15. Kapitel

Flügellahmer Phönix

 

Nach einer Woche erfolgreichen Nichtstuns und den regelmäßigen Aufforderungen meiner Mutter, endlich wieder aus dem Bett aufzustehen, beschloss ich, dass es Zeit war, wieder zu mir zu fahren, um endlich wieder allein zu sein, ungestört herumliegen zu können und nicht ständig herumkommandiert zu werden. Eli hatte wie versprochen angerufen und ich hatte mir vorgenommen, nach dieser ersten Anprobe direkt abzureisen. Meine Mutter war nicht nur überrascht, sie war regelrecht beleidigt. Dabei war sie es ja, die ständig ungefragt in meinen Räumen auftauchte und mir Vorträge hielt, was ich alles tun oder lassen sollte.

Eli war pünktlich, und als sie mir den real gewordenen Entwurf präsentierte, war ich regelrecht überwältigt. Das Kleid war atemberaubender, als ich es mir vorgestellt hatte.

Eli half mir, hineinzuschlüpfen, weil alles nur provisorisch zusammengehalten wurde, doch schon jetzt ließ sich erkennen, es würde mir haargenau passen. Die Stoffe harmonierten wunderbar. Die Muster der schwarzen Spitze waren außergewöhnlich schön und ich hätte nie gedacht, dass schwarze Spitze mal anders als altmodisch und tantenhaft auf mich wirken könnte. Kurz bevor Eli wieder gehen wollte, erschien Jaro. Er trug sogar ein Oberhemd und ich glaubte, er hatte sich sogar extra die Haare etwas ordentlicher gekämmt.

»Guten Tag, die Damen«, sagte er fast etwas schüchtern und ich sah, wie Eli ihn interessiert anlächelte.

»Eli, das ist mein Bruder Jaro. Jaro, das ist Noelina Scarsi, die Enkelin von Frau Scarsi.«

Als Jaro Eli die Hand hinstreckte, sah ich, wie sie zitterte. So hatte ich meinen Bruder noch nie erlebt.

»Freut mich, Jaro.«

»Mich auch, Noelina«, erwiderte Jaro und sein Blick war ungewöhnlich ernst.

»Sag doch einfach Eli«, erwiderte sie. Ihre Blicke kreisten scheu umeinander, die Spannung zwischen ihnen war förmlich greifbar und ich fühlte mich ziemlich überflüssig.

»Ach herrje«, sagte ich und sah auf meine imaginäre Armbanduhr. »Ich hatte versprochen, Yaris anzurufen. Sie wird sich schon Sorgen machen. Eli, ich muss los. Du rufst an, ja?«

»Mache ich«, sagte Eli, aber sie hatte nur noch Augen für meinen Bruder.

»Gut, dann …«, murmelte ich grinsend und räumte das Feld. Als ich die Tür hinter ihnen schloss, hörte ich sie gerade beide nervös lachen. So aufgelöst hatte ich meinen Bruder noch nie erlebt. Sonst war er der lässige Verführer, heute wirkte er wie ein unsicherer Schuljunge, der noch nicht wusste, was der Ernst des Lebens für ihn bereithielt.

 

»Du kannst jetzt nicht abreisen, wir geben in fünf Tagen ein Abendessen für dich«, sagte Mutter und blickte so vorwurfsvoll wie eben möglich.

»Dann kann ich ja wiederkommen«, erwiderte ich und warf meine Umhängetasche in den bereitstehenden Wagen. »Danke für alles.« Ich umarmte sie, doch Mutter schmollte immer noch.

»Du solltest bleiben.«

»Es geht nicht, versteh doch.«

»Aber es wäre sicherer.«

»Warum?«, fragte ich und sah sie forschend an. »Warum reden alle darüber, dass es sicherer wäre, wieder hier zu wohnen? Gerade jetzt, wo sich die Engel scheinbar nicht mehr blicken lassen? Wann wäre es sicherer als jetzt?«

»Du weißt, wie ich das meine«, wich Mutter aus.

»Nein, weiß ich nicht«, sagte ich und ließ mich auf die Rückbank fallen. Der Fahrer startete den Motor, ich zog die Tür zu und lehnte mich zurück. »Aber ich finde es heraus«, murmelte ich so leise, dass der Fahrer mich nicht hören konnte.

