Fünfter Tag
Abel erwachte mit dem flauen Gefühl der Lüge im Bauch.
Er hatte Aktivitäten entwickelt, von denen Hannah nichts wissen durfte. Er hasste sich dafür, aber zugleich war ihm klar, dass er die Sache bis zum bitteren Ende weiterführen würde. Die erste Heimlichkeit zwischen ihnen nach Monaten der Vertrautheit. Abel fühlte sich erbärmlich.
Er fuhr mit Hannah gerade mit dem Hotelaufzug ins Erdgeschoss hinunter, als sein Handy klingelte. Er kramte es aus seiner Hosentasche und nahm den Anruf an.
«Ja.»
«Guten Morgen, Herr Abel, Judith Hofmann am Apparat.»
«Hallo, Frau Hofmann. Alles klar bei Ihnen? Wir wollten gerade frühstücken und dann ins Präsidium kommen.»
Judith Hofmann schnaufte. «Ich glaube, Sie sollten lieber gleich in die Gerichtsmedizin fahren. Konrad Greiner ist ebenfalls dorthin unterwegs, um sich mit Professor Kleinwinkel etwas anzusehen.»
«Etwas Interessantes?»
«Fundsache am Ginsterpfad. Ich glaube, da sollten Sie dabei sein.»
Abel sah Hannah bedeutungsvoll an. «Ja, dann machen wir uns gleich mal auf die Socken», sagte er und legte auf.
Hannah runzelte die Stirn. «Was wollte Greiners nette Freundin uns so früh mitteilen? Ist heute dienstfrei?»
Abel schüttelte den Kopf.
«Nein, schlimmer. Das Frühstück fällt aus.»
Er vermutete, dass dies für seinen Bauch auch besser so war.
Professor Kleinwinkel stand am Obduktionstisch und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Hände steckten wie immer korrekt in Latexhandschuhen.
Sein Blick war auf die Tür gerichtet, durch die vor wenigen Sekunden Konrad Greiner, Martin Abel und Hannah Christ verschwunden waren. Allesamt mit ziemlich erschüttertem Gesicht und garantiert auch mit einigen dunklen Gedanken im Kopf.
So wie er selbst. Er hatte als Leiter des Instituts für Rechtsmedizin schon so ziemlich alles erlebt, was es an widerwärtigen Dingen zu sehen und zu riechen gab, und das über viele Jahre hinweg. Entsprechend professionell ging er mit dem um, was er hier täglich auf den Tisch bekam. Anders hätte diese Arbeit niemand auch nur einen Tag lang ausgehalten.
Aber es gab nach wie vor Fundstücke, die auch ihn berührten. Dinge, die ihn die Lippen zusammenpressen und über die Vergänglichkeit allen Lebens nachdenken ließen.
Und in der Schale vor ihm lag so etwas.
Zunächst waren in einem See mehrere tote junge Frauen gefunden worden. Wasserleichen waren nicht schön, aber auch nichts Ungewöhnliches. Schon gar nicht in Köln mit dem Rhein und seinen unzähligen Badeseen.
Doch jetzt das.
Ein abgesägter Fuß, ebenfalls am Ginsterpfad gefunden und in einem Zustand, der weitere Untersuchungen extrem schwer machte. Da den Leichen die Füße fehlten, war ein Zusammenhang augenfällig.
Der Fuß war wirklich übel zugerichtet. Im Gegensatz zu den Leichen im Wasser war der Verfallsprozess nicht durch sauerstoffarmes und kaltes Wasser gebremst worden. Er musste eine gewisse Zeit der Luft und der Witterung ausgesetzt gewesen sein, und entsprechend roch er und sah er auch aus. Irgendjemand hatte zudem die Zehen mit einem groben Werkzeug um die Hälfte gekürzt.
Dass der Fuß überhaupt noch als solcher erkennbar war, musste ganz besonderen Umständen zu verdanken sein. Und genau diese waren es, die Kleinwinkel so nachdenklich stimmten. Hier ging etwas vor sich, das ihm so noch nicht untergekommen war.
Etwas geradezu Unglaubliches.
Abel hatte das offenbar auch erkannt, denn sein Gesicht sprach Bände. Dieser ruppige Kommissar wusste mehr über das Seelenleben seiner kranken Kundschaft als jeder andere Polizist, der ihm bisher begegnet war. Ein Blick durch die Lupe auf die verbliebene Haut hatte genügt, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Kleinwinkel hatte sogar den Eindruck gehabt, dass er etwas in der Art geahnt und nur noch nach der letzten Bestätigung gesucht hatte. Möglicherweise waren sie sich in ihrer Denkweise ähnlicher, als er sich das freiwillig eingestehen würde.
Er selbst war sich im Grundsatz ebenfalls sicher, aber zu den Details hatte er noch Fragen. Und ihm war klar, dass er diese allein nicht so schnell beantworten konnte, wie es die polizeilichen Ermittlungen erforderten.
Er brauchte Hilfe, und zwar die beste, die er auf diesem Planeten zu diesem Thema kriegen konnte.
«Tja», murmelte er zu sich selbst. «Da werde ich wohl den Telefonjoker ziehen müssen.»
Mit gemischten Gefühlen warf er einen letzten Blick auf den Fuß und ging zu seinem Büro. Er war schon sehr gespannt auf dieses Gespräch.
Die beiden Calliphorae glichen sich wie ein Ei dem anderen. Die Augenform. Die Länge des Saugrüssels. Ja, sogar die feine Maserung der Flügel.
Alles gleich.
Und dennoch musste es einen Unterschied zwischen ihnen geben. Die eine Fliege saß auf der Innenseite der Glasscheibe des Terrariums und putzte sich ausgiebig den Kopf, die andere lag mit eingefalteten Beinen unten auf dem Boden und gab keinen Mucks mehr von sich.
Beide Tiere entstammten demselben Gelege und sollten somit dieselben Voraussetzungen für ein glückliches, mehrere Wochen dauerndes Fliegenleben besitzen. Dass die eine schon drei Tage nach dem Schlüpfen das Zeitliche segnete, musste einen triftigen Grund haben.
Frederick Schwartz wusste wie kein Zweiter, dass Insekten und speziell Fliegen extrem widerstandsfähig waren. Auch wenn sich die Menschheit irgendwann längst gegenseitig ausgerottet hatte – Fliegen würde es immer geben. Gegen eine Calliphora half normalerweise nur die Fliegenklatsche, und zwar am besten eine elektrische, denn das erhöhte die Trefferquote enorm. Nein, wenn eine Fliege nach so kurzer Zeit von alleine starb, dann war etwas im Busch, und zwar meistens etwas Chemisches.
Schwartz schenkte sich Kaffee ein und nippte daran. Missmutig fuhr er sich durch seine angegrauten Locken. Das konnte eine lange Woche werden. Er wollte gerade die tote Fliege mit einer Pinzette herausholen, als sein Handy klingelte. Fluchend griff er nach dem Telefon.
«Frederick Schwartz auf Großwildjagd. Wer stört?»
«Kleinwinkel hier, Rechtsmedizinisches Institut Köln. Guten Tag, Herr Kollege.»
Schwartz legte verblüfft die Pinzette zur Seite. «Das ist ja mal eine Überraschung! Der Herr Professor aus Köln. Und ich dachte schon, Sie wären sauer auf mich, und ich würde nie mehr etwas von Ihnen hören.»
«Warum sollte ich sauer auf Sie sein?» Kleinwinkel klang sehr formell. Offenbar war er also tatsächlich missgestimmt gewesen, sah aber darüber hinweg.
Schwartz räusperte sich. «Na ja, ich habe Ihnen letztes Mal doch ein bisschen ins Handwerk gepfuscht, oder? Okay, Abel hatte mich dazu angestiftet, aber ich hätte nicht so einfach in Ihren heiligen Hallen …»
«Sie haben mir nicht ins Handwerk gepfuscht», unterbrach ihn Kleinwinkel, «sondern standen der Polizei in einem Ihrer Fachgebiete beratend zur Seite. Und wenn ich richtig informiert bin, verdienen Sie sich überwiegend auf diesem Wege Ihre habilitierten Brötchen.»
«Das stimmt.» Schwartz nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. «Nachdem wir den Smalltalk-Teil nun erfolgreich hinter uns gebracht haben, würde mich interessieren, was mir das Vergnügen Ihres Anrufs verschafft. Sie wollten doch bestimmt nicht bloß Höflichkeiten mit mir austauschen.»
Am anderen Ende der Leitung erklang ein Schnaufen. «Das ist korrekt – leider! Wo erwische ich Sie überhaupt? Noch in Paris? Ihr Vortrag vor der Police Nationale zur temperaturabhängigen Ontogenese der Sarcophagidae hat mich beeindruckt, wie ich zugeben muss.»
Schwartz lachte. «Haben Sie jemanden auf mich angesetzt, oder woher wissen Sie von meinem Vortrag? Nein, ich bin in Deutschland. In einem Berliner Labor, um genau zu sein.»
Kleinwinkel atmete hörbar auf. «Gut zu wissen – nur falls ich Sie hier vor Ort bräuchte. Ich habe hier nämlich zwei Probleme, mit denen Sie sich möglicherweise besser auskennen als ich. Das eine arbeitet bei der Operativen Fallanalyse und heißt Martin Abel.»
«Ach, herrje!» Schwartz zog die Augenbrauen hoch. «Ja, mit dem kenne ich mich aus. Wahrlich kein pflegeleichter Zeitgenosse, doch für einen Laien hat er erstaunlich viel Ahnung. Aber wenn er bei Ihnen ist, dann haben Sie wohl eine noch weitaus unangenehmere Sache am Hals.»
Kleinwinkel räusperte sich. «Richtig, und deshalb rufe ich Sie an. Vor mir liegt etwas, das mich ziemlich nervös macht. Denn wenn meine Vermutungen stimmen, handelt es sich um etwas, das in der deutschen Kriminalistik noch nicht da war. Zumindest, soweit ich weiß.»
Frederick Schwartz horchte auf. «Jetzt machen Sie mich neugierig, Herr Kollege! Bisher ging ich davon aus, ich hätte in Deutschland ein Patent auf unglaubliche Kriminalfälle.»
«Na, dann setzen Sie sich mal hin und halten Sie sich fest.»
Vorsichtig setzte Schwartz sich mit dem Telefon in der einen und der Kaffeetasse in der anderen Hand neben das Terrarium und betrachtete die sich immer noch fleißig putzende Fliege. «Ich sitze», sagte er dann. «Schießen Sie los.»
«Gut – es geht um einen Fuß, der offenbar einige Zeit im Wasser lag, aber im Uferbereich eines kleinen Sees auf dem Trockenen gefunden wurde. Er weist praktisch keine Spuren von Tierfraß auf, was für die Liegezeit erstaunlich ist. Mir fielen ein paar deutliche optische Abweichungen zum erwartenden Zustand auf, besonders aber dass der Fuß in Teilaspekten extrem gut erhalten ist.»
«Wie gut?»
«Bevor ich darauf antworte, muss ich erst noch etwas vorausschicken», antwortete Professor Kleinwinkel. «Vor dem Fuß wurden in demselben See nämlich fünf weibliche Leichen gefunden – ohne Füße. So gesehen liegt die Vermutung natürlich nahe, dass zwischen den Fundstücken ein Zusammenhang besteht. Nun, ein erster Abgleich der Schnittflächen hat das noch nicht bestätigt, der DNA-Abgleich ist aber beauftragt. Uns, also auch Herrn Abel, fiel an dem Beinstümpfen sofort auf, dass die Wundränder farblich vom Rest des Gewebes abwichen, aber da hatten wir noch keine Erklärung dafür.»
«Ja, Abel ist nicht dumm. Der Mann weiß, worauf er achten muss!»
Kleinwinkel hüstelte. «Ja, und dann wird dieser Fuß gefunden, der zu einer der Leichen zu gehören scheint, andererseits aber große Unterschiede aufweist. Ich hatte gleich einen Verdacht, aber der Schnelltest hat mich dann doch umgehauen.»
«Machen Sie es nicht so spannend! Was haben Sie gefunden?»
«Nun ja. Im Gewebe befindet sich praktisch kein Wasser mehr. Stattdessen aber jede Menge PEG.»
Frederick Schwartz wäre fast die Kaffeetasse aus der Hand gefallen.
«Sagten Sie PEG?» Er war von einer Sekunde zur anderen wie elektrisiert.
«Genau. Polyethylenglykol.» Professor Kleinwinkel hörte sich plötzlich traurig an. «Und ich denke, wir sind einer Meinung, dass es hierfür nur eine sinnvolle Erklärung geben kann.»
Frederick Schwartz nickte. Kleinwinkel hatte recht. Der Fund war eine Bombe. Ein Sprengsatz, der es in sich hatte, wenn er erst einmal an die Öffentlichkeit gelangte.
«Mein Gott», sagte er bedächtig. «In was für einen Mist sind Sie da hineingeraten? Ich kann mir tatsächlich nur einen Grund für PEG in einem menschlichen Fuß vorstellen: Jemand hat ihn einbalsamiert.»
Martin Abel und Hannah Christ hatten es eilig, ins Polizeipräsidium zu kommen. Die Erkenntnisse, die sich im Gespräch mit Professor Kleinwinkel aufgetan hatten, waren geradezu verstörend. Auch wenn Abel insgeheim mit dieser Erklärung für den Zustand der Leichen und des Fußes gerechnet hatte, so traf ihn die Bestätigung dafür bis ins Mark.
Jemand entführte Mädchen und wollte ihre Füße sammeln. Allerhöchste Zeit für eine Krisensitzung im Präsidium.
Die Fahrt vom Rechtsmedizinischen Institut nach Kalk verlief aber nicht so zügig, wie Abel sich das wünschte. Da die rechte Spur durch Busse oder Radfahrer blockiert war, versuchte er, auf der linken Seite schneller voranzukommen.
Doch jemand schien dagegen zu sein. Jemand, der exakt denselben Weg hatte wie sie. Denn von den ersten Metern an, als sie in den Melatengürtel abbogen, tuckerte eine dicke Limousine vor ihnen her.
Ein Traum in Chrom und Silberlack, die Krönung süddeutscher Ingenieurskunst.
Aber der Wagen hatte ein Stufenheck. Stufenhecklimousinen vor der Nase waren der Horror für jeden, der halbwegs zügig vorankommen wollte. In Abels Kopf entstand unwillkürlich das Bild von Oma und Opa, die die letzten Meter ihres Lebens möglichst gemütlich zurücklegen wollten.
Sollten sie doch, dachte er. Aber bitte nicht mit vierzig Sachen auf der linken Fahrspur.
Genervt gab er dem Fahrer die Lichthupe.
«Das bringt doch nichts», sagte Hannah. «Deshalb fährt der auch nicht schneller.»
«Aber es befreit. Und man kann es ja wenigstens versuchen. Ich möchte vor meiner Pensionierung im Präsidium ankommen, da kann ich so ein Rumgegurke nicht ertragen.»
«Das nennt man Straßenverkehr. Und der Kerl ist halt einfach vorsichtiger als du.»
«Vorsichtiger?» Abel schüttelte den Kopf. «Wenn der bei Rot über die Ampel fährt, dann wird er nicht geblitzt, sondern gemalt.»
