1. Kapitel

Mit dem Todfeind spricht man nicht

 

 

 

Die Nacht war so schmutzig grau wie der vorangegangene Tag. Ein scharfer Wind fegte um die Straßenecken, heulte in den leeren Gassen und trieb herumliegenden Müll tanzend vor sich her. Als die tief hängende Wolkendecke aufriss, spiegelte sich das Licht des Mondes in den Fenstern der betonierten Häuserschluchten. Große violettfarbene Regentropfen prasselten in einem monotonen Takt gegen meinen Hightechhelm. Hätte ich vergessen, das Visier hinunterzuklappen, der Regen hätte mir innerhalb von Sekunden das Gesicht zerfressen. Seit das Klima sich zum Schlechten gewandelt hatte, war die Welt zu einem feindlichen Lebensraum geworden. Der Regen war sauer und glich der zerstörenden Kraft von Salzsäure. Niemand sollte bei diesem Wetter unterwegs sein, denn selbst der Asphalt zischte gequält, dort, wo die ätzenden Tropfen seine Oberfläche berührten.

»Engel auf halb acht, Nikka«, sagte plötzlich Cayo in meinem Ohr.

Ich lächelte. »Cayo, du hast mir doch versprochen, dass es eine ruhige Nacht wird«, erwiderte ich scherzhaft. Mein Partner saß lieber in der Zentrale, gab mir die Positionen der aufgespürten Engel durch und überwachte meinen Einsatz. Leider hatte ihm eine ausgeprägte Schwäche für Süßigkeiten die einstmals so wohlproportionierte Figur des Feuerdämons verdorben.

»Nikka, du musst in das Industriegebiet im Osten der Stadt.« Cayos Stimme war ernst geworden. Er wusste genau, wann Zeit für Späße war und ab wann der Job wieder oberste Priorität hatte. »Eine Flugpatrouille hat ihn kurz gesehen. Einen Streuner, männlich, vermutlich verwundet. Die Gegend ist übel. Weißt du, wo das ist oder soll ich dir die Koordinaten schicken?«

»Ich weiß, wo das ist.«

»Okay.« Cayo wurde leiser, als er wohl den Kopf senkte, um auf seine Notizen zu sehen. »Zuletzt ist er in der Nähe der leer stehenden Fleischverpackungsfabrik gesehen worden.«

»Gut, ich sehe mich dort mal um. Wenn es wirklich nur ein Streuner ist, wird es ein Spaziergang.« Wieder nur ein Streuner. Schade, im großen Rudel waren sie mir lieber, aber Streuner waren entgegen ihrer Gewohnheit nicht in einer Gruppe, sondern allein unterwegs.

»Nikka, sei nicht leichtsinnig. Wenn es eine Falle ist?«

»Dann lege ich sie alle um«, unterbrach ich ihn. Cayo lachte verhalten. Er teilte meinen Spaß am Leichtsinn nicht, aber deshalb saß er in der Zentrale im Trockenen und nicht ich. Fast wie zur Bestätigung klatschte mir eine Ladung violettfarbener Regen vors Visier, doch auch das konnte mich nicht erschrecken. Übermütig legte ich trotz der unsicheren Straßenlage eine Vollbremsung hin und riss die Maschine gewaltsam herum. Das GPS meines Lenkradcomputers projizierte wirren Datensalat auf den Bildschirm, als ich innerhalb der nächsten Sekunde in die entgegengesetzte Richtung davonbrauste.

Na, dann würde ich mir diesen Streuner mal ansehen. Ich gab ordentlich Gas und raste über die verlassene Kreuzung in Richtung der Autobahn. Ich liebte den Rausch der Beschleunigung. Fuhr man so schnell, wurde auf einmal alles still und die Umgebung verschwamm zu einem Kaleidoskop aus trüben Farben. Manchmal glaubte ich, die Welt sah schöner aus ohne ihre Details.

 

Als ich das östliche Industriegebiet erreichte, verbesserte sich das Wetter etwas. Es regnete zwar noch, aber es sah zum Glück nicht mehr aus, als wollte die Welt ausgerechnet heute untergehen.

»Wann hast du eigentlich deinen Schutzanzug das letzte Mal warten lassen?«, wollte Cayo plötzlich wissen.

»Was ist das für eine Frage?«

»Nikka, wie kann man verantworten, ohne einen einwandfreien Schutzanzug bei diesem Wetter durch die Gegend zu fahren?«

»Ich habe ihn kürzlich durchchecken lassen«, erwiderte ich.

»Das bezweifle ich irgendwie.«

»Nicht jetzt, Cayo.« Ich ließ die Maschine leise ausrollen, weil ich die leer stehende Fabrik erreicht hatte. Das Gelände war unübersichtlich, verwinkelt und nicht beleuchtet. Ein idealer Ort für einen Hinterhalt. Ich schwang mich von meinem Motorrad und lud die Waffe. Engel waren nicht leicht zu töten. Am effektivsten hatten sich Kugeln aus Platin erwiesen. Sie vergifteten ihren Organismus innerhalb von Sekunden und lösten die Engel von innen heraus auf. Das war zwar kein schöner Anblick, bedachte man allerdings, dass die meisten von ihnen flammende Schwerter bei sich trugen, nahm ich das groteske Schauspiel eines zerfließenden Engels doch gern in Kauf.

Während ich auf die großen Tore der Fabrikhalle zuging, schaltete ich an meinem Helm das Visier auf Wärmebildmodus um. Sofort sah ich drei kleine gelbrote Silhouetten durch mein Sichtfeld huschen. Ratten, diese elenden Schmarotzer. Sie waren einfach nicht auszurotten. Die Menschheit stand kurz vor dem Aussterben, aber Ratten gab es immer noch überall.

Ich schlich um die rauen Mauern, steckte die Waffe weg und zog mich an einem der hohen Fenster hoch, um durch das verdreckte Glas einen Blick nach innen zu werfen. Doch auch hier war außer Ratten nichts verborgen. Seufzend ließ ich mich an dem rohen Beton wieder hinunterrutschen und die grobe Fassade zerrte an der Oberfläche meines Anzugs.

Wo hatte er sich versteckt? Wieder zurück bei meiner Maschine sah ich mich um, als ich links neben dem Gebäude eine unauffällige Seitenstraße entdeckte. Schmal, dunkel und zur Hälfte durch das angrenzende Fabrikgebäude überdacht. Hm, das war ein noch viel besserer Ort für einen Hinterhalt. Nur gut, dass Cayo mich nicht sehen konnte. Er hätte mir verboten, den Gang zu betreten und sicherheitshalber Verstärkung angefordert. Wie langweilig.

Vorsichtig schlich ich näher. Meine Nasenflügel bebten, als ein wohlbekannter Geruch in meinen Helm drang. Süßlich, verlockend und warm. In dieser Gasse war etwas, das viel Blut verloren hatte, aber immer noch lebendig war. Ich legte den Kopf schief, und plötzlich hatte ich ihn.

Unter dem Fabrikvordach standen ein paar Industriemülltonnen. Aus einer strahlte es in hellem Rot. Volltreffer! Wie schwer verletzt musste man sein, wenn man sich freiwillig in einer Mülltonne versteckte? Ich wusste es doch, der Auftrag würde ein Spaziergang werden. Mit wenigen Schritten erreichte ich mein Ziel. Es stank nach verwesendem Fleisch, faulendem Abfall und Tierexkrementen.

»Bist du schon da?«

»Schon da und auch fündig geworden.« Ich trat gegen den bulligen Container. Der schwankte gefährlich und fiel um wie ein Bauklötzchen. Im Inneren polterte es.

»Sprich bitte in ganzen Sätzen, Nikka. Das gehört sich so«, mäkelte Cayo prompt. »Außerdem macht es die Kommunikation eindeutiger.«

»Jaja«, brummte ich, zog meine Waffe und hielt sie auf die metallene Klappe gerichtet. Es polterte erneut. »Lass mich jetzt arbeiten, Cayo.«

»Gut. Zentrale Ende.« Es knackte und raschelte in der Leitung, dann brach der Funkverkehr ab. Im Container war es still geworden. Ich riss an der Klappe und etwas kugelte mir vor die Füße. Eigentlich war das Ding viel zu groß zum Kugeln, doch es schien relativ gelenkig zu sein. Schnell schaltete ich den Wärmebildmodus aus. Es war tatsächlich ein Engel, was für eine Überraschung.

Ich starrte fasziniert auf ihn hinunter. Ich hatte noch nie Flügel aus der Nähe gesehen. Normalerweise konnten Engel sie einziehen wie Katzen ihre Krallen, weil sie beim Kämpfen extrem hinderlich waren. Doch dieser hier war offensichtlich zu verletzt dazu. Zusammen mit ein paar verschmierten Pappen kauerte er zu meinen Füßen und atmete schwer. Er sah nicht aus, als ob er sich noch großartig wehren könnte. Ich machte auch nirgendwo ein Schwert aus, also betrachtete ich ihn genauer. Sein Haar leuchtete hell, fast silbrig und seine Kleider sahen so aus, als hatte er bereits drei Wochen darin geschlafen. Was für ein elendes Bild. Er war kaum eine Kugel wert.

Plötzlich stöhnte er, richtete sich etwas auf und sah mir trotz meines dunklen Visiers direkt in die Augen. Sie waren alle schön, das war eine Tatsache. Engel sahen nun mal so aus. Doch sein Blick traf etwas tief in mir, das kein Hightechanzug schützen konnte. Ich schluckte und wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Seine Augen waren von einem leuchtenden Blau, umrahmt von dunklen Wimpern und doch nur zwei i-Tüpfelchen auf seinem perfekten Antlitz. Ich starrte ihn ungeniert an, bis mir einfiel, dass mein neugieriger Blick trotz des getönten Visiers wohl nicht vor ihm verborgen blieb.

»Nikka?«, funkte Cayo in diesem Moment. »Alles roger? Hast du ihn?«

»Moment noch.«

Der Engel stöhnte ein zweites Mal und breitete seine Flügel in ganzer Pracht aus. Sie waren dunkelgrau, und die Federn hatten einen irisierenden Schimmer, dort, wo sie nicht blutig und zerfetzt waren. Ich blickte auf die flaumige Oberfläche und wollte sie unbedingt anfassen, die Hand ausstrecken und darüberstreicheln. Sie fühlten sich bestimmt ganz weich an.

Ich rief mich energisch zur Ordnung. Was war denn nur los mit mir? Ich sollte ihn jetzt töten, immerhin war das meine Arbeit. Fest entschlossen zog ich meine Waffe und zielte auf seinen Kopf. Warum fiel es mir so schwer, einfach abzudrücken? Damit hatte ich doch noch nie Probleme gehabt. Warum dachte ich überhaupt darüber nach?

