Neunter Tag

Als Abel aufwachte, hielt er die Augen noch einen Moment lang geschlossen. Er lauschte auf das Rauschen des Verkehrs hinter den Fenstern und das Brummen des Kühlschranks der Minibar. Er wollte unbedingt den Moment des Wiedereintauchens in die Realität noch ein wenig verzögern.

Hinter ihm lag eine der wundervollsten Nächte seit langem, in der er mit Hannah alles nachgeholt hatte, was ihnen in den vergangenen Wochen durch ihr bescheuertes Verhalten durch die Lappen gegangen war. Hannahs Kopf ruhte auf seinem Oberarm, ganz nah ihr ruhiger Atem. Auch ihr schien die Nacht gutgetan zu haben, und ihre Hand ruhte wie selbstverständlich auf seinem Unterleib.

Abel öffnete die Augen. Sein erster Blick fiel auf Karl, der mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke stand. Hannah hatte darauf bestanden, dass er ihn umdrehte, denn auch wenn es sich nur um eine Puppe handelte, so konnte sie seine Blicke beim besten Willen nicht ertragen, wenn sie sich liebten.

Abel konnte das verstehen. Niemand wusste besser als er, welche Macht Karls Blicke in sich trugen.

Vorsichtig zog er seinen Arm unter Hannahs Kopf hervor und stand auf. Mit langsamen, vom Teppichboden gedämpften Schritten schlich er ins Badezimmer. Missmutig schaute er in den Spiegel, erschrak über das zerknitterte Gesicht und duschte dann so heiß, wie es ihm möglich war, ohne sich zu verbrühen.

Ja, er hatte die Nacht mit Hannah wirklich genossen. Trotzdem war während ihres Liebesakts ein Rest Scham darüber zurückgeblieben, dass er es sich gutgehen ließ, während irgendwo da draußen in der Stadt Julia Peters um ihr Leben kämpfte.

Er musste sie finden. So schnell wie möglich und koste es, was es wolle.

Plötzlich hörte er durch die Badezimmertür dumpf das Klingeln seines Mobiltelefons.

Nicht jetzt!, dachte er und ließ das heiße Wasser weiter auf sich herunterprasseln. Erst noch einen Schub Wärme, sonst überlebe ich den Tag nicht.

Im nächsten Moment kam Hannah in das Bad und zog die Tür der Duschkabine auf. Ihr Blick war ernst.

«Judith Hofmann hat angerufen. Wir müssen ins Präsidium. Sofort!»

Er drehte das Wasser ab, weil er glaubte, sie schlecht verstanden zu haben.

«Wie bitte?»

«Sie haben ihn heute Nacht festgenommen! Er wird schon seit Stunden verhört!» Sie reichte ihm das Badetuch und zeigte ungeduldig auf ihre Armbanduhr.

«Wen festgenommen, verdammt?»

Hannah sagte es ihm.

Das Klatschen der Wassertropfen auf den Boden der Duschwanne war für eine Sekunde das einzige Geräusch in dem Raum außer dem Pochen seines Herzens.

Dann eilte er wie von Furien gehetzt aus dem Bad.

Nun gab es also kein Zurück mehr. Entweder der Täter gestand schnell, und Julia Peters konnte gerettet werden, oder sie würde irgendwo hilflos in ihrem Versteck zurückbleiben, bis sie zufällig gefunden wurde – oder vorher starb.

*
Zeitgleich im Waldnaturschutzgebiet Knechtsteden

Die Leute von der Technischen Einsatzeinheit waren so schnell vor Ort, wie das der morgendliche Straßenverkehr bei Blaulicht überhaupt zuließ. Die drei Transporter fuhren über die B57 in Richtung Dormagen und von dort über ein paar Nebenstraßen und Waldwege direkt zu der Stelle, die ihnen vom Mobilen Einsatzkommando genannt und markiert worden war. Bereits zehn Minuten später legten sie los.

Der Waldboden musste großflächig umgegraben und jede Kleinigkeit gesichtet und gegebenenfalls erfasst werden. Hajo Thiele, der Leiter der Technischen Einsatzeinheit, dachte anfangs noch, dass dies in zwei oder drei Stunden erledigt sein könnte. Schließlich waren seine Leute Profis und machten so was nicht zum ersten Mal.

Mit jedem weiteren Fundstück wurde ihm aber klar, dass dies kein normaler Einsatz war. Denn mit jedem Spatenstich tauchten neue Knochen auf, es waren Hunderte. Die meisten davon nicht größer als sein kleiner Finger, sodass sie durchaus alle von Hasen oder anderen Tieren stammen konnten. Trotzdem musste man sich jedes Stück genau ansehen.

Denn auch Neugeborene hatten kleine Knochen.

Thiele schob sich einen Kaugummi in den Mund und zeigte auf einen Hügel neben sich. «Wenn ihr damit fertig seid, geht das Gelände sicherheitshalber noch mit den Methansonden und den Hunden ab. Uns darf nichts entgehen – und wenn es den ganzen Tag dauert!»

*

Als Greiner in das Besprechungszimmer kam, verstummten sofort alle Gespräche. Horst Leingart beendete seine Diskussion mit Katharina Mehnert, und Jörg Hansen schob seine sauber gestapelten Unterlagen so weit von sich, dass er Platz zum Mitschreiben hatte. Hansen schrieb eigentlich immer mit, wie Abel festgestellt hatte. Ob er die Notizen jemals wieder brauchen würde, war unklar, aber er konnte zumindest nachsehen, was A zu B gesagt und wie C das kommentiert hatte.

Greiner setzte sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches. Im Gegensatz zu Hansen hatte er keine Unterlagen dabei. Alles, was er sagen wollte, befand sich offensichtlich in seinem Kopf.

«Gut, dann wollen wir mal», begann er und legte dabei seine Hände auf die Tischkante. «Wie wir seit gestern wissen, ist Armin Häußler nicht unser Mann. Die Staatsanwaltschaft wird sich zweifelsohne trotzdem um ihn kümmern, aber eben nicht wegen der Toten vom Ginsterpfad und auch nicht wegen Julia Peters.

Dieser Fehlschlag ist einerseits bedauerlich, verschafft uns aber auch Klarheit, denn alles deutet jetzt auf Lehmann hin. Allerdings hatten wir hier – trotz 24-Stunden-Observierung – keine Spur. Der Mann verhielt sich komplett unauffällig, und uns rennt langsam, aber sicher die Zeit weg. Das Mädchen ist schließlich schon drei Tage in seiner Gewalt. Wenn sie noch lebt, können wir nur hoffen, dass das Schwein sie zumindest mit ausreichend Wasser versorgt hat. Denn aufgesucht hat er sie definitiv nicht.»

Er sah in die Runde. «Heute Nacht hat Lehmann uns dann endlich einen Grund für einen Zugriff geliefert. Er fuhr zum Waldnaturschutzgebiet Knechtsteden und kontrollierte eine Hasenfalle, die er dort illegal aufgestellt hatte. Wir hatten Glück, denn fast wäre er dem MEK entwischt, als er sich aus dem Haus davongestohlen hat. Aber so waren ihm die Leute immer dicht auf den Fersen, daher wissen wir, was er mit dem armen Tier gemacht hat, das sich verfangen hatte. Während er es mit einem Knie auf dem Hals und mit dem anderen auf den Hinterläufen fixierte, zog er ihm bei lebendigem Leib das Fell ab. Erst danach schlitzte er den Hasen auf und warf seine Innereien in die Büsche. Als er dann mit dem Tier nach Hause ging, untersuchten unsere Leute die nähere Umgebung. Und das war der reinste Tierfriedhof. Lehmann muss den Platz seit Jahren benutzt haben, um seine abartigen Triebe zu befriedigen. Wie auch immer. Als mich heute Nacht Bernd Drilling angerufen und von Lehmanns Aktivitäten berichtet hat, habe ich seinen Leuten den Zugriffsbefehl gegeben.»

Die Gruppe schwieg, um die neuen Informationen zu verarbeiten. Hannah brach das Schweigen und sprach aus, was wohl alle dachten. «Dass der Mann pervers ist, gibt er ja offen zu. Aber laufen wir nicht Gefahr, das Mädchen nie zu finden? Lehmann weiß doch, dass er nur dann mit heiler Haut davonkommt, wenn das Mädchen nicht gefunden wird. Warum sollte er also plötzlich auspacken?»