Aber Ärger hin oder her: Der kriechende Verkehr gab ihnen beiden zumindest Gelegenheit, darüber nachzudenken, was da auf sie zuzukommen schien. Beide taten es auf der weiteren Fahrt schweigend.
Im KK11 angekommen, spürten sie sofort die Hektik, die sich breitgemacht hatte. Leute eilten mit Unterlagen in der Hand durch den Gang, Telefone klingelten, und Polizisten unterhielten sich lautstark, während im Hintergrund Bürotüren zugeschlagen wurden.
Keine Frage, Greiner war vor ihnen im KK11 angekommen und hatte die Nachricht vom merkwürdigen Fund am Ginsterpfad verbreitet.
«Kleines Wohnzimmer. Die ganze Familie ist schon da», rief ihnen Judith Hofmann entgegen, als sie in Greiners Büro wollten. Sie zeigte ans Ende des Hauptgangs, wo das mittlere Besprechungszimmer lag. Abel und Hannah machten kehrt – und fanden sich kurz darauf in einer lebhaften Besprechung wieder.
«Setzen Sie sich gleich hierher», sagte Greiner anstatt einer Begrüßung und zeigte auf zwei Stühle. «Sie kommen genau richtig, wir entwerfen gerade die Aktionspläne für die nächsten Tage.»
Abel sah sich um und erkannte Horst Leingart und den geschniegelten Hansen, beide mit Smartphone, Schreibzeug und diversen Unterlagen bewaffnet links von Greiner. Er und Hannah grüßten und setzten sich ihnen gegenüber hin.
«Also», fuhr Greiner fort und sah auf seine Unterlagen. «Spätestens jetzt dürfte jedem klar sein, dass wir es mit einer Sache zu tun haben, die all unsere Konzentration erfordern wird. Zuallererst müssen wir dem Kind aber einen Namen geben. Irgendwelche Vorschläge, wie wir die Mordkommission nennen sollen?» Er sah auffordernd in die Runde.
«Wie wäre es mit Poseidon?» Jörg Hansen neigte den Kopf. «Das war der römische Wassergott, und da unser Mann Wasser offenbar zu mögen scheint, würde das doch passen.»
Abel sah Greiner die Augenbrauen hochziehen. «Gute Idee, Hansen, auch wenn es sich bei Poseidon um einen Gott der alten Griechen handelte. Das römische Gegenstück hieß Neptun. Aber für jemanden ohne großes Latinum war das schon ganz okay. Gut, also MK Poseidon.»
Greiner sah Horst Leingart an. «Sie wollten sich in den Polizeiwachen in Chorweiler und Nippes umhören, ob dort irgendetwas Auffälliges gemeldet wurde. Erste Erkenntnisse?»
Der füllige Beamte rutschte auf dem Stuhl herum. «Ich habe erst für heute Termine vereinbaren können, aber der Kollege in Chorweiler hat am Telefon angedeutet, dass ein Vorfall gemeldet wurde, der interessant sein könnte.» Leingart schaute auf seine Armbanduhr. «Schauen wir mal, ich treffe ihn später.»
«Und wie weit sind Sie im Heckpfad mit den Befragungen gekommen?»
«Die ersten drei Dutzend Häuser haben wir, aber ich brauche dringend Verstärkung, sonst werden wir nie fertig. Kann ich noch ein paar Leute von der Bereitschaft …»
«So viele Sie brauchen, Hauptsache, es geht schnell. Hansen, Sie wollten doch die Hochhäuser an der Etzelstraße abklappern.»
Hansen nickte und rückte seine Krawatte zurecht. «Ich habe tatsächlich drei Kollegen mit Migrationshintergrund gefunden, die mir helfen. Jeder nimmt sich gerade einen der Wohntürme vor, aber das dauert natürlich. Ich schätze, wir sind übermorgen durch.»
«Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen keine Kaffeekränzchen halten. Auch den Punkt müssen wir abhaken.»
Greiner kramte in seinen Unterlagen und wandte sich dann Abel zu. «Zu den neuen Erkenntnissen aus der Rechtsmedizin.» Er kratzte sich am Kinn. «Wie ich feststellen muss, hatten Sie, Herr Abel, mit Ihrem Hinweis neulich recht, wir sollten vor allem auf Dinge achten, die mit Füßen zu tun haben. Das hat sich nun ja auf besonders makabre Art und Weise bestätigt. Haben Sie noch weitere Tipps für uns, was die Ausrichtung der Ermittlungen angeht? Oder Sie natürlich, Frau Christ?»
Abel und Hannah sahen sich an. «Fang ruhig du an», sagte sie lächelnd zu ihm und zeigte auf das Copyboard am Ende des Tisches.
«Na gut», sagte Abel, dem es nicht so recht schmecken wollte, seine spontanen Gedanken vor anderen Leuten niederzuschreiben. Das hatte in seinen Augen immer etwas Endgültiges an sich, weil danach Meinungsänderungen manchmal schwerfielen. Und nichts war für die Ermittlungen so wichtig, wie bis zum Schluss für alles offen zu bleiben.
Trotzdem stand er auf und ging ans Board. «Wir müssen mit dem Naheliegenden beginnen», sagte er dann, «nämlich dem Abklappern der einschlägig vorbestraften Gewalt- und Sexualstraftäter.»
Greiner winkte ab. «Sagen Sie mir etwas, das ich noch nicht weiß!»
Abel ignorierte den Einwurf und redete einfach weiter. «Dabei ist alles von Interesse, was mit Füßen, Schuhen, Amputation und Strangulation zu tun hat.» Nacheinander schrieb er diese Stichworte auf und betrachtete einen Moment nachdenklich. «Aber auch Tierpräparation ist ein Suchwort. Ich könnte mir zudem vorstellen, dass ein ambitionierter Jäger sich entsprechende Kenntnisse im Konservieren von Körperteilen aneignen kann», ergänzte er und schrieb auch das auf. «Das KK12 soll in seinem System nach solchen Informationen suchen. Diese Akten sollten wir uns dann genauer ansehen.»
Während Hansen dienstbeflissen mitschrieb, bemerkte Abel, wie Leingart mit unübersehbarer Abscheu auf das Copyboard starrte.
«Probleme?»
Leingart verzog das Gesicht. «Na ja, also ehrlich … Ich versuche mir vorzustellen, wie sich jemand an abgetrennten Füßen aufgeilt, aber irgendwie fehlt mir da die Phantasie. Kommt so etwas öfter vor?»
Abel breitete die Arme aus. «Dass Frauenfüße Männer anmachen können, ist ja nicht gerade was Neues», sagte er dann. «Denken Sie nur an die Lotosfüße im alten China. Da wurden den Frauen sogar Knochen gebrochen, nur um durch Abbinden möglichst kleine Füße zu formen, die dem damaligen Schönheitsideal entsprachen. Ist noch keine hundert Jahre her, als das normal war.»
«Wie krank muss man sein dafür?» Leingart schüttelte den Kopf.
«Ich hab mal gelesen», warf Hannah ein, «dass der dadurch verursachte hilflose Gang den Beschützerinstinkt der Männer wecken sollte. Außerdem …» Sie schaute sich um. «Uns ist doch allen klar, dass das Abbinden der Füße ein klarer Fall von Bondage war. Oder?»
Greiner hob abwehrend die Hände. «Na ja, also da kenne ich mich wirklich nicht aus! In jedem Fall finde ich es einfach nur grausam.»
«Das mit den Füßen oder Schuhen kommt öfter vor, als man denkt», fuhr Abel fort. «Bei manchem Fetischisten werden ganze Schränke voll geklauter Frauenschuhe gefunden. Das ist zwar relativ harmlos. Aber möglicherweise kann so etwas der Auftakt für ernstere Obsessionen sein.»
«Manche Männer tragen die geklauten Frauenschuhe auch gern selbst, wie man so hört», warf Leingart ein und hüstelte.
«Ja, das soll auch vorkommen. In unserem Fall geht es aber ganz offensichtlich in erster Linie um die Füße. Wobei …» Er überlegte einen Moment. «Wir sollten überprüfen lassen, was für Schuhe Carina Lenz bei ihrem Verschwinden getragen hat. Kann ja nicht schaden. Vielleicht war das ja doch ein Schlüsselreiz bei der Auswahl.» Abel hielt dies sogar für nicht unwahrscheinlich. Insgeheim ärgerte er sich aber, dass er darauf nicht schon gekommen war, als er mit den Eltern des Mädchens gesprochen hatte. Dann hätte er die Antwort darauf bereits.
Hannah hob die Hand. «Die jungen Frauen aus dem See waren ja ziemlich dünn, also hatten keine besonders ausgeprägten weiblichen Rundungen, sondern eher kindliche Figuren. Könnte das ein Zeichen für eine versteckte Pädophilie sein?»
Abel nickte und machte eine entsprechende Notiz. «Guter Punkt. Und wegen dieser fehlenden weiblichen Rundungen müssen wir auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Täter latent homosexuell ist, sich das jedoch nicht eingestehen will.» Eine weitere Notiz auf dem Board.
Greiner verzog das Gesicht. «Klingt für mich ziemlich dünn. Sei’s drum, man weiß nie, was mal wichtig sein könnte.»
«Ich versteh immer noch nicht, was der Kerl mit den Füßen macht», warf Leingart ein. «Okay, er sägt sie ab, aber er präpariert beziehungsweise konserviert sie auch noch. Wozu macht er das? Und was passiert nach dem Abschneiden?»
Abel nickte. «Das frage ich mich auch. Wir werden uns daher näher mit dem Präparationsverfahren beschäftigen müssen, um eine Vorstellung davon zu bekommen. Aber es gibt noch etwas, das wir bedenken müssen.» Abel sah in die Runde. Jetzt würde es gleich unangenehm. «Sie erinnern sich doch bestimmt alle an den schmalen, dunkleren Rand an der Schnittkante der Beinstümpfe? Nun, ich denke, dass wir dafür inzwischen eine Erklärung haben: Der Mörder hat die Füße mit einer chemischen Substanz behandelt.»
«Und wieso findet sich diese Substanz dann auch an den Beinen?» Greiner hatte offenbar immer noch nicht begriffen. «Ich meine, es hätte doch gereicht, wenn er nur die Füße …» Plötzlich verstummte der Leiter des KK11, und sein Gesicht wurde blass. «Oh, Scheiße!», sagte er dann und fasste sich an die Stirn. «Sie meinen doch nicht im Ernst, dass …?»
Abel nickte düster. «Doch. Der Fuß wurde behandelt, als er sich noch am Bein befand. Als Carina Lenz noch lebte.»
Die Anwesenden starrten ihn für einen Moment an wie einen Geist.
Greiner schüttelte schließlich den Kopf. «Gütiger Gott! Die Kollegen vom KK12 sind natürlich längst aktiv und haben eine Liste mit dem Straftätern zusammengestellt, die potenziell in Frage kommen. Aber ich werde Ihre Tipps hier gleich weitergeben, mal sehen, ob das noch mehr zutage fördert. Kollegin Mehnert ist gerade drüben und …»
Im selben Moment öffnete sich die Türe des Besprechungszimmers, und die besagte Kommissarin trat mit einer roten Aktenmappe unter dem Arm ein. Sie grüßte beiläufig und setzte sich dann neben Horst Leingart. Abel bemerkte sofort, dass die sonst so fröhliche, junge Frau ungewöhnlich ernst wirkte.
Greiner zeigte auf die Unterlagen, die sie mitgebracht hatte. «Sind das die Ergebnisse aus dem KK12? Steht irgendetwas Erhellendes drin?»
Mehnert nickte. «Wollen Sie die lange oder die kurze Version? Die kurze ist, dass es überraschend viele Männer gibt, die sich im Raum Köln mit weiblichen Füßen oder Schuhen beschäftigen. Dazu kommt noch eine hohe zweistellige Zahl von Sexualstraftätern, die junge Frauen bevorzugen. Ein paar davon saßen wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung ein, andere wurden zu Bewährungsstrafen verurteilt oder sind exhibitionistisch aufgefallen. Es gibt also ausreichend Leute, die wir abklappern könnten. Aber ehrlich gesagt …» Sie öffnete die rote Mappe vor sich. «… kommt eigentlich nur einer davon in Frage.»
«Nicht so voreilig», sagte Abel und zeigte auf die Notizen auf dem Board hinter sich. «Wir haben gerade weitere Erkenntnisse gewonnen. Ich denke, man sollte die mit dem KK12 erst noch abgleichen und dann eine aktualisierte Liste erstellen.»
Kommissarin Mehnert nickte erneut. «Okay, das wusste ich nicht. Soll ich gleich noch mal rüber, oder reicht es, wenn …» Plötzlich brach sie ab, und Abel bemerkte, wie sie an ihm vorbeistarrte – genau auf das Copyboard. Sie öffnete die rote Akte und begann hektisch darin zu blättern. Irgendwo in der Mitte der Mappe stockte sie und zeigte mit einem Finger auf eine Stelle der betreffenden Seite.
«Ist irgendetwas?», fragte Abel.
«Da hinten steht etwas von ‹Jäger›. Ist das ein wichtiger Faktor oder nur marginal?»
Abel zuckte mit den Schultern. «Einer von mehreren, die den Kreis der Verdächtigen einengen sollen.» Er kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas in ihren Unterlagen zu erkennen. «Sie haben nicht zufällig etwas in der Richtung in Ihren Akten stehen?»
«Sagen wir mal so: Bevor ich in diese Besprechung kam, dachte ich, dass wir möglicherweise einen Treffer haben. Jetzt glaube ich fast, wir können einen Haftbefehl ausstellen.»
Abel trat neben sie und las mit, während sie ihre Papiere vor sich ausbreitete. «Hier ist unser Kandidat. Fünfzig Jahre alt und Stammkunde der Sitte. Hat seit seiner Jugend ein Dutzend sexueller Nötigungen begangen, wegen derer er auch verurteilt wurde. Anfangs zu Bewährungsstrafen, was aber nicht gefruchtet hat. Wurde zuletzt wegen schwerer Vergewaltigung zu drei Jahren verurteilt und hat jeden Tag davon abgesessen. Seitdem ist er nicht mehr auffällig geworden. Oder soll ich sagen: nicht mehr erwischt worden?»
«Und was ist an ihm so speziell, dass Sie ihn für unseren Mann halten», fragte Greiner ungeduldig. «So schlimm das ist, solche Kerle gibt es ja leider mehr als genug. Also?»
Mehnert schob ihm eines der ausgebreiteten Blätter rüber. «Schauen Sie doch mal nach, was sein Markenzeichen war. Steht in der Mitte, direkt unter den ganzen Vorstrafen.»
Greiner nahm das Blatt und begann zu lesen. Bereits nach den ersten Zeilen verhärtete sich sein Gesichtsausdruck. Er schaute die Anwesenden vielsagend an und las dann laut: «Allen Opfern fügte er heftige Bisse an den Füßen und Waden zu. Dem letzten biss er zwei Fleischstücke heraus, die man später in seiner Wohnung im Gefrierschrank fand.»
Die Stille, die plötzlich in dem Raum herrschte, war zum Greifen.
«Okay», sagte Abel, als das Schweigen nicht mehr auszuhalten war. «Ich glaube, den Mann sollten wir uns näher ansehen.»