Er riss mich aus meiner Lethargie, weil er hustete, und ein Schwall Blut über sein Kinn lief. Ich sah auf das rubinrote Rinnsal. Blut war gut, es machte satt und ich lebte zum größten Teil davon. Doch ich wollte ihn nicht anfallen und von ihm trinken, deshalb zeigte ich mit der Hand unwirsch auf sein Kinn. Er sollte es gefälligst wegwischen und mich nicht weiter in Versuchung führen.

Der Engel blickte stur zurück. »Du solltest deinen Helm abnehmen und mit mir sprechen, Dämon. Dann verstehe ich auch, was du von mir willst.«

Moment mal, hier lief gerade etwas grundlegend falsch. Ich gab die Befehle, insbesondere, da ich eine Waffe in der Hand hielt und mein Gegenüber aussah wie mehrmals überfahren.

»Wenn ich errate, was für eine Augenfarbe du hast, klappst du dann dein Visier mal kurz hoch?«, fragte er, während er sich mit einer zerkratzten Hand das Blut vom Kinn wischte.

Ich knurrte bedrohlich, um mir Zeit zu verschaffen. Warum dachte ich eigentlich so viel nach? Ich sollte ihn erschießen, dieses elende Federvieh. Erneut sah ich in seine unwirklich blauen Augen und nickte hilflos.

»Sie sind braun. Nicht dunkelbraun, nicht mittelbraun, sondern hellbraun. Es sind goldene Augen mit tiefgrünen Sprenkeln.« Seine Stimme klang warm, melodisch und in meinem Bauch begann etwas, zart zu flattern. So etwas Schönes hatte noch niemand zu mir gesagt. Ich rückte noch näher an die Wand, um Schutz vor dem Regen zu finden und klappte mein Visier hoch. Unsere Blicke trafen sich zum ersten Mal.

»Wusste ich es doch«, flüsterte er.

Fast hätte ich unbedacht zurückgelächelt, doch da krümmte er sich plötzlich und griff mit schmerzverzerrtem Gesicht an seine linke Seite. Sein T-Shirt war zerrissen und zwischen seinen Fingern quoll hellrotes Blut hervor. Schon wieder Blut. Mein Körper begann zu zittern. Gierig, hungrig und übermüdet. Es könnte so einfach sein, er lag nur einen halben Schritt entfernt.

Er ächzte und richtete sich auf wie mit letzter Kraft. »Nun mach schon!«

Ich hob meine Waffe erneut, wenn auch etwas unwillig.

»Nikka! Hast du den Kleinen erwischt oder brauchst du Verstärkung?«, bellte Cayo zeitgleich in sein Mikro.

Mein Zeigefinger drückte gegen den harten Stahl des Abzugs. Besäße ich nicht Nerven wie Drahtseile, hätte ich mich vor Cayos unerwarteter Ansage vermutlich so erschrocken, dass ich den Engel schon aus reinem Versehen erschossen hätte. Doch ich zuckte nicht einmal, geschweige denn mein Finger am Abzug.

Eine ewige Sekunde sahen der Engel und ich uns an. Sein Gesicht war so schön, dass es fast wehtat. Ich wusste, er hatte Schmerzen und ich roch seine Angst, doch da war noch etwas. Etwas Unbekanntes, etwas Verlockendes, etwas, das man nicht erschießen sollte. Der Engel rührte sich immer noch nicht.

»Nikka!« Schon wieder Cayos gereizte Stimme in meinem Ohr.

Ich ließ die Waffe sinken. »Alles roger, Cayo«, sagte ich.

»Na, das hat ja gedauert. Komm erst mal zurück in die Zentrale. Im Moment habe ich keinen neuen Auftrag für dich.«

»Ich sehe mich zur Sicherheit noch ein wenig um. Vielleicht gibt es hier noch mehr von ihnen.« Ich brauchte Zeit. Ich brauchte ganz dringend ein wenig Zeit zum Nachdenken.

»Verstanden. Sei vorsichtig, Nikka.«

»Bin ich doch immer.«

Der Engel blickte auf meine Waffe, als ich sie mit einer entschlossenen Geste zurück in das Halfter an meiner Hüfte schob.

»Muss ich das verstehen?«

Ich ignorierte seine Frage und nahm stattdessen meinen Helm ab. Es war der pure Leichtsinn und die rationale Hälfte meines Verstandes bäumte sich in stummem Protest auf, aber wenn ich mit ihm reden wollte, funktionierte das nur ohne Helm.

»Bewaffnet?«, schnauzte ich ihn an. Die Augen des Engels wanderten über mein Gesicht, das er nun zum ersten Mal vollständig sehen konnte. Ich hatte den Eindruck, er hatte mir gar nicht zugehört. »Bist du bewaffnet, Engel?«

»Nein, Dämon.«

»Hm …« Ich marschierte einmal um ihn herum, konnte aber, außer dreckiger Kleidung und ziemlich lädierten Flügeln, keine Auffälligkeiten ausmachen. »Aufstehen!«

Der Engel sah mich an, als versuchte er abzuschätzen, was ich mit ihm vorhatte. Er drückte sich mühsam hoch, obwohl er so geschwächt wirkte, dass ich damit rechnete, er würde wieder umfallen. Als er aufrecht vor mir stand, war ich überrascht, wie groß er war. So zusammengerollt auf dem Boden hatte er nicht so beeindruckend ausgesehen. Ich ging erneut um ihn herum. Seine Haut war hell und musste ehemals makellos gewesen sein. Seine Schultern waren breit und durch das zerrissene Shirt blitzten Ausschnitte eines sehnigen Rückens. Unbewusst hob ich die Hand, um seinen rechten Flügel zu berühren, doch ich ließ sie erschrocken wieder sinken. Was machte ich bloß? Als ich wieder vor ihm stand, wünschte ich mir plötzlich, dass er noch mal lächelte.

»Was soll das alles, Dämon?«

Sofort bereute ich meinen geheimen Wunsch. »Ich bin es, die hier die Fragen stellt«, erwiderte ich betont kalt. Ich stieß an seine Seite, in die Wunde, aus der er immer noch blutete. Er keuchte und krümmte sich, während ich mit dem blutigen Handschuh über meinen Mund strich. Als er mich wieder ansah, leckte ich genießerisch meine Unterlippe. »Weggucken«, zischte ich. Ich rieb mir das restliche Blut mit der Innenseite meines Ärmels vom Gesicht. »Bist du allein?«

Schon die Frage war reiner Unsinn, denn wäre er in Gesellschaft, hätte er seine Komplizen bestimmt nicht verraten. Der Engel nickte. Was hätte er auch sonst tun sollen? Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, seine Haut wurde noch heller und die großen Augen schienen in tiefen Schatten zu versinken. Er atmete kurz und stoßweise, griff sich wieder an die blutende Seite, verdrehte die Augen und sackte bewusstlos in sich zusammen.

Was nun? Selbst ohnmächtig sah er unglaublich gut aus und außerdem hatte ich mich bereits mit ihm unterhalten. Und jetzt sollte ich ihn erschießen? Vor lauter innerer Zerrissenheit setzte ich meinen Helm wieder auf. Vielleicht hoffte ich auch, dass er mir ein Stückchen Professionalität wiedergab. Unschlüssig spielte ich mit dem Griff meiner Waffe, die sicher im Halfter steckte.

»Nikka, Einsatz!«, schallte es aus meinem Lautsprecher.

»Ich höre«, sagte ich scheinbar gelassen, während mein Blick immer noch auf dem gut aussehenden Engel ruhte.

»In der Innenstadt, direkt vor der Ruine der Pauluskirche. Sie sind zu sechst und wohl ziemlich gut bewaffnet. Zwei aus dem Team sind schon vor Ort, aber sie brauchen Verstärkung.«

»Bin schon unterwegs.« Ich warf einen letzten Blick auf die leblose Gestalt am Boden, drehte mich um, klappte das Visier hinunter und lief los. Vermutlich würde er verbluten. Es würde sich noch über einige Stunden hinziehen und er würde inmitten des Unrats elendig verrecken. Wenn er vorher zu sich kommen sollte, kämen auch noch die körperlichen Schmerzen hinzu. Routiniert schwang ich mich auf meine Maschine, startete sie und brauste davon, ohne zurückzuschauen. Ich hätte ihn doch erschießen sollen.

 

Kurz bevor ich meinen Bestimmungsort erreichte, funkte Cayo mich an. »Komm bitte zurück in die Zentrale, Nikka, die andere Verstärkung war eher dort. Es ist schon alles erledigt.«

»In Ordnung.« Ich bog an der nächsten Ecke scharf links ab und machte mich auf den Weg zum Hauptquartier.

Das Gebäude war groß und seine scharfkantige Architektur stach aus der zerfallenen Umgebung heraus wie eine in Beton gegossene Kampfansage. Es war eine Demonstration von Macht, in einer Welt, die sich schon lange nicht mehr wehren konnte.

Seitlich am Haus führte eine Rampe hinunter zu dem Eingang einer Tiefgarage. Hinein kam man allerdings nur, wenn man den richtigen Zahlencode am Handgelenk eingebrannt bekommen hatte. Ich schob den Ärmel meines Anzugs ein Stückchen höher und hielt den Barcode aus hellem Narbengewebe vor den Scanner. Das Gerät piepste bestätigend und das massive Eisentor wanderte wie von Zauberhand lautlos nach oben.

Nachdem ich die Maschine geparkt hatte, fuhr ich mit einem Aufzug in den zehnten Stock. Dort befand sich der Aufenthaltsraum meines Teams. Vor der Tür empfing mich ein wildes Potpourri unterschiedlichster Stimmlagen. Ich hielt erneut mein Handgelenk vor einen Scanner und die Tür verschwand mit einem leisen Surren in der linken Wand.

Der Raum war wie immer angenehm beheizt. Ich grüßte unbestimmt in die Runde, während mein Ex-Freund Mik zielstrebig auf mich zukam. Die beiden kurzen, gebogenen Hörner auf seiner Stirn waren in einem wilden Muster tätowiert und durch Metallspitzen auf ihren Enden zu gefährlichen Waffen geworden. Ein markantes Kinn betonte sein gut geschnittenes Gesicht, ein Lederband im Nacken zähmte eine schwarze Haarpracht. Seine Brust unter dem dunkelblauen Shirt war so breit, dass es um mich herum ein wenig dunkler wurde, als er vor mir stand. »Nikka! Wo warst du? Du hast eine echt nette Prügelei verpasst.«

»Beschäftigt«, sagte ich und wollte mich an ihm vorbeidrängen, doch er hielt mich grob am Arm fest. Neugierige Blicke aus dem Team begleiteten unser Geplänkel. Wir waren noch nicht lange getrennt und unsere kleinen Auseinandersetzungen eine allseits beliebte Abwechslung zum Arbeitsalltag.