Greiner lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. «Sie wissen alle, dass ich nicht zu überstürzten Handlungen neige. Aber drei Tage sind eine magische Zahl. Und mein Bauchgefühl sagt mir, dass der Mann das Mädchen eiskalt verdursten lässt. Wenn sie nicht schon tot ist. Aber solange nur die geringste Hoffnung besteht, dass sie lebt, müssen wir handeln. Parallel zu dem Waldstück wird daher gerade seine Wohnung von der Spurensicherung auf den Kopf gestellt. Bei seiner Festnahme wurde dort übrigens ein komplettes Sortiment an Sado-Maso-Werkzeugen gefunden, das volle Programm, zum Teil mit Blut verschmiert. Und jetzt müssen wir alles mobilisieren, was wir sonst noch haben. Wir müssen Druck machen. Geduld hat sich leider nicht ausgezahlt.»

Wieder schwiegen alle am Tisch. Abel sah Greiner in die Augen und wusste, was der in diesem Moment dachte. Dies waren Momente im Berufsleben eines leitenden Ermittlers, die vielleicht nur Kollegen verstehen konnten. Abel dachte an den Entführer Magnus Gäfgen, damals, 2002. In seinem Fall hatte der Polizeipräsident die Kontrolle verloren und dem Entführer Gewalt androhen lassen, damit er verriet, wo er den Bankierssohn versteckt hatte. Gäfgen hatte daraufhin tatsächlich geplaudert, aber der elfjährige Junge konnte trotzdem nur noch tot in einem Weiher aufgefunden werden.

Nein, so etwas war nicht Greiners Stil. Keiner in der Runde würde sich für so ein Vorgehen aussprechen. Trotzdem war Abel sich sicher, dass jeder von ihnen zumindest eine Sekunde lang an diesen Vorfall gedacht hatte.

«Ja, vielleicht finden wir in seiner Wohnung den nötigen Hinweis auf das Versteck», sagte Abel langsam. «Oder wenigstens einen Beweis, dass er der Entführer ist. Dann wäre endlich Schluss mit den Märchen. Ich will mir in jedem Fall anschauen, wie er wohnt – am besten sofort!»

«Die Spurensicherung wird wenig begeistert sein, wenn wir da reinplatzen», sagte Greiner. «Aber das ist mir egal. Legen Sie los. Inzwischen weiß ich ja, dass Sie einen speziellen Blick auf die Dinge haben.»

Abel nickte. Greiner war offenbar nicht mehr so unbedarft, was die operative Fallanalyse anging, wie noch bei ihrem ersten Aufeinandertreffen. Doch das war auch nicht verwunderlich, denn jeder Mensch hinterließ Spuren. Mörder an Tatorten und er, der reisende Fallanalytiker, an seinen jeweiligen Arbeitsplätzen. Es war gut, wenn etwas von seinem Wissen auf sein Umfeld abfärbte, so musste er schon weniger erklären.

Abel stand auf und nickte erst Greiner und dann Hannah zu. Jetzt ging es um alles oder nichts.

*

Abel und Hannah näherten sich Lehmanns Wohnblock mit schnellen Schritten. Sie waren in Rekordzeit von Kalk raus nach Bilderstöckchen gefahren und wollten keine Zeit verlieren. Hier in der Wohnung lag vermutlich der Schlüssel zum Versteck von Julia Peters. Wenn sie nur genau genug hinsahen, würden sie ihn finden.

Und sie mussten ihn finden, denn seit Lehmanns Festnahme ging es für die junge Frau um jede Sekunde.

Abel wollte gerade den Klingelknopf drücken, als die Haustüre von innen aufgemacht wurde und drei Leute von der Spurensicherung herauskamen. Mit ihren dünnen, weißen Overalls und den Gerätekoffern in den Händen sahen sie aus wie ein Trupp Maler, der gerade mit der Arbeit fertig geworden war.

Abel zeigte ihnen seine Polizeimarke. «Schon fertig?»

Der Letzte der drei Beamten stoppte an der Tür und drückte ihm einen Schlüssel in die Hand. «Wir mussten nur noch ein bisschen aufräumen. Nachher kommen noch mal zwei Mann und holen den Rest, und die Türe muss dann auch noch versiegelt werden. Schlüssel also bitte gleich wieder ins Präsidium bringen.»

Abel nickte und ging mit Hannah in das ziemlich heruntergekommene Haus. Die klapprige Briefkastenanlage war fast noch das Schönste im Eingangsbereich. Auf alle Fälle einladender als die zerkratzte und verbeulte Aufzugtür, auf der diverse, mit Filzstift geschriebene Kommentare den Besucher dazu aufforderten, sich selbst zu ficken.

Er ging mit Hannah weiter ins Treppenhaus zur Türe von Lehmanns Wohnung und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er kniff kurz die Augen zusammen, holte tief Luft und trat ein.

Das Erste, das ihm in der Wohnung auffiel, war der widerliche Mief nach kaltem Zigarettenrauch und verschüttetem Bier. Nicht die Art von Geruch, wie man ihm vom Tag nach einer Party kannte. Die Ausdünstungen hier drangen aus den Poren aller Möbel, Tapeten und Bodenbeläge, in denen sie in vielen Jahren eingedrungen waren. Lehmanns Lebenswandel konnte alles gewesen sein, nur nicht gesund.

Abel hatte kurz den Reflex, die Fenster aufzumachen, riss sich dann aber zusammen. So unangenehm der Gestank auch war, den Lehmann hier verbreitet hatte, so sicher gehörte er zu dessen Leben und seiner Wohnung dazu. Und genau darum ging es jetzt. Darum, diesen Mann kennenzulernen, zu verstehen. Mit allen Sinnen.

«Da vorn ist das Wohnzimmer», sagte Hannah und zeigte auf die Tür am Ende des Flurs. «Da wollte er mir und Kathi seine Pornosammlung zeigen.»

«Und? Hast du?»

Hannah rümpfte die Nase. «Du Idiot!» Sie deutete auf die Tür neben sich. «Ich schau mich da um, mal sehen, was er in der Toilette für Schätze hat. Geh du ruhig ins Wohnzimmer. Vielleicht haben die Jungs von der Spurensicherung ja was für dich übrig gelassen.»

Er nickte. «Das will ich doch hoffen!» Er gab ihr einen Klaps, und sie betrat das WC. Er machte ein paar unbeholfene Schritte in den Flur hinein, dann ließ er die Wohnung einen Moment lang auf sich wirken.

Hier also hatte Lehmann gelebt, dieser verurteilte Sexualstraftäter, der tote Hasen im Eisschrank aufbewahrte. Von diesem Ort aus hatte er sein Unwesen getrieben und seine Taten geplant. Es wäre doch gelacht, wenn sich das nicht auf die Wohnung niedergeschlagen hätte. Abgesehen von diesem ekligen Mief natürlich.

Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer und betrat den Raum, in dem Lehmann sich aufgehalten hatte, als Hannah und Mehnert hereingekommen waren. Wie die beiden erzählt hatten, war Lehmann erst mit einer gewissen Verzögerung herausgekommen. Offenbar hatte er zudem Besuch erwartet, denn er hatte sofort nach dem Klingeln den Türsummer betätigt und seine Wohnungstüre angelehnt. Er pflegte also soziale Kontakte – welcher Art auch immer.

Abel stellte sich mit dem Rücken zur Wand und machte eine Inventur des Raumes. Gleich neben der Tür stand der Schreibtisch mit dem Monitor, auf dem Lehmann sich so gern Filme von leicht bekleideten Menschen ansah. Der Computer darunter fehlte allerdings, vermutlich wurde er gerade im Präsidium auseinandergenommen. Schade, den Inhalt der Festplatte hätte er sich gern angeschaut.

Seinen Biervorrat hatte Lehmann in Form von acht Flaschen praktischerweise in einem neben dem Bildschirm stehenden leeren Aquarium untergebracht. Dahinter an der Wand hing ein Poster von Pamela Anderson, die durch großzügig eingesetzte Bildbearbeitungssoftware aussah wie zu ihren besten Baywatch-Zeiten.

