9. Kapitel

Das hat er nun davon!

 

 

 

Als ich vor meiner Wohnungstür stand, legte ich vorsichtig ein Ohr an die Tür und lauschte ins Innere. Ich hielt sogar die Luft an, doch ich konnte nichts Verdächtiges hören. Vorsichtig schloss ich auf und ließ die Tür nach innen aufschwingen.

Der kleine Flur lag komplett im Dunkeln, die Tür zum Badezimmer war angelehnt. Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen, ließ den langen Mantel auf den Boden gleiten und schlich weiter. Auch im Wohnraum konnte ich nichts Ungewöhnliches ausmachen, alles sah so aus, wie ich es verlassen hatte. Leise ging ich weiter in Richtung Schlafzimmer. Mein Kleid raschelte bei jeder Bewegung und ich ärgerte mich, dass ich es nicht einfach abstreifen konnte, so wie den Mantel und die Schuhe. Im Halbdunkel erkannte ich die Umrisse des Bettes und dann die hellen Haare des Engels.

Er war nicht getürmt. Er hatte mir auch nicht seine Verbündeten auf den Hals gehetzt. Und so wie es auf den ersten Blick aussah, hatte er auch nicht die Wohnung durchsucht. Er schlief einfach nur.

Ich trat an das Bett und lächelte auf ihn hinunter. Vielleicht hatte ich ihn doch falsch eingeschätzt, ihm Unrecht getan und viel zu schwarz gesehen. So friedlich, wie er aussah, wenn er schlief, konnte ich mir sowieso nicht vorstellen, dass er Flammenschwert schwingend gegen meinesgleichen kämpfte.

Ich beugte mich zu ihm hinab, um ihn genauer zu betrachten, da fiel mir auf, dass sein ganzes Gesicht nass von Schweiß war. Tropfen liefen in feinen Rinnsalen von seiner Stirn über seine Wangen und auf den hellen Kissenbezug, der bereits feucht zu sein schien. Er atmete schwach, seine Brust hob und senkte sich kaum noch.

Ich beugte mich noch etwas näher, lauschte und war erschrocken, wie schnell seine Atmung war. Sein Körper strahlte eine Hitze aus, die mich entsetzt zurückweichen ließ. Die Schatten unter seinen Augen waren zu tiefen Höhlen geworden und sein Gesicht wirkte hohlwangig und grau.

Plötzlich lief ein Schauder über seinen Körper und er begann zu zittern. Ich legte eine Hand auf die Decke und versuchte, ihn zu wecken, doch das Zittern wurde noch schlimmer. Er schien zu frieren, doch wie konnte das sein? Sein Körper glühte so sehr, dass ich ihm am liebsten die Decken weggenommen hätte. Vorsichtig berührte ich seine Schulter. »Engel?«

Er murmelte etwas und zog die Decken enger um sich, als sein Körper von einem erneuten Zittern geschüttelt wurde.

»Levian, wach auf, bitte!«

Wieder bekam ich keine richtige Antwort.

»Levian, was hast du? Bitte … wach auf. Rede mit mir, du musst mir sagen, wie ich dir helfen kann!«

Endlich schlug er die Augen auf. Sein Blick schien durch mich hindurchzugehen, als er die Decke von sich schob und sich fahrig im Zimmer umsah. »Wo …?«, murmelte er. Seine trockenen Lippen sprangen auf und begannen an zwei Stellen zu bluten. »Wo bin ich?«

Ich nahm vorsichtig die Hand, die das Bettzeug zur Seite geschoben hatte. »Du bist bei mir, du bist in Sicherheit.«

Erst jetzt sah er mich direkt an. Seine Augen glänzten, die kleinen Adern im Augapfel schienen fast alle geplatzt zu sein, denn sein Blick war blutunterlaufen und erschreckte selbst mich, die schon viel Furchtbares gesehen hatte.

In der nächsten Sekunde entriss er mir seine Hand, als hätte er sich verbrannt.

»Dämon!«, zischte er. Er schien nach einer Waffe zu suchen. Tastend schob er seine Hände an seinem Körper hinunter, bis er zu bemerken schien, dass er nicht nur unbewaffnet, sondern auch noch halb nackt war. »Was hast du mit mir gemacht? Wo bin ich … und wer bist du, teuflisches Wesen?«

Seine Stimme klang rau und heiser, doch noch mehr erschraken mich seine Worte. Er schien völlig orientierungslos. Ratlos wandte ich den Blick kurz ab.

Er packte mich und zog mich heran. Seine kräftigen Hände legten sich um meinen Hals und drückten zu. Sofort stieg ein unbändiges Hustengefühl in meinen Lungen auf. Ich bekam weder Luft noch konnte ich schlucken.

»Meine Waffe kannst du mir nehmen«, keuchte er wie zur Bestätigung. »Zur Not wehre ich mich mit bloßen Händen!«

Ich griff nach seinen Unterarmen, meine Finger gruben sich in sein Fleisch, und mit aller Kraft riss ich seine Arme nach außen. Wahrscheinlich lag es daran, dass er körperlich extrem geschwächt war, denn ich schaffte es schon beim ersten Versuch, meinen Hals aus seinem Würgegriff zu befreien. Ich hielt seine Arme fest, während ich nach Luft schnappte und gleichzeitig hustete.

Levians Kopf sackte kraftlos vor meine Schulter und dann übergab er sich auf meinen Schoß.

Ich saß wie erstarrt da, während die warme Flüssigkeit unbarmherzig durch den dünnen Stoff des Kleides bis auf meine Haut sickerte. Ich musste mich zwingen, nicht zu schreien.

Ganz langsam schob ich ihn in Richtung Bett, bis ich unter seinen Kopf greifen und ihn zurück in die Kissen legen konnte. Erst dann hob ich das Kleid an, damit nicht noch ein Unglück geschah, und ging vorsichtig ins Bad.

In der Dusche ließ ich das Kleid wieder los und sofort ergoss sich ein Schwall Erbrochenes auf die hellblaue Emaille. Ich zog den Cardigan aus und riss am Reißverschluss des Kleides, bis es an meinem Körper entlang bis auf die Füße fiel. Ich kickte es in die Ecke der Dusche, griff nach der Brause, spülte meine Beine ab und das alles möglichst, ohne allzu genau hinzusehen. Nach dem Abtrocknen schlüpfte ich in Shirt und Lederhose und ging zurück ins Schlafzimmer.

Levian warf sich im Bett hin und her, während sein Körper von einem schrecklichen Zittern bebte. »Verschwinde endlich, Dämon«, brüllte er, als ich näherkam. »Ich schicke dich zurück in die Hölle, aus der du gekrochen bist!«

»Nicht so laut«, zischte ich. »Oder willst du, dass man dich hört?«

»Man soll mich hören«, schrie er. »Ich gebe nicht kampflos auf. Du widerwärtige Höllenbrut, seelenloses Wesen aus den Untiefen der Hölle, Fehler der Schöpfung, grauenvolles …«

Mit einem beherzten Schritt zum Bett und einer unnachgiebigen Hand über seinem Mund beendete ich seine Schimpftirade. »Schluss jetzt! Du wirst die Nachbarn wecken und dann haben wir noch mehr Probleme!«

Levian wollte nach meiner Hand greifen, doch ich hielt ihn geschickt davon ab. »Sei endlich still, dann lasse ich dich wieder los.«

Er nickte, nur, um wieder loszulegen, kaum hatte ich seinen Mund freigegeben. »Du schreckliches, teuflisches …«

Nun wurde es Zeit, mit anderen Methoden zu reagieren. Ich sprang auf, sprintete zur Küchenzeile und kramte in einer der Schubladen nach meinem stärksten Klebeband. Es war sogar säureresistent, also würde es wohl auch für den Engel reichen.

»… schicke ich dich zurück in die Hölle und …«

Weiter kam er nicht mit seiner Rede. Ein breiter Streifen Klebeband unterbrach ihn unfreiwillig. Ich drückte die Ecken sorgsam rechts und links von seinen Mundwinkeln fest. Levian bäumte sich wütend auf. Als Nächstes griff ich mir seine Hände und klebte die Handgelenke zusammen. Erst dann fiel mir ein, dass wir vermutlich ein Problem hatten, sollte er sich erneut übergeben müssen. Dennoch legte ich das Tape entschlossen zur Seite. Man konnte ja nun nicht alle Eventualitäten abwägen.

Levian schmiss sich auf die linke Seite. An seinem Hals pochte eine Ader. Ihr Rhythmus war schwindelerregend hoch. Ich starrte noch darauf, als er versuchte, sich aufzusetzen. Ich drückte ihn mit sanfter Gewalt in die Kissen zurück.

Plötzlich wurde er ruhig. Seine Augen verdrehten sich nach hinten und sein Kopf fiel kraftlos zur Seite. Die vorher angewinkelten Beine rutschten wieder in eine Liegeposition und seine Atmung schien einen Moment auszusetzen.

Gelähmt vor Angst saß ich an seinem Bett, und obwohl ich nicht wusste, wie sterben aussah, war ich mir sicher, dass er nicht mehr weit davon entfernt war. Ich beugte mich über ihn und beobachtete die hektische Bewegung seiner Augäpfel unter den geschlossenen Lidern. Da er schlecht Luft zu bekommen schien, entfernte ich das Klebeband und befreite auch seine Hände. Wie erwartet leistete er weder Widerstand noch begann er, mich zu beschimpfen. Ich legte seinen heißen Kopf auf dem Kissen zurecht und wollte ihn wieder zudecken, da sprang mich die Wunde an seinem Bein optisch an, denn die Haut dort war teils schwarz, teils gelb und zum allergrößten Teil feuerrot verfärbt. Blutvergiftung, dröhnte es in meinem Kopf. Wie schlimm die Lage bereits war, konnte ich nicht beurteilen, doch dass Levian dringend Medikamente brauchte, war unübersehbar. Ich hatte bereits bei meinen vorherigen Recherchen etwas über Antibiotika gelesen. Nun war intuitives Handeln angesagt. Egal, was Levian sagte, wollte oder schrie.

Ich ließ ihn im Schlafzimmer zurück, begab mich an meinen Computer und das, was ich dort zu lesen fand, ließ mich fast verzweifeln. Eine Blutvergiftung, die unbehandelt blieb, endete auf jeden Fall tödlich. Ich überprüfte die angegebenen Symptome und fand meinen schlimmsten Verdacht bestätigt. Für eine Blutvergiftung sprachen auch seine Orientierungslosigkeit, die Übelkeit, sein extrem schneller Herzschlag und das Frieren trotz Fiebers, das sie als Schüttelfrost bezeichneten. Als einziges helfendes Mittel wurde auch hier wieder eine Medikation mit Antibiotika angegeben. Levian hatte mir zwei Schachteln gezeigt, doch würde ich mich an die richtigen erinnern?