»Wie? Beschäftigt?« Sofort glomm Misstrauen in seinen schwarzen Augen auf.

»Ein Auftrag? Ein Job? Meine Arbeit?«, zischte ich bissiger als beabsichtigt.

»Ach so.« Mik ließ die breiten Schultern hängen. Er war sexy, wenn er so zerknirscht aussah, aber leider war es genau jene Eifersucht, die unsere Beziehung kaputt gemacht hatte. Er hatte mich kontrollieren wollen. Jeden Schritt, jeden Gedanken, jeden Atemzug. Und dafür war ich nun mal leider die Falsche.

Mik gab den Weg frei und ich marschierte durch bis zum Kühlschrank, riss die Tür auf und zerrte ungeduldig an dem Verschluss einer Getränkedose. Der Engel und sein Blut hatten mich hungrig gemacht. Kalt war es zwar nur halb so schmackhaft, aber ich hatte keine Geduld, es in dem bereitstehenden Aggregatwandler zu erwärmen. Ich schluckte das Dosenblut mit einer Mischung aus Gier und Widerwillen. Es war zäh, wenn es gekühlt war. Meine Sinne jedoch reagierten immer gleich: In meinem Kopf breitete sich ein wohliger Schwindel aus, die langen Fangzähne bohrten sich durch Kanäle in meinem Oberkiefer und meine Augen leuchteten dunkelgrün.

»Das sieht aus wie Rettung in letzter Sekunde«, erklang eine Stimme hinter mir.

»Hey.« Ich lächelte trotz der störenden Fangzähne und drehte mich schwungvoll um. Meine beste Freundin Yaris erstaunte mich immer wieder. Sie war die Einzige im Team, die man problemlos für einen Menschen halten konnte. Ihre helle Haut war feinporig, zart und schimmerte rosig. Das etwa schulterlange, hellbraune Haar fiel ihr in weichen Wellen über die schmalen Schultern und weder Hörner noch Reißzähne verschandelten ihr herzförmiges Gesicht. Sie sah wie eine Puppe aus und doch gab sie eine ernst zu nehmende Gegnerin ab. Jede Pore ihrer Handinnenflächen beherbergte einen kurzen messerscharfen Stachel und im Nahkampf zerfetzte sie die Körper unserer Feinde wie ein dornenbewehrter Kugelblitz. Im friedlichen Zustand jedoch war sie die Hübscheste aus dem Team.

»Wie war deine Nacht bisher?«, fragte sie mit ihrer sanften Stimme und hakte sich freundschaftlich bei mir unter. Gemeinsam spazierten wir zu einem leeren Vierertisch.

»Nur ein Streuner«, sagte ich und bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Yaris zog sich einen Stuhl zurück und ließ sich geschmeidig auf der gepolsterten Sitzfläche nieder. Ich setzte mich ihr gegenüber auf einen etwas mitgenommenen Holzstuhl.

»Und wie war er so?«

»Wer?«, fragte ich wohl ein wenig zu hektisch. Ihre linke Augenbraue wanderte überrascht in die Höhe. Schnell sah ich auf mein Dosenblut.

»Warum bist du so nervös?«

»Bin ich gar nicht.«

»Doch, bist du.« Yaris griff über den Tisch hinweg nach meinem Kinn und drückte es so weit nach oben, dass mein Blick den Ihren traf. »Was ist passiert?«

»Nichts«, flüsterte ich.

Yaris schüttelte den Kopf wie eine Mutter, die ihr kleines Kind beim Lügen ertappt hatte. Ich wand mich aus ihrem sanften Griff und warf einen Blick zu Mik hinüber. Er hatte eine dampfende Schüssel vor sich stehen und erzählte wild gestikulierend eine seiner haarsträubenden So-habe-ich-den-Engel-umgelegt-Geschichten. Eine Dreiergruppe junger Kollegen hing fasziniert an seinen Lippen. Yaris sah mich immer noch fragend und ziemlich beharrlich an.

Schließlich gab ich auf. »Dieser verdammte Streuner«, sagte ich, wobei ich genau darauf achtete, nur so laut zu sprechen, dass wir keine ungebetenen Zuhörer bekamen.

»Hat er dich verletzt?«

»Nein.«

»Was hat er dann gemacht?«

»Er ist nicht tot«, knurrte ich durch fast geschlossene Zähne.

»Hast du gemeldet, dass er dir entwischt ist?«

»Nein.«

»Nicht?«

»Nein, er ist nicht tot.«

»Ich komme nicht mehr mit.« Yaris guckte verwirrt.

Ich beugte mich über die verkratzte Platte des Plastiktisches und meine Stimme verebbte zu einem heiseren Flüstern. »Er ist so gut wie tot, weil er schwer verwundet ist, aber ich habe ihm nicht den Rest gegeben. Ich habe ihn einfach dort liegen lassen.«

Yaris blickte mich aus ihren großen Puppenaugen an und schwieg. Schließlich beugte auch sie sich über die Tischplatte und ihr Gesicht kam so nah, dass unsere Nasen sich fast berührten. »Warum?«

Ich zuckte hilflos mit den Schultern.

»Hat er dich bestochen?«

»Nein.«

»Hat er dir gedroht?«

»Gedroht? Womit denn?«

»Keine Ahnung … Was sie halt so sagen, bevor man sie liquidiert: Der ewige Zorn des Himmels wird dich heimsuchen. Oder so ähnlich.«

Meine Mundwinkel zuckten. »Nein, den Himmel erwähnte er nicht.«

»Wie? Erwähnte er nicht, was soll das heißen? Hast du dich mit ihm unterhalten, anstatt ihn umzulegen?«

»Äh, also …«, stotterte ich und sah auf die Tischplatte.

»Sag mir nicht, du hast deinen Helm abgenommen.«

Ich nickte schuldbewusst.

»Nikka! Was soll das? Es hat die ganze Nacht Säure vom Himmel geregnet, wie hast du das gemacht?«

»Er lag unter einem Vordach im Trockenen.«

»Und du hattest deine Waffe vergessen und dir überlegt, dich stattdessen ein bisschen mit ihm zu unterhalten?«

»Nein. Außerdem hatte ich meine Waffe dabei.«

Yaris legte prüfend den Kopf schief. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Mir geht es gut«, flüsterte ich. »Er war irgendwie besonders, das ist alles.«

Yaris’ Augen fixierten mich streng und sie kam so nah, dass ich nun jeden einzelnen goldenen Punkt in ihren Iris erkennen konnte. »Besonders? Was soll das heißen?«

»Ihr knutscht aber nicht gerade rum da hinten?«, brüllte Mik grinsend aus der anderen Ecke des Raumes. »Wenn doch, meine Damen, will ich nämlich zugucken.«

Yaris und ich rissen ertappt die Köpfe auseinander. Das Team brach in donnerndes Gelächter aus. Yaris errötete. Ich blickte grimmig in die Runde. Noch bevor mir eine passende Antwort einfiel, begannen in allen vier Ecken des Raumes, orangefarbene Warnleuchten zu blinken. Eine monotone Lautsprecherstimme quäkte: »Einsatz für Team B7! Die Jäger Mik, Hento, Yaris, Pina, Vil, Nikka und Riki zu Ihren Maschinen. Genaue Befehle erhalten Sie von Ihren Einsatzkoordinatoren per Funk. Denken Sie an Ihre Schutzkleidung, wir haben Regenzeit. Ich wiederhole: Denken Sie an Ihre Schutzkleidung!«

Sofort sprangen die Aufgerufenen von den Stühlen und stürzten Richtung Ausgang. Ich ließ mein Dosenblut stehen und zog den Reißverschluss meines Anzugs hoch bis zum Hals. Wir waren ein routiniertes und gut eingespieltes Team, was zu großen Teilen auch an Yaris’ gutem Führungsstil lag. Ich fand, sie war die perfekte Chefin und das nicht nur, weil sie meine beste Freundin war. Sie schaffte es anscheinend mühelos, die unterschiedlichsten Persönlichkeiten zu einer homogenen Truppe zusammenzuschweißen.

Es dauerte nur knapp drei Minuten, dann waren wir in der Tiefgarage angekommen, alle saßen auf ihren Motorrädern und waren startklar. Als eine der Letzten setzte ich meinen Helm auf und schon erklang Cayo in meinem Ohr.

»Nikka! Laut den Aufzeichnungen der Überwachungskameras sind es mindestens sieben. Aber du weißt ja, wie unscharf die Bilder bei Regen immer werden. Wir haben fünf Flammenschwerter gezählt, es kann aber gut sein, dass die anderen ihre Schwerter verborgen haben.«

»Heute Nacht sind so viele unterwegs, was ist bloß los?«

»Wir haben Informationen, dass sie irgendetwas planen. Etwas Größeres. Genaueres wissen wir noch nicht. Versucht mal, ob ihr etwas aus ihnen herauspressen könnt, bevor ihr sie liquidiert.«

»Geht in Ordnung.«

Yaris fuhr vorweg, wir anderen hinterher. Der Regen hatte sich von einem wütenden Sturm in einen feinen Sprühnebel verwandelt. Tropfen, so klein, dass sie kaum zu sehen waren, wirbelten durch die Luft und der Wind trieb sie in böigen Wellen vor uns her. Ich fragte mich, was die Engel bei so einem Wetter draußen verloren hatten.

Wir fuhren eine gute halbe Stunde, als es von einer Minute auf die andere zu regnen aufhörte und nur noch violett schillernde Pfützen in den Schlaglöchern standen. Als Yaris langsamer wurde, stellte ich meine Sinne scharf. Sie hob warnend die Hand und schon sah ich die grauen Umrisse mehrerer Gestalten aus dem Zwielicht auftauchen. Wir schnitten ihnen den Weg ab, als sie gerade eine zweispurige Straße in Richtung eines verwüsteten Parks überqueren wollten. Es waren nicht sieben Engel, es waren mindestens zehn, wenn nicht noch mehr. Anstatt zu flüchten, blieben sie stehen und drehten sich uns entgegen. Mein Puls beschleunigte sich rasant. Irgendetwas stimmte nicht. Adrenalin strömte durch meinen Körper, es prickelte in den Venen und meine Muskeln spannten sich automatisch an. Endlich schaltete uns die Zentrale auf Gruppenfunk.

»Was haben die für ein Problem?«, knurrte Mik.

»Sofort formieren«, befahl Yaris.