Er griff nach der Mappe, die vor Kommissarin Mehnert lag, um mehr über diesen Menschen zu erfahren – als Greiner den Arm hob und mit dem Blatt winkte, das er in der Hand hielt.
«Nicht so voreilig, Abel. Das Beste über den Kerl haben Sie noch gar nicht gehört. Hier steht nämlich noch etwas, und zwar zu den beiden Fleischstücken aus den Füßen seines letzten Opfers.» Er sah kurz auf das Dokument. «Man fand diese wie gesagt im Gefrierschrank. Aber sie lagen dort nicht etwa unter einer Packung Pommes oder Gartengemüse.» Greiner sah Abel bedeutungsvoll an. «Sie befanden sich direkt neben einem zerbissenen Hasen, den er zuvor mit einer illegal aufgestellten Wildschlinge gefangen hatte.»
Das Wort Schlinge durchzuckte Abel wie ein giftiger Pfeil. Gleichzeitig sah er den toten Hasen steif gefroren und mit stumpfem Blick vor sich liegen. Wie den Vorboten von etwas Größerem, Dunklerem.
«Ja», sagte er schließlich bedächtig. «Das würde ich als zum Thema Jagd gehörig gelten lassen.» Im nächsten Moment schlug er mit der Faust auf den Tisch.
«Mein Gott, wir haben ihn!»
Das Erste, was Martin Abel immer getan hatte, wenn er früher von der Schule nach Hause kam, war lüften. Egal ob im Sommer oder Winter, er riss so schnell wie möglich das Fenster seines winzigen Kinderzimmers auf und atmete wie nach Luft ringend tief ein und aus.
In seinem Zimmer hatte er Angst zu ersticken, genau genommen im ganzen Haus. Der durchdringende Geruch nach Lüge und Gewalt drohte, ihm jeden Moment die Luft abzuschnüren. Nur draußen im Wald hinter dem elterlichen Bauernhof, wo die Bäume in jeder Sekunde frischen Sauerstoff erzeugten, konnte er wirklich frei atmen.
Sobald sich sein Puls beruhigt hatte, legte er sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen aufs Bett und hörte Jim Morrison zu, wie er in Riders on the Storm den Mörder auf der Straße heraufbeschwor. Damals wusste er noch nicht, dass der Song teilweise auf der Geschichte des Serientäters Billy Cook beruhte, der in den Fünfzigern in den USA das Leben von sechs Menschen ausgelöscht hatte. Aber er spürte, wie die einzelnen Worte und der leise Donner im Hintergrund des Liedes etwas in seinem Inneren bewegten, das er zuvor nicht gekannt hatte.
Als ihn dann seine Mutter zum Essen rief und er die knarzende Holztreppe hinunterstieg, fühlte er sich nicht mehr wie ein zwölfjähriger Junge, der vor seinem Vater Angst haben musste.
Er war nun ein Mann, der die Welt aus den Angeln heben konnte.
Seine Eltern saßen bereits am Tisch. Seine Mutter schaute kurz auf, um ihm versteckt ein warmes Lächeln zuzuwerfen. Sein Vater dagegen empfing ihn mit einem Blick, der ihn für Dinge bestrafen sollte, die nur in seinen Augen Vergehen waren. Martin spürte, wie es in dem Mann zu brodeln begann, und setzte sich schnell.
Das Essen verlief wie immer stumm. Die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen, waren das Ticken der Wanduhr und das Aufstoßen des Vaters. Martin und seine Mutter bemühten sich, möglichst wenig mit dem Geschirr und Besteck zu klappern, um ihm keinen Grund für einen Wutausbruch zu geben. Dieser schwieg bis auf ein paar knurrende Befehle, wenn er den Teller nochmals mit Fleisch oder Kartoffeln gefüllt haben wollte. Alle aßen still vor sich hin – bis zu dem Moment, als seiner Mutter ein Stück Braten, das für den Teller seines Vaters bestimmt war, von der Gabel auf den staubigen Holzboden fiel.
Für eine Sekunde schien die Zeit stillzustehen. Während sich die Pupillen seines Vaters verengten, starrte seine Mutter erschrocken auf das Fleisch. Einen Moment sah es so aus, als ob der bullige Mann über den Tisch auf sie zuspringen wollte. Doch dann wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab und stand langsam auf.
Im nächsten Augenblick holte er aus und schlug Martins Mutter mit der flachen Hand so fest ins Gesicht, dass sie vom Stuhl gerissen wurde. Der Knall des Schlags durchbrach die Stille in dem Raum mit solcher Schmerzhaftigkeit, dass Martins Herzschlag für einen Moment aussetzte.
Eine Sekunde später stürzte er sich auf seinen Vater.
«NEIN!» Seine am Boden liegende Mutter versuchte sich aufzurappeln und dazwischenzugehen, aber es war zu spät. Martin rammte seinen Vater mit der Schulter, um ihn umzustoßen – doch es fühlte sich an, als liefe er gegen eine Betonmauer. Fast beiläufig stieß der Mann ihn von sich, das aber mit solcher Kraft, dass Martin auf den Esstisch krachte und von dort kopfüber auf den Fußboden fiel. Mit viel Geschick schaffte er es, sich abzurollen, um sich sofort für einen neuen Angriff bereit zu machen.
Wütend stieß sein Vater die Stühle zur Seite, um sich auf den Jungen zu werfen. Voller Zorn schob er seine Ärmel hoch und legte die muskulösen Unterarme frei. Er ging mit erhobenen Fäusten auf seinen Sohn zu und wollte gerade zuschlagen, als die Mutter dazwischenging und ihm den Weg versperrte. Gleichzeitig warf sie Martin einen flehenden Blick zu, den dieser nur zu gut kannte.
Für einen Moment irritiert, hielt sein Vater inne, unschlüssig, worauf er seine Wut zuerst richten sollte. Dann wandte er sich wieder ihr zu und schlug sie erneut ins Gesicht.
Martin floh mit Tränen in den Augen aus dem Haus und rannte zur Scheune. Auf dem Weg dorthin verfolgten ihn das Poltern von Möbeln und die leiser werdenden Schreie seiner Mutter, bis er endlich den Heuschober erreichte. So schnell er konnte, kletterte er die Leiter zum Dachboden hinauf und wollte sich schon in einer Ecke verkriechen, als ihn ein plötzlicher Gedanke erstarren ließ.
Wenn er sich jetzt versteckte, hätte das Ganze nie ein Ende. Er würde immer wieder fliehen müssen, bis er eines Tages alt genug war, um endlich von hier wegzuziehen. Dann würde er jedoch seine geliebte Mutter im Stich lassen. Die Angst vor seinem Vater hätte dann gewonnen, und er könnte nie wieder in den Spiegel schauen.
Martin ballte die Fäuste, dass es schmerzte. Das durfte nicht geschehen. Die Angst durfte niemals gewinnen. Niemals!
Als sein Vater wenige Minuten später in die Scheune kam, um auch ihn zu verprügeln, konnte er Martin nicht entdecken.
«Komm runter, du Mistkröte, damit ich dir beibringen kann, wie man sich seinem Vater gegenüber benimmt!» Martin, der sich auf dem Boden hinter den Heuballen verbarg, die er gerade aufgeschichtet hatte, glaubte, seinen schlechten Atem bis hier oben riechen zu können.
«Ich weiß, wo du steckst», brüllte sein Vater. Wütend rüttelte er an der Leiter und begann hinaufzuklettern. «Na warte! Ich werde dich …»
Weiter kam er nicht. Denn in dem Moment, als er das obere Drittel der Leiter erreicht hatte, stieß Martin den Stapel mit den Heuballen um.
Sein Vater wurde mit einer solchen Wucht in die Tiefe gerissen, dass er wie ein Felsbrocken gegen den Scheunenboden krachte.
«Du verdammte Mistkröte», stöhnte er. Ächzend versuchte er, sich mit seinen kräftigen Armen von den auf ihm liegenden Heuballen zu befreien. Doch gerade als er diese halbwegs zur Seite geschoben hatte, spürte er plötzlich einen harten Druck an seinem Hals.
Martin stand über ihm und hielt die Heugabel so, dass eine der Zinken rechts und eine links vom Kehlkopf in das Fleisch drückte.
«Nimm sofort dieses Ding …!» Martin verstärkte den Druck nur leicht, doch er spürte bis in den langen Holzstiel der Heugabel, wie der Kehlkopf seines Vaters auf und ab zuckte.
«Nie wieder», raunte er dem am Boden Liegenden leise zu. «Tu das nie wieder. Verstanden?»
Er fühlte, dass sein Vater sich nochmals aufbäumen wollte, doch von einer Sekunde zur anderen erlosch der Widerstand in seinen Augen, und er nickte gerade so stark, dass sein Zungenbein dabei nicht brach.
Martin beließ die Heugabel noch einen Moment in der Position, dann zog er sie zurück und warf sie zur Seite. Mit einem letzten, eiskalten Blick auf seinen Vater verließ er die Scheune.
Von diesem Tag an rührte Martins Vater die Mutter nicht mehr an. Oft sah man ihm an, dass er am liebsten explodiert wäre, aber er hielt sich zurück. Die permanente Drohung eines Gewaltausbruchs am Esstisch wich dem gegenseitigen Belauern zweier gleichstarker Gegner, die auf eine Schwäche des anderen warteten. Die Mutter wunderte sich natürlich über die plötzliche Änderung im Verhalten ihres Mannes, aber den Grund dafür sollte sie nie erfahren.
Martin hingegen hatte eine wichtige Lektion gelernt: dass es sich lohnen konnte, seine Angst zu besiegen. Wenn du sie nicht tötest, tötet sie dich, sagte er sich seitdem immer in Momenten der Verunsicherung. Daraus wuchs allmählich eine Entschlossenheit, die ihm später half, auch in schwierigsten Situationen nicht die Augen zu verschließen, sondern sich geradewegs auf die dunkelsten Punkte zuzubewegen.
Und so verließ er die Besprechung im KK11 nach den schrecklichen Erkenntnissen um den Verdächtigen nicht. Er blieb, in der Absicht, dem Schrecken des aktuellen Falls ganz die Stirn zu bieten.
Und er war nicht allein. Wie ein verschwörerischer Haufen saßen sie zusammen und überlegten fieberhaft die nächsten Schritte.
«Wir müssen ihn festnehmen, sofort!» Horst Leingart schien nicht zu bremsen in seinem Enthusiasmus, den Mann dingfest zu machen, der diese für ihn unverständlichen Dinge tat.
«Immer langsam», mahnte Greiner. «Wir haben bis jetzt keinen einzigen Anhaltspunkt außer diesen alten Berichten. Da wir nicht genau wissen, wann die Taten begangen wurden, lässt sich ein Alibi schlecht überprüfen. Einen DNA-Vergleich können wir auch nicht machen, weil es keine entsprechenden Spuren gibt. Also müssen wir auf andere Methoden zurückgreifen wie Überwachung, Befragung des Verdächtigen und seines Umfelds und was uns sonst noch so einfällt. Seid kreativ, Leute!»
«Wir können doch nicht einfach nichts tun und den Kerl weiter frei rumlaufen lassen!»
«Habe ich gerade etwas von Nichtstun gesagt, Leingart? Wir müssen sogar sehr viel tun, aber für eine Festnahme ist es zu früh.» Greiner sah auf die Unterlagen. «Der Mann ist polizeilich gemeldet, wir werden gleich mal feststellen, wo er wohnt.» Er stand auf und setzte sich vor den auf einem kleinen Beistelltisch stehenden Laptop. Er loggte sich in die entsprechenden Datenbanken ein und hatte rasch die wichtigsten Informationen.
«Hier haben wir den Knaben. Lehmann heißt er, gemeldet in Bilderstöckchen, was ja schon mal nicht unbedingt eine der feinsten Adressen ist. Er scheint momentan tatsächlich nicht einzusitzen, zumindest habe ich hier keinen Eintrag. Er ist übrigens gelernter Schlosser, anschließend überwiegend arbeitslos. Wie er derzeit sein Geld verdient, ist unklar, aber das finden wir schon noch heraus.»
Greiner drehte sich zu den anderen um. «Okay, zuallererst müssen wir feststellen, ob die Adresse noch stimmt. Ich schlage vor …» Bevor er weiterreden konnte, nahm Abel sein Handy aus der Tasche, beugte sich über den Laptop und begann bei eingeschaltetem Lautsprecher, die angegebene Telefonnummer zu wählen. Bevor Greiner reagieren konnte, klingelte es – und alle in dem Raum hielten den Atem an.
«Ja, Lehmann?» Die Stimme am anderen Ende war kratzig und zeugte in Abels Ohren von langjährigem Kettenrauchen oder Asthma.
«Bin ich da bei Elektro Kammerer?»
Der Mann schnaubte. «Nein, du Arsch, du bist bei mir! Such dir gefälligst jemanden, der für dich wählt, wenn du selbst zu blöd dazu bist!» Ein lautes Klicken, dann war die Leitung tot.
Abel steckte sein Handy weg. «Die Adresse stimmt noch.»
Greiner starrte ihn mit gerunzelter Stirn an. «Ganz offensichtlich», sagte er dann. «Ihre Rufnummer haben Sie unterdrückt?»
«Natürlich.»
Greiner betrachtete Abel noch einen Moment und nickte schließlich. Die direkte Vorgehensweise schien ihm zu gefallen.
Er wandte sich wieder den anderen zu. «Ich will, dass der Mann rund um die Uhr überwacht wird. Das regle ich selbst mit dem Mobilen Einsatzkommando. Außerdem soll jemand einen Leichenspürhund an sein Auto bringen. Unauffällig versteht sich, denn bisher haben wir ja nichts in der Hand. Wenn der Kollege fündig wird, war er eben zufällig in der Ecke, und der Hund hat angeschlagen, da fällt mir dann schon etwas ein. Hansen, das organisieren Sie.»
Greiner öffnete den Mund, um mit seinen Überlegungen fortzufahren, als Abel ungeduldig die Hand hob.
«Ich finde, wir sollten das abkürzen.»
Greiner hob fragend die Augenbrauen. «Was genau meinen Sie?»
«Das mit der Überwachung und dem ganzen Kram. Ist ja alles gut und schön, aber wenn Lehmann sich unverdächtig verhält, verschenken wir möglicherweise eine Menge Zeit.»
Greiner zuckte mit den Schultern. «So läuft das nun einmal. Für eine Hausdurchsuchung reichen die Indizien nicht aus, da brauche ich erst gar nicht zum Staatsanwalt gehen. Wir brauchen mehr Munition.»
«Wir sollten uns trotzdem so schnell wie möglich sein Haus oder seine Wohnung ansehen. Ich muss wissen, wie er lebt.»
Greiner schaute ihn fragend an. «Und wie stellen Sie sich das vor? Wollen Sie einbrechen? Schätze mal, so was würde sogar in Ihrer Personalakte negativ auffallen.»
Abel nickte. Schön, dass sich jemand dafür interessierte. Er tat es nämlich nicht.
«Wir machen das wie gerade mit dem Anruf: Wir gehen hin und klingeln.»
Greiner runzelte die Stirn. «Und dann macht er Ihnen auf und lässt Sie rein. Ja, sicher. Würde ich an seiner Stelle auch tun.»