Ich schob den Stuhl zurück und sah im Schlafzimmer nach, wo die unterschiedlichen Packungen immer noch ordentlich gestapelt auf dem Nachttisch lagen. Weil es im Zimmer jedoch zu dunkel war, griff ich mir alle Schachteln und trug sie ins Wohnzimmer auf den Schreibtisch. Im Schein der kleinen Lampe betrachtete ich sie. Eines der beiden Mittel hatte einen dicken blauen Streifen aufgedruckt, da war ich mir sicher. Es dauerte nicht lange und ich hatte die Packung gefunden. Zufrieden legte ich sie zur Seite. Die anderen Schachteln breitete ich vor mir aus und versuchte verzweifelt, mich zu erinnern. Hatte die Packung drei schmale rote Streifen gehabt oder war es die mit dem Schriftzug in grellem Orange gewesen? Dann entdeckte ich die richtige Schachtel und atmete erleichtert auf. Ich riss beide auf und versuchte, aus den Packungsbeilagen schlau zu werden. Leider war alles, was ich dort las, ziemlich verwirrend. Je nach Krankheitsbild und Schweregrad sollten pro Tag ein bis drei Tabletten genommen werden. Von der Behandlung einer Blutvergiftung las ich in beiden Packungsbeilagen rein gar nichts. Außerdem hatte Levian erwähnt, dass die beiden Präparate nicht zusammen gegeben werden dürften. Wie also sollte ich ihm von beiden Medikamenten bis zu drei Tabletten pro Tag geben, wenn die Mittel getrennt verabreicht werden sollten?

Da ich mich weigerte, mir einzugestehen, dass ich mich ziemlich nahe am Rande der Überforderung befand, beschloss ich, es einfach irgendwie zu probieren. Tatsache war, Levian würde ohne Behandlung sterben. Sollte er durch meine Behandlung sterben, so hatte ich wenigstens mein Möglichstes getan. Und weil ich nirgendwo eine passende Anleitung fand, musste ich selbst überlegen, was am meisten Sinn machte.

In der Packungsbeilage stand, man sollte die Tabletten unzerkaut mit ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen. Was aber machte man mit Patienten, die womöglich nicht mehr schlucken konnten oder die Tablette stattdessen einatmeten oder ähnliche Katastrophen?

Ich schüttelte den Kopf wegen so vieler lückenhafter Informationen. Nun würde ich handeln. Egal, was die Packungsbeilagen sagten, ich würde dem Engel abends zwei Tabletten von dem einen Medikament und morgens zwei Tabletten von dem anderen Medikament geben.

Ich drückte zwei der länglichen weißen Tabletten aus der Hülle und suchte nach einem Becher für Wasser. Im Schlafzimmer richtete ich den Engel im Bett auf, doch kaum saß er halbwegs, rutschte sein Kopf zur Seite und er fiel fast wieder um. Auch meine Versuche, ihn wach zu rütteln, blieben erfolglos. Zum Schluss testete ich, ob er auch ohne Bewusstsein schlucken konnte, was damit endete, dass die Hälfte des Wassers über seinen Oberkörper rann und die andere in seinen Lungen landete, was zu einem kläglichen Hustenanfall seinerseits führte.

Mein schlechtes Gewissen zwang mich, ihn wieder zurück ins Bett zu legen und ihn zunächst einmal in Ruhe zu lassen. Es war zum Verzweifeln. Ob das Wasser wirklich so wichtig war? Viel wichtiger war es doch, dass er die Tabletten bekam und zur Not musste es auch ohne Getränk funktionieren. Ich schnappte mir die zwei weißen Pillen.

»So, Engel«, flüsterte ich. »Hier kommt Hilfe. Bitte mach es mir nicht wieder so schwer, ja?« Ich zog ihn mühsam hoch und schob meinen Arm hinter seinen Rücken, damit er aufrecht sitzen blieb. Seine Muskelpakete wogen ziemlich schwer. Seine Lippen waren leicht geöffnet. Vorsichtig zog ich an seinem Kinn. Sein Mund klappte auf. Ich legte beide Tabletten auf seine Zunge und schob sie möglichst weit nach hinten. In dem Moment, in dem er würgte, klappte ich sein Kinn wieder hoch. Mühsam schluckte er.

Sollte es so einfach gewesen sein? Er schluckte erneut und ein drittes Mal. Dann entspannte sich seine Kiefermuskulatur und ich konnte sein Kinn wieder ein Stück nach unten ziehen, um nachzusehen, ob mein Versuch geglückt war. Sein Mund war tatsächlich leer. Ich konnte es kaum fassen. Ich hatte es geschafft. Jetzt blieb nur noch das Problem, dass er dringend etwas trinken sollte, aber vielleicht löste es sich von ganz allein, wenn er bald wieder ansprechbar war.

Eine zarte Erleichterung durchfloss mich. »Kämpfe, mein Engel«, flüsterte ich.

Ich strich kurz die Bettdecke glatt und schlich zufrieden aus dem Zimmer. Erst als ich wieder an meinem Schreibtisch saß, merkte ich, wie müde ich eigentlich war. Ich warf die Medikamente, die ich nicht brauchte, in eine Schublade und schob die zwei wichtigen Packungen unter den Schein der Lampe. Ob die Mittel ihm wirklich halfen? Diese kleinen weißen Dinger sahen so unscheinbar aus, so wenig beeindruckend und doch sollten sie so viel bewirken können. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.

Die Uhr auf meinem Bildschirm zeigte mir, dass es weit nach Mitternacht war. Zeit, um ein bisschen Ruhe zu finden und das Beste zu hoffen. Vielleicht sah es am Morgen bereits alles viel besser aus.

Mitten in der Nacht klingelte mein Handy. Im Halbschlaf nahm ich das Gespräch an und statt eines Grußes schmatzte ich ein paar unverständliche Worte in das Mikro.

»Hi, habe ich dich geweckt? Ich wollte mal hören, wie es dir geht.«

Yaris’ Stimme kroch in meinen Gehörgang und schob die Reste eines romantischen Traums energisch zur Seite. Wie schade, wenn ich mich recht erinnerte, waren Levian und ich gerade nackt und es war nicht unbedingt langweilig. Wir befanden uns an einem lauschigen Plätzchen, überall weiche Decken, Kissen und sanftes Licht. Levian hatte mich in seine Arme gezogen und mir verführerische Worte ins Ohr geflüstert. Seine Finger hatten mich gestreichelt – zärtlich und doch unverkennbar fordernd. Ich hatte meine Hand unter sein T-Shirt geschoben und seinen muskelgestählten Oberkörper genießerisch erkundet. Wir hatten uns geküsst und er hatte sich auf mich gerollt und tief in die weichen Kissen gedrückt. Seine Lippen, das sanfte Knabbern seiner Zähne, seine Zunge, die eine heiße Spur auf meinem Hals hinterließ …

»Nikka? Hallo? Hab ich dich geweckt?«

»Wie viel Uhr ist es?«, nuschelte ich.

»Es ist kurz nach zehn. Ich kam von der Nachtschicht und war eben etwas einkaufen.«

»So spät schon?«

»Ja. Was hast du denn getrieben, ich hatte dir doch gesagt, du sollst dich ausruhen.«

»Abendessen bei meinen Eltern.«

»Oh.« Yaris’ mitleidiger Tonfall zeigte, dass sie ungefähr genauso viel von den Kuppel-Dates meiner Eltern hielt wie ich. »Sie geben wohl nie auf, hm?«

Ich schnaufte nur missmutig. Ich war eindeutig noch zu verschlafen für solche Gespräche.

»Wie geht es deinem Arm?«

»Wem?«

»Nikka, werd mal wach … dein verletzter Arm, du erinnerst dich?«

Ich rollte mich auf den Rücken und hob den linken Arm. Das Aderngeflecht schien unverändert. Ich ballte die Finger zur Faust. Erleichtert ließ ich den Arm wieder sinken. »Funktioniert«, sagte ich.

»Funktioniert?«

»Ja.«

»Nikka, sprich bitte in ganzen Sätzen mit mir. Was machen die blauen Adern? Sind sie noch da? Und was meinst du mit funktioniert? Kannst du ihn normal anheben? Die Finger krümmen? Spürst du wieder etwas darin oder ist die Haut immer noch taub?«

»Er ist wieder okay.«

»Na prima. Weißt du was? Ich bringe jetzt meine Einkäufe nach Hause, werde etwas essen und schlafen, und bevor die Nachtschicht beginnt, komme ich bei dir vorbei und wir sehen uns deinen Arm zusammen an.«

»Ich will wieder arbeiten kommen.«

»Das geht nicht, Nikka, nicht bevor ich dich ein Mal gesehen habe. Du wirkst immer noch … verwirrt.«

»Ich bin nicht verwirrt, ich habe geschlafen.«

»Gut, das werden wir ja nachher sehen. Vielleicht so um sechs herum? Dann reden wir ein bisschen, ich gucke mir den Arm an und dann sehen wir weiter.«

»Du kannst nicht vorbeikommen«, sagte ich tonlos. Noch einen Besuch, während Levian im Nachbarzimmer schlief, hielt ich nervlich nicht durch. Zumal er seit Kurzem zu lautstarken Wutanfällen neigte, was das Risiko nicht unbedingt minderte … falls er überhaupt noch lebte. Ich sprang mit dem Handy am Ohr auf und wankte zum Schlafzimmer.

»Und wieso nicht?«, fragte Yaris perplex.

Ich konnte sie gut verstehen. Meist war sie mehrmals die Woche bei mir und wir machten das, was alle besten Freundinnen so machten. Wir redeten über Männer, beschwerten uns über unsere Eltern und quatschten über alles, was uns sonst einfiel. Ich trank dabei mein Dosenblut und sie bekam ihr eklig süßes Getränk und Kekse. »Ich … kann nicht. Es passt mir heute nicht, okay?«

»Es passt dir nicht? Was hast du denn vor?«

»Ich muss ein paar Sachen erledigen.«

»Kommt deine Mutter schon wieder vorbei?«

»Nein. Einfach nur so. Zeugs halt … was so liegen bleibt.«

»Aha …«, erwiderte Yaris vage. »Und damit bist du nicht bis heute Abend fertig? Ich meine, wärst du nicht verletzt, müsstest du ja arbeiten. Verstehst du?«

»Ach, Yaris, bitte …« Ich stöhnte, den Türgriff des Schlafzimmers in der Hand. »Es passt heute nicht, okay? Sag mir, ob ich arbeiten kommen soll oder ob du mich freistellen willst. Ich komme auch gern ins Hauptquartier und wir reden dort. Hier bei mir sieht es chaotisch aus. Ich hatte einen Wasserschaden im Schlafzimmer … sehr ärgerlich.«

»Einen Wasserschaden?«

»Ja. Von dem letzten Regen. Du weißt doch, wie unzureichend diese billigen Apartmentblocks abgedichtet sind. Jetzt habe ich das Chaos hier. Es ist wirklich nicht gemütlich, ich muss zurzeit sogar auf der Couch schlafen.«

»Oh. Das tut mir leid, wie ärgerlich für dich. Hör zu, dann komm doch heute Abend zum Dienstbeginn ins Hauptquartier und dann schauen wir mal, ob du schon wieder soweit hergestellt bist, dass du auf die Jagd gehen kannst.«

»Yaris, mir fehlt doch kein Arm!«

»Du musst zugeben, dass du dich schon sehr seltsam benimmst. Was du in der Asservatenkammer wolltest, müssen wir immer noch klären. Und du wirst dich bei dem Mitarbeiter entschuldigen. Was hast du dir gedacht, ihn so in Panik zu versetzen? Außerdem wird man dich für die Reparaturkosten des Fensters belangen und du musst deinen Arm noch mal den Experten vorführen. Man hat heute Nacht schriftlich bei mir angefragt.«

»Och bitte nicht …«, maulte ich. Meine Hand verkrampfte bereits um den Türgriff. Ich traute mich nicht, die Tür zu öffnen, solange ich Yaris noch am Ohr hatte. Sie konnte viel zu gut hören.