Ich bremste wie alle anderen die Maschine ab. Die Engel dachten nicht einmal daran, zu verschwinden. Ihr Anführer hatte wallend rotes Haar, einen ebenso leuchtenden Vollbart und sein Blick zeigte weder Unsicherheit noch Angst. Ich knackte martialisch mit den Fingergelenken. Das würde kein Kinderspiel werden. Ich erkannte einen Krieger, wenn ich ihn sah. Wir formierten uns rasch und gingen drohend näher. Manchmal reichte das schon, um die Engel zum Rückzug zu bewegen.

»Höllenbrut!« Die Stimme des Anführers war leise und doch drang sie mühelos durch meinen Helm. Keiner der Engel trug Schutzkleidung. Wieso wagten sie zur Regenzeit einen solch riskanten Ausflug? Ich hing noch diesem Gedanken nach, als der Rothaarige sein Schwert zog und die gelbliche Flamme durch die Dunkelheit zuckte wie ein Blitz.

Yaris gab Mik ein Zeichen, doch bevor er sich den Engel greifen konnte, rollte eine flammende Woge auf uns zu. Wir duckten uns, wenn auch etwas halbherzig, denn Feuer war zwar nicht unbedingt hautfreundlich, aber es schadete nur den Wenigsten von uns. Mik, als Feuerdämon säureresistent und feuerfest, stürzte sich auf den Angreifer. Wieder jagte eine leuchtende Woge aus dem Flammenschwert. Sie überrollte Mik und als er wieder zu sehen war, glühten die metallenen Spitzen seiner Hörner vor Hitze. Er lachte dunkel und ich hoffte, dass der Anführer nun einsah, uns mit Feuer nicht viel anhaben zu können. Als der Engel jedoch boshaft zurücklächelte, jagte mir ein eisiger Schauder die Wirbelsäule hinunter. Erneut hob der Rothaarige sein Schwert, sprach dazu ein paar Worte in einer unbekannten Sprache und dieses Mal schoss eine bläuliche Flamme heraus. Sie fraß sich über den Asphalt, bis sie alle Engel einmal komplett umrundet hatte. Plötzlich schien der Boden zu brennen. Die Gruppe verschwand hinter einer meterhohen Schutzwand aus bläulichen Flammen.

Hento und Riki eilten zu Mik, doch im gleichen Moment schien sich die Flammenwand zu ihnen hinunterzubeugen und verschlang sie alle drei. Ich hatte Mik noch nie so jämmerlich schreien hören. Die Straße zu seinen Füßen verwandelte sich zu einem kaltfarbigen Flammenmeer und ich konnte mich vor Schreck kaum rühren. Mik war feuerfest, wie konnte es ihm so sehr wehtun?

»Pina, hierher!«, hörte ich Yaris rufen. Sofort ahnte ich, was sie vorhatte. Pina gehörte zur Dämonenart der Variati und besaß die überlangen, kräftigen Beine eines Wesens, das nicht nur Fassaden mühelos erklimmen, sondern auch aus dem Stand mehrere Meter hochspringen konnte.

»Spring so hoch du kannst und wirf mich in deren Mitte!«

Pina nickte konzentriert und umfasste Yaris’ Taille. Gemeinsam flogen sie geschätzte fünf Meter hoch in die Luft und genau im richtigen Moment stieß Yaris sich ab. Ein riskantes Manöver. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass meine beste Freundin sich allein in eine Zehnergruppe bewaffneter Engel katapultieren ließ.

Noch im Flug warf Yaris ihre Handschuhe ab und die Stacheln in ihren Handflächen schnellten hervor. Die darauffolgenden Schreie ließen erahnen, dass sie gut gelandet war. Nur Sekunden später zerbrach die Feuerwand in ein paar harmlose, kleine Flammen. Yaris stand aufrecht und in der Linken hielt sie einen grausam zugerichteten Kopf. Ich erkannte nur anhand des roten Haars, dass es sich um den Anführer handeln musste. Sein Körper war in mundgerechte Häppchen zerfetzt worden. Diesen Resten widmeten sich nun die verbliebenen Pfützen im Asphalt. Es zischte und brodelte, als die aggressive Säure das Gewebe zersetzte.

»Dummköpfe sollten nicht mit Feuer spielen«, sagte Yaris. Die anderen Engel waren starr vor Schreck und ihre Blicke ruhten auf der zierlichen Frau, die soeben ihren Anführer getötet hatte. Keiner von ihnen schien mehr gewillt, uns unbedingt Paroli bieten zu müssen. Vil, Pina und ich zogen unsere Waffen, während Yaris sich dem nächstbesten Federvieh widmete. Hento, Mik und Riki rollten sich mit schmerzverzerrten Gesichtern auf dem Boden, doch jetzt hatten wir keine Zeit, um uns um sie zu kümmern. Wer wusste, ob nicht noch einer der Engel eine Wunderwaffe bei sich trug?

Wieder hallte ein Schrei durch die Nacht, als Yaris ihre Stacheln einsetzte. Ich schoss auf einen Engel. Sein Körper zuckte, bäumte sich kurz auf und in seiner Wirbelsäule knackte es, bevor er vor meinen Augen zu einer blutigen Suppe verschwamm. Einer der anderen Engel zog ein Flammenschwert, doch kämpfen wollte er damit anscheinend nicht. Stattdessen zerrte er einen Stapel Dokumente aus einer ledernen Umhängetasche. Unsere Blicke trafen sich und für den Bruchteil einer Sekunde zögerte er. Dann hielt er die Flamme an das Papier. Ich zielte auf sein Herz und drückte ab. Die Wucht des Rückstoßes jagte durch meinen Arm bis in meine Schulter. Der Engel brach gurgelnd zusammen. Ich rannte zu ihm hinüber, griff nach dem glimmenden Papier, doch trotz meiner schnellen Reaktion konnte ich kaum etwas retten. Unlesbare fremde Schriftzeichen, diverse Zeichnungen und eine Überschrift, bei der ich nur noch ein Wort lesen konnte: »Hoffnung.«

Der Stapel löste sich noch in meinen Händen auf und die Nacht verstreute die schwarze Asche in alle Richtungen. Cayo hatte also recht, sie planten etwas. Als der letzte verbrannte Fetzen aus meinen Fingern glitt, war das Gemetzel um mich herum so gut wie vorbei. Ein einsamer Engel ließ sich zu einer Verwünschung hinreißen und ich schnappte die Wörter »Hölle« und »ewiges Feuer« auf. Dann krachte ein Schuss aus Pinas Waffe. Die Stimme des Engels erstarb in einem schrillen Krächzen. Ich eilte hinüber zu Mik. Seine ehemals helle Haut war großflächig verbrannt und warf unschöne, wässrige Blasen. »Mik, mach die Augen auf«, bat ich und berührte eine Stelle am Arm, die nicht wie verkohltes Fleisch von seinen Knochen hing.

»Was war das für ein abgefahrener Scheiß?«, fragte er.

Seine schwarzen Augen schimmerten blutunterlaufen und er roch wie ein gegrilltes Hähnchen. »Es war Feuer«, flüsterte ich. »Blaues Feuer.«

»Unsinn, so etwas gibt es nicht.«

»Doch, es war blau.«

»Hilf mir mal hoch …« Er lag auf dem Rücken wie ein überdimensionaler Käfer und streckte mir hilflos seine langen Arme entgegen.

»Bitte?« Ich würde ihm ja gern helfen, aber wie sollte ich das anstellen? Mik überragte mich um gut zwei Kopflängen und er wog bestimmt das Doppelte von mir.

»Nikka, hilf mir endlich hoch. Ich will nicht, dass die anderen mich so hilflos sehen. Mach schon«, knurrte er und fügte noch ein etwas verbindlicheres Bitte hinzu.

Ich hielt ihm meine Hände hin. Er griff danach, doch kaum hing ein Teil seines Gewichtes an meinen Armen, schwankte ich und fiel direkt auf ihn zu. Ich wand mich im Fallen und rollte mich seitlich ab, dennoch traf ich Mik, der laut vor Schmerz aufbrüllte. Ich kam in einer unangenehmen Pfütze aus Wundwasser und aufgeplatzter Dämonenhaut zu liegen. »Das war doch wohl von Anfang an ersichtlich, dass das nicht klappen würde.«

Mik legte die Hand über die Augen, als betete er um Geduld. Ein tiefer Seufzer drang aus seinem lädierten Mund.

»Was für eine dämliche Idee«, warf ich noch hinterher und bemühte mich, vom feuchten Boden hochzukommen.

»Hör sofort auf, auf mir rumzuhacken, Nikka, es sei denn, du willst, dass mir, abgesehen von dem gesamten Rest meines Körpers, auch noch die Ohren wehtun.«

»Ist mir doch egal«, fauchte ich.

»Wie geht es ihm?« Yaris kam auf uns zu. Sie hatte den Helm lässig unter den Arm geklemmt und ihre Stacheln wieder eingefahren. Ihre Uniform glänzte blutverschmiert im fahlen Mondschein, doch sie sah ganz zufrieden aus. Auch ich nahm den Helm ab.

»Er …«, setzte ich an, als Mik mich unterbrach.

»Alles in Ordnung. Ich bin nur etwas angefackelt.«

»Das riecht man«, erwiderte Yaris und rümpfte die Stupsnase.

»Er kann nicht aufstehen«, verpetzte ich Mik. Als Antwort knurrte er mich böse an und rappelte sich wütend auf. Nun platzte auch noch der Rest seiner Brandblasen auf und Mik stand in einer übel riechenden Pfütze. Yaris zog ein Gesicht und trat einen Schritt zurück. »Kannst du fahren?«

»Natürlich«, brummte er und sah schon wieder böse zu mir herüber.

»Gut, dann sammelt bitte die Waffen auf, vor allem das Wunderschwert und dann alle zurück zur Teambesprechung in die Zentrale. Hento und Riki hat es nicht ganz so schwer erwischt wie Mik, wahrscheinlich, weil er in der Mitte gestanden hat und die beiden nur am Rand.«

»In Ordnung.«

»Alles gut verlaufen?«, wollte Cayo wissen, als ich meinen Helm wieder aufsetzte und die Zentrale den Gruppenfunk deaktivierte.

»Nein, nicht wirklich.«

»Was ist passiert? Bist du verletzt?«

»Ich nicht, aber Riki und Hento ein bisschen. Und Mik ist ziemlich übel zugerichtet.«

Cayo verschlug es wohl für einen Moment die Sprache. Mik galt als einer unserer härtesten Kämpfer: feuerfest, säureresistent, extrem stark und extrem hart im Nehmen.

»Mik?«, fragte er deshalb sicherheitshalber noch mal nach.

»Ja, Mik. Sie hatten so ein seltsames blaues Feuer. Das hat ihn komplett durchgegrillt.«

»Nikka, man spricht nicht so über Kollegen.«

»Er ist mein Exfreund, ich darf das.«

»Also, ich weiß ja nicht«, murmelte Cayo.