Abel verdrehte die Augen. Für eine Sekunde versetzte er sich gedanklich zu dem Moment zurück, als er seinem Vater mit der Heugabel Paroli geboten hatte. Nicht wegrennen, sondern immer geradewegs auf die Quelle der Angst zu! Das war die einzige Strategie, die ihn in seinem Leben weitergebracht hatte.
«Warum denn nicht? Bei seinem Vorstrafenregister ist es ja nicht ungewöhnlich, dass die Polizei bei ihm vorbeischaut. Einfach mal nachsehen, was der alte Kunde so macht. Uns wird schon etwas einfallen, damit er uns reinlässt. Und wenn er es nicht tut, ist das schon ein Grund mehr, ihn unter die Lupe zu nehmen. Außerdem: Sagten Sie vorhin nicht selbst, wir sollten kreativ sein?»
Greiner merkte wohl, in was er sich da hineinmanövriert hatte, und verzog das Gesicht. Doch er schien sich schnell zu fangen. Er sah erst Hannah an und dann ihn, und Abel bekam im selben Moment den Eindruck, nicht alle Gedanken des Ersten Hauptkommissars zu kennen.
«Ihre Idee gefällt mir zwar nicht besonders, aber andererseits könnten wir dadurch vielleicht tatsächlich Dinge erfahren, die für uns wichtig sind. Also: einverstanden. Schauen Sie bei ihm vorbei, und wir warten ab, was passiert.»
Abel atmete erleichtert auf. Jetzt konnte er endlich etwas Schwung in die Ermittlungen bringen. Er liebte Schwung. Jetzt kam es noch darauf an, diesem Schwung eine strategisch kluge Richtung zu verleihen.
Greiner griff nach den Unterlagen, die vor Kommissarin Mehnert lagen. «Am besten lesen Sie sich gleich mal seine Akte durch, dann machen Sie sich schnellstmöglich auf die Socken.» Er wollte den Stapel gerade zu Abel rüberschieben, als dieser die Hand hob.
«Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor.»
Greiner hielt inne und starrte ihn an. «Wie bitte?»
Abel spitzte die Lippen. «Ich denke, dass wir, wenn wir schon so eine riskante Aktion durchführen, es gleich richtig machen müssen. Einfach nur vorbeischauen und ein bisschen rumschnüffeln, ist zu wenig. Lehmann ist durch seine diversen Vorstrafen vermutlich ordentlich abgebrüht. Wir sollten daher versuchen, ihn zu provozieren. Nur so lässt er womöglich seine Maske fallen.»
Greiner ließ die Unterlagen los.
«Ich bekomme das unbestimmte Gefühl, dass Sie mich gerade aufs Kreuz legen wollen. Also raus damit … Wie stellen Sie sich diese Provokation vor?»
Abel verschränkte die Arme. «Ganz einfach. Indem wir ihm genau das präsentieren, was ihn am meisten aus der Fassung bringt. Jemand Weibliches.» Seine Mundwinkel zuckten, als er die Katze aus dem Sack ließ.
«Hannah, Frau Mehnert. Ich denke, ihr solltet das übernehmen.»
Julia Peters war so aufgeregt wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie hatte sich fünf Mal vor dem Spiegel umgezogen, bis sie sich endlich für die enge schwarze Stretchjeans entschieden hatte. Dazu wählte sie eine dunkelrote Bluse und ihre enge, schwarze Lederjacke. Sie wollte heute auf keinen Fall etwas anziehen, das sie dick wirken lassen konnte. Nicht heute! Der erste Eindruck war entscheidend. Wenn sie den vermasselte, dann …
Mein Gott! Dabei kenne ich ihn doch noch gar nicht!
Julia zog gerade ihre hochhackigen Schuhe an, als plötzlich die Zimmertür aufging. Ihre Mutter steckte den Kopf herein und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, klappte ihn dann aber wieder zu.
«Gehst du noch mal weg, mein Schatz?», fragte sie dann überrascht. «Ich wollte dich gerade zum Abendessen rufen.»
«Keinen Hunger», antwortete Julia. «Und es wäre schön, wenn du anklopfen würdest, bevor du in mein Zimmer platzt. Auch ich habe so etwas wie eine Privatsphäre.»
Sie steckte ihr Smartphone in ihre kleine Handtasche und stellte sich erneut vor den Wandspiegel, um ihr Aussehen zu kontrollieren. Ihre Haare hatte sie offen gelassen, weil sie wusste, dass viele Männer auf ihre Naturwellen standen. An der Bluse waren die obersten drei Knöpfe geöffnet, sodass ihre hervortretenden Schlüsselbeine zu sehen waren. Sie hatte zudem Lipgloss und ein kleines bisschen Rouge aufgetragen, um möglichst natürlich zu wirken. Er hatte ja geschrieben, dass …
«Triffst du dich etwa mit einem Jungen?» Ihre Mutter stand mit einem wissenden Lächeln in der Tür und hatte sie offenbar die ganze Zeit beobachtet. Julia lief rot an.
«Ich bin siebzehn, da trifft man sich nicht mit Jungs, sondern mit Männern, wenn du es genau wissen willst.»
Ihre Mutter riss überrascht die Augen auf. «Warum weiß ich nichts davon? Und wie alt ist er? Ich meine, du weißt doch, dass ich mich darüber mindestens genauso wie du freuen würde, wenn endlich ein …»
«Mama!» Julia wollte sich auf keinen Fall anhören, was ihre Mutter zu sagen hatte. «Wir werden heute nicht zusammen in die Kiste springen und vermutlich auch nicht gleich heiraten. Also mach dir keine Sorgen, sondern halte dich einfach raus.»
Sie nahm ihre Handtasche und ging wortlos an ihrer Mutter vorbei in den Flur, wo sie ein letztes Mal in den Spiegel sah. Sollte sie nicht doch ein Kleid anziehen? Oder ein enges Top anstatt der Bluse?
«Willst du mir nicht wenigstens sagen, wo ihr euch trefft? Nur für den Fall, dass wir dich abholen müssen. Außerdem – du weißt ja, als hübsche junge Frau muss man vorsichtig sein.»
Julia zog die Augenbrauen hoch, und ihre Mutter verstummte. Sorgfältig legte sie dann den Kragen ihrer Lederjacke zurecht und öffnete die Wohnungstür.
«Wenigstens die Telefonnummer dieses Mannes, Schatz», bettelte ihre Mutter und griff nach ihrem Ärmel. «Oder seinen Namen. Bitte!»
Julia schüttelte sie wütend ab. «Ich hab alles im Griff, Mama», fügte sie versöhnlicher hinzu, als sie den betroffenen Gesichtsausdruck ihrer Mutter sah. Sie konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wie ein Kind behandelt zu werden, aber sie wollte deshalb keinen Krieg anzetteln. Heute hatte sie ganz andere Dinge im Kopf.
Zuerst musste sie irgendwie zum 140er kommen. Wenn sie erst mal an der Etzelstraße war, konnte sie den Rest laufen.
Als Hannah mit Kommissarin Mehnert das Präsidium verließ, schlug ihr die erste drückende Schwüle des Jahres ins Gesicht. Die letzten Tage waren schön, aber nicht besonders heiß gewesen, jetzt begann sie sofort zu schwitzen. Zum Glück hatte sie sich am Morgen für das Jeanskleid entschieden, das nur knapp über die Knie reichte, egal, was die Kollegen dachten.
«Tja, ich glaube, wir sollten uns erst einmal richtig vorstellen», sagte Hannah, während sie in den Wagen stieg. «Da drin in der Meute ging das ja nicht.»
Kommissarin Mehnert reichte ihr lachend die Hand. «Ich bin Katharina – oder Kathi, wenn das okay für dich ist.»
«Absolut. Ich bin Hannah.»
Die Frau war ihr sympathisch. Und ihr gefiel, wie sie die Situation anging. Es sprach für Sozialkompetenz, wenn man auf dem Weg zu einem potenziellen Frauenmörder trotzdem versuchte, seiner Mitstreiterin ein gutes Gefühl zu geben. So etwas war Gold wert in ihrem Beruf. Ohne diese menschlichen Momente war der Job oft kaum auszuhalten.
Katharina Mehnert schnallte sich an und lenkte den Wagen in Richtung Zoobrücke. Nachdem sie den Rhein überquert hatten, fuhr sie über die Innere Kanalstraße und die Kempener Straße weiter in den Nordwesten der Stadt, wo ihr Ziel lag.
«Du scheinst dich hier ja bestens auszukennen», meinte Hannah.
«Wie man sich nach fünf Jahren Kölner Tretmühle eben auskennt. Falls ich jemals bei der Polizei aufhören sollte, kann ich sofort als Taxifahrerin anfangen.»
«Na, wenn das keine guten Perspektiven für eine junge Beamtin sind!» Beide lachten, und Hannah bemerkte, dass sie sich fast vorkam, wie auf einem Mädels-Ausflug. Die Zeit mit Martin fühlte sich momentan sehr verkrampft an, da tat die erfrischende Art ihrer Kollegin gut.
Und sie musste zugeben, dass Katharina wirklich gut aussah. Ihr langes blondes Haar schimmerte, als wäre es heute Morgen von einem Topstylisten in Form gebracht worden. Die beige Dreiviertelhose und die weiße Bluse saßen wie angegossen an ihrem gertenschlanken Körper und hätten auch aus Hannahs eigenem Kleiderschrank stammen können. Sie trug nur wenig Make-up, hatte das aufgrund ihrer ausgeprägten Naturbräune aber auch gar nicht nötig. Die Konkurrenz schläft nicht, dachte Hannah. Aber solange sie so sympathisch ist: halb so wild.
«Hey, ein Schmuckladen», rief sie plötzlich. «Halt mal schnell an!» Katharina Mehnert legte eine Vollbremsung hin, sodass der Fahrer im Wagen hinter ihr ein Hupkonzert startete.
«Sorry, aber Polizei im Einsatz», sagte Katharina Mehnert und gestikulierte nach hinten. «Willst du da echt rein», fragte sie dann mit einem Blick aus dem Seitenfenster. «Da gibt’s doch nur billiges Zeug.»
«Ich will auch nicht viel ausgeben», antwortete Hannah mit einem verschwörerischen Augenzwinkern. «Warte, ich bin gleich wieder da.»
Als sie kurz darauf wieder in den Wagen stieg, trommelte Kathi ungeduldig auf dem Lenkrad herum. «Na, jetzt bin ich aber gespannt.»
Hannah hielt zwei kleine Papiertütchen hoch und reichte ihr eine davon. «Das ist für dich. Am besten legen wir es gleich an.»
Katharina Mehnert blickte sie eine Sekunde fragend an und öffnete dann die Tüte in ihrer Hand. Im nächsten Moment spitzte sie die Lippen. Vorsichtig ließ sie den Inhalt herausgleiten und sah ihn genau an. «Du willst es ja wirklich wissen», sagte sie dann bedächtig.
Wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel in Köln-Bilderstöckchen erreicht. Sie parkten den Wagen direkt neben einer Mietskaserne aus den Sechzigern, an deren Außenfassade großflächig der Putz abgeblättert war.
Wohnte hier ein Monster? Unbemerkt zwischen Nachbarn, die sich mehr dafür interessierten, ob ihre Satellitenschüssel richtig eingestellt war, als für die geheimen Hobbys ihrer Nachbarn? Hannah fand es immer wieder erschreckend, wie egal Menschen sich manchmal waren. Und am Ende hieß es dann immer: Das hätte ich niemals gedacht! Er war doch so ein ruhiger Nachbar. Und das Treppenhaus hat er auch regelmäßig geputzt.
Hannah schaute aus dem Fenster und winkte den beiden Männern in einem Wagen auf der anderen Straßenseite zu. Wie sie wusste, stand um die Hausecke noch der Transporter mit weiteren Beamten. Greiner hatte darauf bestanden, dass sich ein Mobiles Einsatzkommando in nächster Nähe bereithielt, falls die Lage eskalierte.
Katharina Mehnert wollte schon aussteigen, als Hannah sie zurückhielt.
«Alles klar bei dir?»
Wieder lächelte Katharina, aber in ihren Augen lag nun eine gewisse Düsterkeit. So ist das, dachte Hannah. Nach außen hin bleiben wir taff, aber spurlos geht das alles nicht an uns vorüber. Als Frau einem potenziellen Frauenmörder entgegenzutreten und dabei ein Pokerface zu bewahren, verlangte eine Menge ab. Professionalität hin oder her. Zudem war die Situation alles andere als alltäglich.
«Ich bin okay. Das wird schon. Ich weiß bloß nicht so recht, was ich hoffen soll: dass wir einen Mörder treffen oder bloß einen Freak, der möglicherweise seine Lektion im Knast gelernt hat.»
«Geht mir genauso. Aber da müssen wir durch.» Sie berührte Mehnerts Arm. «Na dann los. Locken wir ihn aus der Reserve.»
Mehnert nickte. «Ich bin gespannt, worauf er anspricht.»
Sie nahm ihre Aktenmappe und ihr Handy von der Ablage und stieg aus. Das Handy war so eingestellt, dass sie nur noch einen Knopf drücken musste, um die Aufnahmefunktion zu starten. Ein Mitschnitt ohne die Genehmigung des Verdächtigen war zwar illegal und konnte vor Gericht nicht verwendet werden, aber man wusste ja nie, wozu er mal gut sein konnte. Und sei es nur, um es Martin vorzuspielen und so wenigstens Stoff für ein dienstliches Gespräch zu haben.
Gleichzeitig wurde die Unterhaltung an das MEK übermittelt, sodass die Kollegen immer auf Stand waren. Aus diesem Grund hatte sich Hannah auch gegen Waffen entschieden. Sie wollten einen möglichst «zivilen» Eindruck machen, damit Lehmann sich auch etwas traute. Mit dem MEK im Rücken waren sie ausreichend abgesichert.
Sie gingen zum Eingang des Wohnblocks. Während Hannah nach der richtigen Klingel suchte, wartete Katharina ungeduldig an der Tür. Im nächsten Moment wurde sie aufgestoßen, und ein junger Kerl kam heraus mit einer Klappbox, in der leere Bierflaschen schepperten.
«Verpiss dich, Fotze!», fuhr er Katharina an, die ihm im Weg stand.
Er war gut eins neunzig groß und eine ziemliche Kante. Hannah schätzte ihn auf zwanzig. Katharina schaute zu ihm hoch. «Putz dir erst mal die Zähne, bevor du eine Frau ansprichst», sagte sie ruhig. «Mit dem Mundgeruch bekommst du sonst nie eine Freundin. Und du hast doch keine Freundin, oder?»
Der Kerl erstarrte mitten in seiner Bewegung. Seine Kiefermuskeln begannen zu mahlen, und für einen Moment befürchtete Hannah schon, dass er auf sie losging.
Aber dann spuckte er auf den Boden. «Wer will schon was von euch Omas? Bestimmt habt ihr überall schon Spinnweben.»
Katharina zuckte mit den Schultern. «Die Omas haben in einer Nacht mehr Sex als du während deiner ganzen Pubertät. Du gestattest?» Sie drückte mit dem Handrücken gegen seinen muskulösen Bizeps, und zu Hannahs Überraschung wich der Riese zur Seite. Eine Sekunde schaute er mehr verblüfft als verärgert. Dann spuckte er nochmals aus und ging mit wütenden Schritten zur Straße.
