmten, gab es hier vielleicht mehr zu holen.

«Finger weg!», herrschte ihn der Kerl an und versuchte, sich loszureißen. Vier Beamte schafften es nur mit größter Mühe, den Fleischberg festzuhalten. «Das ist privat, da hast du nichts zu suchen!»

Tust schüttelte den Kopf. «Was hier privat ist, entscheide in diesem Moment nur ich.» Langsam zog er die Schublade auf – und hielt im nächsten Moment den Atem an.

«Okay», sagte er, als er nach endlosen Sekunden wieder die Luft ausstieß. «Schätze, es ist gut, dass wir dich aus dem Verkehr ziehen.»

Er sah auf und fixierte den mit Handschellen gefesselten Mann. Dieser ragte wie ein riesiger, drohender Berg vor ihm auf und sagte kein Wort. Er presste einfach nur die Lippen zusammen und starrte feindselig zurück.

Feindselig und sehr enttäuscht.

*