»Wir sehen uns bei der Teambesprechung«, sagte ich, weil ich keine Lust mehr hatte, mit ihm zu reden. Stattdessen wollte ich mir lieber noch einmal die Situation mit dem Engel und seiner Ledertasche ins Gedächtnis rufen. Hoffentlich bekam ich noch einen Teil der technischen Daten zusammen. Ich hatte keine Ahnung, was die Engel planten, aber dass sie etwas vorhatten, war nun mehr als offensichtlich. Was war das bloß für ein blaues Feuer?

 

Im Hauptquartier trafen wir uns in einem Konferenzsaal, der extra für Nachbesprechungen diente. Unsere Partner aus der Funkzentrale hatten bereits die Computer hochgefahren und diverse Projektoren angeschaltet, als einer nach dem anderen aus dem Team frisch geduscht im Saal eintrudelte. Mik sah zum Glück schon wieder deutlich gesünder aus, denn er besaß eine ausgezeichnete Heilhaut. Yaris hatte wohl noch auf dem Rückweg ein paar Experten für Waffen und moderne Kriegsführung angefordert. Man erkannte sie immer gut an ihrem arroganten Auftreten. Auch diese vier blickten uns an, als wären wir bessere Handlanger und keine hoch spezialisierten Jäger.

Cayo stürzte auf mich zu und fast rechnete ich damit, er würde gleich meine Finger durchzählen, um auch sicherzugehen, dass mir wirklich nichts fehlte. Er war noch ein gutes Stück größer als Mik, der sein fürsorgliches Gehabe immer gern belächelte. Cayos Glutaugen glänzten besorgt, als sich seine zwei kurzen gebogenen Hörner auf der Stirn zu mir herabsenkten.

»Du hast gar nichts von dem blauen Feuer erzählt«, sagte er vorwurfsvoll.

»Doch habe ich«, antwortete ich, als wir endlich vollzählig waren und Yaris uns bedeutete, Platz zu nehmen. »Nur du warst zu beschäftigt damit, Mik zu verteidigen.«

»Nein.«

»Doch, ich habe es erwähnt, ich schwöre es.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Einer der Experten neben uns gab ein zischendes Geräusch von sich und legte einen langen, krallenbewehrten Finger mahnend über seine fleischigen Lippen. Ich gestikulierte ziemlich deutlich zurück und er schnaufte empört. Von gegenüber traf mich Miks breites Grinsen. Cayo schüttelte mal wieder nur den Kopf.

»Heute haben wir es mit einer bis dato unbekannten Waffe zu tun bekommen«, begann Yaris und auch die letzten leisen Gespräche verstummten. »Bezeichnen wir es für den Moment einfach als blaues Feuer, solange wir nichts Näheres wissen. Drei unserer Jäger sind mit der Waffe in Kontakt gekommen. Erstaunlicherweise scheint ihre Kraft über die eines herkömmlichen Feuers hinauszugehen, denn sie verwundete ein Teammitglied, das als feuerfest gilt.« Yaris legte die Waffe des toten Anführers auf den Konferenztisch. Ohne die züngelnde Flammenklinge sah der einfache Stahlgriff ziemlich gewöhnlich aus. Unter den Experten wurde trotzdem hektisches Gemurmel laut.

»Mik«, sagte Yaris. »Berichte bitte ausführlich von deiner Erfahrung mit diesem blauen Feuer.«

»Öh«, machte Mik und kratzte sich an einem seiner Hörner. »Also, es hat mich einfach überrollt und dann hatte ich das Gefühl, es reißt mir die Haut ab, obwohl es nicht warm war. Und …« Er hielt inne und fühlte sich sichtlich unwohl. »… dann war ich kurz weg«, fügte er hinzu.

»Weg?«, fragte einer der Experten mit unangenehm hoher Stimme.

»Ohnmächtig«, erklärte Mik und sank auf seinem Stuhl ein Stückchen tiefer.

»War es sehr schmerzhaft?«, bohrte der Experte weiter.

»Öh …« Wieder kratzte Mik an einem seiner Hörner. »Ja, ein wenig.«

Wir anderen aus dem Team sahen uns an und alle Gesichter zeigten, dass wir uns sehr wohl noch an Miks schreckliche Schreie erinnerten.

»Ist einem von Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«, fragte ein anderer Experte. In seinem Reptiliengesicht blinzelten fünf Augen gleichzeitig und er sah in alle Richtungen, ohne den Kopf auch nur einen Zentimeter zu bewegen.

»Er hat etwas gesagt«, warf ich in die Runde.

»Wer?«

»Der Engel mit dem Schwert. Er war ihr Anführer. Oder ihr Beschützer. Er hat etwas gemurmelt und daraufhin veränderte sich die Flamme an seinem Schwert von den üblichen Farben hin zu dem gefährlichen Blau.«

»Haben Sie verstanden, was er gesagt hat?«

»Nein, es war …« Ich grub in meinen Erinnerungen, doch alles, was ich fand, waren die beschwörenden Worte in einer unbekannten Sprache. »Es klang altmodisch, irgendwie primitiv. Wie eine ausgestorbene Sprache.«

Der reptiliengesichtige Experte nickte nachdenklich. »Wir haben Aufzeichnungen über vergessen geglaubte Sprachen, deren Kraft weit über die rein verbale Ebene hinausgeht. Es sind mächtige Sprachen, die die Elemente kontrollieren können, und die technisch nicht zu entschlüsseln sind. Sie könnten ein letztes Ass im Ärmel der Engel sein.«

Der letzte Satz des Experten ließ meine Gedanken abschweifen. Ich stellte mir den Engel aus der Gasse vor, wie er gesund und in voller Pracht vor mir stand, mit weit ausgebreiteten Flügeln und diesen seltsam hellen Haaren. Peinlich berührt drückte ich meine Oberschenkel näher zusammen, als sich eine prickelnde Wärme zwischen meinen Beinen ausbreitete. Sein Gesicht war so unverschämt perfekt gewesen.

»Nikka?« Erst als Cayo mir den Ellenbogen in die Seite bohrte, merkte ich, dass Yaris mich angesprochen hat.

»Entschuldigung. Wie bitte?«

»Kannst du dich vielleicht an ein konkretes Wort erinnern, das der Engel benutzt hat? Oder an den ungefähren Laut?«

Ich schüttelte den Kopf, während ich meine Erregung so gut es ging zu verbergen versuchte. »Nein, tut mir leid.«

»Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?«, wollte der Experte mit den vielen Augen wissen.

»Einer von ihnen hatte einen Stapel Dokumente bei sich. Er hat sie angezündet, als ich ihn angegriffen habe. Ich habe versucht, noch etwas zu entziffern, aber alles, was ich sehen konnte, waren technische Zeichnungen und ein Wort.

»Ein Wort? Was für ein Wort?«

»Hoffnung«, sagte ich. »Es war Teil einer Projektüberschrift.« Nun hatte ich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller. Der Experte, der bis eben eifrig Notizen gemacht hatte, ließ den Stift sinken. Mik unterbrach seine Tuschelei mit Hento und Yaris’ Puppengesicht zeigte blanke Verwunderung. Der Experte mit den vielen Augen blinzelte nervös. Der Kriegsführungsspezialist mit den langen Krallen zückte ein schmales Telefon und sprang auf.

»Entschuldigen Sie mich bitte.« Mit diesen Worten rauschte er hektisch zur Tür.

»Sie planen also wirklich etwas so Großes, dass sie sich trauen, es »Hoffnung« zu nennen«, murmelte Cayo.

Ich nickte.

»Und die technischen Zeichnungen?«, wollte Yaris wissen. »Hast du da etwas erkennen können?«

»Nein, es war schon zu verbrannt, als ich es zu fassen bekam. Ich vermute, dass es sich um Baupläne handelte. Am Rand befanden sich Koordinaten.« Ein erstauntes Murmeln ging durch den Saal.

»Und Sie sind sich sicher, dass es wirklich Koordinaten waren?«, hakte ein Experte nach.

»Ich erkenne Längen- und Breitengrade, wenn ich sie sehe.« Schon wieder bohrte sich Cayos Ellenbogen in meine Seite. »Was?«, zischte ich.

»Immer freundlich bleiben«, raunte Cayo durch geschlossene Zähne.

»Hält er mich für blöd?«, flüsterte ich zurück.

»Nein, aber du tischst hier Neuigkeiten auf, die so außergewöhnlich sind, dass sie ein zweites Nachfragen durchaus rechtfertigen.«

»Na gut«, knurrte ich und Cayo drückte aufmunternd meinen Arm.

»Wir werden die Luftüberwachung verstärken«, sagte der Experte und tippte etwas in seinen eilig aufgeklappten Laptop. Mik zog ein abschätziges Gesicht. Das Team der Luftüberwachung bestand aus geflügelten Dämonen von ungewöhnlich großer und kräftiger Statur. Nur deshalb konnte Mik sie nicht leiden. Ich sagte, er war eifersüchtig auf sie. Er sagte, sie waren alle eingebildet und überheblich. Fakt war: Sie wurden wesentlich besser bezahlt als wir. Und ja, auch ich hatte mal ein Date mit einem von ihnen.

»Möchte noch jemand etwas ergänzen?«, fragte Yaris in die Runde. Niemand meldete sich. Die Experten waren mit ihren technischen Spielzeugen beschäftigt.

»Gut, dann seid ihr für heute entlassen. Vor einer viertel Stunde war unsere Schicht zu Ende. Wir sehen uns morgen.«

Ich lehnte mich seufzend im Stuhl zurück und schloss die Augen.

»Schluss für heute«, flüsterte Cayo.

»Ja, gleich«, murmelte ich und dachte wieder an den Engel mit den tollen Flügeln. Was sollte ich machen? Ich hatte offiziell frei, ich durfte fahren, wohin ich wollte. Ich könnte nachsehen, ob er noch dort lag. Ich könnte aber auch nach Hause fahren, mich auf meine Couch legen und nicht mehr an ihn denken.

»Willst du hierbleiben?«

Cayo konnte so nervig sein. »Nein, ich fahre nach Hause.« »Gut, ich baue eben noch die Technik ab und mache eine kurze Übergabe im Funkraum.«

»Okay.« Ich musste auf einmal so heftig gähnen, dass ich beide Hände brauchte, um meinen Mund zu bedecken.

Cayo grinste und kniff mir liebevoll in die Seite. »Gute Nacht, Fräulein.«

»Nacht, Cayo.« Ich schmiss Yaris, die mit einem Experten redete noch eine Kusshand rüber, schlich aus dem Saal, in den nächsten Aufzug und fuhr hinunter in die Tiefgarage. Die Luft war stickig, verbraucht und roch nach Abgasen. Ich stieg in meinen kleinen nachtschwarzen Flitzer und legte unschlüssig die Hände um das lederne Lenkrad. Wieder dachte in an den Engel. Der Umweg über das östliche Industriegebiet war gewaltig, doch bevor ich mich dagegen entschied, drehte ich schnell den Schlüssel im Zündschloss und fuhr los.