»Ich bin für dich, als mein Teammitglied, verantwortlich. Und ich bin es auch, die wiederum vor meinen Vorgesetzten Rechenschaft ablegen muss. Und zwar für alles, was du an Unsinn verzapfst!«

Ich mache keinen Unsinn, lag mir auf der Zunge, aber ich verkniff es mir. Wann endlich war dieses Gespräch zu Ende?

»Du wirst mir alles erklären müssen. Heute Abend.«

»Ja, schon gut. Es tut mir leid.«

»Jetzt tu nicht so unwillig. Oder war ich es, die sich so komisch verhalten hat?«

»Nein.«

»Gut, dann bis nachher. Und stell dich darauf ein, deinen Arm noch mal vorzeigen zu müssen.«

»Ist ja gut … Ich werde mich bemühen, nett zu sein.«

»Ich bitte darum. Auch keine Drohgebärden Frau Dr. Nuria gegenüber.«

»Ich mag sie nicht.«

»Das ist in diesem Fall egal.«

»In Ordnung, dann bis nachher.«

»Ja, bis nachher.«

Endlich klickte es in der Leitung und das Gespräch war beendet. Sofort öffnete ich mit bangem Gefühl die Schlafzimmertür.

Das erste, was mir auffiel, als ich das Zimmer betrat, war, dass ich dringend mal lüften und vermutlich noch dringender die verschwitzte Bettwäsche wechseln sollte. Die Luft in dem kleinen Raum war kaum noch zu ertragen. Dem Engel selbst schien es wenig besser zu gehen, und obwohl ich es nicht zulassen wollte, schwand meine Hoffnung auf seine Genesung bereits. Sein Atem ging immer noch schnell und flach und auch der Schüttelfrost hatte nicht nachgelassen. Die Lippen waren bleich und trocken wie Papier, die aufgerissenen Stellen nur mangelhaft verheilt. Selbst ein absoluter Laie wie ich merkte, dass er dringend etwas trinken musste. Doch zuerst würde ich ihm seine Tabletten verabreichen. Ich holte zwei aus Packung Nummer zwei und verfuhr damit wie gestern Abend. Als er schluckte, schlug er plötzlich die Augen auf.

»Levian«, flüsterte ich.

Er schluckte erneut und sah mich an, als überlegte er.

»Ich bin es. Nikka. Du brauchst keine Angst haben.«

Er nickte mühsam.

»Ich gebe dir Medikamente. Die beiden Packungen, die du mir gezeigt hast. Du hast eine Blutvergiftung.«

Wieder nickte er nur.

»Du musst dringend etwas trinken. Und ich muss deine Bettwäsche wechseln. Meinst du, wir schaffen es gemeinsam bis zur Couch im Wohnzimmer?«

Er zuckte gleichgültig die Schultern.

»Komm her …« Ich schob einen Arm hinter seinen Rücken und mit der anderen Hand schlug ich die Decken zurück. Ein beißender, fauliger Gestank stieg von der Wunde auf. Ich drehte den Kopf weg, weil ich den Anblick kaum ertrug. Levian schien den Geruch nicht einmal zu bemerken. Ich griff um seinen Rücken und drehte seine Beine, sodass sie locker über die Bettkante hingen. Dann stand ich auf und zog ihn mit hoch. Zum Glück war ich gut trainiert, doch einen ausgewachsenen, männlichen Engel, der gut einen Kopf größer war als ich, allein zu stützen, fiel selbst mir schwer. Er hing halb auf mir, seine Beine machten kleine, wacklige Schritte und immer wieder waren wir kurz davor, umzufallen. Ich stöhnte unter seiner Last. Als wir durch die Tür schwankten, fiel mir ein, dass er vielleicht auch mal dringend ins Bad müsste. Also schleifte ich ihn in diese Richtung und setzte ihn auf der Toilette ab. Im Bad stank es nach Erbrochenem und ein ziemlich traurig aussehendes rosafarbenes Abendkleid lag verklebt in der Ecke der Duschtasse. Doch das war mir jetzt ziemlich egal.

»Levian?«

Mühsam hob er den Kopf und sah aus halb geschlossenen Augen zu mir hoch.

»Du bist im Bad. Ich weiß nicht genau, aber vielleicht … also, du sitzt auf der Toilette und … herrje, ich hab so etwas noch nie gemacht bei Fremden …«

Levian guckte, als verstünde er nicht, was ich ihm sagen wollte.

»Ach verflixt! Okay … du bleibst sitzen und ich ziehe dir die Hose hinunter. Ohne hinzusehen … und wenn du soweit bist, dann betätige die Spülung und ich komme wieder herein … ja?« Meine Wangen glühten und ich war mir sicher, ich hatte einen hochroten Kopf.

Das alles hier war nicht gerade einfach für mich.

Levian gab ein Geräusch von sich, das ich als Zustimmung wertete. Mit geschlossenen Augen zog ich ihm die Unterhose hinunter und ging langsam aus dem Bad. Die Hölle bewahrte mich vor weiteren Peinlichkeiten. Wer auch immer uns erschaffen hatte, ich war ihm auf ewig dankbar, dass wir niemals krank wurden. Was für ein Elend.

Einige Sekunden später ertönte die Spülung. Vorsichtig öffnete ich die Tür und schielte ins Bad. Levian hatte den Kopf auf die Hände gestützt, zitterte und schwankte.

»Ich bin wieder da«, sagte ich sanft, ging in die Hocke und zog die Unterhose wieder einigermaßen an ihren Platz. Dann griff ich ihm rasch unter die Arme, damit er nicht vom Klo fiel, und zog ihn hoch. »Ich bringe dich erst mal auf die Couch, ja? Und dann musst du etwas trinken.«

Zum Glück war es nicht weit bis zur Couch und mit zitternden Knien nahm er darauf Platz. Ich holte den Becher, halb voll mit Wasser.

»Kannst du den halten?« Er nickte, doch seine Hände zitterten so stark, dass er den Becher kaum an die Lippen führen konnte.

»Warte …« Ich schob mein Bettzeug zur Seite und setzte mich neben ihn. Vorsichtig nahm ich den Becher und hielt ihn an seine Lippen. Immerhin konnte er nun wieder schlucken, was mich sehr beruhigte. Er trank den Becher leer und drehte den Kopf weg.

»Möchtest du dich hier auf die Couch legen? Kopfkissen und Decke sind ja schon da, du brauchst also nicht frieren. Ich richte in der Zwischenzeit das Schlafzimmer wieder etwas her.«

»Dan…ke.«

Überrascht sah ich auf seinen Mund. Hatte er das gerade gesagt? Es war zwar nur leise gewesen, aber ich war mir ganz sicher, dass ich ihn richtig verstanden hatte.

»Gern«, erwiderte ich. Ich hüllte ihn in die Decke ein und hob seine Beine an, damit er sich gerade ausstrecken konnte. Ich zupfte an einer Ecke des Kopfkissens, da knurrte mein Magen. Vielleicht sollte ich auch mal etwas zu mir nehmen und mich von meinen Schlafshorts trennen, bevor ich mit der Renovierung des Schlafzimmers beginnen würde.

Nach zwei sehr wohlschmeckenden Einheiten lauwarmen Dosenbluts war mir eigentlich nach einer erfrischenden Dusche, doch ich stand stattdessen wieder vor dem stinkenden Abendkleid, das die Duschtasse blockierte. Und als wäre das nicht genug, fing mein Handy wieder an zu klingeln. Es war doch wirklich zum Verrücktwerden! Ich holte das Handy aus dem Schlafzimmer und starrte wütend auf das kleine bimmelnde und blinkende Ding. Auf seinem Display leuchtete der Schriftzug »Mutter«. Natürlich. Wer sonst, außer neuerdings Yaris, rief zu so einer blöden Zeit an? »Ja?«, sagte ich müde.

»Bist du das, Kind? Deine Stimme klingt ja zum Fürchten!«

»Tut mir leid, Mutter.«

»Ja, ist ja schon gut, ich wollte auch nur ganz kurz mit dir über gestern Abend reden. War das nicht schön?«

»Ja, bezaubernd«, sagte ich und ging nicht davon aus, dass sie verstand, dass es lustig sein sollte.

»Das heißt, es hat dir auch gefallen?«, fragte sie erwartungsvoll.

»Mutter, dieser Akron ging mir bis zur Schulter. Um mich im Stehen zu küssen, müsste ich ihm eine Fußbank schenken.«

»Solche Dinge sind nun wirklich zweitrangig«, erwiderte sie unbeeindruckt. »Es kommt auf andere Vorzüge an.«

»Nämlich?«

»Er ist ein netter, junger Mann, der Karriere machen wird. Er wünscht sich eine Frau. Er hat Niveau, Charisma und Esprit.«

»Das sind mir zu viele Fremdwörter, um ihn zu mögen.«

»Nikka, jetzt werde mal nicht kindisch! Dein Vater und ich möchten, dass du dich noch mal mit ihm verabredest. Ihr zwei wirktet so … harmonisch, als ihr von eurem kleinen Spaziergang wiederkamt.«

Ich musste an Akrons unfreiwilligen Ausflug in unsere Zierbüsche denken. »Na ja, es ging so …«

»Das reicht doch schon, Kind. Man muss sich ja auch erst aneinander gewöhnen, das braucht seine Zeit.«

»O Mutter, bitte …«

»Wir halten ihn für einen guten Ehemann.«

»Ja, deshalb habt ihr ihn auch eingeladen.«

»Weil du es offenbar nicht für nötig hältst, dich nach einem geeigneten Kandidaten umzusehen. Stattdessen treibst du dich lieber mit Söldnern und anderen Taugenichtsen herum. Glaub mir, dein Vater ist nicht erfreut darüber.«

»Ich habe eine feste Anstellung, ich verdiene mein eigenes Geld, habe eine eigene Wohnung und ein Leben, für das ich allein verantwortlich bin.«

»Ja, das ist alles schlimm genug …«, erwiderte meine Mutter nur. Ich jedoch war kurz davor zu explodieren.

»Ja, schimpf nur. Irgendwann wirst du uns dankbar sein, dass wir nie aufgegeben haben, dir einen guten Ehemann zu suchen.«

»Das klingt, als wäre ich mit besonderer Hässlichkeit gestraft und müsste dankbar sein, wenn ihr es schafft, einen Dummen so sehr zu bestechen, dass er einwilligt, mich zur Frau zur nehmen.«

»Nikka! Schluss, aus und Ende der Diskussion! So viel Undankbarkeit kann man wirklich kaum ertragen. Du weißt genau, dass du nicht hässlich bist. Wir Ekishturas sind für unser gutes Aussehen über alle Dimensionen hinweg bekannt. Warum also solltest du dich beklagen?«

»Ich beklage mich nicht. Ihr tut nur so, als wäre ich ein optischer Problemfall.«

»Mit deiner Optik hat das nichts zu tun«, konterte meine Mutter, was immerhin implizierte, dass ich in ihren Augen ein Problemfall war. Ich beschloss, beleidigt zu sein und das Gespräch so zu beenden.