Während der Fahrt sah ich gelangweilt aus dem Fenster und eigentlich graute es mir vor meiner Wohnung genauso sehr wie bei dem Gedanken, wieder bei meinen Eltern einziehen zu müssen. Seit Levian weg war, fühlte ich mich seltsam heimatlos, leer und gestrandet in einem Leben, das seinen wichtigsten Baustein verloren hatte. Ich hätte nie gedacht, mal so für jemanden zu empfinden. Diese allgegenwärtige Trauer lag über meinem Gemüt wie eine lähmende Decke aus Blei. Ich konnte mich eine Weile beherrschen, zum Beispiel, wenn Jaro mit mir herumalberte oder meine Mutter mir wieder irgendwelche gut gemeinten Vorträge hielt. Doch kurz darauf war ich emotional so erschöpft, dass ich sogar in der Öffentlichkeit in Tränen ausbrach, konnte ich mich nicht rechtzeitig in ein Bett verziehen. Ich fragte mich, ob es nun für immer so bleiben würde.

In meiner Wohnung stank es nach schimmelnder Suppe und der Geruch von getrocknetem Blut hing schwer in jedem Zimmer. Alles war so, wie ich es verlassen hatte, und einmal mehr verdichtete sich die Gewissheit, Levian würde nicht mehr wiederkommen.

Ich riss überall die Fenster auf und der Durchzug wehte mir die graue Feder entgegen, die ich achtlos hatte fallen lassen, kurz bevor ich zu meinen Eltern gefahren war. Ich hob sie hoch und steckte sie in meine Hosentasche. Dann holte ich einen großen Müllsack und warf alles hinein, was vom Kochen übrig war. Zum Schluss riss ich das Kabel aus der Steckdose und warf die Kochplatten hinterher. Es schepperte, als sie im Inneren des Müllsacks auf den ungespülten Topf knallten, doch ich verzog keine Miene und knotete das graue Plastik zu. Ich zog den Sack bis in den Hausflur vor unsere Müllrutsche, öffnete eine Klappe in der Wand und hob den Sack hoch. Klappernd verschwand er in der schwarzen Röhre und ewige Sekunden später hörte ich, wie er mit einem dumpfen Aufprall im Keller landete.

Zurück in meiner Wohnung schloss ich die Fenster wieder und schob mir die Lederboots von den Füßen. Im Schlafzimmer zog ich die Tagesdecke vom Bett und schmiss sie in eine Ecke. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nun das Bett frisch zu beziehen, doch ich setzte mich auf die Decken mit dem getrockneten Blut und zog ein Kopfkissen zu mir. Meine Nase berührte den weichen Stoff und ich seufzte leise. Ich konnte das Bettzeug unmöglich waschen, es ging einfach nicht. Vorsichtig ließ ich das Kissen sinken. Es roch noch nach ihm.

Ich zog mir die schwere Lederhose aus und kroch in die Decken. Dann vergrub ich mein Gesicht zwischen den Kissen und für einen ewigen Moment war er wieder da. Seine Stimme, sein Lachen, sein Geruch. Ich blieb so liegen, Stunde um Stunde, weil ich mich einfach nicht mehr rühren wollte. Im Wohnzimmer klingelte mein Telefon. Dann das Handy in meiner Hosentasche. Ich schloss die Augen und hörte einfach nicht mehr hin. Der Tag ging übergangslos in eine schwarze Nacht über und dann ging wieder ein Tag vorbei, ohne dass ich mich gerührt hatte. Der Akku meines Handys piepte eine Weile anklagend und verstummte irgendwann. Wieder wurde es Nacht und ich lag wach und sah in den Himmel. Meine Lippen waren rissig und trocken, ich brauchte dringend Blut, doch ich wollte nicht mehr aufstehen. Jeder Weg war zu viel und sinnlos noch dazu. Die Sonne ging auf und ich sah ihrem Lauf zu, bis sie wieder verschwand und eine bleiche Sichel am Himmel erschien. Sein Geruch wurde schwächer und ich kämpfte den sinnlosen Kampf um eine vergängliche Erinnerung.

Irgendwo im Haus knallten Türen und mein Mund war mittlerweile so trocken, dass meine Zunge wie ein Fremdkörper an meinem Gaumen klebte. Ich dämmerte vor mich hin, und als es erneut dunkel wurde, klingelte es plötzlich Sturm an meiner Tür. Ich zog mir ein Kissen über die Ohren, doch es hörte einfach nicht auf, bis plötzlich Stille eintrat. Ich atmete gerade erleichtert auf, als meine Tür förmlich zu explodieren schien. Ich sah, wie sie an meiner Schlafzimmertür vorbeiflog, als wäre sie aus Pappe und schließlich vermutlich an meinem Schreibtisch abprallte. Stimmen schwirrten durcheinander, als man meinen Namen rief.