«Fotzen», rief er nochmals zu ihnen zurück. «Das nächste Mal seid ihr fällig!» Dann verschwand er mit dem scheppernden Leergut um die Hausecke.
«Na, das ist doch mal ein netter Empfang», sagte Hannah, während sie dem Halbstarken nachsah. «Ich fühle mich hier schon richtig zu Hause.»
Katharina lächelte. «Ach, der wollte sicher nur ein bisschen spielen. Ist ja eigentlich Aufgabe der Eltern, aber was tut man nicht alles als Polizistin.»
Gemeinsam suchten sie die Namensschilder neben den Klingeln ab und wurden im Erdgeschoss fündig. Hannah klingelte und beugte sich gerade zur Sprechanlage herunter, als schon jemand den Türsummer betätigte. Hannah lächelte. Großstädtische Anonymität hat durchaus ihre Vorteile, dachte sie und drückte die Eingangstür auf.
Einen Moment später standen sie vor einer der Wohnungstüren, die vom Treppenhaus abgingen. Sie stand einen Spalt offen, sodass sie ein Stück des schwach beleuchteten Flurs sehen konnten.
Von Lehmann keine Spur.
Hannah blickte zu ihrer Kollegin. «Ich glaube, wir sollten da mal reinschauen.» Katharina nickte und drückte vorsichtig mit den Fingerspitzen die Türe auf.
Der Flur war schmal und mit einer schmutzig braunen Tapete beklebt. Außer einem verkratzten Telefontischchen aus dunklem Holz und ein paar an die Wand gedübelte Kleiderhaken enthielt er nichts, was als Einrichtung erwähnenswert gewesen wäre. Insgesamt gingen drei Türen vom Flur ab, die jedoch alle geschlossen waren. Aus der hintersten Tür hörten sie leise Gesprächsfetzen und Musik, doch verstehen konnten sie nichts.
«Ich klingle noch mal», flüsterte Hannah und drückte auf den Knopf. Das schrille Läuten klang im leeren Gang furchtbar laut. Plötzlich bereute sie nun doch, keine Waffe mitgenommen zu haben. Einer Eingebung folgend startete sie auf ihrem Handy die Verbindung zum MEK. Beide lauschten noch ein paar Sekunden, aber nichts rührte sich.
«Lass uns mal dahinten nachsehen», flüsterte Katharina und zeigte auf die Tür, von wo die Musik zu kommen schien. Langsam drangen sie in den Flur vor und blieben an seinem Ende stehen. Hannah wollte gerade die Klinke herunterdrücken, als die Tür von innen aufgerissen wurde.
«Wieso kommst du nicht …» Der Mann in der Tür verstummte und starrte sie mit offenem Mund an. Im nächsten Moment fing er sich. «Wer zur Hölle sind Sie? Und was machen Sie in meiner Wohnung?»
Instinktiv machte sie einen Schritt zurück, denn der Mann, der vor ihr stand, war riesig. Deutlich über eins neunzig und sicherlich zweieinhalb Zentner schwer. Diese bestanden zu einem ordentlichen Teil aus Muskeln, allerdings konnte er eine ungesunde Lebensweise nicht verbergen. Sein Bauch quoll über den Hosenbund und dehnte das weiße Feinripp-Unterhemd bedenklich. Das und die großporige, dunkelrote Nase verrieten, dass er lange Zeit zu viel Alkohol getrunken haben musste. Hannah versuchte sich vorzustellen, wie dieser Mann Frauen entführte, vergewaltigte und in die Füße biss. Sie ahnte, dass er keine Waffe brauchte, um seine Opfer einzuschüchtern.
Während sie ihn betrachtete, wurde sie das Gefühl nicht los, ihm schon einmal begegnet zu sein. Aber ihr wollte nicht einfallen, wo.
Bevor sie der Sache weiter nachgehen konnte, entdeckte sie im Zimmer hinter ihm einen Monitor, auf dem gerade ein Porno lief. Die Darsteller machten auf sie einen ziemlich jungen Eindruck, und die Beule in der Jogginghose des Mannes zeugte davon, dass er das Programm bis vor kurzem aufmerksam verfolgt hatte.
«Sind Sie Herr Lehmann?» Hannah hielt ihm ihre Dienstmarke vor die Nase. «Kommissarin Hannah Christ und Katharina Mehnert. Wir wollten uns kurz mit Ihnen unterhalten. Ich hoffe, wir stören nicht …» Sie sah erneut an ihm vorbei auf den Monitor in dem Zimmer. Er folgte ihrem Blick, machte jedoch keine Anstalten, die Türe zu schließen.
«Polizei?» Er sah sie mit unverhohlenem Interesse von oben bis unten an. «Gerade ist es ganz schlecht. Sie sehen doch, dass ich beschäftigt bin, oder?»
«Wir haben nur ein paar Fragen und sind gleich wieder weg. Ansonsten müssten wir Sie natürlich vorladen …»
Lehmann lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme. «Worum geht es denn überhaupt? Wollt ihr mir wieder was anhängen? Oder handelt es sich um einen … privaten Besuch?» Er nahm die Arme herunter und kratzte sich ungeniert am Unterleib. Der Juckreiz dort war offenbar hartnäckig, denn er bearbeitete die Stelle mit großer Ausdauer.
Hannah blieb nach außen hin ruhig, aber in ihr brodelte es. Diese Dreistigkeit war unerträglich. Am liebsten hätte sie diesem Schwein sofort Handschellen angelegt. «Es ist dienstlich, und ich empfehle Ihnen, unserer Bitte nachzukommen. Sonst werde ich Sie wegen sexueller Belästigung von Beamten im Dienst einbuchten. Bei Ihrem Vorstrafenregister sieht man sich die schwedischen Gardinen ganz schnell wieder für eine Weile von innen an.»
Lehmann schien wenig beeindruckt. Er schaute in aller Ruhe zu seinem PC und dann zurück zu Hannah. Schließlich gab er sich einen Ruck. «Puh, jetzt mache ich mir gleich vor Angst ins Höschen. Aber wenn mich die Staatsmacht so nett bittet, werde ich mir die Zeit natürlich nehmen. Also immer herein in die gute Stube.» Er öffnete die Zimmertür ganz und machte eine übertrieben einladende Geste.
«Geht doch», sagte Hannah und trat ein. Sie zeigte auf den Monitor. «Und machen Sie den Scheiß hier aus. Dafür haben Sie nachher Zeit.»
Sie befanden sich in einer Wohnküche mit Essecke, von der zwei weitere Türen abgingen. Auch hier hatten die Wände und der Fußboden eine Renovierung nötig. Der Monitor stand neben einer Batterie leerer Bierflaschen und einem leeren Aquarium auf einem Computertisch neben der Zimmertüre. Sie setzte sich ohne zu fragen mit Katharina an ein Ende des mit einer Glasplatte versehenen Küchentisches. Lehmann zog einen Stuhl zu sich und platzierte sich betont gelangweilt ihnen gegenüber. Plötzlich kam sich Hannah gegenüber diesem Riesen klein und hilflos vor.
«Womit kann ich euch beiden Hübschen denn helfen? Es wäre nett, wenn wir uns beeilen könnten, ich erwarte nämlich noch Besuch.»
Im ersten Impuls wollte Hannah ihn wegen seines Tons zurechtweisen. Sie verkniff es sich jedoch, denn er sollte ruhig zeigen, wie er wirklich war.
«Damenbesuch?»
«Und wenn?»
«Ich dachte nur. Bei Ihren Vorstrafen …»
«Machen Sie sich keine Sorgen. Das passt schon. Also?»
Wie mit Katharina Mehnert abgesprochen, übernahm Hannah die Gesprächsführung. «Nun, es ist ja so, dass Sie sich seit Ihrem letzten Gefängnisaufenthalt anscheinend vorbildlich benehmen und nicht mehr auffällig geworden sind.»
«Anscheinend? Nicht mehr auffällig geworden? Ich war ein braver Bürger dieses Landes, nur damit Sie Bescheid wissen.»
«Natürlich. Wer würde daran zweifeln?» Sie blickte zu dem Monitor auf dem Computertisch. «Aber leider sind nicht alle Menschen so gesetzestreu wie Sie. In der näheren Umgebung sind ein paar Dinge vorgefallen. Wir wollten daher sichergehen, dass Sie dafür nicht in Frage kommen und Sie sich in der Haft tatsächlich geändert haben. Der Knastpsychologe hatte da ja gewisse Zweifel bei Ihrer Entlassung …»
Ohne dass Lehmann es sehen konnte, stupste sie Katharina an. Diese legte daraufhin ihren linken Fuß auf das rechte Knie – genau so, dass er durch die gläserne Tischplatte das Fußkettchen, das Hannah vorhin für sie gekauft hatte, an ihren nackten Knöcheln entdecken musste.
Lehmann setzte zu einer Antwort an, doch plötzlich erstarrte er. Hannah beobachtete, wie er sich nervös die Lippen leckte. Im nächsten Moment sah er auf ihre Füße und erstarrte erneut, denn auch sie hatte ein Fußkettchen um. Seine Stirn legte sich in Falten, und er kaute auf seiner Unterlippe. Hannah meinte förmlich zu spüren, wie er sich in Gedanken in ihre Füße verbiss und Stücke herausriss wie bei seinem letzten Opfer.
Nach einigen Sekunden der Überraschung atmete er schließlich tief ein. «Eure Füße gefallen mir», sagte er langsam. «Sie sind schön schmal und lang, nicht diese breiten Hobbit-Treter wie von manchem Bauerntrampel. Und rasiert habt ihr die Beine auch, wie ich sehe …» Er lächelte anerkennend. «Ihr seid zwar keine zwanzig mehr, aber eure Füße sind die von Jungfrauen. Ich kann mir gut vorstellen, wie es sich anfühlt, mit der Zunge darüber zu fahren. Ich habe eine sehr raue Zunge, wisst ihr? Lasst ihr mich damit daran lecken? Wenigstens einmal?» Er starrte immer noch durch die Tischplatte, und Hannah spürte, dass er Mühe hatte, sich unter Kontrolle zu halten.
«Lieber nicht, nachher fehlt ein Stück davon. Im Übrigen gefällt mir Ihr Ton ganz und gar nicht!»
Lehmann leckte sich wieder die Lippen. «Ihr seid Lesben, was? Hätte ich mir doch denken können. Was machen auch sonst zwei so hübsche Schnecken wie ihr bei den Bullen.»
Hannah starrte ihn an. «Ticken Sie eigentlich noch richtig? Ihre Phantasien interessieren hier niemanden!»
Lehmann sah sie an. «Und du liegst oben, was? Man sagt ja, dass bei einem Lesbenpaar immer eine den Mann spielt.»
Hannah hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu behalten.
«Und von Ihnen liest man», sagte sie und lehnte sich vor, «dass Sie in Ihrer Kühltruhe gern zerbissene Hasen lagern, am liebsten direkt neben Fleischfetzen von Ihren Opfern. Sollen wir mal in Ihrer Küche nachsehen, Sie Schwein? Sollen wir?»
Sie sah, wie sich seine Miene versteinerte. Er presste die Kiefer aufeinander und sah für einen Moment aus, als ob er um sich schlagen wollte. Doch dann entspannte er sich wieder und lächelte sie an.
«Wisst ihr, dass sich ein Hasenfell ganz ähnlich anfühlt wie das Schamhaar junger Mädchen», flüsterte er dann. «Es ist zwar kürzer, aber wenn ich die Augen schließe und darüberstreichle, könnte ich spontan keinen Unterschied erkennen.» Er lachte leise auf. «Oft geht mir dann sofort einer ab, so geil ist das.»
Hannah und Katharina sahen sich an. «Sie stehen immer noch auf junge Mädchen, was? Sie waren doch im Knast deshalb. Wann kapieren Sie endlich, dass das strafbar ist? Dass das falsch ist!»
Lehmann lächelte weiter. «Mädchen oder Hasen, die Gedanken sind frei, nicht wahr? Und diese Dinger wissen doch auch schon, wie es geht. Die Volljährigkeit als Kriterium für die Geschlechtsfähigkeit ist ohnehin eine vollkommen willkürliche Grenze. Tiere zum Beispiel, die sind entweder geschlechtsreif, oder sie sind es nicht. Oder glauben Sie, ein Pavianmännchen wartet, bis das hübsche Affenmädchen achtzehn ist? Quatsch, der knallt die weg, sobald sie beginnt, entsprechend zu riechen! Noch schlimmer die Bonobos, die vögeln praktisch den ganzen Tag mit allem, was ihnen in die Quere kommt, einfach nur um das soziale Gefüge ihrer Gruppe zu festigen. Wussten Sie, dass diese Schimpansenart genetisch zu neunundneunzig Prozent mit dem Menschen übereinstimmt? Ja, und deshalb haben wir Menschen das früher genauso gemacht, bis wahrscheinlich irgend so ein Pfaffe das verboten hat.»
Hannah starrte Lehmann mit einer Mischung aus Wut und Ekel an. Sie hatten ihn provozieren wollen und erkannte nun, dass der Schuss nach hinten losgegangen war. Er hatte sie provoziert!
Gleichzeitig mit Katharina stand sie auf. «Sie sind krank, Lehmann», sagte sie dann. «Man hätte Sie nie aus dem Knast lassen dürfen. Sie sind eine Gefahr für die Allgemeinheit, und wir werden tun, was wir können, um Sie wieder hinter Schloss und Riegel zu bringen. Ich rede gleich mit dem Staatsanwalt. Mal sehen, was der von Ihren Aussagen hält.»
Lehmann gähnte. «Aber gern, die Adresse von meinem Anwalt müsste er ja noch haben.» Er stand auf und zeigte zur Tür.
Während er sie hinausbugsierte, ruckelte er beim Monitor an der PC-Maus, um den Bildschirmschoner – eine Frau, die sich rührend um ein männliches Geschlechtsteil kümmerte – verschwinden zu lassen. Das Bild wurde durch ein Video mit ähnlicher Handlung ersetzt.
Lehmann lächelte. Offenbar freute er sich bereits darauf, wieder allein zu sein.
«Schön, dass ihr da wart», sagte er, als Hannah und Katharina Mehnert vor der Wohnungstür standen. «Beehrt mich ruhig bald wieder, aber jetzt müsst ihr mich bitte entschuldigen. Ich habe zu tun.» Ein Grinsen umspielte seine Lippen. «Euer Bild hab ich ja noch im Kopf!»
Er wollte gerade die Türe schließen, als Hannah ihm zurief:
«Ach übrigens, Lehmann!»
Widerwillig drehte er sich um. Seinem Gesicht nach war er bereits wieder bei den vielfältigen Möglichkeiten moderner Medientechnik.
«Ja?»
«Das mit den Bonobos ist richtig. Der Mensch unterscheidet sich genetisch tatsächlich nur in einem Prozent von diesen Primaten. Dieses eine Prozent macht uns also zu Menschen, wenn Sie so wollen. Schade nur, dass Sie diesen Entwicklungsschritt nicht mitgemacht haben.»
Hannah drehte sich um und verließ mit Katharina Mehnert den Wohnblock. Beide schwiegen. Es gab Begegnungen, die sprachlos machten, einen aber lange begleiten würden. In der Wut, die immer wieder aufkochte. Und in Träumen, die man lieber nicht geträumt hätte.