Neben Abel stand ein kleiner Esstisch mit einer Glasplatte, worauf ein überquellender Aschenbecher für heimelige Atmosphäre sorgte. Er runzelte die Stirn. Die Spurensicherung hatte tatsächlich nicht sofort alles mitnehmen können. Aber Zigarettenkippen waren normalerweise ein Paradies für Forensiker, wenn es um genetische Fingerabdrücke ging. Die ließ man nicht einfach liegen, auch wenn Kollegen sie später holen sollten. Abel sah sich um und fand an der Wand neben dem Kühlschrank einen Plastikhalter für Frühstücksbeutel. Er riss einen davon ab und kippte den gesamten Inhalt des Aschenbechers hinein. Sorgfältig verknotete er ihn zwei Mal und schob ihn dann in seine Jackentasche.

Er sah sich weiter um. Auf der Arbeitsplatte der kleinen Küchenzeile stand eine alte Kaffeemaschine, in der noch die letzte, gebrauchte Filtertüte vor sich hin schimmelte. Im Spülbecken befanden sich ein Teller, zwei Biergläser und ein Haufen Besteck. Hier hatte es sich offenbar jemand schmecken lassen.

Essen …

Einer Eingebung folgend öffnete er den Gefrierschrank daneben und zog die beiden Schubladen heraus. Sorgfältig kontrollierte er ihren Inhalt, doch zu seiner Erleichterung fand er außer ein paar Tiefkühlpizzen und einem Brathähnchen nichts. Kein Hase, und auch kein abgetrennter Fuß. Lehmanns Appetit schien sich momentan auf handelsübliche Nahrungsmittel zu beschränken.

Abel wandte sich einer der beiden anderen Türen zu, die von der Küche abgingen. Er öffnete sie und betrat ein kleines, fensterloses Badezimmer. Als er das Licht einschaltete, begann gleichzeitig ein Lüfter zu surren, der gegen den allgegenwärtigen Schimmelgeruch aber nicht ankam. Die dunkelgrünen Fliesen aus den Sechzigern fügten sich nahtlos in das triste Bild, ebenso wie der Spiegelschrank, an dem sämtliche Türkanten gestoßen und abgesprungen waren.

Er öffnete den Schrank, ohne darin etwas Interessanteres zu finden als eine angefangene Dose Zahnseide. Na, immerhin putzt du dir ordentlich die Zähne, nachdem du deine Karnickel verspeist hast.

Er schaute sich noch einmal um und ging dann zu dem anderen, gegenüberliegenden Zimmer. Er öffnete die Tür. Ein Doppelbett, ein großer Kleiderschrank und die alte Kommode, in der die Sado-Maso-Utensilien gefunden worden waren. Alles Eiche rustikal und ziemlich abgewohnt. Gegenüber dem Bett war ein großer Flatscreen an die Wand geschraubt worden, darunter befand sich ein Metallständer mit zahlreichen DVDs, die Lehmanns Vorliebe für nackte und ausgepeitschte Menschen unterstrichen. An der Wand daneben hing zudem noch das Bild einer bleichen, ernst dreinblickenden Frau Ende dreißig.

Abel schluckte. Die Frau war in seinen Augen erschreckend dünn.

Er öffnete mit wachsender Unruhe nacheinander die drei Türen des Schranks und durchsuchte jede einzelne Tasche der Jacken und Hosen darin. Nichts. Dann die Schubladen der Kommode, ein Blick unters Bett – ebenfalls Fehlanzeige.

Lehmann schien sein Hobby wirklich gründlich verborgen zu haben, was Abel aber nicht überraschte. Nach dem Besuch von Hannah und Mehnert war ihm sicher klar gewesen, dass er ins Fadenkreuz geraten war. Und wenn man dann noch ein Foto mit einem Entführungsopfer ins Präsidium schickte, musste man schon mal damit rechnen, dass die Polizei auftauchte und einem einen Durchsuchungsbeschluss unter die Nase hielt. Lehmann hatte also alle Beweise gut versteckt. Die Frage war nur, wo.

Für Abel gab es darauf nur eine Antwort: Lehmann hatte einen geheimen Unterschlupf, und dort befand sich auch Julia Peters. Diesen Ort galt es zu finden.

Er blickte auf das Bett und fragte sich, welche Dramen sich hier schon abgespielt hatten. Mit einem letzten Blick auf das Bild der unbekannten, dünnen Frau ging er durch die Küche zurück in den Flur.

Als Abel wieder an der Wohnungstür stand, hörte er Hannah, wie sie in einem der anderen Zimmer Schubladen aufzog. Die Toilette neben dem Eingang hatte sie offenbar bereits untersucht, bald waren sie mit allem durch.

Verdammt. Irgendetwas müssen wir übersehen haben!

Er sah sich im Flur um. Direkt neben ihm befand sich ein billiger, hüfthoher Schuhschrank mit drei Klappfächern, wie man sie in fast jedem deutschen Haushalt fand. Er strich mit dem Zeigefinger über die ehemals weiße, inzwischen nikotinvergilbte Oberseite und verzog das Gesicht, als er eine dicke Staubschicht darauf entdeckte. Angewidert wischte er den Schmutz an seinem Hosenbein ab und zog sich schnell ein Paar Latexhandschuhe über, die er wie immer bei sich führte. Dann öffnete er die oberste Klappe des Schränkchens.

Zum Vorschein kam das übliche Durcheinander. Anstatt sich ein System zu überlegen, wurde einfach alles hineingestopft. Ein Schuhschrank war ein sicherer Ort, denn wer außer einem selbst würde schon dort hineinschauen?

Die Polizei, zum Beispiel, dachte Abel, vor allem wenn sie verzweifelt ist.

Schuhe, Stiefel, getragene Socken und stinkende Einlegesohlen, Lehmanns Schrank hatte alles zu bieten, was man sich vorstellen konnte. Fehlte nur noch, dass er hier auch seinen Müll entsorgt hatte. Abel schloss die oberste Klappe wieder und nahm sich die mittlere vor. Außer einem Paar Hausschuhen aus abgewetztem Cord befanden sich dort noch zwei Paar Turnschuhe, die zu seiner Verwunderung einen neuen und modernen Eindruck machten. Er nahm einen Schuh heraus und roch vorsichtig daran. Feucht und intensiv. Vermutlich regelmäßig und erst vor kurzem getragen. Er stellte den Schuh wieder zurück. Das Geräusch, mit dem er die Klappe gegen den Verschluss schlug, kam ihm in der Stille der Wohnung unnatürlich laut vor.

Im untersten Fach befanden sich keine Schuhe, und er hätte das Fach fast schon wieder geschlossen, als er stutzte.

Hinter dem Fach, kaum zu sehen und in die Ecke gequetscht, lag etwas, das entweder versehentlich dort hineingerutscht war oder das jemand dort versteckt hatte. Abel kniete sich auf den Boden, um besser herankommen zu können. Mit viel Mühe zerrte er den Gegenstand hinter der Klappe hervor und stellte ihn vor sich auf den Boden. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen.

Natürlich. Was lag näher, als die Dinge, die man brauchte, wenn man das Haus verließ, bei den Schuhen zu platzieren.

Autoschlüssel.

Geldbörse.

Und natürlich Waffen, wenn man entsprechend veranlagt war.

Hinter der untersten Klappe hatte Lehmann einen kleinen Rucksack verborgen, aus dem ein Messer ragte. Er machte einen abgewetzten Eindruck und schien viel benutzt worden zu sein. Abel öffnete den Rucksack vorsichtig und sah von oben hinein, überlegte, ob er ihn weiter untersuchen oder der Spurensicherung übergeben sollte. Es wäre mit Sicherheit interessant zu wissen, von wem die Fingerabdrücke auf der Klinge stammten. Und von wem die Blutflecken. Sie konnten ebenso von einem Hasen stammen wie von einer jungen Frau.

Wie Julia Peters.

Die Spurensicherung kann mich mal, dachte Abel, nahm das Messer aus dem Rucksack und schüttete den restlichen Inhalt vor sich auf den Boden. Im nächsten Moment hielt er die Luft an.

Eines war schon mal sicher. Lehmann war alles andere als untätig gewesen!

Außer dem Messer lagen vor ihm zwei Paar Handschellen, ein Halstuch, wie man es zum Knebeln verwenden konnte, ein großer Schraubenzieher, ein Beutel mit OP-Handschuhen, eine Sturmmaske und eine Wäscheleine. Bereits eingefädelte Kabelbinder, griffbereit in einer offenen Tüte, sodass man sie bequem mit einer Hand entnehmen und zuziehen konnte.