Yaris’ Kopf erschien in der Tür. »Warte einen Moment, Mik«, sagte sie und ich hörte ein widerwilliges Brummen. Yaris stürzte ins Schlafzimmer, streichelte meine Wange und zog geistesgegenwärtig die Tagesdecke über die Blutflecken.

Mik stand plötzlich im Zimmer. »Scheiße, Püppi, was machst du für Sachen?«

Die Matratze schwankte gefährlich, als er sich setzte und dank des Blutmangels wurde mir sofort schwindlig. Ich musste würgen, beugte mich über den Bettrand, doch ich war ausgetrocknet, sodass nur ein heiseres Husten aus mir herauskam.

»Was ist mit ihr?«, flüsterte Mik hilflos.

»So wie sie aussieht, hat sie tagelang nichts zu sich genommen.«

Mik umgriff meine Schultern und mein Kopf fiel kraftlos nach hinten, als er mich hochzog. Ich hörte ihn erschrocken keuchen, dann umschloss seine große Hand meinen Hinterkopf und stützte mich. »Püppi, wann hast du das letzte Mal ’ne Dose Blut gehabt?«

Ich wollte antworten, doch meine Zunge war zu trocken, um zu sprechen.

In Miks Augen standen Tränen. »Yaris, was hat sie?«, flüsterte er. »Sie kann noch nicht mal mehr sprechen.«

»Ich hole etwas zu trinken«, murmelte Yaris. »Dann sehen wir weiter.«

Sie hielten mir eine Tasse angewärmtes Blut an die Lippen und ich nahm einen vorsichtigen Schluck. Ich war so geschwächt, dass nicht mal mehr meine Reißzähne sich regen konnten. Ich trank mehr, und als ich zu gierig schluckte, musste ich wieder würgen. Mik hielt meinen Kopf.

Eine Träne rann seitlich meine Wange hinab.

»Nikka, was machst du nur für Sachen?«, flüsterte Yaris.

Ich fasste nach ihrer Hand, die meine Tasse hielt. Das Blut schenkte mir wieder Kraft und ich trank gierig die letzten Schlucke. Mik stand auf, um Nachschub zu holen, während Yaris meinen Arm streichelte und meinem schweren Atem lauschte.

Nach der zweiten Tasse Blut ging es wieder besser.

»Danke«, sagte ich mühsam. Mik schluckte schwer.

»Noch etwas mehr?«, fragte Yaris.

Ich schüttelte den Kopf, wobei Sternchen vor meinem inneren Auge tanzten und ich das Gefühl der Übelkeit erneut niederringen musste.

»Warum machst du so etwas?«, fragte Mik ratlos. Ich ließ den Kopf hängen und zuckte mit den Schultern. »Aber das macht man doch nicht einfach nur so.«

»Zeit für ein Frauengespräch, du Held.« Yaris lächelte.

Mik blickte zwar nicht begeistert, aber schließlich nickte er. »Dann schaue ich mal, ob ich beim Hausmeister ein bisschen Werkzeug für die Tür ausborgen kann. Vielleicht kann ich das ja noch an Ort und Stelle reparieren. Aber nach eurem Gespräch will ich auch wissen, was Sache ist. So wortlos wie das letzte Mal kommt sie dieses Mal nicht mit ihren Eskapaden davon.« Miks große Silhouette verschwand aus dem Zimmer und seine schweren Schritte verhallten im Flur.

»Er macht sich wirklich Sorgen«, sagte Yaris.

»Ich weiß.« Meine Stimme klang verrostet und meine Zunge war immer noch etwas taub.

