2. Kapitel
Medizinische Fortbildung für Unsterbliche
Diese Welt starb. Noch wehrte sie sich, doch ihr Inneres war vergiftet und ihr Äußeres grausam aus den Fugen geraten.
Ich lehnte an einem der Fenster und sah zu, wie sich die orangefarbene Sonne zwischen den Ruinen der Hochhäuser emporkämpfte. Der Asphalt dampfte immer noch, obwohl es schon vor Stunden aufgehört hatte zu regnen. In der Ferne sah ich Rauchschwaden. Dort verlief ein Riss mitten durch die Stadt, und glühendes Magma blubberte wütend in seinem Inneren. Ich hatte Bilder von früher gesehen, als die Straßen ebene Flächen und die Häuser noch intakt gewesen waren. Bäume, Sträucher und Gras wuchsen überall, doch der Regen hatte alles Lebende, das nicht geschützt werden konnte, vernichtet, weggefressen, verätzt. Zurück war nichts als kahle, dunkle Erde geblieben. Ich hatte noch nie einen Menschen gesehen. Das war vor meiner Zeit. Mein Vater hatte einige von ihnen im Kampf getötet, doch irgendwann tauchten sie unter. Es konnten nicht mehr viele sein. Bedachte man, wie mühsam es war, in dieser feindlichen Welt zu überleben, Schutz zu finden, Lebensmittel anzubauen und in ewiger Angst vor den dämonischen Besatzern irgendwo im Untergrund zu hausen, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ausgerottet sein würden. Schon sehr bald würden sie – ebenso wie ihre Erde – zu einem Relikt werden, das man nur noch aus Geschichten kannte.
Levian schlief. Ich hatte vorhin nach ihm gesehen. Er hatte die Decke von sich geschoben und auch die Laken über seinen Wunden waren verrutscht. So gut es ging hatte ich die Verletzungen wieder abgedeckt und die Decke aufgerollt und neben das Bett gelegt. Ich hatte seine Wange gestreichelt, ganz zart, sodass er es nicht bemerken würde und wieder mal die herrliche Farbe seines Haars bewundert. Ganz vorsichtig hatte ich eine goldene Strähne entlanggestrichen. Sie waren so unglaublich weich. Ich ließ meine Fingerspitzen über eine besonders grausame Narbe auf seinem Oberkörper wandern. Das silbrige Gewebe schien nur grob verheilt und würde niemals wieder den sanften Ton seiner übrigen Haut annehmen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit hatte ihm einer meiner Kollegen diese Wunde zugefügt. Mein Blick glitt zu seiner Hüfte und zu dem sauberen Tuch, das ich über die frische Wunde gebreitet hatte. Wie hatte er es nur geschafft, so schwer verletzt zu entkommen? Und wer hatte ihn wohl angegriffen? Ob es vielleicht sogar jemand aus unserem Hauptquartier gewesen war? Jemand den ich kannte? Ich wollte es mir lieber nicht vorstellen. Mich zwischen der Loyalität zu meinesgleichen und der Sorge um diesen Engel entscheiden zu müssen, traute ich mir in diesem Moment einfach nicht zu. Ich sah zurück in sein Gesicht, stellte mir vor, wie er aussah, wenn er gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte war. Er musste umwerfend attraktiv sein, denn er sah jetzt schon, blass und mehr als geschwächt, unverschämt anziehend aus. Ich seufzte leise und strich noch einmal über seine Wange. Seine hohe Körpertemperatur machte mir Sorgen. Das war ganz gewiss nicht normal. Er glühte regelrecht.
Ich riss mich von seinem perfekten Gesicht los, ging zurück zu meinem kleinen Schreibtisch und schaltete den Computerbildschirm an. Ich musste mehr über seine Spezies herausfinden, Dinge, die uns als Jäger sonst nicht interessierten. Leider konnte ich mich nicht im Hauptquartier schlaumachen, da ich mich sofort verdächtig gemacht hätte. Warum interessierte sich eine Jägerin, deren Job es lediglich war, so viele Engel wie möglich zu liquidieren, dafür wie man Wunden heilte oder eine zu hohe Körpertemperatur senkte? Das Argument, dass ich dieses Know-how für meine Gesundheit benötigte, war absolut unglaubwürdig, da wir Dämonen – sehr zum Leidwesen der Engel – zwar verwundbar, aber letztendlich unsterblich waren. Ein klitzekleiner Vorteil, der uns immer wieder die Oberhand gewinnen ließ, egal, wie viele geflügelte Heerscharen der Himmel zum Schutz der so gut wie ausgerotteten Menschheit auch aussandte.