Was nicht unwichtig war, wenn man in der anderen Hand ein Messer hielt, mit dem man ein Opfer in Schach halten wollte.

Ihm war klar, was er da vor sich hatte: ein Rape Kit. Im Polizeijargon verstand man darunter entweder die Ausrüstung, die man zur Sicherstellung von Spuren bei Vergewaltigungen benötigte. Oder aber das Equipment, das ein erfahrener Vergewaltiger mit sich führte, um seine nächste Tat begehen zu können.

Du hast also alles, was man braucht, um jemanden in seine Gewalt zu bringen. Die Sachen liegen griffbereit im Flur und bestimmt nicht nur, weil in deinem Keller kein Platz dafür war. Du hast sie dort geparkt, weil du sie so jederzeit mitnehmen und verwenden kannst. Hast du sie auch benutzt, als du Julia entführtest? Und was zur Hölle hast du ihr damit angetan? Sag es mir endlich, du verdammter Mistkerl!

Abel spürte einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen, als er die Bilder vor seinem geistigen Auge vorüberziehen sah. Schnell räumte er die Sachen wieder zurück, um sie nicht länger ansehen zu müssen und seiner Phantasie damit nicht noch mehr Nahrung zu geben. Wütend schloss er den Rucksack und knallte die Klappe des Schuhschranks zu.

«Alles klar bei dir?» Hannah kam aus dem Zimmer, das sie überprüft hatte, und sah ihn fragend an. «Was machst du denn für einen Radau?»

«Mir bekommt der Mief hier nicht, ich muss dringend an die frische Luft.» Er bückte sich und nahm den Rucksack mit zwei Fingerspitzen hoch.

Hannah runzelte die Stirn. «Und was ist da drin? Lehmanns alte Socken?»

«Zum Glück nicht. Aber genug, um ihn eine Weile dingfest zu machen.»

«Beweise?»

Er nickte. «Das auf jeden Fall. Ob sie mit Julia Peters zusammenhängen, müssen wir aber erst noch herausfinden. Auf sein Gesicht, wenn wir ihm unseren Fund präsentieren, bin ich jedoch schon ziemlich gespannt.»

Er öffnete die Wohnungstür und machte einen Schritt in den Hausflur.

Erleichtert atmete er aus. Der muffige Geruch nach feuchten Wänden und altem Putzmittel kam ihm wie ein Parfüm vor im Vergleich zu dem, was er gerade noch hatte ertragen müssen.

*

«Geben Sie auf! Was soll das ganze Leugnen denn noch?»

Konrad Greiner beugte sich energisch nach vorn, sodass sogar der wirklich groß gewachsene Lehmann beeindruckt sein sollte. «Die Spurensicherung hat in Ihrer Bude jedes Staubkörnchen sichergestellt, einschließlich der Blutspuren auf Ihren perversen Spielzeugen. Sobald alles analysiert ist, werden wir Ihnen beweisen können, dass Sie das Mädchen entführt haben. In ein paar Stunden wissen wir also ohnehin Bescheid. Tun Sie uns und vor allem sich einen Gefallen und sagen Sie uns, wo Sie Julia Peters eingesperrt haben. Mit einem guten Anwalt wird Ihnen das dann vor Gericht vielleicht sogar ein paar Pluspunkte bringen.»

Lehmann verzog den Mund. «Das heißt, Sie haben meine Wohnung gründlich durchgewischt? Mensch, das wurde aber auch echt Zeit! Allein stört mich der Dreck ja nicht, aber wenn die Bullerei zu Besuch kommt, will man sich ja nicht blamieren.» Er schien zu überlegen. «Könnten Sie vielleicht ab sofort einmal die Woche kommen? Mittwochnachmittag wäre gut, da bin ich meistens im Puff und anschließend einen trinken. Da hätten Sie genügend Zeit zum Putzen. Den Schlüssel haben Sie ja schon.»

Obwohl Lehmann die Arme mit einer Handschelle hinter dem Rücken gefesselt hatte, schaffte er es, dem Gespräch etwas völlig Entspanntes zu geben. Greiner hatte jedenfalls den Eindruck, dass ihm die Unterhaltung Spaß bereitete.

Ganz im Gegensatz zu ihm. Er stemmte die Fäuste auf den Tisch und lief rot an. «Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen», sagte er dann gefährlich ruhig. «Spätestens, wenn wir Ihren PC auseinandergenommen haben, werden wir etwas finden, das Sie überführt. Meinen Sie nicht?»

Lehmann zuckte mit den Schultern. «Viel Spaß mit der alten Kiste. Vielleicht können Ihre Spezialisten mir bei der Gelegenheit gleich eine neue Graphikkarte einbauen, die Sexvideos ruckeln immer so. Aber ich muss Sie enttäuschen: Auf dem Rechner ist nichts, was sich ein gesunder Mann nicht ab und zu anschauen sollte.» Er taxierte Greiner von oben bis unten. «Vorausgesetzt, man kann seinen besten Freund ohne Spiegel sehen.»

In jeder anderen Situation hätte spätestens so ein Spruch Greiner an die Decke gebracht. Aber er fühlte sich einfach nur erschöpft. So einen abgebrühten Typen hatte er in seiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt. Sie hatten Lehmann bereits mehrere Stunden abwechselnd in die Mangel genommen. Erst Leingart, dann Hansen, dann Katharina Mehnert und schließlich sie alle auf einmal. Es hatte nichts gebracht.

Greiner war ein ausgebuffter Profi und kannte alle Strategien, die bei der Polizei in solchen Fällen üblich waren – und auch ein paar Tricks jenseits des Standardrepertoires. Er konnte sein Gegenüber in Widersprüche verwickeln, den good cop oder den bad cop spielen, falsche Beweise vortäuschen, ihn massiv unter Entscheidungsstress setzen und das gesamte Repertoire eines Verhaltens-Analyse-Interviews abrufen.

Aber bei Lehmann half das alles nichts. Dieser Hüne hatte ganz offensichtlich eine Menge Erfahrung mit vergleichbaren Situationen, die Vorwürfe prallten einfach an ihm ab. Er schien sich sogar über die Bemühungen der Beamten zu amüsieren, denn auf jeden angeblichen Beweis und auf jede Drohung reagierte er mit einem Grinsen. Manchmal schaute er auch einfach nur aus dem wegen der sommerlichen Hitze geöffneten Fenster und gähnte in Richtung der vorbeifahrenden S-Bahnen, die durch den Bahnhof an der Trimbornstraße ratterten.

Greiner wischte sich die schwitzigen Hände an den Oberschenkeln ab. Im Normalfall hätte er ganz entspannt sein können, denn genau genommen hatten die Vernehmungen ja gerade erst begonnen. Oft zog sich so etwas bis tief in die Nacht hinein, dann war der Täter so zermürbt, dass er nur noch gestehen und seine Ruhe haben wollte. Es war alles nur eine Frage der Zeit – aber gerade die fehlte ihnen in diesem Fall.  

«Sie scheinen das Ganze hier für ein Spiel zu halten, was?», sagte er kühl. «Ein bisschen Abwechslung von Ihrem tristen Mädchenschänder-Alltag. Sie werden sich noch wundern. Diesmal werden Sie den Knast noch einmal ganz neu kennenlernen. Mit ein paar handverlesenen Zellengenossen. Das verspreche …»

Ein knappes Klopfen, dann ging die Tür auf. Abel und Christ kamen in den Raum. Beide stellten sich auf Greiners Seite des Tisches, Abel die Hände hinterm Rücken.

Lehmann erkannte Hannah offenbar sofort, denn während er Abel ignorierte, musterte er sie mit unverblümtem Interesse und einem anzüglichen Grinsen.

«Ah, noch mehr Polizistchen, die sich mit mir unterhalten wollen», sagte er. «So langsam komme ich mir richtig wichtig vor! Oder sollte die Lady inzwischen doch einen Narren an mir gefressen haben?» Er zwinkerte Hannah verschwörerisch zu.

«Wir waren in Ihrer Wohnung», sagte Hannah ungerührt. «War interessant dort.»