Yaris strich mir die verfilzten Haare aus dem Gesicht. Dann nahm sie meine Linke und legte beide Hände darum. »Nikka, er wird nicht wiederkommen. Wie viele Tage ist es jetzt her?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wir rechnen stündlich damit, dass irgendetwas passieren wird. Die Engel sind wie vom Erdboden verschluckt. Du hast den Brief an Levian gelesen. Du hast die Unterlagen gesehen, die der Engel im Kampf verbrannt hat. Draußen in den Straßen ist es so still, so verdächtig ruhig, es ist nur eine Frage der Zeit, bis etwas passieren wird. Er ist ein Teil davon. Er ist einer ihrer Anführer, er wird dabei sein, wenn sie das, was sie gerade vorbereiten, beginnen.«

»Ja.«

»Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja, das tue ich. Mein Kopf sagt mir auch, dass ich ihn vergessen soll. Ihn vergessen muss. Dass er mich belogen und ausgenutzt hat. Und vermutlich von Anfang an geplant hat, dass wir aufeinandertreffen, aber …«

»Ich weiß«, murmelte Yaris. »Das Herz will einfach nicht still sein.«

»Genau.«

»Aber jetzt musst du mal an deine Freunde denken, an deine Familie und deine Arbeitskollegen. Wir alle machen uns große Sorgen.«

»Es tut mir auch unendlich leid, dass ich mich so bescheuert benehme«, sagte ich und war schon wieder den Tränen nahe. »Ich werde mich bessern. Ab jetzt reiße ich mich zusammen.«

»Das ist eine gute Einstellung.« Yaris ließ meine Hand los und strich meine Bettdecke glatt. »Den Rest heilt die Zeit.«

»Ja«, sagte ich tapfer und versuchte, zu lächeln.

Mik kam mit einem rumpelnden Werkzeugkoffer wieder.

»Was sage ich ihm?«, fragte ich hektisch. »Wenn ich ihm das mit dem Engel erzähle, flippt er total aus.«

»Sag doch einfach, dass es dramatische Familienprobleme gab. Das will er sicher nicht so genau wissen, weil er deine Eltern nicht mag, weil er bei ihnen so unerwünscht war.«

»Gute Idee«, flüsterte ich noch, da stand Mik schon wieder neben mir.

»Also, was ist Sache? Raus mit der Sprache!«

»Meine Eltern machen mich fertig«, sagte ich und vermied einen Blick in seine Augen. »Sie wollen, dass ich wieder bei ihnen einziehe und seit ich mich geweigert habe, machen sie mich total verrückt. Rufen ständig an, kommen vorbei oder zwingen mich, mich dauernd mit irgendwelchen Heiratskandidaten zu treffen.«

Miks Haltung war zunächst noch skeptisch, bei dem Wort Heiratskandidaten jedoch wurde sein Blick merklich finsterer. Nun hatte ich ihn auf meiner Seite. »Deine Eltern sind echt ’ne Plage«, sagte er. »Da würde ich auch irgendwann freiwillig in den Hungerstreik treten.«

»Wir werden jetzt einen Plan machen, Nikka und ich, wie sie es schaffen kann, ihren Eltern weniger Raum in ihrem Leben zuzugestehen.«

»Aha«, erwiderte Mik vage.

»Meinst du, du bekommst die Tür wieder hin?«

»Och, ich probiere es einfach.«

»Gut, dann rede ich noch ein bisschen mit Nikka.«

»Hm. Na gut …« Mik verstand zwar den Wink von Yaris, doch wirklich gehen wollte er nicht. »Püppi …«

»Ja?«

»Das nächste Mal, wenn sich so etwas anbahnt, dann sagst du eher Bescheid, klar?«

Ich nickte schuldbewusst.

»Es löst nämlich keine Probleme, wenn man sich vornimmt, bei lebendigem Leibe zu vertrocknen wie eine alte Topfpflanze.«

»Ich werde es mir merken, Mik«, sagte ich, gerührt über seine etwas unbeholfene Wortwahl.

»Okay.«

Als er aus dem Zimmer gegangen war, drehte Yaris sich wieder zu mir. »Wie soll es jetzt weitergehen?«

»Ich habe demnächst … heute oder morgen, ich weiß nicht genau, noch ein Abendessen bei meinen Eltern. Aber danach …«

»… willst du wieder arbeiten kommen?«

»Ja.«

»Bist du dir sicher?«

»Ich will mein altes Leben zurück«, sagte ich leise. »Das Leben vor Levian.«

Yaris nickte und seufzte schwer. »Gut, ich trage dich wieder ein, aber du musst mir versprechen, dass du dich am Riemen reißt. Keine Weinkrämpfe mehr, keine Eskapaden, keine Regelbrüche. Meinst du, du schaffst das?«

»Ja. Ich will es.«

»Das ist die richtige Einstellung.« Yaris lächelte. »Und nun? Vielleicht noch einen Becher Blut?«

»Gern.«

 

Erst nachdem ich noch zwei volle Tassen Blut brav ausgetrunken hatte, konnte Yaris Mik überreden, mich wieder allein in meiner Wohnung zurückzulassen.