»Na vielen Dank.«

»Du weißt genau, wie ich das meine, Kind.«

»Ja, ist schon gut. Ich bin ein Problem und peinlich und überhaupt alles, was man als Ekishtura nicht ist. Ich habe schon verstanden.«

»Aber, Kind …«

»Nein«, unterbrach ich sie dramatisch. »Das reicht!«

»Aber …«

»Nein, Mutter, keine weiteren Vorwürfe mehr«, flüsterte ich und fand, dass ich durchaus schauspielerisches Talent besaß. »Bis demnächst.« Ich drückte einen Knopf, beendete unsere Verbindung und fühlte mich verdammt gut damit.

Zurück im Badezimmer machte ich die Brause an und versuchte, alles übel Riechende wegzuspülen. Dann schüttete ich einen vollen Messbecher Waschpulver darüber und duschte das Kleid weiter mit starkem Strahl ab, bis eine Invasion von Seifenblasen mein Bad zu übernehmen drohte. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte das Kleid an Farbe verloren, der Fleck jedoch leuchtete weiterhin sehr gelblich auf dem ehemals so feinen Stoff. Ich spülte das Kleid aus, so gut es ging. Das Ergebnis war niederschmetternd. Der Stoff war unterschiedlich gebleicht, der Fleck noch gelber als vorher und in der Strassbrosche fehlten mindestens drei Steine. Ich klatschte den Fummel wütend ins Waschbecken und beschloss, ihn einfach zu ignorieren. Ich hatte Wichtigeres zu tun, denn ich rettete einen Todkranken und das mit sehr viel Aufwand. Was zählte da schon ein Kleid? Ob dieses Argument bei meiner Schwester genauso gut ankam, wagte ich zu bezweifeln, doch daran wollte ich jetzt lieber nicht denken.

Nachdem der Schaum sich verzogen hatte und die Dusche nicht mehr so rutschig war, dass ich mich vermutlich kaum darin hätte halten können, schaffte ich es endlich, an meine Erfrischung zu kommen. Danach föhnte ich mir ausgiebig die Haare und schlüpfte in eine meiner geliebten Lederröhren und ein weites Langarmshirt. Körperlich war ich guter Dinge, denn mein Arm schien wieder voll funktionsfähig und auch das taube Gefühl war fast komplett verschwunden. Dort, wo die Klinge meine Schulter durchbohrt hatte, sah es immer noch sehr unschön aus, doch solange ich keine Einschränkungen davontrug, sollte es mir egal sein, wie lange die Heilung brauchte.

Frisch und gestärkt begab ich mich ins Schlafzimmer. Ich schloss hinter mir die Tür, damit Levian sich nicht verkühlte, wenn ich nun das breite Doppelfenster weit aufriss. Als ich die Bettdecke hochhob, war sie feucht. Das Kissen wirkte ebenfalls sehr durchnässt und selbst die Matratze fühlte sich klamm an, nachdem ich das Betttuch entfernt hatte. So wie es aussah, musste ich nicht nur die Bezüge, sondern gleich das gesamte Bettzeug waschen. Zum Glück war es einigermaßen sonnig draußen und mein Schlafzimmer ging zur Südseite hinaus. Ich mischte mir aus Waschpulver und Wasser eine Reinigungslauge und bearbeitete damit die Matratze. Dann lehnte ich sie zum Trocknen an den Fensterrahmen und richtete sie zur Sonne aus. Das Bettzeug und die Laken schleppte ich in die Waschküche und befüllte gleich drei Waschmaschinen auf einmal. Ich drückte gerade prüfend meine Nase an eines der Bullaugen, da erschien eine Nachbarin.

»Frau Nimon?«

»Hallo«, sagte ich und richtete mich auf. An meinen Knien klebten Waschpulverreste, die wohl vor den Maschinen auf dem Boden gelegen hatten. Sie musterte meine verdreckte Lederhose, dann schweifte ihr Blick zu den Maschinen.

»Ich wasche gerade«, sagte ich überflüssigerweise.

»Wirklich?«, sagte sie scheinbar ernst, dann mussten wir beide lachen.

»Wie geht es Ihnen, Frau Nesteko?«, fragte ich.

»Ach, ganz gut. Und Ihnen, Frau Nimon? Ist heute großer Waschtag?«

Es klang immer noch fremd, wenn mich jemand mit diesem Namen ansprach. Ich hatte mein Apartment unter dem falschen Nachnamen Nimon gemietet, weil ich nicht wollte, dass jeder hier im Haus sofort spekulierte, ob ich zu der berühmten Politikerfamilie Ekishtura gehörte.

»Ja, musste mal sein …«, erwiderte ich.

»Na, bei den Hightechmaterialien ist das ja heute zum Glück kein Problem mehr.« Sie lächelte und ich lächelte.

Je weniger ich auffiel, desto besser.

»Haben Sie gestern Nacht auch diese Schreie im Haus gehört?«, fragte sie, während sie ihren Wäschekorb auf eine der freien Maschinen abstellte.

Frau Nesteko war zwar wie ich eine Blutdämonin, die eigentlich dafür bekannt waren, sich eher wenig um die Angelegenheiten anderer zu kümmern, doch meine Nachbarin stellte eine Ausnahme dar. Sie war nicht nur neugierig, sondern auch sehr geschwätzig. Ich konnte sicher sein, sollte ich ihr etwas Vertrauliches erzählen, am nächsten Tag wüsste es das ganze Haus. Da ich allerdings nichts mehr hasste, als Mittelpunkt des Interesses zu sein, vermied ich jedweden Anlass für Gerede. »Nein«, gab ich also scheinbar ahnungslos zurück. »Ich habe nichts gehört.«

»Es war ein schreckliches Gebrüll. Richtig Furcht einflößend!«

»Das klingt ja schlimm.«

»Ja. Ich werde gleich mal beim Hausmeisterdienst anrufen und mich erkundigen, ob dort etwas darüber bekannt ist. Das haben sicherlich noch mehrere Mieter gehört.«

»Nun, ich war gestern Abend bei meinen Eltern eingeladen …«

»Nein«, unterbrach sie mich und schmiss ein paar Wäschestücke in die Trommel. »Es war mitten in der Nacht, so gegen ein Uhr …«

»Da habe ich wohl geschlafen …«, log ich.

»Also, ich saß senkrecht im Bett, das kann ich Ihnen sagen.«

»Das tut mir leid«, sagte ich gedankenlos.

»Wieso?« Frau Nesteko legte ihr Waschpulver zur Seite und sah mich neugierig an.

»Na, dass Ihr Schlaf unterbrochen wurde. Das wünscht man doch niemandem … mitten in der Nacht so aufgeschreckt zu werden«, erwiderte ich schnell.

»Ach, Sie sind wirklich reizend, Frau Nimon.« Sie lächelte und schüttete eine Ladung weißes Pulver in das entsprechende Fach. »Vielleicht bringt mein Anruf später noch mehr Informationen, damit ich heute Nacht wieder beruhigt einschlafen kann.«

Ich nickte, doch in Wirklichkeit war mir überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, dass das Geschrei des Engels von vergangener Nacht so weite Kreise ziehen könnte. Hoffentlich hatte keiner der anderen Mieter etwas von dem Zwischenfall mitbekommen, beziehungsweise legte Wert auf eine Verfolgung der genauen Umstände.

 

Am späten Nachmittag hatte ich das beunruhigende Gespräch mit meiner Nachbarin erfolgreich verdrängt und die allgemeine Situation wirkte durchaus zufriedenstellend. Levian hatte noch zwei Mal etwas getrunken, die Matratze war dank der Sonne gut getrocknet und das Bettzeug hatte nicht nur die Waschmaschine, sondern auch den Trockner überlebt. Ich hatte das Schlafzimmer geputzt und alles frisch bezogen, nun konnte Levian wieder umziehen. Das Ende vom Lied war leider, dass er nun mein Bettzeug durchgeschwitzt hatte. Weil ich ihm jedoch nicht böse sein konnte, wusch ich auch das alles noch und wechselte ihm das T-Shirt. Ich zog ihm wieder mal eins von Mik an, da dieser glücklicherweise noch einen Stapel bei mir liegen hatte. Als er endlich in seinem Bett lag, war es auch schon wieder Zeit für seine Tabletten, denn ich musste los zur Arbeit. Die Sonne stand bereits sehr niedrig über dem Horizont und bedrohlich dunkle Wolken zogen auf. Ich ließ die Jalousien herunter und er sank erschöpft in die Kissen. Die Tabletten hatte er mit einem Becher Wasser eingenommen und ich war sehr stolz auf ihn und ein kleines bisschen auch auf mich, weil ich ihn so professionell rettete.

Ich flüsterte ihm zu, dass er jetzt ein paar Stunden allein bleiben musste und ich ihn aus Sicherheitsgründen im Schlafzimmer einschloss, sollte jemand die Wohnungstür mit einem Generalschlüssel öffnen. Er nickte kurz, dann fielen seine Augen wieder zu. Wohl war mir nicht dabei, ihn so lange allein zu lassen, doch es war wichtig, mich mit Yaris zu unterhalten und all die Ungereimtheiten mit ihr zu besprechen. Außerdem könnte ich sowieso nicht viel mehr machen, als an seinem Bett zu sitzen. Ich lief noch hinunter und holte meine Wäsche aus dem Trockner, bezog mein Couchlager neu und dann warf ich mir eine Jacke über und machte mich auf den Weg zum Hauptquartier.

 

Kaum hatte ich meinen Wagen aus dem Parkhaus auf die Straße gelenkt, begann es zu regnen. Als ich unsere Zentrale erreichte, stand der ätzende Regen bereits in Pfützen auf der Straße. Ich sollte also auf keinen Fall vergessen, mich so schnell wie möglich zu erkundigen, ob mein erster Schutzanzug vielleicht schon fertig war.

In unserem Aufenthaltsraum ging es mal wieder hoch her. Ein paar jüngere Teammitglieder berichteten begeistert über ihre ersten Einsätze, Hento versuchte vergeblich, ein Buch zu lesen, Mik hing in einem alten Sessel und hatte die langen Beine von sich gestreckt, Pina polierte ihren Helm und Yaris brütete über einem Stapel Papiere. Als ich eintrat, hatte ich in kürzester Zeit eine Schar Kollegen um mich versammelt, die allesamt wissen wollten, wie es mir und meinem verletzten Arm ging. Ich berichtete ausführlich über den Stand meiner Genesung und musste zum guten Schluss noch vorführen, dass der Arm auch tatsächlich funktionierte, indem man mir freundlicherweise eine leicht angewärmte Dose mit Blut anreichte, die ich vor aller Augen öffnen musste. Alle johlten und klatschten, als ich es ziemlich mühelos hinbekam. Yaris beobachtete mich vom Tisch aus und verzog keine Miene.