Er zuckte mit den Schultern. «Ja, darüber sprachen wir hier gerade. Ich hoffe, Sie haben ein wenig aufgeräumt. Meine Festnahme kam ein wenig überraschend, daher …»

«Maul halten, Lehmann», unterbrach ihn Abel. «Kommt Ihnen das hier bekannt vor?» Ohne eine Miene zu verziehen, legte er den kleinen Rucksack auf den Tisch, den er bisher verborgen hatte.

Lehmanns Lächeln verschwand. «Und was soll das sein?»

Abel öffnete den Reißverschluss des Rucksacks. Im nächsten Moment kippte er den kompletten Inhalt auf den Tisch zwischen Lehmann und Greiner.

«Ja, was könnte das wohl sein?» Abel nahm das Messer und schob es auf Greiners Seite. Lehmann war zwar mit Handschellen gesichert, aber bei diesem Bär von Mann konnte man nicht vorsichtig genug sein. «Sie können die Sachen anfassen», sagte er zu Greiner, als dieser ihn fragend ansah. «War bereits alles in der Spurensicherung. Für das Messer haben sie sich besonders interessiert.»

Greiner schob die Teile auf dem Tisch auseinander und nickte bedächtig. Unvermittelt sah er Lehmann ins Gesicht. «Sie lachen ja gar nicht mehr. Sie haben jetzt nicht etwa doch Schiss bekommen?»

Lehmann presste die Lippen zusammen. «Blödsinn. Ich sehe das zum ersten Mal.»

Abel verschränkte seine Arme. «Ach ja? Es war in Ihrer Wohnung, schön im Schuhschrank versteckt.»

«Das muss mir jemand untergejubelt haben. Vielleicht der Hausmeister, der hat auch einen Schlüssel.»

«Wenn wir die Fingerabdrücke verglichen haben, wissen wir es.»

«Glaube kaum, dass Sie welche finden.»

«Und DNA-Spuren? Ich bin sicher, da es in Ihrer Wohnung war, ist auch Ihre DNA dran. Ein Fitzelchen davon wird reichen.»

Lehmann lehnte sich zurück. Seine Augen zuckten nervös von Greiner zu Abel. «Ich sage gar nichts mehr. Und ich will meinen Anwalt sprechen.»

«Sicher. Kein Problem. Wenn ich dieselbe Scheiße wie Sie an der Backe hätte, würde ich das auch wollen.» Im nächsten Moment beugte sich Abel über den Tisch und packte ihn am Kragen. Mit einem heftigen Ruck zog er ihn zu sich heran. «Lehmann, Ihre Wünsche sind mir scheißegal», sagte er dann. «Das Einzige, was mich interessiert, ist, wo sich Julia Peters befindet. Wenn Sie uns das nicht sofort sagen, dann brauchen Sie keinen Anwalt, sondern einen Arzt. Sie verstehen, was ich meine?»

«Wollen Sie mir drohen?» Auf Lehmanns Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. «Ich habe es schon zu Ihrem fetten Kollegen gesagt, und ich wiederhole es nur noch einmal: Ich weiß nicht, wo diese Julia ist! Ich kenne sie nicht, und ich habe auch nie mit ihr gesprochen. Sie sind auf dem falschen Dampfer, aber wenn Sie eine Klage von mir an den Hals bekommen wollen, dann machen Sie nur so weiter!»

«Und was zum Teufel haben Sie heute Morgen im Wald getrieben?»

«Mir einen runtergeholt! Aber das geht höchstens mich und den Förster was an, oder?»

Abel wollte gerade auf den Mist reagieren, als es erneut an der Tür klopfte. «Was ist denn?», knurrte Greiner, und Horst Leingart kam herein. Er überblickte die Situation sofort, steckte Greiner wortlos ein Blatt Papier zu und verzog sich dann wieder.

Greiner überflog den Zettel und legte ihn anschließend bedächtig vor sich auf den Tisch, strich ihn mit seinen mächtigen Händen glatt.

«Tja, Lehmann», sagte er dann. «Ich glaube, wir sollten nun wirklich Ihren Anwalt dazubitten. Ich bin sicher, dass Sie ihn bald gut gebrauchen können.»

Die Blicke aller waren auf ihn gerichtet. «Was steht auf diesem Scheiß-Blatt?», wollte Lehmann wissen. Er wirkte eindeutig nervös.

«Unsere Leute, die gerade den Wald umgraben, haben sich gemeldet. An der Erdoberfläche lagen nur tote Kaninchen bzw. deren Überreste, davon aber jede Menge.»

«Ich bin eben gern an der frischen Luft», presste Lehmann hervor. «Und dort …»

«Ihr kleines Hobby mit den Tieren ist mir scheißegal», schnitt ihm Greiner energisch das Wort ab. «Aber nicht das, was man unter der Erde gefunden hat. Die Kollegen haben nämlich noch tiefer gegraben.»

«Und?» Die Überheblichkeit in Lehmanns Stimme war verschwunden.

«Das wissen Sie doch genau», polterte Greiner. Und dann an die Kollegen gerichtet: «Zwei Leichen. Beide in Brautkleid und mit Schleier, aber ohne Füße – was uns doch irgendwie bekannt vorkommt. Oder?»

Lehmann blickte aufgeregt in die Runde. «Wollen Sie mir das etwa auch noch anhängen? Ich war das nicht, das müssen Sie mir glauben!»

Greiner nickte. «Natürlich. Jemand anderes hat die beiden zufällig genau an Ihrem Lieblingsplatz vergraben. Wieso bin ich da nicht von selbst draufgekommen?»

«Mann, ich bin vielleicht ein bisschen pervers, aber doch kein Mörder!» Lehmann wollte aufstehen, doch Abel drückte ihn energisch auf seinen Stuhl zurück.

«Dass Sie pervers sind, glaube ich Ihnen sofort», sagte Greiner. «Vor allem angesichts dessen, was man bei den beiden Toten noch gefunden hat.»

«Ach ja?» Lehmann klang nun fast ängstlich. Er schien zu ahnen, was nun folgte.

«Zwei winzige Schlangenskelette.» Greiner blickte ihm fest in die Augen.

«Schlangenskelette?» Lehmann riss die Augen auf und richtete seinen Blick dann aus dem offenen Fenster. Er rang ein paar Sekunden sichtlich um Fassung und sackte schließlich in sich zusammen.

«Na, das passt ja wunderbar zu meinen Beobachtungen», sagte Abel in die plötzliche Stille hinein.

Greiner runzelte die Stirn. «Welche Beobachtungen?»

Abel sah erst zu Hannah und dann zu Lehmann, der ihn jetzt mit einer Mischung aus Neugier und Furcht anschaute.

«Das Bier in Ihrer Wohnung. Ich dachte zunächst, das sei ein kaputtes Aquarium, in dem Sie das Zeug lagern. Aber dann merkte ich, dass ich mich getäuscht habe.» Er fixierte Lehmann. «Das ist gar kein kaputtes Aquarium auf Ihrem Computertisch, sondern ein Terrarium. Für die Aufzucht Ihrer kleinen Freunde also genau das Richtige. Stimmt’s?»

Alle starrten auf Lehmann, der sich auf die Lippen biss und schwieg.

«Tja», sagte Greiner, als die Stille zum Schneiden war. «Ich glaube, wir lassen Sie mal kurz allein, damit Sie in Ruhe über alles nachdenken können.» Er schob den Stuhl nach hinten und stemmte sich am Tisch hoch.

«Ich schicke Ihnen einen Beamten rein, der Ihnen so lange Gesellschaft leistet, bis Ihr Gedächtnis wieder funktioniert. Aber wenn ich zurückkomme, will ich wissen, wo Julia Peters ist. Sonst lernen Sie mich richtig kennen. Das garantiere ich Ihnen!»

*

Während Greiner die Tür öffnete und sich in den Flur hinauszwängte, sah Martin Abel auf Lehmann herab.

Die Beweise, mit denen man ihn konfrontiert hatte, schienen Wirkung zu zeigen, denn der Mann mit der Statur eines Catchers machte plötzlich einen geradezu bedauernswerten Eindruck. Er starrte fassungslos vor sich hin, schien alles begreifen zu wollen oder nach einem Ausweg zu suchen – und sprang einen Augenblick später auf wie ein wildgewordener Büffel.

Noch bevor Abel reagieren konnte, war Lehmann trotz der Handschellen mit zwei großen Schritten auf den Tisch gesprungen. Abel brauchte einen Moment, um zu begreifen, was der Riese dort wollte, doch da zwängte sich Lehmann bereits aus dem offenen Fenster.