Meine medizinische Fortbildung gestaltete sich kompliziert, denn der Großteil des digitalen menschlichen Wissens war verloren gegangen. Ich wusste nur, dass Menschen und Engel sich in ihren anatomischen Eigenschaften sehr ähnelten. Die Ergebnisse meiner Suche machten mich noch unruhiger als vorher. Die Schlagwörter »Blutvergiftung« und »Fieberkrampf« bereiteten mir Angst. Immer wieder tauchte ein Mittel namens Antibiotikum auf, das anscheinend nur noch in Geheimvorräten der Engel existierte. Ich las, dass man bei Fieber viel trinken musste. Wann hatte Levian das letzte Mal etwas getrunken? Ich hatte sowieso nur Dosenblut vorrätig. Was tranken Engel eigentlich?
Ich dachte noch darüber nach, da klingelte es, und das Gesicht meiner Mutter erschien auf dem Computerbildschirm.
»Ach, da bist du ja schon«, sagte sie etwas überrascht. »Ich hatte fast damit gerechnet, dass du schläfst, denn du hast diese Woche doch die Nachtschicht.« Ihr Ton klang missbilligend, so wie immer, wenn sie über meine Arbeit sprach.
»Ich habe gerade etwas geschrieben«, antwortete ich. Meine Mutter hatte mir gerade noch gefehlt. Ich stand viel zu sehr neben mir, als dass ich vernünftig mit ihr reden könnte. Das würde sie vermutlich auch sofort merken.
»Wie geht es dir, mein Kind?«
»Seit gestern unverändert.« Meine Mutter rief jeden Morgen an. Egal, ob ich Tag- oder Nachtschicht hatte.
»Hast du schlechte Laune?«
»Nein, Mutter. Mir geht es gut.«
»Das ist schön. Wann hast du deinen nächsten freien Tag?«
O nein, diese Frage kam mir bekannt vor. Bestimmt planten sie wieder, mir einen potenziellen Partner vorzustellen. Es schien ein Sport meiner Eltern zu sein. Sie gaben sich alle Mühe, mich »adäquat« zu verkuppeln. Sollte heißen, es durfte nur ein Blutdämon sein. Meine Mutter würde vermutlich in Ohnmacht fallen, würde ich zum Beispiel mit einem Echsengesicht auftauchen. Dabei galt die Dämonenrasse als sehr schlau, und die meisten arbeiteten als Wissenschaftler oder Forscher. Auch mein Exfreund Mik, der als Feuerdämon nah mit den Blutdämonen verwandt war, hatte nicht ihre Zustimmung gefunden.
Für mich waren diese arrangierten Treffen immer schrecklich anstrengend. Ich musste die wohlerzogene Tochter mimen, obwohl ich viel lieber ein paar verlauste Engel jagen würde. Meine Eltern schwiegen meine Tätigkeit gegenüber Gästen immer tot. Als eine Tochter der edelsten Dämonenrasse gehörte es sich nicht, sich die Hände schmutzig zu machen. Stattdessen wohnte man im Anwesen der Familie und wartete darauf, einen entfernten Cousin zu heiraten.
»Nikka, träumst du etwa? Wann hast du deinen nächsten freien Tag?«
Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Noch zwei Nächte. Ich muss noch zwei Nächte arbeiten, dann habe ich einen Tag frei.«
»Schön. Kommst du dann zu uns?«
»War das jetzt eine Frage?«
Meine Mutter lachte etwas künstlich, und die Edelsteine in ihren langen Ohrringen blitzten. Elegant überging sie meine Äußerung. »Dein Vater hat den Sohn eines Geschäftspartners eingeladen. Der junge Mann ist beruflich bereits sehr erfolgreich und dein Vater überlegt, ihn in sein Beraterteam zu berufen.«
»Aha.« Ich wusste es. Das nächste glattgebügelte Schwiegersohn-Schoßhündchen, das man mir servieren wollte.