Nachdem der erste Trubel sich gelegt hatte, schlenderte ich zu Yaris hinüber. Sie sah nicht von ihren Papieren auf, als ich mir einen Stuhl zurückzog und ihr gegenüber Platz nahm. »Yaris …?«, fragte ich, weil sie mich einfach weiter ignorierte. Endlich hob sie den Kopf.

Ihr Blick war wütend, enttäuscht und traurig zu gleich. »Warum lügst du mich an?«

Weil ich schon nicht mehr wusste, welche meiner vielen Lügen in vergangener Zeit sie wohl meinte, sagte ich lieber nichts.

»Komm mit.« Sie schob den Stuhl zurück und marschierte voraus. Schweigend verließen wir den Raum, liefen den Gang entlang und ein Stockwerk hinunter, bis wir in einen abgedunkelten Raum kamen, in dem Computerbildschirme dicht gedrängt nebeneinanderstanden. Zielstrebig ging Yaris auf einen der Plätze zu, tippte den Bildschirm ein paar Mal an und bedeutete mir, mich neben sie zu stellen.

Zuerst zeigte das Bild nur einen Gang, die Aufnahme einer Kamera, die in der Ecke einer Wand angebracht war. Die Qualität war nicht die allerbeste, doch die Pixel reichten, um das Bild ausreichend scharf zu erkennen. Plötzlich erschien eine Gestalt. Ich brauchte kein weiteres Mal hinsehen. Die Person dort war ich.

Das Bild wurde kurz schwarz, bis eine neue Kamera sich einschaltete. Sie zeigte mich, wie ich in den Kartons mit den Medikamenten wühlte und schließlich ein gutes Dutzend der Packungen unter meinem Shirt versteckte. Yaris tippte auf den Bildschirm und das Bild verharrte in der Sekunde, in der ich die letzten Packungen in meinem Hosenbund verschwinden ließ.

Im Raum war es so still, dass man uns beide atmen hören konnte.

»Das«, sagte Yaris und sah mich nicht an. »Ist Diebstahl von Regierungseigentum. Darauf steht eine Gefängnisstrafe. Und der Ausschluss aus dem Dienst bei einer Regierungsbehörde. Hinzu kommt, dass du in dem Lager mit den Schwertgriffen das Fenstergitter zerstört hast. Der Variati vermutet, dass du eines der Flammenschwerter aktiviert und damit das Metall durchtrennt hast. Du hast innerhalb eines Gebäudes eine gegnerische Waffe benutzt, ohne wirklich zu wissen, wie sie funktioniert. Du bist absolut nicht mehr zurechnungsfähig, Nikka. Das Beste wäre, deine Position neu zu besetzen.«

Ich schluckte, weil sie das so drastisch ausdrückte. Aber sie hatte recht. Egal, wie man es betrachtete, ich hatte unerlaubt gehandelt und mich in gewaltige Schwierigkeiten gebracht. Nun würde ich meinen Job verlieren. Mir wurde schwindlig und ich musste mich an einer Stuhllehne festhalten. Sie würden mich unehrenhaft entlassen. Mit meinem Arbeitszeugnis würde ich nie wieder einen neuen Job finden. Ich würde für Jahre ins Gefängnis müssen. Wer wusste, ob man mich überhaupt wieder rausließ! Vor meinen Augen begannen Sterne zu tanzen. Ich krallte die Hand in den weichen Stoff der Rückenlehne, um nicht zu schwanken.

»Hast du mir so gar nichts zu sagen?« Yaris drehte sich zwar in meine Richtung, doch sie sah mich nicht an. Es war ihre Art, Verachtung auszudrücken.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich.

»Dein Verhalten ist für mich nicht mehr tragbar, denn ich bin für dich verantwortlich. Ich muss Rechenschaft darüber ablegen. Wenn ich nicht dafür sorge, dass du keinen Schaden mehr anrichten kannst, werde ich irgendwann diejenige sein, die dafür verurteilt wird, weil ich fahrlässig entschieden habe.« Yaris’ Blick wurde starr und sie redete immer noch mit dem Computerbildschirm knapp hinter mir.

»Ich weiß auch nicht, was genau …«, begann ich, doch Yaris schnitt meine Worte mit einer harschen Handbewegung ab. Sie stand auf, sodass wir uns direkt gegenüberstanden.

»Genug! Ich habe das Gefühl, ich kenne dich nicht mehr. Wenn die Verletzung an deinem Arm dich so sehr geängstigt hat, dass du Medikamente stiehlst, hättest du lieber einen Experten gefragt, als dich in solche Schwierigkeiten zu bringen!«

Ich sah in ihre hellen Augen und erst nach und nach wurde mir klar, sie hatte sich bereits eine Erklärung für mein Verhalten gesucht. Sie dachte, ich hätte die Medikamente für mich gestohlen, um meinen verletzten Arm zu heilen.

Einen Moment war ich versucht, ihr alles zu erzählen. Einfach die Wahrheit zu sagen und endlich wieder ohne Lügen auszukommen. Doch dann sah ich in ihr blasses Gesicht und wie sehr die feinen Adern unter der hellen Haut hervorzuscheinen schienen. Normalerweise sah sie nur so schlecht aus, wenn sie überarbeitet war. Jetzt war es eine andere Art der Erschöpfung. Ich konnte sie unmöglich noch mehr belasten. Sie war zwar eine exzellente Kämpferin, doch emotional eher zartbesaitet. Vermutlich würde mich mein Geständnis mehr als unsere Freundschaft kosten.

»Du bekommst Hilfe, du musst dich nur melden. Verstehst du? Es gibt Probleme, die kann man nicht allein lösen. Warum hast du nicht mit mir gesprochen?«

»Ich war verzweifelt …« Lügen. Noch mehr Lügen. Immer mehr Lügen. Wie sollte es bloß weitergehen? Jetzt ließ ich zu, dass Yaris eine weitere Lügengeschichte glaubte.

»Was glaubst du, wie verzweifelt ich war, als du wie tot auf der Liege im Sanitätszimmer gelegen hast? Glaubst du, das ist spurlos an mir vorübergegangen? Glaubst du, ich habe mir keine Sorgen gemacht? Wir alle im Team haben das. Aber du trittst all unsere Sorge mit Füßen, wenn du dich wie ein Einzelkämpfer in irgendwelche dummen Aktionen stürzt. Wir sind ein Team!« Yaris drehte sich zur Seite und schob sich zwei verirrte Strähnen aus der Stirn. »Und wir … wir waren mal beste Freundinnen. Die sich alles erzählt haben.«

»Bitte sag das nicht …«

»Was soll ich nicht sagen?«

»Dass wir mal Freundinnen waren.«

»Aber ich habe doch recht. Echte Freundinnen hätten einander um Rat gefragt oder um Hilfe gebeten. In einer wahren Freundschaft wäre so etwas nicht passiert.«

»Ich war … durcheinander. Mein Arm … er sah so schrecklich aus. Er war ganz taub. Ich wusste nicht, was ich tun sollte …«

»Dann macht man nicht solche Dummheiten! Erzählt etwas von ansteckenden Krankheiten, bestiehlt die Behörde, für die man arbeitet und verkauft seine Freunde für dumm!«

»Ich will den Job nicht verlieren, Yaris. Bitte.«

Yaris stieß wütend vor einen Drehstuhl, obwohl sie eigentlich überhaupt nicht zu solcher Art von Handlungen neigte. »Ja, dein Job. Meinst du, ich habe Lust zuzusehen, wie man dir erst kündigt und dich dann verurteilt? Glaubst du, ich möchte jemanden aus meinem Team verlieren? Denkst du, mir fällt es leicht, zuzusehen, wie du dich jeden Tag mehr in Schwierigkeiten bringst?«

»Nein …«

»Gut, aber warum machst du es dann?« Yaris blickte mich an, suchte in meinen Augen nach einer Antwort und dann drehte sie sich resignierend um. »Selbst wenn ich dich ansehe, kommst du mir fremd vor. Deine Augen, irgendetwas hat dich verändert. Du weichst meinem Blick aus. Ich sehe nur noch Lügen.«

»Yaris, bitte …« Wieder war ich versucht, ihr alles zu erklären. Ihr die Wahrheit zu sagen, über mich und den Engel und all die Widrigkeiten, in die ich mich für ihn gestürzt hatte.

»Hör zu«, sagte sie und drehte sich wieder zu mir. »Diese Videoaufzeichnung ist noch nicht weitergegeben worden. Der Leiter der Asservatenkammer ist der Ehemann einer Cousine von mir. Ich kenne ihn zwar nur flüchtig, doch familiäre Bande sind stark, wie du aus eigener Erfahrung weißt. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich intern darum kümmern werde und die Aufzeichnung dann weitergebe. Er wird seinen Mitarbeiter auf meinen Wunsch hin anweisen, mit niemandem darüber zu reden. Ich werde versuchen, dieses Video irgendwie zu vernichten und es wie eine Computerpanne aussehen lassen. Damit wären die Anschuldigungen gegen dich nicht mehr nachweisbar. Doch zunächst erwarte ich, dass du so handelst, als würde das Ermittlungsverfahren seinen normalen Gang gehen. Nächster logischer Schritt ist, ich werde dich auffordern, dich bei diesem Mitarbeiter zu entschuldigen. Und genau das wirst du tun und zwar in meinem Beisein. Du wirst höflich und ziemlich schuldbewusst agieren, nur dann ist es glaubhaft. Zwischen dir und mir wird in dieser Zeit kein Wort gewechselt, es sei denn, ich spreche dich direkt an. Ansonsten stehst du nur neben mir und spielst den armen Sünder. Solltest du mir dabei widersprechen, mich korrigieren und sonst wie blamieren, wird unser Plan auffliegen und ich werde das Band noch in derselben Nacht an meine Vorgesetzten übergeben müssen. Ich werde für morgen einen Termin ausmachen, zu dem du auch die gestohlenen Medikamente wieder mitbringst. Hast du das soweit verstanden?«

Ich nickte kleinlaut. Sie wollte mich tatsächlich retten, meinen Kopf aus der Schlinge ziehen und dafür sorgen, dass alles wieder halbwegs in Ordnung kam. Ich wusste gar nicht, wie ich ihr danken sollte, mein Kopf schwirrte und ich suchte noch nach den richtigen Worten, da sprach sie bereits weiter.

»Als Nächstes wirst du dich einer zweiten Untersuchung durch die Experten stellen. Auch hier gilt das gleiche Verhaltensmuster. Du bist höflich und blamierst mich nicht, indem du durch respektlose Äußerungen oder Handlungen meine Autorität anzweifelst. Stell dir vor, dass alle um dich herum dir helfen wollen und nur du die Einzige bist, die es einfach nicht verstehen will.« Yaris schnaufte nach so viel Text und zupfte energisch am Kragen ihres Shirts. Das machte sie immer, wenn sie nervös war.

»Doch, ich verstehe es ja …«, sagte ich vorsichtig.