«NEIN!!!» Abel machte einen Satz und bekam gerade noch Lehmanns Hosenbein zu fassen. «Machen Sie keinen Blödsinn», rief er und packte nun mit beiden Händen, so fest es ging, Lehmanns Knöchel.

«Vergiss es, Bulle», zischte der – und stürzte sich mit dem Kopf voran hinaus. Der dumpfe Aufschlag auf dem Asphalt hallte bis zu ihnen hinauf.

Im nächsten Moment stürmten Greiner und Hannah ans Fenster, und sie sahen zu dritt über die Brüstung. Lehmanns verrenkte Glieder. Sein leerer Blick. Die riesige Blutlache, die sich um seinen Kopf gebildet hatte. «Oh mein Gott», sagte Hannah leise. Dann ging sie langsam zum Schreibtischtelefon, um den Notarzt zu rufen. Aber allen im Raum war klar, dass der nur einen Totenschein würde ausstellen können.

Abel wusste, was das hieß.

Lehmann war der einzige Mensch gewesen, der gewusst hatte, wo sich Julia Peters befand. Und jetzt, wo Poseidon tot war, gab es keine Rettung mehr für sie.

*

Die Mitglieder der Mordkommission Poseidon saßen in dem kleinen Besprechungszimmer. Keiner sagte ein Wort. Niemand wollte aussprechen, was offensichtlich war. Jeder hoffte, dass ihm ein anderer diese Last abnehmen oder vielleicht doch noch mit einer Idee kommen würde, um das Unausweichliche zu verhindern.

Konrad Greiner wusste, dass die Zeit der Hoffnungen nun vorüber war. Jeder im Raum musste den Tatsachen ins Gesicht schauen, und es war seine Aufgabe, dies den Leuten klarzumachen.

«Ich weiß, wie schwer es euch fällt, aber ich denke, wir sind uns einig, dass unsere Chancen, Julia Peters noch lebend zu finden, mit Lehmanns Tod gegen null tendieren. Wenn nicht jemand von euch noch einen sensationellen Einfall hat, werde ich morgen die Angehörigen der jungen Frau informieren. Wir haben sie bisher hingehalten, aber wir dürfen sie nicht länger im Unklaren darüber lassen. Einverstanden?»

Hannah warf Martin Abel einen ernsten Blick zu. Der starrte mit zusammengepressten Zähnen vor sich hin und suchte vermutlich nach dem Ei des Kolumbus in diesem Fall.

Greiner war sicher, dass er es nicht finden würde.

«Gut, dann sind wir uns einig. Der Bericht der Spurensicherung hat übrigens auch nichts ergeben. Julias DNA wurde weder in Lehmanns Wohnung noch an dem Rape-Kit aus seinem Schuhschrank gefunden. Dabei hatte ich mir gerade davon etwas versprochen, da er darauf ja so drastisch reagiert hat. Aber es ist, wie es ist. Wir suchen weiter und werden sie hoffentlich noch irgendwann finden. So oder so.» Greiner sah jedem der Anwesenden nochmals ernst ins Gesicht. «Dann also bis morgen. Ich danke euch für euren Einsatz während der letzten Tage.»

Er stemmte die Fäuste auf die Tischplatte, um sich zu erheben, als Abel plötzlich zum Leben erwachte.

«Einen Tag noch.» Er sah Greiner an, und dieser wusste sofort, was damit gemeint war.

Er lächelte mitleidig. «Und was soll das bringen? Außer noch mehr Qualen für alle Beteiligten?»

Abel schüttelte trotzig den Kopf. «Gewissheit. Wir haben noch nicht alles abgeklopft. Ein paar Punkte sind noch offen.»

«Und welche sollten das bitte sein? Wir waren so gründlich, dass uns nicht mal eine Fliege durch das Raster geflogen wäre.»

Abel sah ein paar Sekunden aus dem Fenster und wieder zurück zu Greiner. «Wir sind erst bei neunundneunzig Prozent, aber nicht bei hundert», sagte er dann bestimmt. «Ich brauche noch einen Tag, dann habe ich alles abgehakt. Okay?»

Sein Blick machte deutlich, dass er nur eine Antwort darauf zulassen würde.

«Na gut», antwortete Greiner. «Auch wenn es mir schwerfällt, wie ich betonen muss.» Er zuckte mit den Schultern. «Einen Tag also, dann werden wir tun, was zu tun ist. Alles andere wäre unfair der Familie gegenüber.»

Er sah Abel noch einen Moment an und erhob sich dann endgültig. Der Fallanalytiker war bereits mehr als einmal für eine Überraschung gut gewesen. Aber nicht in diesem Fall, da war sich Greiner sicher.

Julia Peters war tot oder würde in Kürze sterben. Auch ein Martin Abel konnte das nicht verhindern.

*

Als Julia Peters aus ihrer Ohnmacht erwachte, war ihr klar, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte.

Sie erkannte es an dem Druck auf ihrer Brust, der tonnenschwer auf ihr lastete. Und natürlich an der furchtbaren Kälte, die sie vom Kopf bis zu den Zehen umfing, als läge sie in Eiswasser. Sie konnte nicht sagen, wo sie sich befand, aber so musste es sich anfühlen, kurz bevor man starb.

Um sie herum herrschte Dunkelheit. Nicht die Art von Dunkelheit ihres bisherigen Gefängnisses. Nein, diese Dunkelheit war von anderer Qualität. Absolut.

Obwohl sie vollkommen benommen war, fiel ihr auf, wie stickig und modrig die Luft roch. Die Luft im Verlies war schon schlimm gewesen, doch das hier …

Sie lag auf dem Rücken. Die Unterlage drückte hart gegen ihre Schulterblätter und Lendenwirbel. Sie versuchte sich zu bewegen, doch ihre Ellbogen stießen sofort gegen harte Wände.

Sie betastete ihren Körper und spürte das Brautkleid, das sie sich bei ihrem Fluchtversuch übergezogen hatte. Als sie ihre Arme nach oben ausstrecken wollte, trafen ihre Finger ebenfalls auf Widerstand. Das war es, was so höllisch auf ihren Brustkorb drückte. Sie steckte also in einem engen Raum oder einer Kiste und hatte keine Möglichkeit sich umzudrehen und ihren Rücken zu entlasten.

O Gott …

Ein Gedanke durchzuckte sie. Vielleicht befand sie sich ja gar nicht in einer Kiste, sondern in einer Röhre. Dann konnte sie möglicherweise nach oben oder unten rutschen und sich irgendwie befreien!

Sie versuchte, ihren in Richtung der Beine ausgestreckten rechten Arm zu drehen. Sie presste den Ellbogen an die Außenwand und schob ihre Hand zunächst über das Becken und dann an ihrem eingequetschten Brustkorb und dem Kopf vorbei – doch auch hier stieß sie sofort auf etwas Hartes.

Verzweifelt tastete sie mit den Fingern nach allen Seiten, doch nirgendwo war eine Lücke in der Wand oder sonst etwas, das ihr geholfen hätte.

Sie steckte also tatsächlich in einer Kiste. Keine Möglichkeit zur Flucht.

Im nächsten Moment stieg ein furchtbarer Gedanke in ihr hoch.

Die Kiste, in der sie lag, war aus Holz. Es war stockdunkel darin, und es roch modrig. Und von oben schien ein großes Gewicht auf sie zu drücken.

Mein Gott, dachte sie, ich bin lebendig begraben!

Panisch drückte sie mit aller Kraft gegen die Wände der Kiste, doch nichts ließ sich bewegen. Ihr Entführer hatte sie auf todsichere Weise entsorgt und wollte sie hier unter der Erde verrecken lassen.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Sollte sie tatsächlich hier drin sterben? Nach allem, was sie durchgemacht hatte? Sie war tagelang diesem Sadisten ausgeliefert gewesen. Sie hatte seine widerlichen Torturen mehr oder weniger überlebt. Ihr war sogar fast die Flucht gelungen, obwohl ihr Entführer sich während der ganzen Zeit wirklich nur einen winzigen Fehler erlaubt hatte. Und jetzt?

Julia begann zu schluchzen. Mama, dachte sie. Bitte hol mich hier raus! Ich werde auch nie mehr Geheimnisse vor dir haben.