»Sollte nicht jemand auf sie aufpassen?«, murrte er sogar noch, als Yaris ihn bereits zur Tür hinausschob.

»Nikka macht jetzt ein Verdauungsschläfchen und dann sollte sie sich besser um ihre Familie kümmern, die sich sicherlich auch große Sorgen gemacht hat«, erwiderte Yaris unnachgiebig.

Ich warf ihr eine Kusshand hinterher. Als die beiden weg waren, folgte ich ihrem Rat und rief bei meinen Eltern an.

»Nikka«, schrie Mutter ins Telefon, kaum hatte ich mich zu erkennen gegeben. »Mach so etwas nie wieder!«

»Ich …«

»Was glaubst du, was ich mir für Sorgen gemacht habe! Deinen Vater sehe ich so gut wie nie, er hat so viel zu tun in letzter Zeit. Dein Bruder arbeitet und trifft seine neue Freundin. Mayra hat ihre eigene kleine Familie …«

»Aber Mutter, ich …«

»Nein! Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe? Mit niemandem konnte ich über meine Sorgen dich betreffend reden. Und du! Du … du …!« Sie brach ab und holte energisch Luft. »Warum kannst du mir nicht Bescheid sagen, wenn du irgendwelche Sonderschichten machst? Das steht mir zu. Ich bin deine Mutter!«

Ich atmete erleichtert auf, weil sie nur dachte, dass ich sie aufgrund eines geänderten Dienstplans nicht angerufen hatte. Gleichzeitig war ich wie immer sofort auf 180, denn wenn sie mich wirklich so sehr vermisst hatte und sich so sehr sorgte, weshalb war sie dann nicht bei mir vorbeigekommen oder hatte einen Bediensteten geschickt? Ich schnaufte, um mir fast geräuschlos Luft zu machen.

»Ich war immer für dich da. Woher kommt nur diese Undankbarkeit? Darf ich daran erinnern, wie schlecht es dir in den vergangenen Wochen ging und wie gut ich mich um dich gekümmert habe? Hattest du nicht alles, was du brauchtest bei uns? Geht es dir eigentlich zu gut oder warum zeigst du so wenig Dankbarkeit deiner Familie gegenüber? Wenn ich da an Mayra denke, wie sehr sie immer …«

Ich legte das Handy beiseite und sah mir meine Fingerspitzen an. Bei Lobgesängen auf meine Schwester hörte meine Geduld einfach auf. Mutter redete ununterbrochen weiter. Ich sortierte meine Stifte auf meinem Schreibtisch und wischte ein wenig Staub vom Monitor. Ein Glück nur, dass ich sie über mein Handy angerufen hatte, so konnte sie nicht sehen, was ich trieb, während sie einen ihrer emotionsgeladenen Monologe hielt.

Plötzlich war es verdächtig still am anderen Ende der Leitung. Lautlos nahm ich das Handy wieder hoch. »Ja, verstehe ich«, sagte ich auf gut Glück.

»Ich wünsche mir mehr Respekt!« Offenbar war Mutters leidenschaftliche Rede noch nicht zu Ende. »Und …«

»Ich respektiere dich doch«, warf ich ein, bevor sie wieder loslegen konnte.

»Nein, das tust du nicht!«

Ich ließ leicht genervt die Schultern hängen. »Und wie …«

»Du respektierst nicht mal deinen Vater! Du hörst nicht auf seinen Rat, wieder in das Haus deiner Familie zu ziehen. Wenn ich dir schöne Kleider schneidern lassen will, ziehst du ein Gesicht. Bei unseren Abendeinladungen bist du mürrisch und deine Abendgarderobe sieht aus, wie aus dem Abfall gezogen!«

Was sollte ich darauf erwidern? Grundsätzlich hatte sie recht. Aber aus ihrem Mund klang mein Verhalten regelrecht boshaft. Und diesen Schuh würde ich mir nicht anziehen. »Du und Vater spielen seit einigen Wochen die großen Geheimniskrämer.« Ich ahmte ihre Stimme nach. »Zieh wieder zu uns, triff dich nur mit Blutdämonen, spioniere deine Kollegen aus. Nein, wir können dir nicht sagen, warum wir uns so seltsam benehmen, aber irgendwann wirst du wissen, warum … Es ist alles nur zu deinem Besten.«