»Was machen deine Schutzanzüge?« Weil Yaris wild entschlossen schien, alle meine defizitären Umstände anzusprechen, verzichtete ich auf weitere Entschuldungsversuche. »Ich habe beide Anzüge in Auftrag gegeben. Heute werde ich noch einmal mit dem Computer vermessen, weil der vorgestern nicht funktionierte. Einen Anzug fertigen sie nach per Maßband erhobenen Daten an. Ich werde gleich anfragen, ob ich Glück habe und dieser vielleicht schon fertiggestellt ist.«

»Du weißt, dass es per Gesetz vorgeschrieben ist, seine Schutzkleidung immer einsatzbereit zu haben. Sollten wir heute Nacht raus müssen und du hast keinen Anzug, kannst du nicht mit und ich darf dich für diese Nacht nicht bezahlen.«

»Das weiß ich.«

»Und es ist dir egal, weil du gern umsonst arbeitest?«

»Es kommt nicht wieder vor, okay? Ich werde mir die neuen Waffen abholen und in der Simulationskammer damit üben. So wie ich das verstanden habe, haben die anderen das gestern schon gemacht, als ich frei hatte.«

»Stimmt«, erwiderte Yaris. »Mik soll mitgehen und dich einweisen.«

»Von mir aus …« Ich hatte zwar nicht unbedingt Lust auf eine Privatstunde bei meinem Ex, aber weil ich Yaris im Moment lieber nicht widersprach, schluckte ich meinen Protest stumm hinunter.

»Die anderen hatten eine Einweisung durch einen Waffenexperten, aber da ich schlecht einen Termin für eine Einzelunterweisung machen kann, hoffe ich, Mik hat so gut aufgepasst, dass er sein Wissen weitergeben kann.«

»Bestimmt«, sagte ich und freute mich schon riesig darauf, ihn mir vom Leib zu halten, während er alles und jedes als Vorwand nehmen würde, um mich anfassen zu können.

»Gut, dann los«, sagte Yaris geschäftsmäßig und gab mir so wieder keine Gelegenheit, mich bei ihr zu entschuldigen. Sie ging voraus, ich in respektvollem Abstand hinterher.

Vor der Tür unseres Aufenthaltsraums blieb sie stehen und sah mich auffordernd an. »Ich nehme an, du willst direkt weiter zu den Werkstätten?«

»Ja«, sagte ich, mir blieb nichts anderes übrig. Außerdem hatte sie ja recht. Ich ging mit gesenktem Kopf an ihr vorbei und spürte ihren Blick in meinem Rücken, bis ich endlich um die nächste Ecke gebogen war.

 

Im dreizehnten Stock hing an der Tür zum Vermessungscomputer kein Defektschild mehr und doch entschied ich mich, an der breiten Doppeltür der Werkstatt drei zu klopfen. Wie erhofft, war es die etwas rostige Stimme der Diploidin, die mich hineinbat. »Guten Tag«, sagte ich höflich.

»Ach, hallo«, erwiderte sie und ihr freundliches Zwinkern verriet, dass sie mich sofort wiedererkannte. »Dein Anzug ist leider noch nicht fertig, Kindchen. Schau hier.« Sie zeigte auf einen breiten Tisch, auf dem ein halb zusammengenähter Schutzanzug lag. »Diese Nacht werde ich noch brauchen. Und morgen früh, bevor ich nach Hause fahre, gebe ich ihn zum Imprägnieren. Du kannst also frühestens am nächsten Abend damit rechnen.«

»Schon in Ordnung, Sie können ja nicht zaubern. Es ist meine Schuld, dass ich immer erst in allerletzter Minute reagiere.« Ich hörte mich diese wohl gewählten Worte sagen und war mir sicher, Yaris wäre stolz auf mich.

»Aber unser Computer funktioniert wieder. Du könntest dich vermessen lassen, dann dauert es auch mit deinem zweiten Anzug nicht mehr allzu lang.«

»Ja, das wäre gut, danke.«

»Na, dann komm mal mit.« Sie rollte förmlich voraus, so sah es jedenfalls aus, denn ihre kugelrunde Gestalt und die kurzen Beine schienen mit dem Boden unter ihren Füßen zu verschmelzen. Im Vermessungsraum grüßte sie kurz den Techniker, der immer noch an dem Gerät herumzuwerkeln schien und ich tat es ihr gleich. Der Fachmann, ein Echsengesicht, räumte sein Werkzeug zusammen und verließ mit einem kurzen Gruß den Raum.

»Nun, ich glaube, er ist fertig. Du weißt ja, wie es funktioniert, Kindchen, nicht wahr? Dort hinten kannst du dich ausziehen.«

Ich nickte und verzog mich hinter eine stoffbezogene Stellwand. Nur mit Unterwäsche bekleidet stellte ich mich in die Kammer. Die Schneiderin schloss die Tür und das Gerät begann zu summen, während es meinen Körper scannte, um ein 3-D-Modell zu erstellen. Ich schloss die Augen, um nicht auf den Bildschirm zu blinzeln. Wer legte schon Wert darauf, sich nackt und in 3D bewundern zu dürfen? Als das Summen aufhörte, ging die Tür wieder auf und ich war erlöst.

»Ach, diese Naht …«, seufzte sie und schüttelte missbilligend den Kopf, als ich aus der kleinen Kammer trat.

Ich sah auf meine Schulter, dort wo das Flammenschwert meine Haut aufgerissen hatte. »Ich habe leider nicht an das Nahtmaterial gedacht.«

Sie beugte sich näher und betrachtete die Wunde inklusive der groben und unregelmäßig ausgeführten Naht. Nach einem weiteren missbilligenden Schnalzen sah sie mich prüfend an. »Nadel und Faden habe ich auch hier, es tut nur etwas mehr weh, nehme ich an.«

»Das ist egal«, sagte ich leichthin.

»Na, wenn du meinst.« Sie holte eine Schere und mehrere Nadeln verschiedener Größen. So gut es ging, schnitt sie die dicken Fäden auseinander und zog deren wirr abstehende Reste aus der Haut. An meiner Wunde klaffte die Haut immer noch auseinander und gab den Blick auf bereits verheiltes und nachgewachsenes Muskelgewebe und Sehnen frei. Zum Glück blutete sie nicht, stattdessen standen die aufgerissenen Teile des Gewebes wie Fremdkörper von mir ab.

»So, mal sehen …«, murmelte meine Schneiderin und zog sich einen hohen Hocker heran. Sie kletterte hinauf und war damit fast so groß wie ich. »Zähne zusammenbeißen«, befahl sie. »Und nicht die Luft anhalten, das macht es nur noch schlimmer.«

Ich nickte gehorsam. Wider Erwarten tat es am Rand der Wunde nur wenig weh. Ich war schon fast erleichtert, da näherte sie sich wohl der Mitte, denn auf einmal wurde das Stechen schlimmer. Jedes Mal, wenn das Metall sich durch die Haut bohrte, raste eine Hitzewelle über meinen Körper und der Schmerz ließ mich kaum atmen.

»Gleich hast du es geschafft«, flüsterte sie und sie hatte recht. Je näher der Rand wieder rückte, desto weniger spürte ich. »Fertig.«

»Was ein Glück«, keuchte ich. »Vielen Dank.«

»Das habe ich gern getan. Morgen holst du deinen ersten Schutzanzug und wir besprechen, wie es weitergeht.«

»Klingt prima.«

»Schön. Dann zieh dich in Ruhe an. Ich mache mich mal wieder an die Arbeit.«

»Danke.« Nachdem sie den Raum verlassen hatte, zog ich mich wieder an und machte mich auf den Weg zurück zum Aufenthaltsraum.

 

Mik schien nicht unbedingt im Stress zu sein, denn er saß an einem der Tische und polierte gedankenverloren das Metall auf den Spitzen seiner Hörner. Natürlich war er mehr als erfreut, dass ich ausgerechnet ihn bat, mir die neuen Waffen zu erklären. Selbst als ich ihm erklärte, Yaris habe ihn mir quasi aufgedrängt, schien ihn das in seiner Vorfreude nicht zu bremsen. Wir beschlossen, sofort loszulegen. Mik nahm sein Mikro fürs Ohr mit, falls das Team einen Einsatz bekam und er rasch los musste.

Zunächst marschierten wir zur Waffenkammer. Ich musste gefühlte 600 Dokumente unterschreiben, dass ich die beiden guten Stücke erhalten hatte und in Ehren halten würde, dann ging es endlich weiter. Mik war so freundlich und schleppte meine Kisten mit der tödlichen Platinmunition. Ich trug den Karton mit den Simulationspatronen. Sie würden die in der Computeranimation angreifenden Engel töten, waren aber für Dämonen unschädlich. Sie bestanden aus einer zarten, elektronisch aufgeladenen Membran, die einen Kern aus harmloser Zellulose umhüllte. Wurde man davon aus Versehen getroffen, spürte man es praktisch nicht.

Im Vorraum der Simulationskammern herrschte reger Andrang. Offenbar hatten mehrere Einheiten neue Waffen bekommen, deren Gebrauch nun trainiert werden sollte.

»Ihr könnt noch hier rein«, sagte einer der Techniker und hatte vor lauter Stress rot geränderte Augen, was bei einem Echsengesicht mit grellgrüner Hautfarbe ziemlich abenteuerlich aussah. »Da sind schon zwei drin, aber ihr solltet euch nicht in die Quere kommen.«

»Können wir nicht noch warten?«, wollte Mik wissen, da öffnete sich die Schleuse bereits und wir mussten eintreten, um die Simulation nicht zu unterbrechen.

»Na super.« Mik seufzte. »Ich hätte lieber noch Geduld bewiesen, bis die Kollegen mit der Übung durch sind.«

»Aber er sagte doch, dass wir uns nicht in die Quere kommen würden.«

»Ja, aber ich mag es nicht, mir eine Simulation mit anderen teilen zu müssen.«

Ich stupste ihn freundschaftlich in die Seite. »Na komm schon. So schlimm wird es nicht werden. Du erklärst mir den Umgang mit den neuen Waffen und wir stören uns nicht an den anderen.« Mik nickte zwar, aber wirklich begeistert sah er nicht aus.

Die Simulationsumgebung stellte ein typisches Alltagsszenario dar: Eine zerstörte Stadt und eine tief hängende Wolkendecke, die das Licht des Tages fast komplett verschluckte. Um uns herum ragten meterhoch Schutt und Geröllberge auf, deren Winkel ideale Versteckmöglichkeiten boten. Ein scharfer Wind riss an meinem Shirt und von irgendwoher ertönte ein Schuss. Mik sah sich nervös um.

»Wir sollten zusehen, dass du mit den Zweien hier umgehen kannst, bevor die Simulation richtig losgeht. Leider hat der Techniker die Schleuse so schnell geöffnet. Im Moment wollen echt alle ihre neuen Waffen testen. Was soll’s, dir reicht bestimmt ein Crashkurs.« Ich nickte und behielt gleichzeitig die Umgebung fest im Blick. Mik lud unsere Waffen mit Simulationsmunition. »Sieh her, hier wird diese entsichert.« Er führte es mir an seiner Waffe vor und ich machte es ihm nach. »Und hier die andere.« Wieder folgte ich seinem Beispiel. »Es ist zunächst ein wenig ungewohnt, wie weit die Dinger schießen können, aber nachdem du dich daran gewöhnt hast, ist es praktisch. Man kann die Viecher schon auf weite Distanz zu Fall bringen und macht sich nicht mehr die Hände schmutzig.« Mik grinste.