Als sie ihre Hand, die sich noch oberhalb ihres Kopfes befand, zu ihrem Gesicht hin bewegte, um ihre Tränen abzuwischen, streifte sie etwas mit ihren Fingern.

Irritiert zuckte sie zurück. Irgendetwas war da gewesen. Direkt unterhalb ihrer Nase.

Mit zitternden Fingern griff sie danach – und fühlte eine etwa fingerdicke, runde Stange.

Als ihre Finger der Stange nach oben folgten, entdeckte sie, dass diese wenige Zentimeter oberhalb ihres Gesichts in der Decke der Kiste endete oder vielleicht auch hindurch führte.

Dann berührte sie das untere Ende der Stange – und verstand.

Dies war keine Stange. Dies war ein Schlauch. Und aus dem Schlauch strömte eine winzige Menge an kühler Luft zu ihr in den Sarg.

*

Julia war durch die Entdeckung des Schlauchs wie elektrisiert.

Sie nahm das Ende in den Mund und saugte vorsichtig daran. Ja, die Luft, die sie jetzt atmete, schmeckte herrlich frisch nach Wiese und feuchter Erde – kein Vergleich zu dem abgestandenen Mief in der Kiste.

Eben war sie sich noch sicher gewesen, dass ihr Peiniger sie hier unten qualvoll verrecken lassen wollte. Irgendwann wäre der Sauerstoff in dem Sarg zur Neige gegangen und sie elend erstickt.

Aber der Schlauch änderte alles. Er wollte nicht, dass sie erstickte. Er hatte sie zwar begraben, aber sie sollte am Leben bleiben. Er hatte sie hier nur versteckt, entweder um sie zu bestrafen oder …

Die Polizei war ihm auf den Fersen gewesen! Er hatte sie aus dem Weg geräumt, damit sie nicht gefunden werden konnte. Irgendwann, so musste er gehofft haben, würde er zurückkehren und mit ihrer Behandlung weitermachen können.

Ein Schub Energie durchströmte Julias Adern. Sie durfte nicht aufgeben. Nicht jetzt, nachdem sie aus dem Verlies ausgebrochen und fast ihrem Entführer entkommen war. Sie wusste nun, dass auch er Fehler machte. Und alles, was sie brauchte, war ein solcher Fehler.

Sie würde also warten und die Enge und Dunkelheit irgendwie überstehen. Sie hatte sich in ihrem Leben schon oft gequält, sie konnte das! Sie musste nur richtig wollen.

Wenn dann ihr Peiniger die Kiste öffnete, um sie aus ihrem Grab herauszuholen, war für sie der Moment der Rache gekommen.

Gierig saugte sie an dem Schlauch nach Luft.

*

Martin Abel steht vor dem Wandspiegel in seinem Hotelzimmer, seine Gedanken sind bei Julia.

Arme, sterbende Julia. Mit kraftlosen Fingern öffnet er die Knöpfe seines Hemdes. Dann zieht er an seinem Gürtel, um den Dorn aus dem Loch zu bekommen. Er muss ein wenig den Bauch einziehen, weil das Leder zu gespannt ist – und im nächsten Moment weiß er es.

«Hannah!»

«Ja?» Sie klingt irritiert, merkt, dass etwas nicht stimmt.

«Lehmann. Er ist nicht der Mörder.»

«Was? Wieso …?»

«Kleinwinkel. Der Gürtel, von dem er einen Abdruck gemacht hat!»

«Was ist damit?»

«Der war Größe 34. So was passt Lehmann nie im Leben!»

Hannah starrt ihn an, und jetzt versteht auch sie.

«Oh mein Gott!»

*
Vergangenheit

Johanna Lehmann hatte es eilig, als sie nach Hause kam. Kurt wollte mit ihr heute noch die Altstadt unsicher machen, und er hatte versprochen, großzügig zu sein – wenn sie das anschließend auch zu ihm war. Daran sollte es nicht scheitern: Die Beziehung zahlte sich schließlich aus.

Sie sprang unter die Dusche und rasierte sich die Beine. Danach ging sie ins Schlafzimmer, um etwas Schönes für darunter auszuwählen. Ja, der knappe Seidenstring war genau das Richtige.

Sie wollte sich gerade anziehen, als sie ein leises Kratzen hörte.

Sie hielt inne. Was zum Teufel war das? Sie lauschte, aber nun war es wieder still. Sie zuckte mit den Achseln und ging zum Spiegel, ließ den Bademantel fallen. Und zuckte plötzlich zusammen. Da war ein riesiger Schatten im Raum! Oh Gott …

Noch bevor sie schreien konnte, wurde ihr der Mund mit eisernem Griff zugehalten.

«Ja, Jeanny …», hauchte eine fremde und zugleich bekannte Stimme. «Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.»

Ungläubig riss Johanna die Augen auf, um die Gestalt hinter sich genauer anzusehen. Dann erst erkannte sie ihn: Ihr Bruder, dieses miese Schwein!

Horst war nun über eins neunzig groß und so kräftig gebaut wie ein Bär … Wie zum Teufel war er in ihre Wohnung gekommen? Woher wusste er überhaupt, wo sie lebte?

«So, ich lasse dich jetzt wieder los. Aber du wirst doch keine Dummheiten machen, ja? Sonst müsste ich dir nämlich weh tun. Also schrei nicht, wenn ich meine Hand von deinem Mund nehme.»

Johanna nickte, noch immer unter Schock.

Horst ließ von ihr ab und betrachtete sie zufrieden. Ihr war das seltsam unangenehm. Da war eindeutig etwas Sexuelles in seinem Blick.

«Du hast dich gut gehalten, Schwesterherz. Und ich bin der Meinung, dass du mir noch etwas schuldest. Oder was meinst du?»

Johanna wusste sofort, was er meinte. «Horst, mach bitte keinen Blödsinn. Das war doch nicht so gemeint. Nur ein kleiner Scherz unter Geschwistern! Okay? Und gib mir bitte meinen Bademantel, mir ist kalt.»

Horst näherte sich ihr bis auf wenige Zentimeter, sodass sie seinen üblen Atem riechen konnte. «Weißt du, dass du gerade das erste Mal bitte zu mir gesagt hast? Ich will das heute noch öfter von dir hören. Sonst könnte ich dir das mit … der Schlange nicht verzeihen.»

Er drückte ihr die weiße Bluse und den karierten Rock in die Hand, welche sie für Kurt bereitgelegt hatte. «Hier, zieh das an, und die roten Schuhe. Aber keinen Slip!»

Schnell zog sie die Sachen an, um endlich nicht mehr nackt vor ihm stehen zu müssen. Als sie fertig war, drehte er ihr plötzlich die Arme hinter den Rücken. Sie spürte, wie er ihr etwas über die Handgelenke schob und es zuband.

Dann zeigte er auf das Bett. «Und jetzt setz dich da hin! Mit dem Rücken zur Wand.»

«Horst, bitte … Mach keinen Quatsch!» Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich befreien könnte, aber er war einfach zu stark. «Wenn ich schreie», bluffte sie deshalb, «dann kommen sofort die Nachbarn, weil …»

Sie unterbrach sich mitten im Satz, denn ihr Bruder zog plötzlich ein großes Messer hervor. Er hielt es ihr an die Kehle und kratzte sie dort mit der Klinge. «Ich bin sicher, dass sie dich regelmäßig aus deinem Schlafzimmer schreien hören», sagte er anzüglich. «Und lange könntest du nicht rufen, dafür würde ich schon sorgen. Also?»

Johanna zögerte noch einen Moment, doch dann gab sie auf. Ihrem Bruder war alles zuzutrauen. So gut es ihre hinter den Rücken gefesselten Arme zuließen, krabbelte sie auf den Knien über das Bett und setzte sich mit dem Rücken zur Wand.

Horst lächelte. «Und jetzt spreize die Beine. Los, mach schon!»

Sie zögerte erneut, tat dann jedoch wie befohlen. Er band ihre Beine an beide Seiten des Bettgestells, sodass sie sie nicht mehr schließen konnte und seinen Blicken hilflos ausgeliefert war.

«So, Schwesterchen. Und da es nun ein wenig unangenehmer für dich wird, kneble ich dich besser.»

«Was …?»

Er nahm einen ihrer halterlosen Strümpfe aus der Kommode und band ihr damit den Mund zu.