Ich will einfach nur nachsehen, ob er noch lebt. Es ist ein rein berufliches Interesse.

Eigentlich wäre es dann meine Pflicht, ihn zu erschießen, doch ich weigerte mich, in diesem Moment darüber nachzudenken.

 

Als ich vor der Gasse neben der Fabrik hielt, war ich mir der Brisanz meiner Lage durchaus bewusst. Zwar hatte ich meine Waffe dabei, doch auf die Hilfe der Zentrale konnte ich nun nicht zählen.

Der Engel kauerte immer noch dort, wo er umgefallen war. Als ich frisches, noch warmes Blut witterte, war ich fast erleichtert. Ein toter Körper roch anders. Der Engel lag mit geschlossenen Lidern eingerollt auf der Seite. Unter seinem Bauch hatte sich eine dunkelrote Lache gebildet. Vorsichtig stupste ich ihn mit dem Stiefel an. Seine Augen waren gerötet und glänzten fiebrig, als er zu mir aufsah.

»Dämon«, flüsterte er mühsam.

Ich nickte, immer noch hin- und hergerissen zwischen meiner Neugier und meinem schlechten Gewissen. Was machte ich bloß?

Dann passierte etwas Unerwartetes: Er lächelte. Es war ein hoffnungsvolles, ehrliches und warmes Lächeln. Ich starrte wie paralysiert zurück. Ob er schon im Fieberdelirium schwebte? Einen Todfeind lächelte man nicht an. Man brachte ihn um.

»Wo ist dein Helm, Dämon?«, wollte er schwer atmend wissen.

»Dort, wo auch mein Schutzanzug hängt«, antwortete ich.

Er sah an mir hinunter und deutete mühsam ein Nicken an. »Verstehe.« Er hustete und spuckte Blut, doch dank des Snacks von vorhin machte mich der Geruch nicht mehr so nervös. »Und nun ist es Zeit für eine kleine Zwischenmahlzeit?«

»Schon erledigt.«

»Warum bist du dann hier?«

»Ich wollte nachsehen, ob du schon tot bist«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Das darauf folgende Husten des Engels klang wie der verunglückte Versuch eines Lachens.

»Wie ist dein Name, Dämon?«

Ich antwortete nicht. Stattdessen sah ich in sein hübsches, lädiertes Gesicht und ein zartes Flattern in meinem Bauch erinnerte mich stark an das Gefühl mit Mik. Verlangen. Begehren. Eine große Anziehungskraft. Wie konnte das sein?

»Dämon, hast du einen Namen?«, fragte er, während er es tatsächlich schaffte, sich wieder aufzusetzen. Für einen Engel war er erstaunlich zäh. Ich betrachtete ihn so ausdrucklos wie möglich, um ja nichts von meinen Gefühlen nach außen dringen zu lassen.

»Ich heiße Levian«, sagte er und strich über seinen linken Flügel. »Wie man unschwer erkennen kann, bin ich ein Engel, aber das wusstest du vermutlich schon, bevor du mich gefunden hast.«

Ich nickte.

»Du sprichst nicht viel, hm?«

»Wozu auch?«

»Stimmt. Dämonen sind doch eher Wesen der Tat.«

Trotz seiner fiebrigen Augen brachte er einen provozierenden Blick zustande, der mich ein klein wenig ärgerte. Ich legte raubtierhaft den Kopf schief und aus meiner Kehle stieg ein dunkles Knurren herauf. »Vorsicht, Engel.«

»Ich heiße Levian.«

»Ist mir egal, Engel.«

»Was willst du dann hier?«, fuhr er mich plötzlich an. Er sah schon gut aus, wenn er halb tot war. Wenn er wütend war, sah er noch besser aus. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit ihm tun würde, aber ich würde ihn nicht erschießen oder verbluten lassen. Er sollte mich von mir aus hassen, aber ich würde ihn mitnehmen, ihn und seine tollen Flügeltrophäen. Plötzlich wusste ich, dass es mir egal war, ob ich mich in Gefahr brachte. Eines war mir eben klar geworden: Ich würde ihn nicht ein zweites Mal zurücklassen.

»Kannst du laufen?« Meine Stimme klang belegt. Fast meinte ich, ein leichtes Zittern herauszuhören, doch sicher hatte ich es mir nur eingebildet.

Er sah perplex zu mir hoch. »Ob ich laufen kann?«

»Ja.«

»Wieso?«

»Die Gasse ist zu eng für mein Auto.«

»Dein Auto?«, flüsterte er ungläubig.

»Ja.«

»Würde es dich sehr viel Überwindung kosten, mehr als einen Satz am Stück zu sagen?«

»Du fragst zu viel«, sagte ich, und bevor er etwas erwidern konnte, hatte ich ihm den stumpfen Griff meiner Waffe vor den Kopf geschlagen. Er brach zusammen, mal wieder.

Ohnmächtig sah er auch sehr gut aus.

Als der Engel auf meinem Beifahrersitz wieder zu sich kam, waren wir schon fast an meiner Wohnung angekommen. Er beobachtete mich, doch ich drehte nicht den Kopf, um ihn anzusehen. Stattdessen blickte ich stur geradeaus, obwohl die Straßen wie leer gefegt waren und uns noch kein einziges Auto bisher entgegengekommen war. Mein Herz schlug in einem ungesunden, hohen Rhythmus und das schon die ganze Zeit, seit er so nah neben mir im Auto saß. Vorhin, als er noch ohnmächtig gewesen war, hatte ich ganz kurz sein helles Haar berührt. So eine bleiche Farbe kannten wir Dämonen nicht. Trotzdem hatte es sich sehr gut angefühlt. Nicht strohig oder leblos, sondern auffallend weich und glatt. Was machte ich hier bloß?

Der Engel verlor zu viel Blut. Der Geruch war übermächtig in dem kleinen Innenraum des Fahrzeugs. Ohne dass ich es verhindern konnte, schoben sich meine Fangzähne durch die Oberkiefer und berührten die weiche Haut meiner Unterlippe.

»Was ist mit deinen Zähnen?«, fragte er prompt.

»Es ist das Blut«, antwortete ich und blickte ihn immer noch nicht an.

»Du bist also ein Blutdämon«, sagte er tonlos.

Ich nickte.

»Werde ich als nächste Mahlzeit fungieren?«

Was sollte ich ihm antworten? Ich wusste nicht, als was er fungieren sollte. Also zuckte ich mit den Schultern.

»Du weißt es nicht?«

»Du fragst zu viel, Engel«, sagte ich erneut.

»Und du entführst mich und erwartest, dass es mich nicht interessiert, wo du mich hinbringst?«

»Engel, ich …«

»Hast du Angst, meinen Namen auszusprechen?«

Was für eine Unverschämtheit! Dämonen hatten vor gar nichts Angst und erst recht nicht vor halb toten Engeln. Trotzdem fiel es mir schwer, zu ihm hinüberzusehen.

Der Blick aus seinen leuchtenden Augen ging mir durch und durch und ich schweifte ab zu seinen Lippen, die sinnlich geschwungen und zerkratzt zugleich waren. Mein Herz wurde noch schneller.

»Ich glaube, der hungrige Blick sollte mir jetzt Angst machen, oder?«, flüsterte der Engel.

Schnell drehte ich den Kopf weg. Die Hautpartie auf meinen Wangen fühlte sich an, als brannte sie lichterloh.

»Sag mir, wie du heißt«, bat der Engel erneut.

Ich schüttelte den Kopf und starrte verbissen durch die Windschutzscheibe auf die verlassene Straße.

»Ich werde sowieso sterben. Egal, ob du mich in eines eurer Hauptquartiere schleppst oder mich an der nächsten Brücke in einen Fluss wirfst. Selbst, wenn du mich einfach irgendwo aussetzen würdest, werde ich sterben. Ich habe schon zu viel Blut verloren, es ist nur eine Frage der Zeit …«

Mein Bauch krampfte sich schmerzhaft zusammen und ich unterbrach ihn, damit er aufhörte von sich zu reden, als sei er bereits tot. »Mein Name ist Nikka.«

»Nikka«, wiederholte er. »Ein schöner, kraftvoller Name.«

»Danke«, sagte ich etwas ungelenk.

»Wohin bringst du mich, Nikka?«

Die Frage erübrigte sich, denn wir kamen an dem Apartmentblock an, in dem ich eine kleine Wohnung besaß. Mit der finanziellen Rückendeckung meiner Eltern hätte ich in ganz anderen Dimensionen residieren können, doch ich lebte lieber bescheiden und dafür unabhängig von allen Ansprüchen, die eine solch elterliche Abhängigkeit mit sich brachte. Ich manövrierte den Wagen auf die betonierte Rampe der Tiefgarage und hielt eine Codekarte vor den Scanner. Ein metallenes Gitter wanderte ächzend und scheppernd in die Höhe. Tiefgaragen waren ein unschätzbarer Vorteil, wenn man in einer Welt lebte, in der es mehrmals im Jahr Säure regnete und das einige Wochen am Stück. In meiner Parklücke angekommen, schaltete ich den Motor aus. Der Engel sah ein wenig ratlos aus. »Kannst du aussteigen?«

Er nickte. Ich entriegelte die Tür und er drückte sie mühsam auf. Währenddessen war ich schon aus dem Wagen gesprungen und um das Auto herumgelaufen. Erst jetzt fiel mir auf, dass seine Flügel verschwunden waren.

Er fing meinen enttäuschten Blick auf. »Ach, es waren die Flügel?«, fragte er und baute sich vor mir auf.

»Unsinn«, blaffte ich und auf meinen Wangen glühte es erneut. Ich fasste ihn unwirsch am Arm und zog ihn hinter mir her. Im Aufzug fing er schon wieder an zu spekulieren.

»Lass mich raten: Du hast vier hungrige Kinder und ich bin das Abendbrot? Oder du hast einen bequemen Geliebten und ich bin sein Geschenk? Oder du hast eine kranke Großmutter, die …«

»Mund halten, Engel.« Ich zog meine Waffe und holte damit scheinbar bedrohlich aus.

»Du willst mich schon wieder k. o. schlagen? So langsam werde ich bleibende Schäden davontragen.«

Ich verdrehte die Augen und wendete mich von ihm ab, weil ich fast gelächelt hätte. Er war halb tot, aber er brachte mich zum Lachen. Was um alles in der Welt hatte ich mir bei der Aktion nur gedacht?