Mutter schnaufte empört. »Es ist ja auch zu deinem Besten.«

»Ich akzeptiere nicht, dass irgendetwas zu meinem Besten sein soll, solange ich nicht weiß, worum es geht.«

»Es geht um dich. Du bist unsere Tochter.«

»Seit wann steht ihr den anderen Dämonenrassen so feindlich gegenüber? Ich weiß, dass ihr es am liebsten hättet, ich wäre mit einem Blutdämon zusammen, aber in letzter Zeit klingen eure Äußerungen so, als wären die anderen Dämonen alle Schwerverbrecher und unser nicht würdig. Erinnerst du dich, dass wir auf unserem Heimatplaneten alle gleichberechtigt leben und es dort keine Rasse gibt, die über der anderen steht? Genauso wurde es auch den Delegationen vorgeschrieben. Wir leben hier auf der Erde nach den Gesetzen unserer Heimat. Und die besagen eindeutig eine Gleichberechtigung. Nun willst du mir vorschreiben, nicht mehr arbeiten zu gehen, um nicht mit andern Dämonenrassen in Kontakt zu kommen. Ich weiß nicht, woher dieser Sinneswandel bei euch kommt.«

Eine Weile erwiderte meine Mutter nichts. Als sie dann schließlich doch wieder mit mir sprach, klang ihre Stimme seltsam fremd. »Auf welcher Seite stehst du, Nikka?«

Ich war ein paar Sekunden fassungslos. »Von was für Seiten redest du?«

»Ich rede von deiner Familie und von all denen, die nicht dazugehören. Auf welcher Seite stehst du? Würdest du zu uns halten?«

»Ihr seid meine Familie, natürlich steht ihr vor meinen Freunden und allen anderen. Aber warum fragst du das?«

»Dann kündige deinen Job.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Nikka, wir als deine Familie wünschen uns, dass du nicht länger arbeiten gehst. Wir wollen dich sicher auf dem Anwesen wissen. Nur dort kann dir nichts passieren.«

So langsam wurde mir ihr Verhalten echt zu dumm. Sie ignorierte meine Frage, stattdessen sorgte sie für noch mehr Verwirrung. »Ich lege gleich auf, Mutter, denn ich könnte genauso gut mit einem Orakel telefonieren. Es wird morgen das letzte Mal so sein, dass ich mich zu einem eurer arrangierten Abendessen begebe. Bitte mach keine neuen Termine für mich, ich werde nicht erscheinen. Solange ich keine Antworten auf meine Fragen bekomme, sehe ich nicht mehr ein, euch zuliebe die nette Tochter zu spielen. Die letzten Kandidaten waren allesamt eine Zumutung.«

»Aber Tarsos wird dir gefallen, da bin ich mir sicher«, erwiderte Mutter völlig ungerührt.

»Mutter! Hast du mir zugehört?«

»Natürlich. Dieser Tarsos soll wirklich ansehnlich sein. Mayra hat ihn mit deinem Vater mal nach einer Ratssitzung vor dem Hauptquartier gesehen.«

Ich gab es auf. Solange sie sich so stur stellte und meine Fragen einfach ignorierte, kam ich nicht weiter. »Es wird trotzdem das letzte Kuppelabendessen. Keine neuen Termine für mich.«

»Benimm dich ruhig kindisch. Das zeigt mir nur umso mehr, dass es mal wieder deine Familie sein muss, die dafür sorgt, dass es dir gut geht.«

»Mutter! Ich lege jetzt auf.«

»Versuch bitte, nur ein einziges Mal pünktlich zu sein.« Ihre Stimme verriet, dass sie mich kein bisschen ernst nahm.

»Werden wir dann sehen …«, brummte ich und legte auf.

Ich warf das Handy auf die Couch, während ich zur Küchenzeile marschierte, um mir noch eine Dose Blut aufzumachen.

Sie trauten mir nicht! Nur deshalb erzählten sie mir nicht, was in den vergangenen Wochen zu diesem radikalen Sinneswandel geführt hatte. Jaro schien auch immer noch unwürdig, um eingeweiht zu werden. Ob Mayra und ihr Mann Ikanto etwas wussten? Nur sie brauchte ich gar nicht erst zu fragen. Mayra würde es vermutlich noch Spaß machen, wie sehr ich mich darüber ärgerte. Ich nahm mir vor, noch einmal mit Jaro zu reden und zu überlegen, wie wir vielleicht etwas mehr über diese Geheimniskrämerei herausfinden konnten.