»Klingt super«, sagte ich und nahm mir vor, nicht jedes Mal, wenn Mik über Engel redete, an Levian zu denken.

Irgendwie hatte ich Angst, dass schon mein Blick verriet, wie sehr ich zurzeit zwischen den Fronten stand. Ich war noch dabei, mich gedanklich meiner verzwickten Situation zu widmen, da erschienen die ersten Gegner am Ende der Straße. Ihre Flammenschwerter leuchteten auf, als sie begannen, uns entgegenzurennen.

»Los, Nikka!«, sagte Mik und riss eine seiner Waffen hoch. Er schoss und einer der Engel brach getroffen zusammen. »Jetzt du!«

Ich zielte, drückte ab, doch mein Schuss verfehlte den Engel. Wieder drückte ich ab und schoss daneben. Die Engel kamen näher.

»Konzentrier dich, noch sind sie weit weg«, raunte Mik.

Ich zielte erneut, doch meine Hand zitterte. Drei weitere Engel waren zu den zwei Verbleibenden hinzugestoßen. Ich zwang mich zur Konzentration, kniff das linke Auge zu und drückte drei Mal ab. Mik schnaufte anerkennend. Drei der Engel fielen kreischend um.

»Alles klar, Püppi.« Mik grinste. »Du bist wieder auf Sendung.«

»Klar doch.« Ich grinste zurück und erschoss noch die anderen zwei.

Mik lächelte schief, dann lehnte er sich zu mir herunter. »Ich stehe drauf, wenn du …«

Ein Schuss hallte durch die Dämmerung und im nächsten Moment fiel Mik ein computeranimierter Engel direkt vor die Füße. Sein Körper verschwamm zu einer nass schimmernden Pfütze und löste sich komplett auf. Ich keuchte noch überrascht, als zwei große Gestalten vor uns landeten. Da wusste ich, dass diese zentimetergenaue Bruchlandung eben kein Zufall, sondern Präzisionsarbeit gewesen war.

»Sieh an, sie spielen unser Lied«, sagte einer der zwei Flugdämonen spöttisch und warf einen Blick auf unsere neuen Waffen. Beide waren noch ein Stück größer als Mik und mit ihren pechschwarzen wilden Haaren, den orange leuchtenden Augen und der staubgrauen Haut sahen sie wirklich beeindruckend aus. Ihre durchtrainierten Körper steckten in lässiger Trainingskleidung. Sie legten ihre monströs großen Flügel an, deren fächerartige Spitzen mit Gold verstärkt waren, und verstauten ihre Waffen in den Haltern um ihre schmalen Hüften.

Mik kräuselte die Lippen und ich wusste, dass er sich nur mit Mühe beherrschte. Flugdämonen waren für ihn ein rotes Tuch. Und nun auch noch mit ihren Waffen arbeiten zu müssen, war für ihn ein fast unerträglicher Zustand.

»Schau an, ein kleiner Bluttrinker. Was für ein hübsches Gesicht sie hat«, sagte der andere, streckte seinen Arm aus und strich mir über die Haare bis hinunter zu meiner Wange, als wäre ich ein niedliches Haustier. Die Haut seiner riesigen Handinnenfläche war erstaunlich weich, doch nach einer Schrecksekunde warf ich den Kopf zurück, hob beide Waffen und richtete sie auf sein Gesicht.

»Du bist wahrscheinlich auch ganz niedlich«, sagte ich. »Wenn du getroffen umfällst und zu meinen Füßen liegst.«

Der andere Flugdämon brüllte vor Lachen und haute seinem vorlauten Partner so heftig auf die Schulter, dass ich fürchtete, er habe ihm vor Begeisterung mindestens zwei Mal die Wirbelsäule gebrochen. Doch der andere schwankte nicht einmal. Stattdessen sah er mich an, als würde er die Waffen gar nicht bemerken und in seinen leuchtenden Augen blitzte es verdächtig auf.

»Verdammt, ich steh total auf sie«, sagte er, als wäre ich gar nicht da.

»Vorsicht, Freundchen«, knurrte Mik.

»Komm, wir machen weiter, da oben gibt es noch genug zu tun«, sagte sein Partner und legte ihm auffordernd die Hand auf den Arm. Ich hingegen hatte meine Waffen immer noch auf sein Gesicht gerichtet.

»Wenn du mal Nachhilfe brauchst, von jemandem, der wirklich was davon versteht, dann komm ruhig mal bei uns vorbei«, sagte der Freche stattdessen mit einem provozierenden Seitenblick in Miks Richtung.

»Verschwindet«, zischte ich, steckte meine Waffe weg und musste Mik mit ausgestrecktem Arm daran hindern, sich auf diesen unverschämten Typen zu stürzen. Lange würde ich das jedoch nicht schaffen.

»Man sieht sich …«, erwiderte mein Gegenüber lässig, klappte endlich die Flügel wieder aus, sein Partner machte es ihm nach, und die beiden verschwanden fast lautlos im Luftraum über uns. Ich sah ihnen nach, bis sie zwischen den Wolken verschwunden waren. Mik griff nach meinem Arm, der immer noch vor seiner breiten Brust lag.

»Kannst loslassen, Püppi. Den Spinner knöpf ich mir später vor.«

»Das wirst du nicht«, sagte ich und entzog mich Mik, bevor er mich wieder nicht loslassen wollte und ich mich diversen Diskussionen stellen müsste.

»Stehst du etwa auf den?«, legte Mik prompt los.

»Nein, ich stehe nicht auf ihn«, sagte ich gelangweilt, obwohl ich zugeben musste, er hatte schon nicht schlecht ausgesehen. Sein freches Benehmen allerdings sollte mir missfallen, doch ich horchte in mich hinein und konnte vor mir selbst nicht verheimlichen, dass es mir irgendwie gefallen hatte.

»Oh! Die Stimme kenne ich. Du stehst auf ihn. Und wie du ihn angesehen hast. Du kannst mir nichts vormachen, Nikka. Den Spinner knöpfe ich mir vor, das sage ich dir!«

»Ja, dann mach das doch«, gab ich schulterzuckend zurück. »Er wird dich vertrimmen und was habt ihr beide dann davon? Gar nichts. Bilde dir nicht ein, du müsstest um mich kämpfen. Ich gehöre dir nicht. Ich gehöre ihm nicht. Ich entscheide selbst für mich.« Ungeduldig lud ich meine Waffen neu und entsicherte sie, so wie Mik es mir gezeigt hatte. »Und jetzt hör auf zu nerven. Wir sind hier, um zu trainieren.«

Mik brummte ein paar unverständliche Worte, dann gab er zum Glück Ruhe. Ich erschoss noch ein paar Engel, dann schmerzte meine frisch genähte Schulter und ich hatte keine Lust mehr. Mik war immer noch sauer und entsprechend schweigend verlief der Rückweg. Im Aufzug sah ich ein paar Mal zu ihm hinüber, doch er wich meinem Blick aus. Ich vermutete gerade, dass er sich bald wieder beruhigt haben würde, da stiegen auf der Etage mit den Duschräumen zwei alte Bekannte zu. Es wäre gelogen zu behaupten, dass der Freche der beiden Flugdämonen frisch geduscht und mit feuchten zurückgekämmten Haaren nicht ziemlich gut aussah. Sein hautenges Shirt zeigte mehr als es verhüllte und auch die auf der Hüfte sitzende Cargohose mit den vielen Taschen sah an seinen langen, athletisch geformten Beinen nicht unbedingt langweilig aus.

»Na so was …« Er lehnte sich geschmeidig mir gegenüber an die Metallwand. »Da arbeitet man seit Jahren hier und heute treffe ich die zukünftige Mutter meiner Kinder gleich zwei Mal.«

»Bitte … ich will ihm wehtun«, zischte Mik in mein Ohr.

Ich schob Miks Kopf von meinem Ohr weg und sah mein Gegenüber regungslos an. Er machte mich nervös, aber ich würde ihm nicht den Gefallen tun und es mir anmerken lassen.

»Ich bin Narkas und das ist mein Partner Yles«, sagte er und streckte mir seine große graue Hand hin. Ich sah darauf und wusste noch nicht recht, wie ich reagieren sollte. Die Nägel seiner Hand waren kurz, gepflegt und glänzten leicht. Die Innenfläche, die er mir entgegenstreckte, sah so weich aus, wie sie sich auf meinem Gesicht angefühlt hatte. Ich vermutete, dass sogar ich mehr Hornhaut oder Schwielen vom Kämpfen hatte als er. Endlich griff ich nach der angebotenen Hand und schüttelte sie leicht. Sie umschlang meine komplett, jedoch ohne mir wehzutun.

»Ich bin Nikka, das ist Mik.«

Auch Yles und ich begrüßten uns kurz.

»Ist er dein Freund?«, wollte Narkas wissen.

Mik, der so konsequent ignoriert wurde, schnaufte verächtlich und blickte auffordernd zu mir herunter.

»Nein«, sagte ich. Narkas grinste gewinnend, Mik neben mir brodelte vor Wut und Yles sah nicht wirklich begeistert aus, Teil dieser Vorstellung zu sein.

»Du schießt ganz passabel«, sagte Narkas.

»Woher weißt du das?«

»Ich habe dich beobachtet. Von oben.«

»Ach wirklich?«

»Ja.« Sein Blick ließ vermuten, dass er sich nicht nur für meine Schießqualitäten interessierte. Ein heller Ton verkündete, dass wir auf unserer Etage angekommen waren. Die Türen gingen auf. Mik stürzte wutentbrannt davon.

»Das ist eure Etage?«

»Sieht so aus«, sagte ich und wollte ebenfalls den Aufzug verlassen.

Narkas legte eine Hand auf meine Schulter. »Du findest mich in der obersten Etage. Falls du Sehnsucht hast …« Er lächelte, als wüsste er, was für eine Wirkung auf er mich hatte.

Ich bemühte mich um einen betont gelangweilten Gesichtsausdruck. »Ganz bestimmt.« Ich nickte seinem Partner zu. »Auf Wiedersehen, Yles.«

»Wiedersehen, Nikka.«

»Tu nicht so schüchtern, das bist du nicht«, sagte Narkas und ließ seine Hand eindeutig etwas zu langsam an meiner Schulter hinuntergleiten.

»Schon klar«, erwiderte ich und ließ ihn stehen.

»Wir sehen uns wieder, auch wenn du dich nicht von mir verabschiedest«, rief Narkas lachend durch die zurollenden Türen des Aufzugs. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht und ich war froh, dass Mik es nicht sehen konnte. Er würde gleich wieder ausrasten.

 

In unserem Aufenthaltsraum hatte Mik sich zu einer Gruppe Kollegen gesetzt und tat so, als wäre ich Luft. Stattdessen beteiligte er sich scheinbar rege an einer Unterhaltung, obwohl ich ihm ansah, dass er immer noch kurz davor war, einen gewaltigen Wutanfall zu bekommen.