Auf meiner Etage angekommen, stürmte ich voraus und hantierte mit meiner Codekarte. Als die Tür endlich aufsprang, war er gerade hinter mir zum Stehen gekommen. Ich griff wieder einmal nach seinem Arm und zog ihn in mein Badezimmer, denn Blutflecken auf dem Teppich fand ich genauso nervig wie kollabierende Engel auf meiner Lieblingscouch.

Der Engel blinzelte, als die Halogenstrahler ihre volle Kraft entfalteten. In diesem hellen Licht sah er noch elender aus als auf der halbdunklen Straße. »Du musst dein    T-Shirt ausziehen, damit ich mir deine Verletzungen ansehen kann.«

Er sah mich an, als wollte er das eben Gesagte nicht glauben. »Dämonen sind unsterblich, wieso solltest du dich mit Verletzungen auskennen?«

»Engel, dein T-Shirt«, wiederholte ich ungeduldig.

»Le-vi-an«, buchstabierte er daraufhin ungerührt.

Dieser Engel machte mich wahnsinnig. Ich unterdrückte den spontanen Wunsch, ihm wieder meine Waffe vor den Kopf zu schlagen. Nur mit einer übermäßig großen Portion Selbstbeherrschung schaffte ich es, meine Energien umzuleiten und stattdessen an seinem zerlumpten Oberteil zu reißen.

»Nikka!« Seine melodische Stimme hallte durch mein kleines Badezimmer, brach sich an den steinernen Fliesen und schien den ganzen Raum auszufüllen. Rote Tropfen landeten auf den weißen Kacheln und der Engel presste eine Hand auf seine Wunde. Offensichtlich hatte ich in meiner grobmotorischen Art den auf der Wunde festgeklebten Stoff abgerissen und nun blutete sie wieder.

»Was soll das alles?«, fragte er bedeutend leiser.

»Dein T-Shirt«, sagte ich und imitierte seinen sturen Blick von vorhin. Die Augen des Engels leuchteten wütend auf und mit einem hastigen Griff riss er sich den blutgetränkten Fetzen vom Leib. Sein Oberkörper war breit, mit den langen, sehnigen Muskeln, die schon in frühester Kindheit trainiert worden waren. Die grausamen Kratzer und das angetrocknete Blut konnten nicht verheimlichen, dass er ein Krieger sein musste.

»Zufrieden?«, fragte er unfreundlich.

Ich nickte ein wenig ertappt. Sofort wurde seine Stimme wieder weicher.

»Mir ist nicht mehr zu helfen«, flüsterte er.

»Unsinn.« Ich sah mir seine Wunde an. Sie war tief und sie blutete heftig. Ein Glück, dass ich nicht mehr hungrig war. Die Kratzer auf seiner Haut waren bereits verkrustet und am Oberarm entdeckte ich lediglich die Narbe einer Stichwunde. Wie schaffte ich es nur, die Blutung zu stoppen? Grübelnd richtete ich mich auf.

Plötzlich griff er in meine Haare und hielt eine der langen schwarzen Strähnen prüfend ins Licht. »Das ist faszinierend«, sagte er. »Man könnte annehmen, deine Haare wären einfach nur schwarz, aber wenn das Licht darauf fällt, sieht man, dass sie einen tiefgrünen Schimmer haben.«

»Engel«, zischte ich. »Lass sofort meine Haare los.«

Langsam ließ er die Strähne aus seinen Fingern gleiten. »Es ist ein Sprachfehler oder so etwas, stimmt’s? Du kannst kein L aussprechen. Gib es doch einfach zu.«

»Wie bitte?«

»Du kannst kein L aussprechen.«

»Wie? Kein L?«

»L wie Levian.«

»Engel, du nervst.«

»Warum verschleppst du mich in deine Wohnung?«

Leider gingen mir an genau diesem Punkt die guten Argumente aus. Ich schnaufte. Erst jetzt bemerkte ich, dass das Blut immer rascher auf die Kacheln tropfte.

»Ich … kann nicht …«, flüsterte der Engel, sank auf die Knie und sein Kopf schlug hart auf den Bodenfliesen auf.

Erschrocken ließ ich mich neben ihm nieder. Seine Stirn glühte heiß. Das konnte nur ein schlechtes Zeichen sein. Ich streckte ihn lang auf dem Boden aus, als mir am Bund seiner Hose etwas auffiel. Dort befand sich eine nässende Stelle. Die Haut war an den Kanten dunkelrot verfärbt. Als ich mein Gesicht weiter hinabbeugte, roch es nach verfaultem Fleisch. Hektisch zog ich am Bund der Hose und erkannte, dass die Wunde noch sehr viel größer war. Warum hatte er nichts gesagt?

Es half nichts, ich würde ihm die Hose ausziehen müssen, um mir die Verletzung genauer ansehen zu können. Ich öffnete den Gürtel und verbot mir gleichzeitig darüber nachzudenken, wie das Schauspiel für Außenstehende wohl aussehen könnte. Geschweige denn, für diesen sturen Engel, sollte er jemals wieder zu sich kommen. Der Reißverschluss klemmte ein wenig, doch dann hatte ich es geschafft.

Erst, als ich ihm die Hose bis auf die Knie heruntergezogen hatte, erkannte ich das ganze Ausmaß der Katastrophe. Eine tiefe Fleischwunde reichte von seinem Beckenknochen hinunter bis zum Knie. Sie begann stark zu bluten, weil ich den Jeansstoff entfernt hatte. Schmutzpartikel mischten sich mit dem Blut. Ich wusste nicht viel über Wunden, doch dass Schmutz sehr schädlich war, klang logisch. Wie sollte ich die Verletzung reinigen? Durfte ich Wasser dafür nehmen? Oder sollte ich sie lieber nur mit einem Tuch säubern?

Ich sprang auf die Füße, mein Herz hämmerte gegen die Innenseite meines Brustkorbs. Er würde an der Wunde sterben und er wollte es mir doch glatt verheimlichen. Ich sah auf ihn hinunter, und mein Bauch krampfte sich schmerzhaft zusammen. Obwohl seine Lippen bleich waren, seine Haut ungesund grau und er immer noch dreckig und blutverkrustet war, war ich sicher, dass ich niemals zuvor ein Wesen so attraktiv gefunden hatte.

Verzweifelt stürzte ich zu meinem Computer und gab »Blutung« und »Wunde reinigen« ein. Es erschienen ein paar medizinische Seiten der Menschen, die von einem Stoff namens »Antibiotikum« berichteten. Die meisten digitalen Informationen waren allerdings zerstört und die Internetseiten bauten sich nicht mehr richtig auf. Schließlich fand ich eine Seite, die über die Heilkunst aus der lang zurückliegenden Geschichte der Menschheit berichtete. Hier las ich über das einzige Mittel, das scheinbar noch übrig blieb. Ausbrennen. Ich würde etwas Metallenes zum Glühen bringen müssen und ihm auf die Wunde pressen. Nun würde sich zeigen, wie zäh er wirklich war. Doch die schwerste Aufgabe stand mir noch bevor. Ich musste es ihm sagen. Ich ging zurück und berührte vorsichtig seine nackte Schulter. Er rührte sich nicht. »Engel, wach auf, es ist wichtig.«

Wieder nichts. Stattdessen sah ich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. Sein körperlicher Zustand wurde von Minute zu Minute schlechter. Ich berührte seine hellen Haare, doch er zuckte nicht einmal.

Gut, dann musste ich jetzt etwas Metallenes finden, das ich zum Glühen bringen konnte. Als ich jedoch vor meiner schmalen Küchenzeile stand, löste sich mein zarter Optimismus in Wohlgefallen auf. Meine Küchenmesser waren alle zu groß für den schmalen Aggregatwandler. Ich brauchte aber mindestens eine handgroße Fläche, um genügend Fleisch auf einen Streich auszubrennen. Sonst würde es keine Quälerei, es würde reine Folter werden. Was machte ich bloß? Vor lauter Nervosität rannte ich hektisch durchs Zimmer. Als ich kurz ins Bad schielte, lag der Engel auf dem Boden und atmete flach. Ich drehte erneut ein paar kopflose Runden in meinem Zimmer, während ich mich wieder Mal fragte, warum ich das alles getan hatte. Und nun wollte ich ihm helfen und mir fehlte das passende Werkzeug. Bei dem Stichwort »Werkzeug« blieb ich abrupt stehen. Der Hausmeister. Er hatte bestimmt eine Feuerquelle, denn er dichtete regelmäßig das Gebäude mit Teer gegen den gefährlichen Regen ab.

»Bin gleich wieder da, halte durch«, rief ich Levian zu und stürzte aus der Wohnung. Hoffentlich war der Hausmeister in seinem Büro. Ungeduldig drückte ich immer wieder den Knopf des Aufzugs, bis endlich ein Signal ertönte und die schweren Türen sich öffneten.

Das Büro des Hausmeisters lag am Ende eines spärlich beleuchteten Ganges neben den Werkstätten und einem Materiallager. Ich schubste die nur angelehnte Tür auf und begann schon zu sprechen, als ich eine schemenhafte Gestalt hinter einem niedrigen Schreibtisch klemmen sah. Als meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, wünschte ich mir, meine verbesserte Sicht spontan wieder rückgängig machen zu können. Der ganze Raum war verdreckt, in allen Ecken stapelten sich Kartons oder Papier und der Staub lag zentimeterhoch auf allen Möbelstücken. »Ich brauche dringend etwas zum Brennen!«

Der Hausmeister, ein grobschlächtiger Dämon mit kleinen, tief liegenden Augen glotzte ungerührt zurück. Ich gab ihm noch genau drei Sekunden, bevor ich auf seinen Tisch springen, und ihm den Kopf abreißen würde.

»Guten Abend«, sagte er schließlich.

»Ebenfalls«, erwiderte ich knapp.

»Offenes Feuer ist in den Apartments verboten – egal ob sie es benötigen oder Besuch damit erfreuen möchten.«

In meinem Kopf schrillten alle Alarmglocken. War ich etwa schon entdeckt worden? Hatte ich gleich die Kollegen der Frühschicht in der Wohnung, die mich verhaften und den Engel liquidieren würden? Ich beschloss, mich sicherheitshalber dumm zu stellen.

»Erfreuen?«, fragte ich deshalb scheinbar verwundert.

»Ein kleiner Scherz am Rande«, sagte er und grinste anzüglich. Erst jetzt verstand ich. Er dachte an den Einsatz von Feuer beim Liebesspiel. Perversling. Ich schenkte ihm einen tödlichen Blick und fuhr mit der Zunge über die Kanäle an meinem Oberkiefer, dort wo meine Reißzähne saßen. Er verstand die Drohgebärde und schnaufte verächtlich.