»Er scheint sehr nett zu sein.«
»Hm.«
»Nun sei doch nicht so einsilbig. Freu dich.«
»Weiß er schon, dass er verkuppelt werden soll?«
»Nikka!« Die Stimme meiner Mutter klang empört. »Dein Vater lädt ihn ein, um ihn besser kennenzulernen. Schließlich geht es um einen Posten in seinem Team.«
»Ja, klar.«
»Du hast gesellschaftliche Verpflichtungen, so ist das nun mal, wenn man eine Familie hat. Er ist noch nicht liiert, also wirst du seine Tischdame sein. Oder soll ich deine Schwester, eine gebundene Frau, neben ihn setzen?«
»Nein, sollst du nicht«, gab ich mich geschlagen.
»Schön. Und weißt du was? An deinem freien Tag komme ich morgens bei dir vorbei, und wir suchen etwas Hübsches aus, das du am Abend dann trägst.«
»Nein!«
Meine Mutter wich verdutzt zurück. Sie kniff die Augen zu Schlitzen und legte lauernd den Kopf schief. »Du bist so komisch heute. Was ist los mit dir?«
»Gar nichts …«, stammelte ich und meine Wangen begannen zu glühen.
»Du hast doch nicht schon wieder irgend so einen Halbwilden als Liebhaber?«
»Nein.«
»Warum leuchtet dann dein Gesicht so?«
»Vielleicht ist die Bildübertragung gerade schlecht.«
»Nikka«, begann meine Mutter salbungsvoll. »Wir akzeptieren, dass du außerhalb des Anwesens wohnst. Und wir akzeptieren, dass du eine bessere Söldnerin bist.« Sie machte eine theatralische Pause, vermutlich, um ihren abschließenden Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Aber wir werden nicht akzeptieren, dass du einen Halbwilden in unsere Familie bringst.«
Ich war mal wieder schwer versucht, den Computerbildschirm vom Tisch zu fegen, um dieses unerfreuliche Thema spontan zu beenden.
»Wer ist es?«, fragte sie plötzlich, als könnte sie mich, eine Jägerin mit außerordentlich gut geschärften Sinnen, einfach so übertölpeln. Ich seufzte und ließ mir Zeit, damit sie merkte, dass ihr Versuch leider nicht funktioniert hatte.
»Mutter, du kannst an meinem freien Tag nicht vorbeikommen, weil ich zu tun habe. Es bleibt immer eine Menge liegen in meiner Nachtschichtphase. Ich werde die freie Zeit anders nutzen, als in fünfzehn verschiedene Kleidchen zu hüpfen, um mit dir darüber zu diskutieren, ob mir eher Nachtblau oder Jadegrün steht. Außerdem haben wir das schon hundert Mal gemacht. Ich ziehe einfach das Kleid vom letzten Mal an. Weißt du noch, als dieser unglaublich erfolgreiche, entfernte Cousin zu Besuch kam?«
Meine Mutter kräuselte die Lippen und nickte. »Ich verstehe. Gut, dann erwarten wir dich am Abend. Bitte sei pünktlich.«
»Natürlich.«
Meine Mutter nickte noch einmal hoheitsvoll, dann beendete sie das Gespräch, und der Bildschirm zeigte wieder die Seite eines digitalen medizinischen Lexikons, die ich vorhin gefunden hatte. Doch die vielen neuen Fachbegriffe verwirrten mich. Die Nacht war lang und anstrengend gewesen, aber erst als meine Augenlider immer schwerer wurden, merkte ich, wie müde ich war. Ich sollte es dem Engel gleichtun und etwas schlafen. Die Sonne war immer höher gewandert und ihr Licht stach mir in den Augen. Ich drückte den Knopf auf einer bereitliegenden Fernbedienung, und schwere Rollläden schoben sich über die gläsernen Fronten. Nachdem ich den Computer ausgeschaltet hatte, schlich ich ins Bad, ignorierte das Blut auf den hellen Kacheln und nahm eine kurze Dusche. Dann bereitete ich mir mein kärgliches Lager auf der Couch. Ich lag kaum, und das fahle Grau des Tages drang schemenhaft durch die Läden vor den Fenstern, da schlief ich auch schon ein.