Yaris winkte mich an ihren Tisch und schickte Pina, mit der sie gerade noch geredet hatte, weg. »Wie ist der Stand der Dinge?«, fragte sie geschäftsmäßig.

Ich erzählte ihr alles wahrheitsgemäß, nur den Zwischenfall mit den Flugdämonen ließ ich natürlich weg.

»Sehr schön. Wir sind gleich bei Professor Teshnon angemeldet. Ich habe die Einsatzleitung für heute an Mik übertragen, damit ich dich begleiten kann.«

Als hätte Yaris es geahnt, begannen die Warnleuchten zu blinken und das komplette diensthabende Team wurde zu einem Einsatz gerufen. Wir warteten, bis alle aus dem Raum gestürmt waren, dann stand Yaris auf und schob den Stuhl zurück an den Tisch. »Denk an meine Worte, Nikka.«

»Ich bin ja nicht blöd!«

»Und überdenke deine Wortwahl«, sagte Yaris leise, aber sehr eindringlich. Ich nickte düster.

 

Professor Teshnon begrüßte mich so freundlich wie beim vorherigen Mal und hatte seine Experten bereits um sich geschart. Frau Dr. Nuria wirkte ein wenig nervös. »Vielen Dank, dass Sie beide es so zeitnah einrichten konnten.«

Yaris warf mir einen auffordernden Blick zu. »Aber sehr gern«, sagte ich betont handzahm und bemühte mich um ein verbindliches Lächeln.

»Wie steht es um Ihren Arm, Nikka?«

»Der ist noch dran«, erwiderte ich cool.

Yaris warf mir einen warnenden Blick zu.

»Mich interessiert der Heilungsprozess, Nikka«, fuhr Professor Teshnon fort. »Was können Sie mir berichten?«

»Nun, ich kann ihn wieder ohne Probleme nutzen. Greifen, heben, tasten, alles funktioniert. Auch das taube Gefühl ist fast verschwunden. Nur …«

»Nur …?«

»Diese blauen Adern verschwinden einfach nicht.«

»Haben Sie das Gefühl, dass es mehr werden?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich leise. »Ich versuche, nicht allzu genau hinzusehen.«

»Dürften wir uns den Arm noch einmal ansehen?«

Ich schluckte schwer. Jetzt ging es gleich wieder los. Sie würden mich ansehen und über mich reden und ich würde mir vorkommen wie ein totes Stück Fleisch. Ich hasste Situationen wie diese. »Ja«, sagte ich schließlich.

»Könnten Sie Ihr T-Shirt ausziehen?«

Ich nickte. Wortlos zog ich mir das Shirt über den Kopf und stand nur noch in BH und Unterhemd vor ihnen.

»Ein Foto, bitte«, wies Professor Teshnon sein Team an. »Dann vergleichen wir die Aufnahmen mit vorgestern.« Frau Dr. Nuria betätigte die Kamera, ohne mir allzu nahe zu kommen. »Ihre Wunde ist sehr gekonnt genäht.« Professor Teshnon lächelte.

»Eine Dame aus der Schneiderei hat mir eine kleinere Naht gemacht, weil die erste so grob war und die Wunde vermutlich deshalb so schlecht verheilte.«

»Eine gute Idee. Sie wissen sich zu helfen.« Sein Gesicht wurde ernst, als er einen weiteren Blick auf die immer noch geröteten Wundränder warf. »Wir glauben, es liegt an dem blauen Feuer, dass Verletzungen schlechter heilen.«

»Wirklich?«

»Ja, es scheint unsere Selbstheilungskräfte zu verlangsamen.«

»Das klingt beunruhigend«, warf Yaris ein.

»Das ist es auch. So, wir sind fertig. Sie können sich wieder anziehen, Nikka, vielen Dank.«

»Gern«, erwiderte ich. Bei Professor Teshnon fiel es mir leicht, umgänglich zu sein. Seine freundliche und ruhige Art wirkte regelrecht ansteckend. Auch Yaris schien zufrieden. Erleichtert zog ich mich wieder an.

»Yaris, hätten Sie noch einen Moment?«

»Sicher.« Yaris sah zu mir. »Nikka, du kannst schon vorgehen. Ich komme dann nach.«

»Ist gut. Auf Wiedersehen allerseits.« So schnell, wie es die Höflichkeit erlaubte, verließ ich den Raum. Was war ich froh, dass ich diesen Termin hinter mir hatte.

 

Zurück im verlassenen Aufenthaltsraum setzte ich mich an einen der Tische und ließ den Blick umherschweifen. Stühle standen etwas unkoordiniert herum, Bücher sahen aus, wie hastig zur Seite gelegt und hier und da standen Schalen und Teller mit Essbarem, das zum Teil noch dampfte.

Die Schälchen erinnerten mich an den Engel und plötzlich wurde mir klar, dass auch er schon länger nichts mehr gegessen hatte. Weil ich es mir jedoch nicht leisten konnte, jedes Mal etwas bei einem Restaurant zu bestellen, musste dringend eine andere Lösung her. Leider konnte ich überhaupt nicht kochen. Wozu auch? Ich ernährte mich ja hauptsächlich von Blut. Dafür musste ich es nur in Dosen, Kanistern oder Trinkbeuteln kaufen. Yaris kochte sich zu Hause öfter mal etwas, doch sie konnte ich unmöglich fragen.

So wie es aussah, musste ich mal wieder einen Computer bemühen. Der Engel sagte, dass seine Rasse und die der Menschen sich sehr ähnelten, also wühlte ich mich virtuell durch die Rudimente der menschlichen Esskultur und verstand mal wieder nur sehr wenig. Zu umfangreich und doch zu bruchstückhaft waren die Informationen. Immer wieder war die Rede davon, Lebensmittel zu erhitzen, bis das Wasser, in das man sie gelegt hatte, kochte und dann würde ein Essen daraus entstehen. So schwer konnte es also nicht sein.

Ich schloss die Seiten und inspizierte die Mahlzeiten meiner Kollegen. In einem tiefen Teller schwamm in einer halb durchsichtigen Brühe ein wenig Fleisch und jede Menge buntes Zeug, das ich fachmännisch als Gemüse identifizierte. Vorsichtig schnupperte ich daran. Es roch fast so wie das Essen, das meine Eltern zu Feiern gern bei ihrem Lieblingsrestaurant bestellten. Gerade als ich mutig ein orangefarbenes Stück Gemüse probieren wollte, stand Yaris in der Tür. Ich sah ertappt zu ihr hoch. Sie blickte auf das hinunterhängende Stück Gemüse zwischen meinem Daumen und Zeigefinger, das ich offensichtlich gerade aus der Suppe eines Kollegen gefischt hatte. Ihr darauffolgender Blick verriet, dass sie immer noch dachte, das blaue Flammenschwert hätte nicht nur meine Schulter, sondern auch meinen Verstand durchbohrt.

»Was genau tust du da?«, fragte sie müde.

»Nur ein bisschen Abwechslung«, sagte ich ein kleines bisschen zu fröhlich, schob mir das Stück Gemüse in den Mund und kaute enthusiastisch darauf herum, ohne wirklich etwas zu schmecken.

»Das ist Hentos Suppe. Und überhaupt, seit wann interessierst du dich für Suppe?« Yaris lief zu dem Sessel, in dem Mik sonst immer saß, und ließ sich erschöpft hineinfallen. Sie legte eine Hand über die Augen. »Was ist los mit dir, Nikka, sag es mir …«

Ich schluckte das Gemüse hinunter, drehte Hentos Stuhl herum und setzte mich so, dass ich in ihre Richtung sehen konnte.

»Merkst du eigentlich, wie merkwürdig du dich benimmst?«

»Ja«, sagte ich leise.

Yaris seufzte. »Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie beruhigt mich das etwas.«

Schweigend saßen wir uns eine Weile gegenüber, bis ich die Stille nicht mehr ertrug. Noch vor ein paar Tagen hatten wir in trauter Zweisamkeit nebeneinander auf meiner Couch gesessen und sahen einfach nur aus dem Fenster, ohne dass es mir unangenehm vorgekommen wäre. Heute jedoch standen viele Missverständnisse und Lügen zwischen uns, mich machte die plötzliche Ruhe einfach nur schrecklich nervös.

»Gibt es Neuigkeiten über das blaue Feuer? Weiß man schon mehr darüber?«

Yaris schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Hento, Riki und Mik, die von dem blauen Feuer nur berührt wurden, sind ohne größere Verletzungen davongekommen. Mik hatte zwar Verbrennungen, die aber letztendlich problemlos wieder verheilt sind. Du bist die Einzige, die bisher durch eine blaue Flamme verletzt worden ist und …« Yaris brach unschlüssig ab.

»Ja?«

»Eigentlich weiß niemand genau, was mit dir los ist. Deine Stichverletzung heilt deutlich schlechter. Die blauen Adern sehen schlimm aus und niemand weiß, warum sie entstehen beziehungsweise, was sie mit dir anstellen.«

»Ach, du meinst, man weiß nicht, ob sie langsam meinen Verstand zerlegen?«

»Vielleicht vergiften sie deinen Kreislauf, greifen in deinen Organismus ein … wer weiß das schon? Dein Benehmen ist jedenfalls himmelschreiend seitdem.«

Wieder konnte ich ihr nichts erwidern, ohne mich weiter in Lügengeschichten zu verstricken. »Was sagt Professor Teshnon?«

»Sie vergleichen gerade die Fotos von deinem Arm. Beim nächsten Termin wollen sie Tests machen, ob deine motorischen Fähigkeiten und Reflexe wiederhergestellt sind.«

»Weißt du Genaueres?«

»Nein, keine Ahnung. Möchtest du vielleicht heute eher nach Hause gehen? Ich glaube, noch ein wenig Ruhe täte dir gut.«

»Ich glaube eher, dir tut die Ruhe gut, wenn ich endlich gegangen bin«, erwiderte ich.

»Geh nach Hause. Dein Dienst wäre in zwei Stunden vorbei. Du kannst jetzt schon gehen.«

»Na gut«, sagte ich und schob den Stuhl zurück. »Dann bis morgen.«

»Ja, bis morgen.«

Ohne ein weiteres privates Wort suchte ich meine Sachen zusammen und verließ den Aufenthaltsraum. Ich konnte verstehen, dass Yaris sauer auf mich war, aber dass sie ernsthaft glaubte, ich würde den Verstand verlieren, beleidigte mich dann doch. Dagegen konnte ich einfach nichts tun, das Gefühl war da. Obwohl ich insgeheim zugeben musste, ich verhielt mich wirklich nicht normal. Ich neigte vielleicht zu Wutausbrüchen und mochte mich nicht vorführen lassen, aber ob sich alles nur durch die gefährliche Situation mit Levian erklären ließ … wusste ich selbst nicht. Gott bewahre, wenn das Feuer mich wirklich veränderte … Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Rasch betrat ich den Aufzug und lenkte meine Gedanken ab, indem ich über das Essen für Levian nachgrübelte. Weil neben dem Hauptquartier ein paar andere Häuser wieder aufgebaut worden waren, in denen sich ein paar interessante Läden befanden, beschloss ich, dort mal vorbeizusehen.