»Wofür brauchen Sie denn offenes Feuer um diese Uhrzeit?«

»Ich muss etwas abdichten. An einem meiner Fenster. Wegen dem Regen.«

»Wegen des Regens«, korrigierte er mich.

»Von mir aus.« So langsam verlor ich die Geduld.

»Tut mir leid, auch ich habe gerade keinen Flammenwerfer zur Hand.« Wieder so ein anzügliches Grinsen.

»Können Sie mir helfen – ja oder nein?« In meinem Oberkiefer begann es, gefährlich zu kribbeln. Unsere Blicke verknoteten sich in einem stummen Machtkampf. Schließlich sah er zuerst weg. Doch das war nicht das Ende, stattdessen beschloss er, den Bürokraten zu spielen.

»Apartmentnummer?«

»Warum ist das wichtig?«

»Apartmentnummer?«

»Wollen Sie mir aus Prinzip nicht helfen?«

»Apartmentnummer?«

»Nummer 42, jetzt zufrieden?«

Der Hausmeister lächelte breit und lehnte sich genüsslich in seinem quietschenden Drehstuhl zurück. Er rollte hinüber zu einem Computer, der auf einem kleinen Beistelltisch stand, und tippte etwas in die klappernde Tastatur. Es piepte, als sich die gewünschte Datei öffnete. Ich wippte mit dem Fuß. Er hatte kaum etwas gelesen, da sprang er plötzlich auf und sein linkes Augenlid zuckte.

»Warum haben Sie nichts gesagt?«, stotterte er.

»Was hätte ich denn sagen sollen?«

»Ihren Namen.« Seine Stimme verebbte zu einem Flüstern. Er sah plötzlich aus, als müsste er sich Halt suchend an der verschlissenen Tischplatte festhalten. »Ich konnte ja nicht wissen …«

»… dass mein Vater Ituander Ekishtura ist?«, vervollständigte ich sein Gestammel. Er nickte und lange Streifen seines verfilzten Haares schwangen im Takt.

Einerseits freute ich mich, dass er plötzlich so kleinlaut war, doch andererseits ärgerte ich mich. Es war ja nicht mein Verdienst, sondern wieder war es der Name meines Vaters, der mir Türen und Tore öffnete.

»Ich habe einen Bunsenbrenner mit Gasflasche. Möchten Sie den haben?«, fragte er.

»Ja, gern.«

»Soll ich Ihnen die Gasflasche nach oben tragen, sie ist doch sehr schwer.«

»Oh, nein, nein, nein …«, erwiderte ich hastig. »Das ist nicht nötig. Ich schaffe das schon.«

Der Hausmeister nickte, wenn auch ein wenig zweifelnd. Dann wieselte er hinter seinem Schreibtisch hervor, machte einen großen Bogen um mich und verschwand aus dem Büro. Ich glaubte, er hatte sogar eine kleine Verbeugung angedeutet. Nebenan schepperte es und ich hörte ihn leise fluchen. Als er wieder im Türrahmen erschien, hatte er einen kleinen Bunsenbrenner und eine ziemlich große Gasflasche dabei, die scheußlich schwer aussah. Fast ehrfürchtig stellte er beides vor mir ab und zog eine Packung altmodischer Zündhölzer aus seiner Kitteltasche. »Und Sie sind sicher …?«, fragte er erneut.

»Ich schaffe das schon«, sagte ich optimistisch und griff nach dem Henkel der Gasflasche.

Das kaum abgerundete Metall des Henkels bohrte sich in die Innenfläche meiner Hand. Der Hausmeister kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn. Energisch schlossen sich meine Finger um das kalte Metall und in zweien meiner Gelenke knackte es verdächtig, als ich die Flasche anhob. Mein Gegenüber hielt mir assistierend die Streichhölzer hin, die ich eilig in der Tasche meiner Hose verschwinden ließ. Ich griff nach dem Bunsenbrenner.

»Ich danke Ihnen«, sagte ich und ignorierte, dass mein rechter Arm dank der zentnerschweren Last daran vermutlich kontinuierlich länger wurde.

»Es wäre wirklich kein Problem für mich, wenn ich Ihnen …« versuchte er es ein weiteres Mal.

»Danke, nein«, keuchte ich und versuchte, das Büro so leichtfüßig zu verlassen, dass es ihn nicht dazu verleitete, mir aus Höflichkeit zu folgen, sollte ich an der Gasflasche scheitern. Mit eisernem Willen schleppte ich mich und mein Gepäck bis zum Aufzug und betete darum, dass bis in die vierte Etage niemand dazustieg. Ich hatte Glück.

Der Engel lag immer noch bewegungslos im Bad. Meine rechte Hand fühlte sich taub an und auf ihrer Innenseite leuchtete ein tiefroter Abdruck. Ich rannte zur Küchenzeile, holte das Messer und schloss den Bunsenbrenner an die Gasflasche an. Als eine kleine Flamme erschien, hielt ich das Messer darüber. Schneller als erwartet, begann der Stahl zu glühen.

»Levian«, flüsterte ich. »Es geht los. Beiß die Zähne zusammen, da musst du jetzt durch.« Ich hatte zwar Skrupel, ihn ungebeten auf so drastische Art zu verarzten, doch da ich ihn nicht fragen konnte, blieb mir nichts anderes übrig.

Als der Stahl weißlich glühte, beugte ich mich über ihn und drückte die Klinge mit ihrer breiten Seite auf den oberen Teil der Wunde. Es zischte und stank nach verbranntem Fleisch. Mir wurde ein bisschen schlecht von dem widerlichen Geruch. Levian schrie, sein Oberkörper bäumte sich auf und polterte zurück auf die harten Fliesen. »Was tust du?«

»Sei stark, gleich hast du es geschafft.« Wieder drückte ich die flache Seite der Klinge auf die Wunde.

Levian öffnete den Mund, doch kein Laut kam mehr heraus. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn und bündelten sich in kleinen Rinnsalen, die seine Wangen hinabliefen. »Du … wirst … mich umbringen«, würgte er.

»Nein. Ich rette dich. Ich brenne deine Wunden aus.«

Levian wollte meine Hand ergreifen, doch ich wich ihm geschickt aus. Als der weiß glühende Stahl ein drittes Mal seine Haut berührte, verlor er erneut das Bewusstsein.

Ich wiederholte die gesamte Prozedur noch zwei Mal, bis ich auch das letzte bisschen blutendes Fleisch verbrannt hatte. Dann stoppte ich auch noch die Blutung an der kleineren Wunde. Zum Schluss war ich zwar mit meiner Arbeit zufrieden, doch ein Hochgefühl blieb aus.

Als ich das Gas abdrehte, waren meine Knie weich und ich zitterte am ganzen Körper. Ich hatte mein Möglichstes getan. Wenn er den kommenden Tag überlebte, standen seine Chancen nicht schlecht.

Ich sah mich um. Nun hatte ich nur noch das Problem, dass ich ihn entweder auf meine Couch oder auf mein Bett tragen musste. Er sah nicht unbedingt leicht aus. Ich entschied mich für mein Bett, da ich den Couchbezug nicht waschen konnte. Ich kniete mich neben Levian und versuchte, ihn anzuheben, doch mein Versuch scheiterte schon im Ansatz.

Es half nichts, er würde selbst laufen müssen. Ich rüttelte sanft an seiner Schulter. Endlich schlug er die Augen auf.

»Warum hast du nicht vorher gefragt?«, murmelte er.

»Erstens, weil ich mich informiert habe, wie man Wunden behandelt und zweitens, weil du ohnmächtig warst.«

»Ausbrennen ist eine mittelalterliche Methode, die alles nur noch schlimmer macht. Die Wunden werden sich entzünden und eine Blutvergiftung verursachen. Wo hast du davon gelesen?«

»Ich habe digital recherchiert und mir wirklich Mühe gegeben. Leider waren die Informationen sehr begrenzt. Woher sollte ich wissen, dass diese Methode nicht wirklich hilft? Das stand dort nicht.«

Levian seufzte, erwiderte aber nichts.

»Es ist noch nicht vorbei. Du wirst aufstehen müssen, auf den kalten Fliesen kannst du nicht liegen bleiben.«

Er versuchte, sich zu bewegen, doch kaum hatte er das verletzte Bein halb angewinkelt, ließ er es zurück auf die Fliesen sinken. »Ich fürchte, daraus wird nichts. Bevor du mein Bein so misshandelt hast, schmerzte es. Jetzt spüre ich es nicht mehr.« Er sah an sich hinunter. »Wo ist meine Hose geblieben?«

»Ich musste sie dir ausziehen, um die Wunde mit dem Messer erreichen zu können. Wenn du nicht aufstehen kannst, bereite ich dir hier ein Lager. In dem Zustand kann ich dich unmöglich durch die Wohnung ziehen.«

Levian seufzte erneut und setzte sich schwerfällig auf. Ich hielt ihm meine Hand hin, doch er winkte ab. Stattdessen stützte er sich an dem Rand der Badewanne ab und zog sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hoch. Aus beiden Wunden sickerte immer noch Blut, das nun von dem Stoff seiner Boxershorts aufgesogen wurde.

»Geht es so?«

»Wo soll ich hin?«

»In mein Schlafzimmer.«

Er lächelte schief. »Ich glaube nicht, dass mein momentaner körperlicher Zustand erlaubt …«

»Ich leihe dir mein Bett«, unterbrach ich ihn mit eisigem Blick, doch mein Herz raste.

Er lächelte erneut verschmitzt und erst dann erkannte ich, dass seine Äußerung ein Scherz hatte sein sollen.

»Folge mir einfach.« Ich war versucht, ihm meinen Arm anzubieten, doch dann würde er vielleicht sehen, dass er mich trotz seines jämmerlichen Zustands ziemlich durcheinanderbrachte. Das wollte ich auf keinen Fall. Also ging ich voraus und Levian humpelte hinter mir her. Im Schlafzimmer schlug ich die Bettdecke zurück und legte eine schützende Decke über das Bettlaken. Auf ein einladendes Handzeichen von mir ließ sich Levian auf der Matratze nieder. In Ermangelung jeglicher Verbandsmöglichkeiten legte ich einen sauberen Kissenbezug über seine Wunden. Dann zog ich ihm die Decke hoch bis zum Hals.

»Hier ist es so warm, ich brauche keine Decke«, beschwerte sich der undankbare Engel prompt.

»Du brauchst eine Decke«, sagte ich unnachgiebig.

»Nikka.« Er griff nach meiner Hand. Seine Haut war glühend heiß. »Warum tust du das?«

Vorsichtig entzog ich mich seinem Griff. »Ich weiß es nicht.« Ohne ihm noch einmal ins Gesicht zu sehen, verließ ich schnell das Zimmer und zog die Tür hinter mir zu.