Martin Abel mochte keine Besprechungen. Genau genommen hätte er am liebsten komplett darauf verzichtet. Er war es gewohnt, wichtige Gedanken erst einmal allein mit sich herumzuwälzen, bis er ein Gefühl dafür bekam, wie alles gewesen sein könnte. Denn nur Gedanken waren wirklich frei. Gerede blockierte seiner Meinung nach bloß die Phantasie.
Natürlich nahm er die Ansichten seines Umfelds auf und zog seine Schlüsse daraus. Aber wenn möglich tat er das erst, wenn er ein Gefühl für einen Fall entwickelt hatte, ein erstes Bild gewonnen. Was er hasste, war jede Form der Beeinflussung seines Denkprozesses, zumindest in einem Stadium, wo ihn das nicht befeuerte, sondern bloß ablenkte. Er hielt sich keinesfalls für besser als alle anderen, aber in dieser Sache war er eben – anders. Eigenbrötlerisch.
Dummerweise waren Besprechungen aber zentraler Bestandteil seiner Arbeit, denn die Fallanalyse war nun einmal Teamarbeit. Tatabläufe wurden nachgestellt, Fotos vom Ort des Geschehens ausgewertet und Erkenntnisse zum Täter abgeleitet – aber eben alles gemeinsam. Kein Mensch konnte in wirklich allen Aspekten der Beste sein. Jeder hatte Schwächen, die durch andere Teammitglieder ausgeglichen werden konnten.
Das wusste niemand besser als Abel. Aber er ließ keinen Zweifel daran, dass er seine Auszeiten brauche. Und zum Glück wurde das meist respektiert.
Die Besprechung zum Hauptverdächtigen Lehmann, den Hannah und die Kommissarin Mehnert auf den Zahn fühlen sollten, hatte sich soeben aufgelöst. Abel hatte den beiden alles Gute gewünscht und hoffte, dass sie Erfolg haben würden. Ein Mobiles Einsatzkommando stand bereit, falls die Befragung eskalieren sollte. Nun saß er mit Greiner im kleinen Wohnzimmer und konnte im Prinzip nichts anderes tun als warten.
Warten hasste er aber noch mehr als Besprechungen. Untätig herumsitzen und ins Grübeln kommen, war das Schlimmste überhaupt. Seine Pläne für den Rest des Tages sahen daher anders aus. Er hatte ein paar Dinge zu erledigen und wollte Hannahs Abwesenheit nutzen.
«Tja, dann werde ich mich mal zurückziehen und nach …»
Weiter kam er nicht. Denn im selben Moment ging die Tür auf, und Judith Hofmann kam hereingerauscht, eine Fallakte in der Hand. Abel sah, wie Greiners Kopf herumfuhr und er etwas zu ihr sagen wollte, es sich dann aber verkniff.
Irgendwas stimmte nicht zwischen den beiden, dachte Abel. Dienstlich funktionierten sie nach wie vor perfekt, aber ansonsten … Noch ein Paar, bei dem der Wurm drin ist. Wir sind also nicht die Einzigen. Abel war für einen Moment beruhigt.
«Wiebke vom KK12 war gerade bei mir», sagte Judith Hofmann atemlos. «Sie hat noch eine Akte ausgegraben, von der sie meint, dass sie uns interessieren könnte.»
«Und warum hat Kollegin Mehnert die nicht schon gefunden?» Greiner hatte seinen üblichen Knurrton, aber er klang für seine Verhältnisse vergleichsweise sanft.
«Weil sie sich nicht unter den vorbestraften Sexualtätern befand, sondern bei den unaufgeklärten Fällen.»
Abel stutzte. «Das heißt, wir haben keinen Täter, aber ein Opfer?»
Judith Hofmann nickte. «Richtig. Wobei …» Sie schaute auf die Akte in ihrer Hand, ohne sie aufzuschlagen. «Die junge Frau war schwer traumatisiert, als man sie fand, und brabbelte anfangs nur sinnloses Zeug. Als sie sich körperlich einigermaßen erholt hatte, redete sie kein Wort mehr, sondern starrte wochenlang nur vor sich hin. Sie ist so schnell aus Köln weggezogen, wie sie nur konnte.»
«Und woher wusste man, dass sie Opfer eines Verbrechens war?», fragte Abel. «Vielleicht hatte sie ja nur einen Unfall? Könnte auch was Posttraumatisches sein.»
Judith Hofmann schüttelte den Kopf. «Das war kein Unfall. Nachdem sie zwei Wochen wie vom Erdboden verschwunden war, saß sie plötzlich nackt auf einer Bank im Blücherpark und wippte mit dem Körper hin und her. Da sie volljährig und zunächst kein Verbrechen offensichtlich war, wurde sie von Amts wegen nicht medizinisch untersucht. Ihr Hausarzt bestand aber zum Glück darauf, dass sie in der Klinik gründlich durchgecheckt wurde. Ja, und dabei sind die Ärzte ganz schnell in Hektik geraten, weshalb der Fall dann bei uns landete.»
Abel spürte, dass er gleich etwas Entscheidendes erfahren sollte.
«Und? Was haben die Ärzte festgestellt?»
Judith Hofmann presste die Lippen zusammen. «Eine grausige Sache, deshalb konnte sich Wiebke auch noch daran erinnern. Ist ja immerhin schon drei Jahre her.» Sie hob die Akte hoch und legte sie dann vor Abel auf den Tisch. «In der Klinik hat man sich zunächst ihr Bein angesehen. Jemand hatte sich an ihrem rechten Fuß zu schaffen gemacht. Er war oberhalb des Knöchels längere Zeit abgebunden worden, und laut Bericht kann sie froh sein, dass er nicht komplett abgestorben ist. Nur ein Zeh musste amputiert werden, was aber schlimm genug ist für eine so junge Frau.»
Willkommen im Club, war Abels erster Gedanke, der seit seinem Kampf mit dem Metzger ebenfalls einen Zeh weniger hatte. Gleichzeitig war er wie elektrisiert. Die Parallele mit den toten Frauen vom Ginsterpfad war augenscheinlich.
«Das ist noch nicht alles. Das Wichtigste haben Sie uns noch nicht gesagt. Richtig?» Er schaute Judith Hofmann an und sah, wie sie für einen Moment den Blick senkte.
«Ja. Da ist noch was.» Sie biss sich auf die Unterlippe. «Das mit dem Fuß war ja nicht zu übersehen. Aber die Ärzte arbeiteten gründlich. Man hat das Mädchen auch geröntgt und mit Ultraschall untersucht. Und im Bauch wurde man dann fündig.»
«Im Bauch?», fragte Greiner verblüfft.
Judith Hofmann schaute ihn kurz an, dann zeigte sie auf die Mappe, die jetzt vor Abel lag. «Ja, im Bauch. Man hat ein Ei gefunden.»
Abel spürte, wie sich sein Hals zusammenzog. «Ein Ei?»
Greiners Assistentin nickte. «Es steckte in ihrem Muttermund. Sie muss die ganze Zeit unglaubliche Schmerzen gehabt haben. Aber sie hat keinen Ton von sich gegeben, als die Ärzte es entfernten.»
Greiner schlug die Hände vor sein Gesicht. «Allmächtiger, was zur Hölle … Aber warum sollte jemand einer Frau ein Hühnerei …»
Judith Hofmann unterbrach ihn mit einer eindringlichen Handbewegung, und er verstummte. «Hab ich was von einem Hühnerei gesagt?» Sie schüttelte den Kopf. «Die Sache ist noch viel bizarrer, als du denkst. In ihrem Bauch war kein Hühnerei, sondern das einer Schlange. Und in ihm befand sich eine fast vollständig ausgebrütete, aber tote Ringelnatter.»
Die beiden starrten sie entgeistert an.
«Ein Schlangenei?» Greiner schüttelte entgeistert den Kopf. «Das ist doch absolut pervers … Verdammt, die Kollegen vom KK12 hätten mich damals ruhig darüber informieren können!»
«Stimmt, aber es war ja kein Mord, sondern am ehesten ein Sexualdelikt, wenn auch ein noch nie dagewesenes.» Judith schauderte. «Es war das Ei einer Ringelnatter. Die Tiere werden einen guten Meter lang, und man findet sie in fast ganz Europa. Jemand hat ihr ein Schlangenei in den Muttermund gesteckt und wollte es offenbar von ihr ausbrüten lassen.»
Unfassbar, dachte Abel und lehnte sich langsam zurück. Als er die beruhigende Festigkeit der Stuhllehne in seinem Rücken spürte, hielt er für einen Moment den Atem an und lauschte dem wilden Pochen seines Herzens, das seinen Brustkorb zu zerreißen drohte.
Seine Welt voller Tod und Verderbtheit hatte ihm soeben eine neue Grausamkeit beschert. Und er ahnte, dass dies erst der Anfang war.
Das Mädchen interessiert dich. Nein, interessieren ist zu schwach gesagt. Es ist vielmehr, was du empfindest. Sie macht dich dermaßen rasend, dass du von der Sekunde an, in der du sie zum ersten Mal siehst, an nichts anderes mehr denken kannst. Du weißt erst gar nicht so genau, was es ist, das dich so fesselt. Klar ist bloß, es ist um dich geschehen.
Unauffällig schaust du sie dir genauer an. Vielleicht aus sicherer Distanz durch ein Fernglas oder im Vorübergehen durch eine Sonnenbrille, damit sie deine Blicke nicht bemerkt. Und jetzt plötzlich siehst du die Details, die dich so an ihr faszinieren:
Ihr viel zu weites Sommerkleid, unter dem die dünnen Waden kess hervorlugen.
Die flachen Brüste und schmächtigen Hüften, die sie jünger aussehen lassen, als sie ist.
Und natürlich ihre Füße. Ihre göttlichen, schmalen Füße. Was für ein Anblick, wie sie frech in ihren offenen Schuhen stecken. Geradezu provozierend!
Sie sind es, was dich endgültig in ihren Bann schlägt. Sie sind so … perfekt!
Du überlegst, wie du näher an sie herankommen kannst. Es ist nicht auszuhalten, sie nicht anfassen zu dürfen! Sollst du mit ihr reden und versuchen, sie rumzukriegen? Du bist ein guter Manipulator, vielleicht würdest du es schaffen.
Nein, wahrscheinlich hast du bei dem jungen Ding keine Chance. Diese Gören wollen Kerle mit Waschbrettbauch und großen Sprüchen, das hast du nicht zu bieten. Und wenn du sie ständig verfolgst, um sie heimlich anstarren zu können, fällt ihr das irgendwann auf. Nein, so geht das nicht.
In diesem Moment erkennst du, dass es für dein Problem nur eine Lösung gibt.
Du musst sie zu dir holen. Wenn sie nicht freiwillig mit dir gehen will, dann eben mit Gewalt. Du hast alles, was du für eine solche Aktion benötigst. Oder du kannst es dir besorgen.
Einen abgeschiedenen Raum, wo du mit ihr das machen kannst, wonach es dir gelüstet.
Eine nach außen unauffällige Erscheinung, vielleicht sogar eine Art Doppelleben.
Und natürlich die nötigen Fachkenntnisse, die man braucht, um ihre Füße zu konservieren. Denn sie sind es, um die sich am Ende alles dreht.
Dir ist klar, dass du das Mädchen nicht ewig bei dir behalten kannst. Marc Dutroux konnte das, aber der hatte die Unterstützung seiner Frau. Eines Tages würde dir ein Fehler unterlaufen und die Sache auffliegen. So wie Wolfgang Priklopil, der irgendwann übermütig wurde und Natascha Kampusch aus ihrem Kellerloch ließ. Oder Ariel Castro aus Cleveland, der dachte, die Fesseln von Amanda Berry seien fest. Beide hat das Glück irgendwann verlassen, beide sind heute tot. Also konzentrierst du dich lieber gleich auf das Wesentliche an ihr.
Ihre Füße. Der dürre Körper? Klar, auch der hat für dich einen speziellen Reiz. Aber eigentlich geht es doch um das kostbare Detail. Daher nimmst du dir das Mädchen und behältst nur das, was dir am wichtigsten ist. Das aber willst du so lange haben wie nur irgendwie möglich. Also balsamierst du sie ein.
Martin Abel lag auf dem Bett in seinem Zimmer, die Augen geschlossen. Er hatte Hannah gebeten, den Abend allein verbringen zu dürfen, um wichtige Gedanken zu wälzen. Er spürte, wie ein paar der Informationen, die er inzwischen hatte, begannen, sich miteinander zu verschalten. Noch war ihm nicht klar, wo das alles hinführte, aber er musste seiner Phantasie die Gelegenheit geben, ein mögliches Bild zu entwerfen. Oder besser gesagt: einen Film, der ihm zeigte, wie alles gewesen sein könnte.
Die Vorstellung, wie der Mörder von Carina Lenz vorgegangen sein mochte, schmerzte so sehr, dass er hin und wieder ins Stocken kam. Vor allem an den Punkten, die mit dem Ei im Muttermund zu tun hatten. Hier hatte er größte Mühe, sich nicht auf der Stelle zu übergeben.
Bei den Frauen aus dem See hat man nichts Derartiges gefunden. Warum hast du sie anders behandelt als das Opfer, das überlebt hat? Was unterscheidet sie? Und wieso hast du die eine Frau im Gegensatz zu den anderen nicht getötet, sondern ihr ein Schlangenei eingepflanzt?
Oder haben wir es in Wirklichkeit mit zwei Tätern zu tun?
Sein Atem wurde für einen Moment schneller, denn das war so ziemlich das Letzte, mit dem er konfrontiert werden wollte. Schnell verließ er diesen gedanklichen Pfad wieder.
Es war nicht schwer, zwischen einer Schlange und einem See eine Verbindung zu sehen, denn fast alle Schlangen können schwimmen. Vielleicht war der Fundort im See also mehr als nur ein gutes Versteck für zwei Leichen, die nicht gefunden werden sollen. Möglicherweise fühlst du dich dort irgendwie … zu Hause?
See. Schlange. Wasser. Dunkelheit. Kälte. Ertrinken. Keine Luft. Schwerelos. Es gab viele Dinge, die sich dazu assoziieren ließen.
Und was war mit der Schlange selbst? Als Erstes fielen ihm dazu Begriffe wie Lüge, Verrat, Häutung ein. Aber auch Ruhe, Schönheit und Eleganz waren Schlagwörter, die dazu passten. Abel schrieb sie alle blind auf den Block, der auf seinem Bauch lag. Später würde er sie in Ruhe durchgehen und Verbindungen suchen.
Plötzlich durchzuckte ihn das Wort «Mumie» wie ein glühender Pfeil. Schlangen waren heilige Tiere im alten Ägypten gewesen. Soweit er wusste, stellte Apophis als Schlangengott den bösen Gegenspieler des Sonnengottes Re und das Symbol für Chaos und Untergang dar. Man hatte in Gräbern häufig auch einbalsamierte Schlangen gefunden.
Ging es dir darum, als du ihr das Ei eingepflanzt hast? Ein Ewigkeits-Ritual? Oder willst du etwa ein Kind von der Frau – eine Schlange?
Seine Hand zitterte, als er diesen Punkt niederschrieb.