Johannas Herz klopfte bis zum Hals.

Als er fertig war, stellte er sich vor das Bett und betrachtete sein Werk. «Gut», sagte er zufrieden. «Dann können wir loslegen.»

Zu ihrer Überraschung schob Horst ihren großen Ankleidespiegel ans untere Ende des Betts. Dann richtete er ihn so aus, dass er ihr damit unter den Rock schauen konnte, wenn er so neben dem Bett stand, dass er vor ihren Blicken durch die Kommode verborgen war. Mehrmals zog er ihren Rock ein wenig höher, um von seinem Beobachtungsposten eine bessere Sicht zu bekommen. Ihr entging nicht, dass er sich mehrfach an seinem Schwanz rieb, wenn er dort stand.

Ach du Scheiße, er ist immer noch derselbe perverse Spanner wie früher! Johanna entspannte sich, als sie erkannte, was er da tat. Wenn das alles war, was er von ihr wollte, dann sollte er seinen Spaß eben haben. Sie hatte weiß Gott schon schlimmere Sachen mitgemacht!

Doch Horst war offenbar noch nicht fertig mit seinen Spielchen. Als er mit der Position des Spiegels endlich zufrieden war, öffnete er eine Tür des Schlafzimmerschranks und holte eine große, runde Plastikdose heraus. Johanna wurde klar, dass er diese vorher dort versteckt haben musste. Er war also längere Zeit in ihrer Wohnung gewesen und hatte gewisse Vorbereitungen getroffen. Beiläufig bemerkte sie, dass der Deckel der Dose viele kleine Löcher hatte.

Horst umfasste die Dose fast ehrfürchtig und schaute Johanna dabei mit einem merkwürdigen Lächeln an. «So, und jetzt mach dich bereit für den Tag deines Lebens, Schwesterchen», sagte er leise. Sie konnte seine Erregung bei diesen Worten förmlich spüren.

Im nächsten Moment öffnete er langsam den Deckel der Dose und ließ die darin verborgene Schlange und das Ei vorsichtig auf das Bettzeug gleiten. Er nahm das Ei in die Hand und betrachtete es scheinbar nachdenklich. Dann blickte er sie durchdringend an.

«Du hast damals meine Schlange getötet, Jeanny. Ich finde, es wäre nur recht und billig, wenn du mir zur Wiedergutmachung eine neue ausbrüten würdest. Oder was meinst du dazu?»

Johanna schrie schrill in ihren Knebel hinein, doch es gab weit und breit niemanden, der sie hören konnte.

Außer Horst.

*

Der Tag, an dem Horst Johanna freiließ, war der Triumph seines Lebens.

Er hatte sie zehn Tage gefangen gehalten und erniedrigt, ihr Hoffnung gemacht, sie betteln lassen und benutzt. Am Ende war sie nur noch ein wimmerndes Etwas gewesen, ein Nichts. Nie wieder würde sie ihn provozieren, daran hatte er keinerlei Zweifel.

Der Einfachheit halber ließ er sie im benachbarten Park frei, wo er sie nackt auf eine Parkbank setzte. Er war sich sicher, dass sie ihn nicht anzeigen würde, denn er hatte ihr während ihrer Gefangenschaft klargemacht, was dann passieren würde. Dass das mit dem Ausbrüten nicht funktionieren würde, ahnte er, dazu war es dem Embryo in Johannas Grotte viel zu warm. Aber allein das Wissen um das Ei in ihrem Körper jagte ihm einen Schauer der Erregung über den Rücken.

In den Wochen danach kam er langsam zur Ruhe und genoss das neue Gefühl der Stärke. Er fühlte sich geradezu unverwundbar. Schnell begann er, sich in dem Versteck häuslich einzurichten, das ihm bei der Sache mit Johanna von so großem Nutzen gewesen war. Sein Vater hatte es ihm überlassen, um ihn damit allmählich aus der Wohnung zu bekommen.

Johanna … Alles nutzte sich irgendwann ab. So war es auch mit den Fotos von seiner Schwester. Irgendwann kein Kribbeln mehr. Stattdessen eine immer stärker werdende innere Unruhe, und der Grund dafür war klar: Er brauchte Nachschub. Die Macht über Johanna war so berauschend gewesen, dass er sie wieder erleben wollte. Und Horst fand, er hatte es durchaus verdient.

Zunächst versuchte er noch, die gefährliche Sehnsucht durch verstärktes Onanieren in den Griff zu bekommen. Aber das funktionierte nicht. Nicht einmal ihre roten Schuhe, die er ihr damals abgenommen hatte, konnten ihn noch richtig erregen. Warum nur? Es war doch alles so gut gewesen, so perfekt?

Doch irgendwann fiel der Groschen. Es fehlte etwas. Die Schuhe waren leer. In dem Bild aber, das er von ihnen in seinem Kopf hatte, steckten Johannas Füße darin.

Schmal und zart. Weiblich und süß. So unglaublich erotisch.

Seine nächste Tat plante er mit einer Sorgfalt und Detailfreude, die ihn selbst überraschten.

Das haarklein beschriebene Einbalsamieren des jungen Pharaos Tutanchamun im Buch seiner Mutter … In der Stadtbücherei fand er weiteres Material darüber. Und etwas über die Präparation von Jagdtrophäen. Das Zauberwort schien Polyethylenglykol zu heißen. Wenn man Gewebe damit richtig behandelte, konnte man das Wasser darin nach und nach dadurch ersetzten. Und hatte am Ende etwas, das ewig hielt.

Er beschaffte sich die wenigen benötigten Zutaten in einer Apotheke und machte ein paar Versuche mit Fleischstücken aus der Metzgerei. Alle waren so hilfsbereit, wenn man etwas von Schulexperiment erzählte. Hatte der Apotheker ihm nicht sogar wissend zugezwinkert? Dann begann er mit der Suche nach dem Opfer. Anfangs glich dies mehr einem ziellosen Durchstreifen der Stadt, doch als er sie sah, erkannte er sie sofort. Das war seine Braut. Sie kam aus einer Ballettschule in der Nähe seines Verstecks, hatte hautenge Leggins an und sicherlich den ganzen Tag noch nichts gegessen, so dünn, wie sie war.

Und genau so musste sie sein. Abgemagert wie Mutter kurz vor ihrem Tod und mit langen Haaren wie Johanna, als sie ihn am meisten erregt hatte. Eben eine perfekte Mischung aus einer Heiligen und einer Hure. Er hatte keine Ahnung, warum. Aber genauso musste es sein!

Die folgenden Tage waren für das Mädchen die Hölle. Und für Horst der Beginn einer phantastischen Reise. Wie er bald merkte, bot sein Unterschlupf geradezu perfekte Möglichkeiten für das, was er tat. Abgeschiedenheit. Ein separater Raum als seine persönliche Gefangenenzelle. Und recht hohe Decken, da konnte man sie prima aufhängen und ihr unter das Hochzeitskleid gucken. Als er die großen Spiegel vom Trödelmarkt unter dem Mädchen platzierte, hielt er den Atem an. Mein Gott, ja, das war es!

Wie schön es war, sich einmal richtig gehenzulassen. Wie hatte er das all die Jahre vermisst! Klar, dass sie starb, nachdem er ihr die Füße abmachte. Aber sie hatte verdammt lange gezappelt, das kleine Ding! Tapfer, hatte er gedacht.

Und war kurz wütend geworden, weil ihn die Schreie des Mädchens an die seiner Mutter auf der alten Kassette erinnert hatten. Ja, mit seinem Vater hatte er deshalb ja noch eine Rechnung offen. Aber die konnte der Alte vielleicht eines Tages nun doch begleichen. Wenn er das tote Ding an dessen Lieblingsplatz verscharrte und man es eines Tages «zufällig» dort fand, würde für die Polizei schnell klar sein, was der Alte dort getrieben hatte. Bei seinen Vorstrafen …

Horst konnte nun also in aller Ruhe von neuem auf die Suche gehen. Darauf freute er sich schon. Seit er mit der Rheinseilbahn über den FKK-Bereich der Claudius Therme gefahren war, wusste er ja, wo es Nachschub gab.

In dieser Nacht träumte er vom Ginsterpfad. Vom Schlangensee. Und als er aufwachte, hatte er ein neues Bild im Kopf. Ein würdiges neues Grab für seine nächsten Bräute …

*