Im nächsten Moment ließ ihn seine Phantasie im Stich. In der einen Sekunde waberten noch Bilder züngelnder Reptilien vor seinem inneren Auge, nach denen er nur zu greifen brauchte, in der nächsten Sekunde – nichts. So war das, wenn irgendwann die Erschöpfung einsetzte.
Abel öffnete seine Augen ein wenig, um Karl einen Blick zuzuwerfen. Ein paar Momente genügten oft, um dem Mörder, den er suchte, wieder eine vage Gestalt zu geben, mit der er weiterarbeiten konnte. Doch in diesem Fall verweigerte sich die gesichtslose Puppe, sie wollte ihre Geheimnisse offenbar für sich behalten. Abel spürte, dass er jetzt nicht weiterkommen würde.
Scheiße!
So diffus das Bild aber noch war, so begannen sich für ihn doch einige Dinge herauszukristallisieren. An die musste er sich halten, sie sammeln und ein Profil daraus erstellen, mit dem die Kölner Kollegen bei der Fahndung gezielter vorgehen konnten.
Natürlich konnte er den Täter nicht exakt beschreiben. Das konnte niemand. Auch kein noch so begnadeter Fallanalytiker.
Aber eine Sache stand für ihn bereits zweifelsfrei fest.
Der Mann, den sie suchten, war abgrundtief böse.
Das Mädchen stieg in den 140er und merkte nicht, dass er ein paar Reihen hinter ihr direkt neben der Tür saß.
Er war ihr gefolgt, so wie er allen folgte, die er haben wollte. Niemand achtete in einer Großstadt darauf, wer in der Nähe war, sodass er auch in diesem Fall nur den richtigen Moment abpassen musste. Er kam, als sie das Haus in Riehl verließ und sich auf den Weg machte.
Sie stieg an der Etzelstraße aus dem Bus und schien ein wenig unschlüssig zu sein, wohin sie jetzt gehen sollte. Er stieg ebenfalls aus und ging, um nicht aufzufallen, sofort in die Nebenstraße hinter der Haltestelle weiter. Natürlich beobachtete er sie dabei weiter unauffällig, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Einmal drehte sie sich kurz um, sah in seine Richtung, und mein Gott, ja: Sie war verdammt nah an seinem Ideal. Höchstens ein bisschen weniger Make-up – das hätte nicht geschadet.
Zu viel Rot auf deinen Lippen, Jeanny!, dachte er und grinste voller Vorfreude.
Sie sah sich um und ging dann langsam in Richtung der Seen am Ginsterpfad, was ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Hundert Meter weiter bog sie jedoch in den Tunnel der Longericher Straße ein, die unter den Bahngleisen hindurch nach Bilderstöckchen führte. Wenn das kein Zeichen ist – was dann?, dachte er. Eine bessere Gelegenheit würde nicht kommen.
So leise, wie er konnte, hastete er hinter ihr her. Er erreichte sie, als sie bereits wenige Meter in die leere, von schäbigen Leuchten erhellte Unterführung vorgedrungen war und auf die andere Seite zuhielt. Erst als er nur noch einen Schritt von ihr entfernt war, bemerkte sie ihn und wollte sich umdrehen.
Doch da war es bereits zu spät.
Er presste ihr den mit Chloroform getränkten Lappen auf das Gesicht und wartete geduldig, bis sie aufgehört hatte zu zappeln.
Jetzt musste er sie nur noch in sein Versteck schaffen. Aber das war kein großes Problem mehr.
Er lächelte zufrieden. Es konnte losgehen.
Konrad Greiner richtete sich schnaufend hinter seinem Schreibtisch auf. Missmutig warf er seinen Kugelschreiber neben das Telefon und streckte sich ausgiebig, um seiner müden, vom langen Sitzen gequälten Rückenmuskulatur etwas Gutes zu tun. Sein Orthopäde wäre sicher begeistert gewesen, und seine kaputten Bandscheiben waren es erst recht. Aber das waren nun einmal die Folgen eines Bürojobs in Kombination mit einem BMI jenseits von 40.
Er wollte gerade seinen Computer runterfahren, als Jörg Hansen in der Bürotür erschien. Er hatte einen Stapel Unterlagen in der Hand und wedelte aufgeregt damit herum.
«Darf ich noch kurz stören, Chef? Eben kam noch was rein, das Sie sich unbedingt ansehen sollten.» Er sah in Greiners Gesicht. «Oder sollen wir lieber morgen …?»
Greiner schüttelte den Kopf. «Wir sind keine Bastelgruppe bei der Volkshochschule, sondern das KK11. Hier kann nichts bis morgen warten, wir haben es schließlich mit Mord und Totschlag zu tun. Also her mit dem Zeug, damit ich endlich Feierabend machen kann.»
Hansen eilte zu ihm und breitete die Papiere auf seinem Tisch aus. Trotz der späten Stunde sah er in seinem Anzug und mit der Krawatte immer noch aus wie aus dem Ei gepellt. «Es geht um die anderen Toten vom Ginsterpfad. Deren Identität ist ja immer noch unklar.»
Greiner zuckte mit den Schultern. «Erzählen Sie mir etwas Neues, Hansen. Natürlich wüssten wir alle gern, wer diese Frauen sind, denn dann könnten wir vielleicht endlich ein paar Zusammenhänge zwischen den Opfern entdecken.»
Hansen nickte, und Greiner glaubte, ein triumphierendes Lächeln bei ihm zu erkennen.
«Ja, und Sie erinnern sich bestimmt auch daran, dass ich vom KK62 eine Liste mit zwölf Vermisstenfällen mitgebracht habe, die für uns interessant sein könnten.»
«Noch bin ich nicht so verkalkt, dass ich mir das nicht hätte merken können», grollte Greiner. «Und ich bin es nicht gewohnt, von meinen Mitarbeitern rhetorische Fragen gestellt zu bekommen, und schon gar nicht von den Frischlingen!»
«Okay, okay», beschwichtigte Hansen. «Eine von diesen zwölf Vermissten war ja Carina Lenz, um deren Eltern sich die Kollegen Abel und Christ gekümmert haben.»
Greiner hob die Augenbrauen. «Die letzte Bestätigung fehlt noch, bisher wurde sie nur aufgrund des Zahnschemas identifiziert.»
Hansen lächelte. «Ich habe beim LKA angerufen. Der DNA-Abgleich ist gerade fertig geworden und Bingo – Volltreffer! Eine Verwechslung ist somit ausgeschlossen.»
Greiner ballte die Fäuste. Eine Unbekannte weniger in diesem Fall. Zudem konnte Abel sich mit seinem frühzeitigen Besuch bei den Eltern bestätigt fühlen, er hatte damit definitiv nichts falsch gemacht. Blieb nur noch die unschöne Aufgabe, der Familie die schlechte Nachricht vom Tode Carinas zu überbringen. Aber auch das gehörte zum Polizeialltag.
«Gut, Glückwunsch zu Ihrem Riecher. Ich denke, es reicht, wenn wir morgen früh jemanden bei den Eltern vorbeischicken. Das ist psychologisch sicherlich besser, als ihnen noch die Nacht zu versauen.»
«Klar, Chef.» Hansen nickte. Der junge Mann grinste nach wie vor, als hätte er einen Hunderteuroschein gefunden.
«Ist noch was?»
«Na ja, wie man’s nimmt.» Er schaute an sich herab und zog sein Jackett gerade. «Die anderen Toten vom Ginsterpfad … Zu ihnen gibt es auch Neuigkeiten.»
Greiner runzelte die Stirn. «Und zwar?»
«Professor Kleinwinkel hatte natürlich auch von ihnen Proben genommen. Diese wurden heute mit denen von Carina Lenz fertig und durch die Datenbanken gejagt. Und siehe da: noch ein Volltreffer! Eine der Frauen heißt Elena Löw und wurde vor sieben Monaten vermisst gemeldet. Allerdings nicht hier, sondern an ihrem alten Wohnort in Leverkusen, weshalb wir sie auch nicht auf dem Radar hatten. Sie lebte schon eine Weile in Köln, war aber, so dachte man zumindest bis jetzt, im Anschluss an eine Feier bei Freunden in ihrer alten Heimat verschwunden. Ihre Eltern haben glücklicherweise wie die von Carina Lenz DNA-Proben ihrer Tochter abgegeben, sodass man nun auch bei ihr Bescheid weiß.»
Greiner war nun hellwach. «Hansen, wenn Sie so weitermachen, wird aus Ihnen vielleicht tatsächlich noch etwas. Ich fühle mich fast versucht, Sie zu loben.» Hansen wuchs sichtlich um ein paar Zentimeter. «Nehmen Sie sich eine erfahrene Person mit und fahren Sie sofort zu den Eltern dieser … Elena Löw. Zusammen bringen sie ihnen schonend bei, was mit ihrer Tochter ist. Morgen früh will ich dann alles über sie wissen, was es zu wissen gibt. Okay?»
«Sie können sich auf mich verlassen, Chef! Ich gehe sofort ins KK62 und schaue, wer mich begleiten kann.» Er drehte sich auf dem Absatz um und eilte aus dem Büro.
Fehlt nur noch, dass er salutiert, dachte der Erste Hauptkommissar, als er ihm nachsah. Aber das bringe ich ihm auch noch bei.
Greiner überlegte, womit er den heutigen Tag sinnvoll beenden konnte. Natürlich abgesehen von der unvermeidlichen Mischung aus Currywurst, Pommes und Eiscreme, die er, wenn er den Abend allein verbrachte, in sich hineinschaufelte. Sollte er vielleicht …?
Beflügelt von den guten Nachrichten aus Düsseldorf ging er zum Aktenschrank an der gegenüberliegenden Wand und holte die alte Ledermappe heraus, in der er seine Privatsachen aufbewahrte. Er sah in seine Brieftasche und zählte das Bargeld. Fünfundvierzig Euro und ein paar Münzen. Damit konnte er am Bahnhof ein paar Blumen kaufen und danach noch etwas Ungesundes zu essen besorgen.
Nachdenklich sah er zu seinem Vorzimmer. Judith war längst nach Hause gegangen. Diese kleine pummelige Traumfrau, die an ihm aus unerfindlichen Gründen einen Narren gefressen hatte. Er wusste, dass die Partnerwahl für ihn aufgrund seines Berufes und, na ja, auch wegen seines Gewichts nicht einfach war. Das hatte ihn bereits einen ziemlichen Fehlgriff begehen lassen, unter dem er heute noch leiden musste. War es Judith nicht wert, über den Schatten der Vergangenheit zu springen und ein für alle Mal damit abzuschließen?
Er schaute noch einen Moment sehnsüchtig zu ihrem leeren Platz hinüber, dann steckte er die Brieftasche in seine Gesäßtasche. Man durfte sein Glück nicht herausfordern. Das wusste niemand so gut wie er. Also wurde es für ihn höchste Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen.
Greiner fuhr ohne lange nachzudenken tatsächlich am Hauptbahnhof vorbei. Er hielt verbotenerweise beim Taxistand, wo gerade zwei Polizisten auf Streife standen. Er winkte ihnen freundlich zu und zeigte auf seine Armbanduhr. Die Kollegen erkannten ihn und winkten grinsend zurück – sie hatten verstanden. Das Parkproblem an diesem Verkehrsknoten hatte ein prominentes Opfer gefunden. Da konnte man schon mal ein Auge zudrücken.
Greiner betrat die Bahnhofshalle und wurde von dem geschäftigen Treiben empfangen. Ein regelrechter Bienenstock: Dutzende, nein Hunderte Menschen strömten an ihm vorbei, manche ohne, manche mit Gepäck und noch mehr mit den unvermeidlichen Mobiltelefonen am Ohr. Für Greiner hatten große Bahnhöfe etwas Magisches. Alle Leute hier hatten ihre eigenen, ganz privaten Geschichten zu erzählen, die sie hierhertrieben. Jedes Mal fragte er sich, welches wohl die spannendste dieser Geschichten war, aber leider würde er es nie erfahren. Nur heute, da konnte er sicher sein, da war er mit seiner Story ganz vorne dabei.
Er hielt geradewegs auf den ersten Blumenladen zu, den er entdeckte. Er betrat das Geschäft und wurde zu seiner Überraschung sofort von einer jungen, motivierten Verkäuferin angesprochen.
«Was darf es sein?»
Greiner schaute sich um. «Irgendwas Schönes», sagte er dann unbestimmt. «Für fünfundzwanzig Euro», fügte er hinzu, als er das ratlose Gesicht der Frau sah. Sie schaute ihn noch kurz fragend an und nahm schließlich einen der fertig gebundenen Sträuße aus einer Bodenvase. Sie wickelte die Blumen in eine transparente Folie ein und reichte sie dem seltsamen Kunden über den Verkaufstresen.
Rote Rosen und orange Gerbera. Greiner nickte anerkennend. Das sah ja sogar richtig nach was aus. Er bezahlte den Strauß und erntete zum Abschied ein keckes Lächeln der Verkäuferin.
Etwas fröhlicher als beim Betreten verließ er den Laden wieder und ging zu seinem Wagen zurück. Die beiden Kollegen im Streifenwagen winkten ihm freundlich zu, als sie ihn sahen, und er hob zum Gruß die Blumen. Sollten sie sich in ihrer Polizeiwache ruhig die Mäuler darüber zerreißen, was der dicke Greiner vom KK12 damit wohl vorhatte.
Er stieg in seinen Wagen und legte den Strauß auf den Beifahrersitz. Auch wenn er den Weg schon lange nicht mehr gefahren war, brauchte er nicht nachzudenken, wohin er das Auto zu lenken hatte. Das Haus, zu dem er musste, lag in einer der besseren Wohngegenden im Süden der Stadt. Wenn es gut lief, war er in einer Viertelstunde dort und konnte sich von dieser Last befreien. Wenn nicht, war er Judith endgültig los.
Als er wenig später auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses einparkte, war von seiner guten Laune nicht mehr viel übrig. Sein Bauch grollte, und er schluckte immer wieder, wie um seine Angst in den Magen zu befördern und dort zu verdauen.
Er ließ das Fahrerfenster ein Stück herunter, stieg aber nicht aus. Stattdessen sah er mit einer Mischung aus Widerwillen und Wut auf sich selbst zu dem Haus hinüber und versuchte sich vorzustellen, was darin wohl gerade vor sich ging. Vielleicht wurde er insgeheim bereits erwartet, und die Sache war in wenigen Minuten erledigt?
Na ja, wohl eher nicht.
Greiner dachte an die letzten zwölf Jahre, die er wie ein Zombie verbracht hatte. Er hatte sich körperlich wie seelisch ausgebrannt – ja fast schon wie tot gefühlt. Im Nachhinein wusste er nicht, wie er den aufreibenden Job im Präsidium in diesem Zustand überhaupt geschafft hatte.
Nein, so durfte es definitiv nicht weitergehen!
Von Unruhe getrieben öffnete er das Handschuhfach und holte die Tafel Nuss-Schokolade hervor, die er dort für Notfälle gebunkert hatte. Gierig riss er sie auf und biss ein großes Stück davon ab. Der süße, cremige Geschmack in seinem Mund beruhigte ihn sofort, aber erst, als er die Schokolade seine Speiseröhre herunterrutschen spürte, fühlte er sich wirklich besser. Mein Gott, was würde er ohne dieses Zeug nur tun?
Gleichzeitig spürte er aber auch, dass heute nicht der Tag war, an dem er den notwendigen Schritt gehen würde. Wieder nicht. Er besaß einfach nicht die Kraft dafür. Vor allem aber hatte er wie schon so oft zuvor Angst vor der grünen Ampel.
Viele Menschen fuhren beim Anblick von grünen Ampeln nicht schneller, sondern langsamer – aus Angst, die Signale könnten im falschen Moment auf Rot umschalten und einen Strafzettel samt Führerscheinentzug verursachen. Anstatt die grüne Welle zu nutzen, nahmen sie also den Fuß vom Gas und bremsten ab.
Weil sie ganz einfach Schiss hatten. Angst vor den positiven Dingen, die die freie Fahrt mit sich bringen könnte.
Und genauso erging es ihm. Judith hatte ihm schon lange grünes Licht gegeben, aber er nutzte es nicht. Er drehte lieber um oder bog falsch ab, anstatt die freie Bahn zu nutzen. Eine tolle Leistung für einen Mann, vor dessen Fähigkeiten als Polizist jeder den Hut zog.
Verdammt!
Missmutig blickte Greiner auf den Blumenstrauß, der neben ihm lag. Er hatte wirklich die besten Vorsätze gehabt. Niemand konnte ihm nachsagen, dass er es nicht versucht hätte!
Aber morgen war auch noch ein Tag. Und vielleicht hatte sich Judith bis dahin ja auch schon beruhigt.
Wobei man ja nicht auf Wunder hoffen sollte.
Wütend auf sich selbst startete er den Wagen und fuhr mit Umweg über seinen Lieblings-Imbiss nach Hause.
Als Horst nach fast vierundzwanzig Stunden härtester Press- und Atemarbeit in einem kleinen Krankenhaus das Licht der Welt erblickte, wusste die Hebamme sofort, dass etwas nicht stimmte. Ohne den nahezu leblosen Jungen seiner noch keuchenden Mutter zu zeigen, brachte sie ihn eilig aus dem Kreißsaal hinüber in die Kinderstation. Dort wurde nach einer längeren Diskussion zwischen Ärzten und Hebamme, ob sich das überhaupt lohnte, dann doch mit der Behandlung begonnen.
Die junge Mutter, Ulrike Lehmann, lag währenddessen allein im Kreißsaal und starrte auf die Tür, durch die die Hebamme gerade mit ihrem Kind hinausgehastet war. Weil ihr Mann sich weder für ihre Schwangerschaft noch für die Geburt interessiert hatte, war sie allein hierhergekommen. Sollte sie das Krankenhaus auch allein verlassen müssen? Sie begriff natürlich sofort, dass etwas mit dem Kind nicht in Ordnung war. Inständig betete sie zu Gott, dass er den Jungen retten und ihr schenken sollte. Sie würde ihn lieben, egal wie krank er war.
Doch es stand nicht gut um ihn. Alles an ihm war groß. Seine Hände, seine Füße, seine abstehenden Ohren, seine Hoden. Sein Geburtsgewicht lag bei fünfeinhalb Kilo, sodass einer der Ärzte meinte, man solle ihm doch am besten einfach eine Tasche umhängen und ihn in den Kindergarten schicken – dann wäre man das Problem los.
Besonders auffällig war sein Kopf. Der war nicht einfach nur groß, sondern geradezu riesig. Im Nachhinein erschien es wie ein Wunder, dass seine Mutter ihn überhaupt durch den Geburtskanal bekommen hatte. Die Diagnose war dann auch schnell gestellt: Der Junge litt an einer schweren Form eines Hydrocephalus, landläufig Wasserkopf genannt. Das Nervenwasser, das Gehirn und Rückenmark umspülte, wurde nicht ausreichend abgeführt, sodass ein übergroßer Druck auf die Neuronen entstand. Bei dem Jungen war der Zustand bereits so weit fortgeschritten, dass die Atmung immer wieder aussetzte und mit bleibenden Schäden im Gehirn aufgrund des Sauerstoffmangels gerechnet werden musste.
Ursache für die Probleme war vermutlich eine lymphozytäre Choriomeningitis, eine Virus-Infektion, die im schlimmsten Fall eine Hirnhautentzündung verursachen konnte. Wie schon damals bekannt war, handelte es sich dabei um eine Zoonose, also eine Krankheit, die von Tieren auf Menschen übertragen werden konnte. Bei einer Erkrankung der Mutter in der zweiten Schwangerschaftshälfte konnte der Virus über die Plazenta den ungeborenen Fötus erreichen.
Als Hauptüberträger der lymphozytären Choriomeningitis auf den Menschen galten vor allem Mäuse und Goldhamster.
Das kleine Krankenhaus war nicht gerade ein Zentrum moderner Neurochirurgie. Zuerst überlegte man, ob man nicht einfach ein Loch in die Schädeldecke bohren sollte, um dadurch den Hirndruck zu verringern und dann abzuwarten, wie der Junge darauf reagiert. Glücklicherweise hatte ein junger ehrgeiziger Oberarzt wenige Monate zuvor eine Fortbildung in Boston besucht, wo er in die Geheimnisse der endoskopischen Ventrikulostomie nach dem Neuro-Pionier William Jason Mixter eingeweiht worden war. Er erklärte sich bereit, dieses Verfahren bei Horst anzuwenden. Dem Chefarzt war das recht. Es war ihm lieber, wenn ein junger Kollege den Fall vermurkste als er selbst. Denn die Chancen standen schlecht.
Mit einer gemessen an der Ausstattung der Klinik hervorragenden Technik durchstieß der junge Oberarzt wenige Stunden später mit einer Sonde den dritten Ventrikel, um dem Liquor eine Abflussmöglichkeit zu bieten. Danach hieß es warten und schauen, was passiert.
Als der junge Arzt sich am nächsten Morgen bei der Visite zum Säugling hinunterbeugte, um zu sehen, ob er noch atmete, erlebte er eine freudige Überraschung. Das Baby nuckelte friedlich an seinem Daumen. Und eine tiefe Delle in der großen Fontanelle zeugte davon, dass das angestaute Hirnwasser tatsächlich angefangen hatte, in den äußeren Liquorraum abzufließen. Kurz gesagt: Die Operation war erfolgreich verlaufen. Er ordnete an, dass das Kind ab sofort alle vier Stunden geweckt und seiner Mutter gebracht werden sollte.
Nach einem Tag der Ungewissheit konnte diese ihren Sohn endlich in den Arm nehmen und stillen. Natürlich erkannte sie, dass dieser den Normen nach als hässlich zu gelten hatte. Dennoch weinte sie vor Glück, als sie ihn zum ersten Mal an ihre Brust anlegen durfte und er gierig trank.
Für den jungen Oberarzt verlief der Tag dagegen weniger glücklich. Als er nach der Visite sein wohlverdientes Lob abholen wollte, überreichte ihm sein Vorgesetzter wortlos einen Briefumschlag. Dieser enthielt seine Entlassungspapiere, die der Chefarzt noch am Vorabend zur Beseitigung eines ernsthaften Konkurrenten unterzeichnet hatte.
Der Oberarzt verließ die Klinik noch am selben Tag, Horst eine Woche später.
Zu Hause wurden die Mutter und der Junge bereits von seinem Vater und seiner Schwester erwartet. Der Mann hatte die meiste Zeit Bier und Korn trinkend auf dem Sofa verbracht, und der beeindruckende Stapel leerer Fertigkostverpackungen zeugte von der Diät, die er seiner Tochter und sich in dieser Zeit verordnet hatte.
Die Laune der beiden war entsprechend gereizt.
«Wo warst du so lange, du blödes Stück?», blaffte Ulrikes Mann sie an. «Hast dir im Krankenhaus ein paar faule Tage gemacht, was?» Wütend wischte er ein halbes Dutzend leerer Flaschen vom Wohnzimmertisch und baute sich vor ihr auf. «Jetzt schau zu, wie du den Saustall wieder in Ordnung bringst. Und koch mir sofort etwas Ordentliches, oder du lernst mich kennen!»
Drohend hob er die rechte Hand, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Er war ein Berg von einem Mann, der mühelos einen ganzen Türrahmen ausfüllte, und Ulrike wusste, wozu er fähig war.
Hastig stellte sie die Tragetasche mit dem Kind auf den Wohnzimmertisch und eilte in die zugemüllte Küche, um ihre Familie mit einem guten Essen zu besänftigen.
Johanna, die fünfjährige Schwester des Neugeborenen, stellte sich neben die Tasche und starrte hinein.
«Du bist also der kleine Scheißer, wegen dem Mutti uns allein gelassen hat.» Sie hob das Deckchen hoch und betrachtete ihren Bruder genauer. «Iiiiiih, bist du eklig», rief sie mit Blick auf seinen übergroßen Schädel. «Baby Ballonkopf», sagte sie und lachte. Dann legte sie das Deckchen auf sein Gesicht und ging pfeifend in die Küche.
Als seine Mutter eine halbe Stunde später zur Tragetasche zurückkam, war Horst bereits blau angelaufen. Noch während sie zum Telefon rannte, um den Notarzt zu rufen, fing er jedoch an zu schreien. Sie nahm ihn in die Arme und wiegte ihn liebevoll, bis er wieder ganz still war.
Johanna beobachtete die Szene aus der Küche und spitzte nachdenklich ihre Lippen.
Unter Berücksichtigung seines eher holprigen Starts in die Welt entwickelte sich Horst erstaunlich gut. Mit zwei Jahren konnte er fast ohne Hilfe laufen, und mit vier sprach er bereits seinen ersten Zweiwortsatz. Der Kinderarzt empfahl Krankengymnastik und vor allem eine logopädische Behandlung, was sich die Familie Lehmann aufgrund des ausufernden Alkoholkonsums des Vaters jedoch nicht leisten konnte.
Horsts Kopf war immer noch riesig, aber nicht so groß, dass er auf dem ebenfalls enormen Körper besonders aufgefallen wäre. Als er mit drei Jahren in den Kindergarten kam, maß er bereits deutlich über einen Meter, was dazu führte, dass die anderen Kinder aus Angst einen Bogen um ihn machten. Meistens saß er daher allein in einer Ecke und spielte mit Plastikbausteinen. Dabei zeigte er ein besonderes Geschick darin, sich aus den bunten Teilen Waffen aller Art zusammenzubauen.
Sein lautes Dfff-Dfff!, mit dem er mit seinen Schwertern auf herumliegende Puppen eindrosch, hallte laut durch den Raum.
Manchmal fanden die Erzieherinnen ihn aber auch vor dem Käfig des Kindergarten-Goldhamsters, wo er das Laufrad so schnell drehte, dass das kleine Tier wie ein Geschoss durch die Luft wirbelte. Alle waren sich darin einig, dass der Junge nie zufriedener lachte als in diesen Momenten.
Horsts Mutter hatte immer weniger Zeit, sich um den Jungen zu kümmern. Sie musste viel arbeiten, um die Familie über Wasser zu halten. Nach dem Kindergarten kam der Junge deshalb in die örtliche Sonderschule, wo er, wie sie hoffte, den Rückstand zu anderen Kindern aufholen würde.
Trotzdem war sie eine liebende Mutter. Allerdings war sie die Einzige in der Familie, die seine geistigen Unzulänglichkeiten ignorierte und aufopferungsvoll Zeit mit ihm verbrachte.
Von seinem Vater erntete er dagegen bestenfalls nur Gleichgültigkeit, manchmal aber auch Prügel. Er hatte seit Jahren nicht mehr gearbeitet und lebte von der Stütze oder dem, was Ulrike mit nach Hause brachte. Seinen Tag verbrachte er mit dem Durchblättern schlüpfriger Magazine, die er sich zusammen mit seinen Flachmann-Rationen am Bahnhofskiosk holte. Horst entging ebenso wenig wie seiner Schwester, dass er diese Hefte gern mit auf die Toilette nahm, wo er sich einschloss. Die Geräusche, die dann durch die Tür drangen, ähnelten denen, die abends aus dem elterlichen Schlafzimmer drangen. Nur Papas Schläge und Mamas Schreie fehlten, aber das war Horst auch lieber so.
Dass seine Schwester Johanna ihn ignoriert hätte, konnte man allerdings kaum behaupten. Sie hatte ihren Bruder von der ersten Minute an gehasst. Sie war es gewohnt gewesen, im Mittelpunkt des Interesses ihrer Mutter zu stehen. Das kleine, süße Prinzesschen eben, dem jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde.
Da die Mutter sich nun aber bevorzugt um den minderbemittelten Horst kümmern musste, fühlte sie sich und ihre Schönheit nicht mehr angemessen gewürdigt. Ein ausreichender Grund für sie, sich bei ihm mit schmerzhaften Attacken zu revanchieren. Zudem ließ sie keine Gelegenheit aus, um ihm die Hackordnung in der Familie klarzumachen. Erst kam sie, dann ihr Goldhamster und irgendwo unter dem Schuhabtreter schließlich Horst.
Als er sich eines Tages – es war in der zweiten Klasse – für die Hausaufgaben an den Tisch setzen wollte und auf einem Stuhl niederließ, durchzuckten ihn von unten mehrere glühend heiße Stiche. Schreiend sprang er auf und warf sich bäuchlings auf den Tisch.
«Hilf mir! Bitte …», weinte er und schaute seine Schwester flehentlich an. Diese saß mit ihrem Hamster in der Hand auf der anderen Seite des Tisches und beobachtete interessiert, wie er versuchte, mit den Fingern die Ursache für die Schmerzen festzustellen. «Hilf mir», rief er noch mal und trommelte heulend auf den Tisch.
Sie schaute ihn scheinbar unschlüssig an. «Ich soll dir helfen? Was bekomme ich denn dafür, Ballonkopf?»
«Alles», jammerte er. «Alles, was du willst, aber hilf mir bitte. Das tut so weh!»
Johanna überlegte sorgfältig. «Na gut», sagt sie nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam. «Mal sehen, was ich für dich tun kann.»
Sie ging um den Tisch herum und betrachtete ihn von hinten. «Oh, da hat Mama doch anscheinend tatsächlich ihr Nadelkissen unter deinem Sitzkissen vergessen! Oder hat das etwa jemand absichtlich dorthin gelegt? Wie unvorsichtig.»
«Mach es weg», bettelte Horst. «Das tut so weh!»
«Mein Gott, ich glaube, die Nadeln stecken genau in deinen Eiern! Das müssen ja höllische Schmerzen sein.» Sie drückte auf dem Nadelkissen herum, was ihren Bruder aufheulen ließ wie ein gequältes Tier.
«Zieh es raus! Bitte, sonst sterbe ich», flehte er. Zitternd krallte er sich an der Tischkante fest.
«Ist ja schon gut. Ich helfe dir natürlich gern. Und du wirst davon nicht sterben.» Johanna beugte sich zu ihm herunter und flüsterte: «Aber es wird dir so vorkommen!»
Sie setzte ihren Hamster direkt vor seinem Gesicht auf dem Tisch ab. Sie wusste, dass er auf Tierhaare allergisch reagierte. Und tatsächlich: Er begann sofort zu röcheln.
Im nächsten Moment riss Johanna mit einem heftigen Ruck das Nadelkissen aus seinen Hoden.
Der Schrei des Jungen war so laut, dass sich die Leute auf der Straße vor dem Haus umdrehten.